Teil (IV) des Literaturberichts über „Varianten des Postkapitalismus“ befasst sich mit der kritischen Transformationsforschung, wie sie seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts vorwiegend – aber nicht ausschließlich – in Deutschland betrieben wird. Gegenstand sind vor allem Arbeiten die im oder am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden sind. Darüber hinaus werden Texte linker Autoren, die mit dem Institut zusammenarbeiten – darunter des Brandenburg-Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien e.V., Helle Panke e.V., WissenTransfer e.V. – hinzugezogen. Mit dieser Auswahl sind zugleich auch die Grenzen dieses Berichts benannt, denn: „Ein linkes strategisches Transformationskonzept kann nicht das Resultat der Arbeit eines Instituts oder einiger weniger linker Intellektueller sein. Es kann nur aus dem Zusammenwirken vieler linker Akteure, WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und PraktikerInnen, nicht nur Deutschlands, sondern auch anderer Länder und als Ergebnis offener, kulturvoller Diskurse entstehen.“ Klaus Steinitz (2015), 45.
Ergänzend und im Kontrast zur deutschen Debatte wird die internationale Diskussion hier nur kursorisch mit Hinweis auf Arbeiten zweier amerikanischer Autoren (Burawoy und Wright) berücksichtigt. Die von beiden vertretene Position eines „soziologischen Marxismus“ (Burawoy, Wright 2001), die auch von anderen prominenten amerikanischen und europäischen Autoren (etwa Hirst 1994, Cohen/Rogers 1995 und Bader 2001) seit Jahrzehnten mitentwickelt wurde, wäre auch hierzulande einer ausführlicheren Diskussion wert.
Ein Kapitel über „Realutopien“ sowie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Transformationstheoretiker folgt im abschließenden Teil dieser Übersicht, in Z 111 (September 2017).
„Ein Begriff durchwabert den Zeitgeist.
Er ist umkämpft wie die Realität,
die er abbildet: Transformation.“
Dieter Klein[1]
„Diese Beiträge machen klar, wie weit wir noch entfernt
sind von einer erfolgreichen linken Politik doppelter
Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus.“
Michael Brie[2]
Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren?
„Vor Jahren noch ein Randthema, wird ‚Transformation’ heute zu einem Leitgedanken gesellschaftlichen Wandels.“[3] Allerdings fehlt es – nach Rolf Reißig – dem Begriff nach wie vor sowohl an wissenschaftlicher als auch an politisch-strategischer Präzision. „Zu einer ganzen Anzahl von Veröffentlichungen zu und Bezugnahmen auf Transformation ist kritisch anzumerken, dass sie es diesbezüglich bewusst oder mit sichtbarer Selbstgewissheit an Klarheit mangeln lassen.“[4] Das liegt offenbar daran, dass der Begriff ‚Transformation’ von links bis rechts so „umkämpft“ ist, „wie die Realität, die er abbildet.“[5]
Die erstaunliche Konjunktur des Begriffs der „Transformation“ in den Sozialwissenschaften wie schließlich auch im politischen Sprachgebrauch ist nicht zu verstehen ohne den spezifischen historischen Kontext des „Übergangs“ der Länder des „Staatssozialismus … zu liberalen Demokratien und kapitalistischen Marktwirtschaften westlichen Typs“.[6] Standen zuvor Begriffe wie „Modernisierung“, „System-“ der „Regimewechsel“ im Zentrum soziologischer oder politikwissenschaftlicher Theorien des „politischen“ oder „sozialen Wandels“, so änderte sich dies in den 1990er Jahren nahezu schlagartig. Nunmehr stand vor allem die „postkommunistische bzw. postsozialistische Systemtransformation“[7] der dann über Jahre hinaus vielfach bloß noch als „Transformationsländer“ bezeichneten Staaten Osteuropas einschließlich Russlands im Vordergrund der politisch im doppelten Sinne des Wortes „interessierten“ Sozialwissenschaften. „Der Mainstream der Sozialwissenschaften begleitete den Übergang vom Staatssozialismus zum Kapitalismus in einer großen Welle der durch Drittmittel reichlich geförderten Transformationsforschung. … Ulrich Beck brachte den Kern des herrschenden Transformationskonzepts auf den Punkt: ‚Marktwirtschaft und keine Widerworte!’.“[8]
Als besonders krasses Beispiel hierfür kann das „Lehrbuch“ von W. Merkel (2010) gelten: Dort heißt es: „Unter dem Begriff der Transformationsforschung fasse ich den grundlegenden Wechsel von politischen Regimen, gesellschaftlichen Ordnungen und wirtschaftlichen Systemen. Gegenstand des Buches ist also der Übergang von einer politischen Ordnung zu einer grundsätzlich anderen: der Übergang von Diktaturen zu Demokratien, der Plan- und Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft sowie der Wandel von geschlossenen zu offenen Gesellschaften.“ (Hervorh. WG) Das Buch enthält „empirische Analysen der Demokratisierungsprozesse in vier großen Weltregionen …: Südeuropa, Lateinamerika, Ost- und Südostasien sowie Mittel- und Osteuropa.“ (15) Den ausschließlichen „Blickwinkel“ dieses Lehrbuchs bilden die Übergänge von „autoritären zu liberaldemokratischen politischen Systemen“ im 20. Jahrhundert. (Einleitung, 17) Am Ende stellt Merkel die Frage „Kehren die Diktaturen zurück?“ (487-499). Sein Fazit lautet: „Es ist gegenwärtig keine ‚reversewave’ zu erwarten, aber mindestens ebenso wenig eine vierte Demokratisierungswelle. Die meisten Länder werden mittelfristig ihren Regimecharakter kaum verändern.“ (499, Hervorh. WG) Weder die postdemokratische (Colin Crouch) Regression der liberalen Regime noch demokratisch egalitäre, soziale und ökologische oder gar demokratisch-sozialistische Transformationen über die „liberaldemokratischen“ Regime hinaus – wie sie Gegenstand der linken Debatte sind – geraten dem Autor dieses Lehrbuchs in den„Blickwinkel“. Nicht einmal Polanyi wird erwähnt! Folgerichtig fehlt auch jeder Hinweis auf die ein Jahr zuvor im gleichen Verlag erschienene und inzwischen als Standardwerk der kritischen Transformationsforschung angesehene Arbeit von Rolf Reißig (2009). Ähnlich repräsentativ wie dieses „Lehrbuch“ ist das „Handbuch“ (R. Kollmorgen u.a. [Hg.], 2015); wegen der Vielzahl der Mitarbeiter und der ausführlichen Berücksichtigung historischer Vergleiche (305-440) ist es insgesamt wesentlich differenzierter. Dennoch fehlt auch hier jegliche Perspektive über die offenbar als Ende der Geschichte interpretierte Gegenwart der „liberal-demokratischen“ Regime hinaus.[9]
Dieter Klein lässt in seiner Kritik der „postsozialistischen Transformationen“ keinerlei nostalgischen Gefühle gegenüber dem untergegangenen Systemen der DDR und der anderen osteuropäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion aufkommen. „Der Staatssozialismus war an den Defiziten seiner Grundstrukturen gescheitert. Seine Überwindung war schon längst dringliches Gebot.“[10] Dies dürfte aber keineswegs der Hauptgrund dafür sein, dass „Transformation“ inzwischen auch bei beachtlichen Teilen der Linken zu einem zentralen Begriff in der Diskussion um eine realistische Strategie zur Überwindung des Kapitalismus im 21. Jahrhundert geworden ist. Gut zwei Jahrzehnte nach dem Scheitern des „Realsozialismus“ – so Reißig, der einst den „Transformationsprozeß in Ostdeutschland“ kritisch begleitet hatte[11] – seien nun „die westlichen Gesellschaften selbst zu Objekten und Subjekten gesellschaftlicher Veränderungen, gesellschaftlicher Transformation geworden.“ Eine historische „Epoche des Übergangs“ deute sich weltweit und systemübergreifend[12] schon seit Jahrzehnten (seit den 1970er Jahren) an und sei jetzt (in den 2010er Jahren) in eine entscheidende Phase getreten.[13] „In solchen gesellschaftlichen Umbruchs- und historischen Übergangszeiten gewinnen – wie die Geschichte zeigt – fundierte Analysen und theoretische Wandlungskonzepte ein besonderes Gewicht.“[14]
Dabei sind sowohl der Begriff wie insbesondere das Ziel und die Mittel der jeweils als notwendig angesehenen gesellschaftlichen Transformation(en) nicht nur zwischen konservativen und progressiven Kräften umstritten. Auch innerhalb der verschiedenen sozialen, politischen und kulturellen „Lager“ existieren zum Teil immense Differenzen. So wird beispielsweise von einigen Protagonisten eines „ökologischen Umbaus“ die sozial-politische Dimension der Krise eher unterschätzt und ihre Lösung mit vorwiegend technisch-organisatorischen Instrumenten angestrebt.[15] „Dass Transformation vor allem aber ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess ist, ein sozioökonomischer und soziokultureller Wandel, eine Transformation von unten und oben, ein Wandel der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, und grundlegende Eingriffe in das bestehende Akkumulations- und Regulationsregime erfordert, wird in vielen dieser aktuellen Debatten unterschätzt.“[16] Daher sollten die sich als Linke begreifenden gesellschaftlichen Kräfte darum bemühen, wenigstens ein Mindestmaß an gemeinsamen Vorstellungen über Ziele und grundlegende, ggf. etappenweise zu lösenden Aufgaben einer integralen oder ‚organischen’ Gesellschaftstransformation für das 21. Jahrhundert in offener und solidarischer Diskussion zu erarbeiten. Nur unter dieser Voraussetzung gewänne die Vorstellung einer handlungsfähigen Mosaik-Linken ihren praktischen Sinn.[17] Hieran mitzuarbeiten gehört erklärtermaßen zu den Zielen der hier behandelten Autoren.
I. Große Transformation
Anmerkungen zum Begriff „Transformation“
„Bisher ist ‚Transformation’ für die Linke
aber noch kein entwickeltes strategisches Konzept.
Auch fehlen wesentliche theoretische Grundlagen, …
Noch ist die Verwendung des Terminus Transformation
eher eine Absage an orthodoxe sozialdemokratische
wie kommunistische Orientierung auf Reform bzw.
Revolution als ein eigenständiger wirkungsvoller Ansatz.“
M. Brie (2015c),12.
Die kritischen Transformationstheoretiker beziehen sich zumeist positiv auf die Bedeutung von gesellschaftlicher Transformation, wie sie von Karl Polanyi (1978) in seiner historischen Darstellung der Herausbildung und des schließlichen Scheiterns dessen beschrieben wurde, was er „Marktgesellschaft“ – und nur ganz gelegentlich auch „Kapitalismus“ – nannte. Das Ende der liberalen „Marktgesellschaft“ war für ihn freilich schon mit dem politischen Interventionismus während der sozial-ökonomischen und politischen Krisen der 1930er Jahre mit Faschismus und Krieg gekommen. „Aus den Ruinen der alten Welt erheben sich bereits die Ecksteine einer neuen …“ auf individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit beruhenden sozialistischen Gesellschaft.[18] Polanyi kommt bei seiner am Ende zwar hoffnungsvollen, aber – wie sich zeigen sollte – allzu optimistischen Darstellung des Aufstiegs und Niedergangs der „Markgesellschaft“ mit einem äußerst sparsamen und letztlich unzureichenden theoretischen Instrumentarium aus.[19] Selbst eine genauere Bestimmung des Begriffs der „Transformation“ wird man bei ihm vergeblich suchen. Etwas großzügig formuliert Dieter Klein: „Karl Polanyi bezeichnet als Große Transformation den langen Übergang von vorkapitalistischen Gesellschaften zum Kapitalismus.“[20]
Als theoretisches Referenzwerk wird daher von der kritischen Transformationsforschung im Allgemeinen die Arbeit von Rolf Reißig (2009) angesehen. Dort (wie auch ders., 2008) finden sich u.a. auch ausführliche begriffliche Auseinandersetzungen mit der o. g. soziologischen und politikwissenschaftlichen Mainstream-Literatur. „Der Begriff ‚Transformation’ erfüllt nur dann seinen Sinn, wenn er als Synonym für Umformung, Übergänge zu einem neuen Entwicklungspfad, als Wandel von Ordnung- und Gesellschaftsmodellen, gesellschaftlichen respektive sozialen Formationen –‚Trans’ und ‚Formation’ als die beiden Metaphern der Kategorie ‚Transformation’– gedacht wird. Transformation als Umformung, Übergang und Wechsel bezieht sich sowohl auf den politischen, den wirtschaftlichen als auch den sozialen und kulturellen Bereich. Der Transformations-Begriff reflektiert damit einen eigenen, spezifischen Typ sozialen Wandels. Im Unterschied zum allgemeinen Begriff des sozialen Wandels beschreibt der Begriff ‚Transformation’ nicht nur Wandel im (Ordnungs-) System, sondern Wandel des (Ordnungs-) Systems – sowohl was Ursachen, Triebkräfte als auch gesellschaftliche Konsequenzen betrifft. Im Unterschied zum Begriff ‚Revolution’, der eher einen abrupten, gewaltsamen, vorbestimmten Durch- und Umbruch zu einer höheren Ordnung kennzeichnet, reflektiert der Begriff ‚Transformation’ mehr die Ereignisgeschichte, die Entstehung des ‚Neuen’ im ‚Alten’, die Kontingenz, die Offenheit des Prozesses, unterschiedliche Übergangsformen und den Verzicht auf mystische Fixierung und Heilserwartungen. Der Begriff ‚Transformation’ unterscheidet sich auch von dem der ‚Evolution’, der gesellschaftlichen Wandel nicht so sehr mit einem Gestaltungswillen verbindet und stärker die Selbsttransformation des betrachteten Systems reflektiert (…) Und ‚Transformation’ ist auch von ‚Transition’ zu unterscheiden. Von Transition sprechen wir, wenn es um einen Wechsel politisch-institutioneller Ordnungen bzw. Regime geht, der als gesteuerter Prozess handelnder Akteure verläuft. … “[21]
„Die Frage nach dem Begriff von Transformation und seine jeweils unterschiedliche inhaltliche Qualifizierung hat nicht nur weitreichende theoretische, sondern auch praktisch-politische Konsequenzen. Transformation in dem hier zu Grunde liegenden Verständnis wird als Wandlungsprozess interpretiert, der an den heutigen Prozessen, Konflikten, evolutionären Trends anknüpft, diese aber in Richtung qualitative Verschiebungen des gesellschaftlichen Reproduktionsmusters voranbringt (…). Es unterscheidet sich zugleich von einem Konzept, das primär auf Krise, Massenunruhen, Aufstände und radikale Brüche orientiert. Das hier entwickelte Transformationsmodell setzt hingegen auf grundlegende Veränderungen in der Logik des gesellschaftlichen Wandels bürgerlich kapitalistische Gesellschaften, auf neue und zukunftsfähige Entwicklungsweisen, die sowohl Konstanz als auch Ereignishaftigkeit, Kontingenz und Brüche einschließen. Die Betonung der Offenheit evolutionärer Wandlungen beinhaltet zugleich die Akzeptanz der Möglichkeit und Notwendigkeit der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse.“[22]
Reißigs Verdienst für die Debatte der Linken besteht neben diesen begrifflichen Differenzierungsversuchen aber vor allem darin, dass er erstmals mit Nachdruck die Notwendigkeit einer „Zweiten Großen Transformation“ im 21. Jhdt. betont hat.[23]Allerdings bleiben bei Reißig die Strukturen der zukünftigen Gesellschaftsformation weitgehend im Unklaren. Selbst den Begriff des Sozialismus sucht er eher zu vermeiden. Entsprechend vage bleiben daher auch seine strategischen Überlegungen zu einem „neuen, sozial-ökologischen und solidarischen Entwicklungspfad“.[24]
In dieser Hinsicht hat dann vor allem Dieter Klein mit dem Konzept einer „doppelten Transformation“[25] die Idee und die Forderung nach einer „Zweiten Großen Transformation“ in politisch-strategischer Hinsicht erweitert und konkretisiert. Nach Klein wird „die alles umstürzende Revolution in Europa in absehbarer Zeit mit größter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden“. Zugleich hätten sich „gemäßigte Reformen“ nach hergebrachtem sozialdemokratischen Muster offenkundig als unzureichend erwiesen, die zu großen Teilen verheerenden sozialen und ökologischen Folgen des neoliberal entfesselten Kapitalismus zu verhindern oder auch nur abzumildern. „Wenn weder Reform noch Revolution für sich genommen eine bessere Gesellschaft versprechen, ist die Überwindung ihrer jeweiligen Grenzen und Schwächen und ein ‚Aufheben’ ihrer Stärken in einem dritten herangereift, eben in einer doppelten Transformation“, die einer linken radikalen Realpolitik eine „zeitgemäße theoretische Grundlage“ biete. Ein solches Konzept ziele darauf ab, „Reformprozesse mit tieferen Brüchen, mit revolutionären Zügen also, zu verknüpfen.“ Das etappenweise – über „kleine Transformationen“ im Rahmen des Kapitalismus – schließlich über ihn hinaus zu realisierende Ziel der Zweiten Großen Transformation sei ein „demokratischer Sozialismus als eine von Grund auf demokratisch erneuerte, solidarische, gerechte, dem Erhalt der Biosphäre verpflichtete Friedensgesellschaft ….“[26]
Die Linke und der Marxismus in der Großen Transformation?
Der Terminus ‚Transformation’ kommt als analytischer oder strategischer Begriff in der klassischen marxistischen Literatur nicht vor, weder bei Marx und Engels, noch bei Lenin[27], Kautsky oder Luxemburg, die zumeist – gelegentlich alternativ, häufig dialektisch aufeinander bezogen – von „Reform“ und/oder „Revolution“ sprechen.[28] Auch in der „nachklassischen“ Zeit seit dem Ende des zweiten Weltkriegs konnte sich „Transformation“ in der linken Debatte nicht durchsetzen, schon gar nicht im Marxismus-Leninismus der Stalin-Ära und des nachfolgenden „Realsozialismus“; aber auch nicht im Rahmen von sozialistischen, sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften oder anderen sozialen, häufig kapitalismuskritischen, emanzipatorischen Bewegungen. In den 1960er/70er Jahren wurde von den zuletzt genannten Gruppierungen – in der BRD etwa den Jungsozialisten, in Italien dem PCI und den beiden großen Gewerkschaftsverbänden – stattdessen von „antikapitalistischen“ oder „systemüberwindenden Strukturreformen“ als Voraussetzungen des Übergangs zu einem demokratischen Sozialismus gesprochen.[29]
Von daher ergibt sich die Frage, welches die Gründe für einen möglicherweise bloß terminologischen oder aber doch theoretisch und praktisch substantiellenAnalyse- und Strategiewechsel innerhalb großer Teile der Linken sind. Eine Antwort darauf versuchen die amerikanisches Soziologen Michael Burawoy (2003, 2015) und Erik Olin Wright (Buroway, Wright 2001, Wright 2015, Wright 2017).
„Für Viele bedeutete der Untergang des realen oder des bloß eingebildeten Sozialismus zugleich den Tod des Marxismus. Dennoch bietet der Marxismus auch weiterhin sowohl die umfassendste Kritik des Kapitalismus als auch den überzeugendsten Wegweiser zu möglichen Alternativen. Tatsächlich garantiert die Langlebigkeit des Kapitalismus zugleich die Langlebigkeit des Marxismus. Aber Überlebensfähigkeit impliziert zugleich Rekonstruktion. So wie der Kapitalismus sich rekonstruiert, so muss es auch der Marxismus.“ Bei dieser „Rekonstruktion“ des Marxismus (reconstruction, rebuild = Transformation?) spielten – nach Burawoy – Gramsci und Polanyi in unterschiedlichen sozialen und politischen Konstellationen jeweils eine theoretische Schlüsselrolle.[30]
Obwohl Polanyis Hauptwerk „The Great Transformation“ bereits 1944 in New York erschienen war, blieb es jahrzehntelang vom ökonomischen Mainstream ebenso wenig beachtet wie von der kritischen Sozialwissenschaft oder der linken Politik. Wenngleich es unter dem Eindruck der großen Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Faschismus in Europa geschrieben war und deren Ursachen zum Hauptgegenstand hatte, galt es den Zeitgenossen doch eher als ein Werk der Wirtschafts-Geschichte oder -Anthropologie als der theoretischen Ökonomie, Soziologie oder Politikwissenschaft.[31] Erst während der neoliberalen Wende zum – begrifflich etwas hilflos so genannten – „Postfordismus“ seit dem Ende der 1970er Jahre, stieß Polanyis Kritik des marktliberalen Wirtschaftssystems[32] in den Sozialwissenschaften auf wachsende Resonanz, ohne dass freilich dessen eigentlich sozialistische Intention begriffen worden wäre.[33] Polanyis Verdienst um eine linke Transformationstheorie besteht vor allem darin, dass er sich sowohl gegen die marktwirtschaftliche als auch gegen die staatszentrierte Regulation/Ordnung wendet und stattdessen die „Wiedereinbettung“ (reembedding, reintegration) von Wirtschaft (Markt) und Politik (Demokratie) in die (Zivil)Gesellschaft fordert; hierin liegt die eigentliche Substanz seines anti-etatistischen, „assoziativen“ Sozialismusverständnisses, das seit den 1990er Jahren vor allem die angelsächsische Transformationsdiskussion beeinflusst hat.[34]
Die wachsende Popularität Polanyis innerhalb progressiver Kreise, auch der gesellschaftlichen und politischen Linken in Deutschland, beruhte nicht zuletzt darauf, dass die traditionelle linke, insbesondere die marxistische „Kritik der politischen Ökonomie“– in ihren verschiedenen Varianten[35] – angesichts der „Wende“ zur neoliberalen Deregulierung, Privatisierung und rasanten Globalisierung des Kapitalismus wenig überzeugend wirkte und zugleich politisch immer perspektivloser wurde. Dies lag auch daran, dass deren – häufig ökonomistisch verkürzte – Kritik den eigentümlichen kulturellen Aspekt dieser kleinen Transformation innerhalb des Kapitalismus“[36] weitgehend vernachlässigt hatte.[37] Hinzu kam die theoretisch wie praktisch mangelhafte Sensibilität gegenüber den immer drängender werdenden „globalen Problemen“ der Ökologie, der Atomkraft, von Hunger und Unterentwicklung, der Frauenbewegung, des Rassismus usw., die zwar verbal anerkannt, aber innerhalb der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung keine nennenswerte politisch-praktische Resonanz fanden[38] und schließlich den damals überraschenden Erfolg der „neuen sozialen Bewegungen“ zur Folge hatte.
Diese ökonomischen, sozialen und politischen Momente weisen in ihrer Gesamtheit einerseits die Merkmale einer umfassenden oder „organischen“ Krise der globalen kapitalistischen Gesellschaftsformation auf, zugleich aber begründen sie nach Burawoy und Wright auch die Notwendigkeit einer Transformation des Marxismus selbst, hin zu dem, was sie „soziologischen“ oder „globalen Marxismus“ nennen[39], der die vielfältigen und neuartigen Erfahrungen und Probleme reflektiert, die durch Globalisierung, Finanzialisierung und Digitalisierung entfesselten kapitalistischen Produktions- , Konsumtions- und Verteilungsweise entstanden sind.
Zur Konstitution eines Subjekts der Transformation
Die für ein strategisches Konzept der gesellschaftlichen Transformation über den Kapitalismus hinaus entscheidende Frage ist zunächst die nach dem möglichen Subjekt oder, um es in der Sprache eines „soziologischen Marxismus“ zu formulieren, nach den Akteuren dieser Transformation. Für die Transformationstheoretiker kann diese Frage schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit dem Hinweis auf die Arbeiterklasse als vermeintlich einzigem „Schöpfer des gesellschaftlichen Reichtums“ in der materiellen Produktion, ggf. im Bündnis mit anderen Klassen oder Schichten der „arbeitenden Bevölkerung“ (Bauern, Kleinbürger etc.) beantwortet werden.[40] Stattdessen steht für sie außer Frage, dass die „Zweite Große Transformation im 21. Jahrhundert“ nur noch als das gemeinsame Werk eines breiten Bündnisses gleichberechtigter, ökonomisch, politisch und kulturell definierter sozialer Gruppen und Bewegungen begriffen werden kann.
Der dem Operaismus[41] nahestehende italienische Aktivist Mimmo Porcaro (2015) hat darauf hingewiesen, dass dem Projekt eines solchen Bündnisses bisher jedoch eine präzisere theoretische Begründung fehlt. Er versucht, die klassische marxistische Sicht von der privilegierten Rolle der Arbeiterklasse in der sozialen Revolution mit den Entwicklungen und Erfahrungen des Kapitalismus im Laufe des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, indem er die Gesamtheit der Arbeiter und Arbeiterinnen, die durch den globalisierten Kapitalismus in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen ausgebeutet werden, als eine zahlenmäßig große, in Teilen der Welt noch immer wachsende Masse von Menschen begreift, die ein objektives Interesse und vielfach auch ein subjektives Bedürfnis nach Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse hat. Der globale „Gesamtarbeiter“ stelle daher noch immer eine bedeutende, wenngleich nicht länger geschichtsphilosophisch oder politisch privilegierte Fraktion der teils spontanen, teils organisierten internationalen antikapitalistischen Bewegungen dar.
Es genüge andererseits aber auch nicht, alle oppositionellen, kapitalismuskritischen Gruppen mit ihren sehr unterschiedlichen Erfahrungen, Motiven und Zielvorstellungen durch bloße Addition ihrer divergierenden Kräfte voluntaristisch zusammenzufassen. Zur Konstitution eines realen Subjekts der Transformation bedürften die verschiedenen Fraktionen des globalen Gesamtarbeiters, wie die unterschiedlichen sozialen und politischen Bewegungen nicht nur eines gemeinsamen Gegners, sondern auch eines in ihren je spezifischen Kampferfahrungen und in Diskussionen untereinander, d.h. als Resultat eines komplexen Lern- und Verständigungsprozesses sich herausbildenden gemeinsamen Ziels. „Wird das populare Bündnis auf diese Weise definiert, dann ist es weder eine ‚reine’ Klassenfront noch ein populistisches Bündnis. Im Unterschied zu letzterem verteidigt es nicht einen Teil des Volkes gegen einen anderen, es verherrlicht nicht die spontanen Qualitäten des Volkes, sondern regt es zur Selbsttransformation und Selbstbildung an. Es vertraut sich nicht einem Führer an, sondern entwickelt autonome Institutionen und strukturierte Parteien. Und es kämpft nicht nur gegen einige Sektoren des Kapitalismus (die ‚Spekulanten’, die ‚Parasiten’), sondern gegen das Ganze der kapitalistischen Ordnung.“[42]
Bei dem Problem der Konstitution dieses historisch neuen „multiplen“ Subjekts spielen in den strategischen Überlegungen der Transformationstheoretiker zwei Momente eine wesentliche Rolle: „Große Erzählungen“ (II) und „Reale Utopien“ (III).
II. Große Erzählungen
„Ohne Erzählung ist jeder Kampf verloren.“
Demonstrationsplakat, Bologna[43]
„… viele Böse, einige Gute. Wieder erzählt
die Autorin also eine großartige Story.
Solche Stories werden gebraucht.“
Michael Brie[44]
„Eine neue Erzählung der Linken handelt von
der Menschheit am Rande des Abgrunds.“
Dieter Klein[45]
„Ein alternatives Gesellschaftsprojekt setzt zwar theoretische Grundlagen voraus und muss dies auch sichtbar machen. Aber von diesem Projekt ist auf solche Weise zu erzählen, dass es die Herzen der Adressaten erreicht. Eine bloße Theorie ist kaum als Herzensangelegenheit zu bezeichnen. Eine politische Erzählung könnte als Balanceakt zwischen theoretischem Gesellschaftsentwurf und Angebot an die Gefühlswelt von Akteurinnen betrachtet werden. Eine neue große Erzählung der Linken wird gleichermaßen theoretischem Anspruch wie dem Anschluss an die innere Welt der Menschen gerecht werden müssen.“[46]
Dieter Klein kennt seinen Lyotard (1986), der vor der Faszination der zentralen Idee, die jeder großen Erzählung über Gesellschaften ihre hegemoniale Kraft verdanke, gewarnt hatte, weil er die Gefahr einer Überhöhung dieser Idee zu einem absoluten und alleingültigen Erklärungs- und Orientierungsprinzip gesellschaftlicher Entwicklung für unausweichlich hielt. „Die Frage ist, ob die Linke, ohne in den Ideenabsolutismus des Staatssozialismus und des Marktradikalismus zu verfallen, eine neue Erzählung hervorbringen kann, deren zentrale Idee emanzipatorisch, hegemoniefähig und toleranzstiftend zugleich ist.“[47] Klein hatte dabei aber vergessen, dass Lyotard nicht nur vor der Absolutheit oder dem „Terror“ der großen Ideen, seien sie spekulativ (Hegel) oder emanzipatorisch (Kant, Marx), gewarnt hatte, sondern zugleich beide (!) als bloße (!) Erzählung – oder als „Sprachspiel“ (Wittgenstein) – ohne universalisierbare Wahrheitslegitimation „dekonstruiert“ zu haben glaubte; mit der Folge des „anything goes“ (Feyerabend) – wonach schließlich auch wissenschaftliche Theorien nichts anderes als mehr oder minder systematisch oder empirisch verbrämte Narrative sind.[48]
Das Risiko intellektueller und moralischer Beliebigkeit, das mit jeder Erzählung, die sich – und das ist das Gattungsmerkmal – vorrangig an das „Herz“ oder die „Gefühlswelt“ der Adressaten wendet, einhergeht, ist, dass dabei in letzter Instanz nicht die theoretische Substanz (Wahrheit, Gültigkeit), sondern das rhetorische Gelingen, in unserem Fall also die Mobilisierbarkeit der Adressaten – nach Klein die Gesamtheit der unteren und mittleren Gesellschaftsschichten, incl. des „aufgeklärte(n), sozial denkende(n) Bürgertum(s)“ – entscheidend ist.[49]Die Erinnerung an dieses Risiko erscheint in einer Zeit, in der politisch „rechte Erzählungen“ unerwarteten Widerhall finden, umso notwendiger, als die historischen Erfahrungen warnen sollten! Nach dem faschistischen Marsch auf Rom (1922) bemerkte Carl Schmitt, nicht ohne Genugtuung, der irrationale Mythos der faschistischen Rechten habe sich gegenüber dem rationalen der marxistischen Linken als stärker erwiesen.[50] Ein Faktum, das sich nicht nur ein Jahrzehnt später in Deutschland wiederholte, sondern auch heute wieder – trotz (oder gar wegen?) der „organischen Krise“ des neoliberalen Kapitalismus – die Frage hervorruft „warum sind die Rechten erfolgreicher als die Linken?“[51]
Ernst Bloch war in den 1930er Jahren der erste, der sich angesichts des siegreichen Faschismus diese Frage aus der Perspektive eines authentischen Marxverständnisses gestellt hat.[52] Im Unterschied zum nationalen oder rassistischen Mythos des Faschismus, dessen Massenwirkung sich vor allem aus den verzweifelten Distinktionsbedürfnissen des in der Wirtschaftskrise verarmten und von Abstiegsängsten geplagten Kleinbürgertums und der proletarisierten Angestelltenschichten nach „unten“ speiste, sei der Marxsche Kommunismus eine konkrete Utopie, die den objektiven Bedürfnissen und realen Sehnsüchten der Arbeiterklasse wie aller Ausgebeuteten und Unterdrückten gleichermaßen entspreche. Zum einen – so Oskar Negt – „dechiffriert Bloch unablässig die faschistischen Ideologien als eine diffuse Ansammlung von deformierten Ideen des einst revolutionären Bürgertums (…) und realen, wenn am Ende auch als Betrug sich erweisenden Bedürfnisbefriedigungen.“[53] Zum anderen aber kritisiert er auch den „phantasielosen“, „unphilosophischen“, „mechanistischen Intellektualismus“ des zeitgenössischen Vulgärmarxismus, der viele verzweifelte Menschen in die Arme der Nazis getrieben habe. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders dann nicht, wenn er keines hat; dieser Lehrsatz ist unumstößlich. Er gilt auch für politisch geschultere Länder als Deutschland, d.h., es ist überall notwendig, die Traumgebiete der Phantasie konkret zu besetzen, anstatt sie abstrakt auszukreisen und den interessierten Verstandesfeinden zum Betrug zu überlassen.“[54]
Reduktion von Komplexität
Voraussetzung dazu ist freilich, dass die Adressaten einer „linken Erzählung“ zwischen Vernunft und Wahnvorstellungen, Wahrheit und Lüge mit hinreichender Sicherheit unterscheiden können. Die dazu erforderliche Urteilkraft kann nicht durch ein bloßes „Angebot an die Gefühlswelt der Adressaten“, sondern nur durch gründliche (politische) Bildung[55] einerseits und politisch-praktische Lernprozesse andererseits erlangt werden; gelingt dies, dann kann gesagt werden: „Nur noch Utopien sind realistisch.“[56]
Die Aufgabe ist jedoch alles andere als einfach, wie der Soziologe Bob Jessop weiß: „Die verstärkte Selektion und Reduktion von Komplexität trifft auch zu für Gesellschaftsformationen im Übergang zu einer sozialen Emanzipation und zu einer gesellschaftlichen Transformation sowie auf jene, in denen solche Transformationen stattgefunden haben. Das verweist darauf, dass es einer strategisch essentialistischen radikalen Imagination bedarf, die die Komplexität einer bestimmten Handlungskonstellation reduziert, um zur Grundlage für soziale Mobilisierung zu werden und das strategisch selektive Rahmenwerk darzustellen, innerhalb dessen Foren, Netzwerke, Parteien und soziale Bewegungen ihre Aktionen über Plätze, Räume, Territorien und Zeit koordinieren können. Dies ist die Bedingung dafür, Fähigkeiten zu entwickeln, um ein demokratisch-sozialistisches Projekt zu initiieren, zu verstärken und zu konsolidieren (…). Umso komplexer die Gesellschaftsformation und umso globaler ihre Ausbreitung (mit der Weltgesellschaft als dem letztendlichen Horizont strategischer Kalkulation), umso größer ist die Notwendigkeit der Reduktion von Komplexität in radikalen sozialen Imaginationen.. [Zugleich gilt aber auch: – WG] …nicht alle Imaginationen haben die Kraft, soziale Transformationen, basierend auf dem ‚korrekten’ Lesen der situativen Möglichkeiten, zu organisieren und zu führen.“[57]
Als Beispiel für letztlich falsche Reduktionen verweist Michael Brie auf das seiner Ansicht nach durchaus verdienstvolle Buch von Naomi Klein (2015), in dem die Autorin die These vertritt: „als die weitreichendste Krise … kann der Klimawandel … die Kraft – der große Schub – sein, der alle … noch lebendigen Bewegungen zusammenführt. Ein reißender Strom, in dem zahllose Bäche münden, die mit vereinter Kraft das Meer erreichen.“[58] Obwohl Noami Klein eine „großartige Story“ erzähle, bezweifelt Brie, dass die darin enthaltene Reduktion der globalen Krise auf den Klimawandel in der Lage sei, die weltweit sozial, politisch und kulturell zersplitterte Opposition gegen den Kapitalismus zu einigen oder gar in ihren „Bann“ (248) zu ziehen. Aus den Erfahrungen der Spontaneität und Diversität und dem zumindest partiellen Scheitern der jüngsten sozialen Bewegungen, insbesondere seit dem Ausbruch der großen Krise des Finanzkapitalismus 2007ff.,leitet Dieter Klein die „zentrale Herausforderung“ für eine „moderne linke Erzählung“ ab, dass sie nämlich in Stil und Kommunikationsweise sowohl dem Bedürfnis nach „Selbstermächtigung der vielen Akteure“ entspricht und deren ganz eigenen Vorstellungen von einer anderen besseren Gesellschaft anerkennt, und doch zugleich einen „eigenen und einenden Beitrag auf der Suche nach gemeinsamen Strategien für eine gerechte und solidarische Gesellschaft“ einzubringen habe.[59]
Klein schlägt dazu ein Ensemble aus vier gleichberechtigten und zusammengehörenden Teilerzählungen (die „vier U“) vor, die „Leitideen“ für den „Inhalt einer Zweiten Großen Transformation“ markieren sollen:
- Gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht;
- Ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft;
- Demokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft;
- Umfassende Friedenssicherung und Solidarität.
„In jedem dieser Aspekte geht es um die ‚Mitte’ eines demokratischen und grünen Sozialismus, um die freie Individualitätsentfaltung einer und eines Jeden durch die sozial gleiche Teilhabe an den Bedingungen voller Persönlichkeitsentwicklung.“[60]
Kleins relativ ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen „Leitideen“, wie zu ihrem auf die gemeinsame „Mitte“ verweisenden Zusammenhang, werden von ihm durch den Hinweis auf zahlreiche Fakten ebenso gestützt wie durch kenntnisreiche und kluge Überlegungen zusammengehalten. Aber sie sind, wie er selbst einräumt, nicht schon die von ihm geforderte „Erzählung“, die neben der Vernunft auch die „Herzen“ jener zahlreichen potentiellen Akteure ansprechen soll, die allein einen voraussichtlich lang andauernden Transformationsprozess mit Mut, Phantasie, Ausdauer und Augenmaß zugleich verwirklichen könnten. Sie könnten allenfalls ein „Gerüst“ vorschlagen, „das einer wortmächtig formulierten und realistisch fabulierenden Erzählung inneren Zusammenhang geben könnte.“[61] Das Ideal einer solchen Erzählung gebe es in der realen Welt zwar nicht, aber gewisse Vorbilder durchaus. Klein erwähnt beispielhaft neben der Bibel (heute würde man wohl auch den Koran in diese Reihe wieder aufnehmen müssen) und dem Kommunistischen Manifest auch Franz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ bis hin zu Stéphane Hessels „Empört Euch“ – und man könnte gewiss noch eine Reihe historisch ähnlich mehr oder minder politisch wirksamer Texte hinzufügen. Aber zumindest die zuletzt genannte Flugschrift, die die kurzlebige Bewegung der spanischen Indignados[62] mit ihrer oberflächlich-aufrührerischen Rhetorik inspiriert haben soll, belegt, dass bei weitem nicht jede „soziale Imagination“ auf dem richtigen „Lesen“ der realen Situation beruht und daher auch „nicht die Kraft hat, soziale Transformationen ... zu organisieren und zu führen“, wie Bob Jessop es ausdrückt (s.o).
Was aber eine in der Perspektive emanzipatorischer Transformation „gute“ Erzählung ausmacht, ist nicht zuletzt auch eine realistische Einschätzung der Beharrungskräfte und des Widerstands der Gegner, d.h. der Macht der herrschenden Klassen bzw. des „herrschenden Blocks an der Macht“. Wo deren Hegemoniefähigkeit unbewusst oder bewusst, etwa um die Adressaten der emanzipatorischen Erzählung nicht zu entmutigen, unterschätzt wird, droht Enttäuschung, ggf. langfristige Entmutigung, wenn sich kurzfristige Erfolge nicht einstellen. Dies zu betonen erscheint notwendig, weil die meisten Transformationstheoretiker sich mit der Analyse der Macht, auch der Machttechniken der Herrschenden und ihren Wirkungsweisen innerhalb der „subaltern“ gehaltenen Massen – um es vorsichtig auszudrücken – schwer tun. Hier scheinen die strategischen Grenzen einer „linken Erzählung“ zu liegen, sofern sie ihrer „Natur“ oder ihrer Funktion nach dazu tendiert, die tatsächliche Komplexität der Machtstrukturen des bestehenden Systems zum vermeintlichen Nutzen der „Subalternen“ allzu sehr zu „reduzieren“ – mit dem von Jessop klar ausgesprochenen Resultat des Verlusts der Glaubwürdigkeit eines eigenen, alternativen Hegemonieanspruchs.
Die Fairness gebietet es festzuhalten, dass die meisten Transformationstheoretiker die angestrebte Zweite Große Transformation zu einem demokratischen Sozialismus keineswegs als das einzige oder auch nur als das wahrscheinlichste Szenario der zukünftigen Entwicklung des globalen Gesellschaftssystems ansehen. Vielmehr listen sie in der Regel mehrere mögliche Szenarien auf, allerdings stets mit dem Hinweis darauf, dass allein die von ihnen favorisierte demokratisch-sozialistische Transformation geeignet sei, die vielfältigen „organischen“ Krisen des neoliberalen Kapitalismus zu überwinden und damit schließlich auch die durch dessen Wachstums- und Akkumulationsmodell induzierten „globalen Probleme“ (Ungleichheit, Armut, Klima- und Kriegsgefahr) zu lösen.
Dieter Klein nennt vier solche Szenarien noch innerhalb des Kapitalismus: I. Neoliberales „Weiter so“, II. „Weiter so“ – noch autoritärer und entzivilisierter, III. staatsinterventionistisch modifizierter und grün modifizierter Neoliberalismus und IV. sozial und ökologisch regulierter postneoliberaler Kapitalismus (Green New Deal).[63] Die „Pointe linker Strategie“ liege darin, die angestrebte Große Transformation nicht in einem einzigen, sondern in einem doppelten Schritt, d.h. zunächst über eine „kleine Transformation“, wie sie das Szenario IV darstelle, vorzubereiten, um dann schließlich – bei entsprechender politischer Mobilisierung – darüber hinaus ein Szenario V: „Solidarische gerechte Gesellschaft im Einklang mit der Natur oder demokratischer grüner Sozialismus“ zu verwirklichen.[64] Diese Strategie verlange zwar einen „langen Atem“, verspreche aber „politischen Gewinn“, da sie die überkommenen „Gräben zwischen reformistischen Strömungen der Linken und radikalen, revolutionären Kräften“ überwinden könne und weitergehende Bündnisse mit progressiven Kräften eröffne. „Angesichts der Zentralität breiter demokratischer Allianzen und dadurch möglicher Veränderungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen für progressiven Wandel ist das ein unschätzbarer Vorteil eines emanzipatorischen Transformationskonzepts.“[65]
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[1] D. Klein (2014), 101.
[2] M. Brie (Hg.) (2015b), Vorwort.
[3] R. Reißig (2008), 73.
[4] M. Brie, R. Reißig, M. Thomas (Hg.) (2016), 3. Vgl. auch die Kritik in M. Thomas (2014).
[5] D. Klein a.a.O. Außer der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) veranstaltet etwa auch die Konrad-Adenauer-Stiftung seit längerem „Transformationskonferenzen“; letztere etwa 2015 u.a. zur „Zukunft des Westens“, 2016 zur „Digitalen Revolution“, zur „Nachhaltigkeitswende“ u.a.; ähnlich die Bertelsmann-Stiftung, Burda-Stiftung. Vgl. auch H.-G. Soefner (Hg.), (2008);WBGU (2011). Das 42. Weltwirtschaftsforum in Davos stand 2012 unter dem Thema „The Great Transformation. Shaping New Models“. Vgl. M. Thomas, a.a.O., 281ff.
[6] R. Reißig (2008), 73.
[7] Vgl. dazu das entsprechende Stichwort in der deutschen Ausgabe von Wikipedia.
[8] D. Klein (2010), 1, Spalte 2.
[9] Das berühmt-berüchtigte Buch von Francis Fukuyama (1992) wird zwar allseits wegen seiner zumeist missverstandenen Hauptthese kritisiert, zugleich aber in zahlreichen Untersuchungen dieser Art inhaltlich implizit vorausgesetzt.
[10] D. Klein (2013), 53.
[11] R. Reißig (Hg.) (1993).
[12] „Die Transformation im Osten, der Untergang der sozialistischen Gesellschaft sowjetischen Typs, ist eben nicht das Ende, sondern lediglich der Auftakt einer neuen, umfassenderen Transformation; im Osten und gerade auch in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften.“ R. Reißig (2012a), 4.
[13] Zur Problematik des „Epochenbruchs“ vgl. D. Boris (2014). E. Altvater hat für den historisch grundlegenden Charakter der Zäsur 1973ff („Erdrutsch“ nach Hobsbawm) folgende bemerkenswerte Hypothese vorgelegt: „Die 1970er Jahre waren ein Knotenpunkt der Entwicklung, der Koinzidenz langfristiger Tendenzen, ökonomischer Akkumulationszyklen und kurzfristiger Ereignisse. In der Interpretation der vielschichtigen Geschichte begegnet uns der seit Karl Marx bekannte, aber häufig verkannte ‚Doppelcharakter‘ der Ware und der Arbeit, die Gleichzeitigkeit von Wert und Gebrauchswert, von Naturalform und Wertform, von konkreter und abstrakter Arbeit. Denn die langfristig wirkenden Naturbedingungen sind in der Geschichte ebenso präsent und für die Zukunft relevant wie die Akkumulationszyklen von Wert, Geld und Kapital mit mittlerer Reichweite und die kurzfristigen Ereignisse. Doch diese Schichten bilden in der kapitalistischen Gesellschaftsformation eine Einheit. Es gibt nur eine Geschichte, ebenso wie der Doppelcharakter die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsformation insgesamt, also als Einheit determiniert.“ E. Altvater (2014), 22 (Hervorh. WG).
[14] R. Reißig (Hg.) (1993), a.a.O.
[15] Vgl. etwa Green New Deal Group (2008); dagegen: Institut Solidarische Moderne(2011); E. Altvater (2007).
[16] R. Reißig (2014), 55.
[17] Vgl. H.-J. Urban (2009)
[18] K. Polanyi (1978), 334; zu Polanyis Sozialismus vgl. M. Brie (2015a), 9, 31-39 u.a.
[19] „Marktgesellschaft“, „Entbettung“, „Kommodifizierung“, „Gegenbewegung/Doppelbewegung“ u. a.
[20] D. Klein (2014), 101.
[21] R. Reißig (2008), 75.
[22] A.a.O., 76.
[23] M. Brie (2015a ,76) glaubt dagegen, schon bei Polanyi die Ansätze zu einer neuen Großen Transformation entdeckt zu haben. Dabei gerät er aber in die Verlegenheit, die von Polanyi analysierten zeitgenössischen alternativen Szenarien zur liberalen Marktgesellschaft: Faschismus, New Deal und sowjetischen Sozialismus als Indizien für den Beginn einer solchen Transformation zu sehen, deren eigentliches Ziel jedoch eine demokratische Gesellschaft sei, die die Selbstregulierung des Marktes durch De-Kommodifizierung (Aufhebung des angeblich ohnehin bloß ‚fiktiven’ Warencharakters) der Arbeit, des Bodens (Natur) und des Geldes überwinde. (Vgl. auch a.a.O., 74, 79-81).Eine marxistische Kritik dieser und anderer Vorstellungen Polanyis steht – trotz einiger Bemerkungen bei Burawoy (2015) und Porcaro (2015) – noch immer aus.
[24] Als normatives Leitbild schlägt Reißig eine „nachhaltige ‚Solidargesellschaft’ oder auch ‚solidarische Teilhabergesellschaft’ vor, eine Idee, die „Brücken zwischen den verschiedenen, vielgestaltigen Transformationsakteuren“ schlagen könne. R. Reißig (2012a), 25.
[25] D. Klein (2014).
[26] A.a.O., 103, 104, 106, 107. Vgl. zum Verhältnis von Reform, Revolution und Transformation a.a.O., 120f. Ausdrücklich verweist Klein dabei auch auf die von Jörg Huffschmid und Heinz Jung (1988) vorgeschlagene Konzeption einer antikapitalistischen „Reformalternative“, die als ersten Schritt so etwas wie eine „kleine Transformation“ noch im Rahmen des Kapitalismus vorgesehen habe. Zur „kleinen Transformation“ im Kapitalismus vgl. a.a.O. 13, 22. Zum Verhältnis von „Reformalternative“ und Transformation vgl. Helle Panke (2011).
[27] Lenin spricht in historischer Perspektive gelegentlich von einer notwendigen „Übergangsperiode“. „Theoretisch unterliegt es keinem Zweifel, dass zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus eine gewisse Übergangsperiode liegt, die unbedingt Merkmale oder Eigenschaften dieser beiden sozial-ökonomischen Formationen in sich vereinen muss.“ (LW 30, 91) Ähnlich verwendet Bucharin den Begriff der „Übergangsperiode“ (in der dt. Übersetzung von 1920 (!): „Transformationsperiode“. Vgl. N. Bucharin (1970).
[28] Eine Ausnahme bildet allenfalls Gramsci, dessen Terminus „Transformismus“ allerdings nicht als allgemeines Konzept des gesellschaftlichen Wandels oder Umbruchs gedacht war, sondern sich kritisch auf die historisch bestimmte Form einer „passiven Revolution“ im italienischen Risorgimento bezieht. Vgl. A. Gramsci (1991ff.), Bd. 5, 966f. Zum Verhältnis von „passiver Revolution“ und „sozialistischer Transformation“ vgl. M. Candeias (o.J.) Wenn bei Gramsci auch der Begriff fehlt, so war ihm die Problematik der Transformation durchaus bewusst. Vgl. dazu W. Baier (2010).
[29] Vgl. zur Konzeption A. Gorz (1967). Ähnlich L. Basso (1967), ders. (1969). Die strukturelle Ähnlichkeit zum strategischen Konzept „doppelter Transformation“ Dieter Kleins liegt allerdings auf der Hand.
[30] M. Burawoy (2003), 193f. [Übers..-WG, orig. engl.]: „For many, the death of socialism, both in reality and in the imagination, has spelled the final death of Marxism. Nonetheless, Marxism continues to offer the most comprehensive critique of capitalism as well as a compelling guide to feasible alternatives. Indeed, the longevity of capitalism guarantees the longevity of Marxism. But longevity also implies reconstruction. As capitalism rebuilds itself so must Marxism”. Vgl. auch Burawoy (2015): Gramsci beim Übergang vom ‚sowjetischen‘ zum ‚westlichen‘, Polanyi beim Übergang zum ‚soziologischen‘ Marxismus. Vgl. dazu Fn 39; vgl. auch W. Baier (2010).
[31] Vgl. S. C. Humphreys, Einleitung: Geschichte, Volkswirtschaft und Anthropologie: das Werk Karl Polanyis, in: K. Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, 7-59.
[32] M. Burawoy (2015, 149, 151) bemerkt dazu allerdings kritisch: „Polanyi kam zu dem Ergebnis, die Folgen des Marktfundamentalismus seien derart gravierend, dass die Menschheit niemals mehr damit experimentieren würde. Er sollte sich irren – der Marktfundamentalismus traf unseren Planeten in den 1970er Jahren erneut, bedrohte die menschliche Existenz und vernichtete Gemeinschaften. Die Ursache für Polanyis verfehlten Optimismus besteht darin, dass er die Logik des Kapitalismus nicht wirklich ernst nimmt. … Da wir wissen, dass sich Polanyi in Bezug auf die Zukunft irrte, wird auch die Darstellung der Vergangenheit fragwürdig.“
[33] Nach M. Brie (2015a, 33) ist Polanyi „zugleich einer der heute am meisten gelesenen und am meisten missverstandenen sozialwissenschaftlichen Denker des 20. Jahrhunderts. Auf sein Werk einzugehen, ohne die treibenden sozialistischen wie antifaschistischen Intentionen des Autors theoretisch ernst zu nehmen, verfehlt seine eigentliche Fragestellung und nimmt seine Darstellung als eine bloße Erzählung über die Geschichte Englands und Westeuropas des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.“
[34] Neben Burawoy und Wright sind hier vor allem die „Assoziationstheoretiker“ Hirst, Cohen/Rogers, Bader u.a. zu nennen. Vgl. hierzu auch weiter unten (in Z 111) Kap. IV, Kritik.
[35] Vgl. zur Übersicht: I. Elbe (2010) bis zur „Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus“, von der verschiedene (Unter) Varianten existierten. Vgl. zur vorsichtigen Selbstkritik: J. Huffschmid (1995b).
[36] D. Klein (2013, 13).
[37] Als Beispiel für die kulturelle „Identitäts- und Orientierungskrise“, die das neoliberale Freiheitsversprechen innerhalb der Sozialwissenschaften und – nach dem Scheitern des „Realsozialismus“ – auch innerhalb von Teilen der damaligen Linken hervorgebracht hat, kann das Werk der SoziologInnen L. Boltanski, È. Chiapello (2003) gelten. Ähnlich wie Foucault analysieren die AutorInnen den „neuen Geist des Kapitalismus“ anhand der Selbstdeutungen seiner neoliberalen Agenten (Managementliteratur etc.), wie darin die von ihnen – im Unterschied zur angeblich überholten „Sozialkritik“ – so genannte „Künstlerkritik“ (Kritik an der entfremdeten Arbeit – man denke an die sozialen Experimente in manchen Betrieben der 1970er Jahre) aufgenommen wurde, um sie einerseits als „Befreiung der Arbeit“ (Individualisierung, Autonomie, Kreativität etc.) zu feiern und gleichzeitig als probates Mittel zur Steigerung der Produktivität einzusetzen. Vgl. dazu kritisch etwa C. Kaindl (Hg.) (2007).
[38] Vgl. H. Lange (1983).
[39] Nach Burawoy (2015, 145-164) hat sich der Marxismus in „drei Wellen“, vom „klassischen“ über die weltregionalen Formen „sowjetischer“, „westlicher“ und „Dritte Welt Marxismus“ spätesten zu Beginn des 21. Jh. zu einem „globalen“, d.i. „soziologischen Marxismus“ entwickelt, der zwar die nationalen und weltregionalen Besonderheiten weiterhin anerkennt, „aber auch die drängenden Erfahrungen umfasst, die, wenn auch unter ungleichen Voraussetzungen, überall auf der Welt geteilt werden“. (163)
[40] „Die in der marxistischen Theorie als Träger und Hauptakteur einer sozialistischen Transformation angesehene Kraft – die Arbeiterklasse – hat diese Funktion nicht erfüllen können.“ K. Steinitz (2017), 22.
[41] Vgl. dazu Teil II dieses Berichts in Z. 108.
[42] M. Porcaro (2015), 88.
[43] Klein (2012, 119) zitiert das „Book Shield“ eines Demonstranten der Gruppe Wu-Ming aus Bologna.
[44] Gemeint ist Noami Klein. M. Brie (2015c, 243)
[45] D. Klein, a.a.O., 131, Sp. 1.
[46] D. Klein, a.a.O.
[47] A.a.O.
[48] Vgl. J.-F. Lyotard (1986).
[49] Vgl. J. Habermas (1985), 219-247.
[50] „… wo es zu einem offenen Gegensatz der beiden Mythen gekommen ist, in Italien, hat bis heute der nationale [in Wahrheit rassistische – WG] Mythus gesiegt. Seinen kommunistischen Feind malte der italienische Fascismus mit einem grausigen Bild, dem mongolischen Gesicht des Bolschewismus; es hat größeren Eindruck gemacht und stärkere Affekte hervorgerufen als das sozialistische Bild vom [profitgierigen – WG] Bourgeois.“ C. Schmitt (1969), 88f. Zu den „Erzählungen“, d.i. den „Mythen der Rechten“ vgl. J. Müller (1995); neuerdings V. Weiß (2017).
[51] P. Anderson (2017), 1.
[52] „…der Erfolg der nationalsozialistischen Ideologie quittiert, seines Teils, den allzu großen Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; er war bei Engels völlig anders gemeint.“ E. Bloch (1985), 66; vgl. auch ders. (1972).
[53] O. Negt, in: E. Bloch (1972b), 441.
[54] Negt zit. Bloch, in: E. Bloch (1972b), 440.
[55] Zur kritischen Theorie der Bildung vgl. etwa A. Demirovic (2015).
[56] Vgl. O. Negt (1968), ders. (2012). Unter dieser Bedingung gilt auch die These von Fritz Behrens, „man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein …“. zit. n. G. Krause, D. Janke (Hg.) (2010), 234. Vgl. zur politischen Bedeutung von realen Utopien heute auch: I. Wallerstein (2002) und E. Altvater (2007), 216-224.
[57] B. Jessop (2014), 132-133 (Hervorh. WG).
[58] N. Klein, zit. n. M. Brie (2015c), 245.
[59] D. Klein (2013), 58. (Hervorh. WG)
[60] Vgl. hierzu insgesamt: A.a.O., 55-109. Zitat als Fazit: 109; auch ders. (2012).
[61] A.a.O., 62.
[62] Ob die daraus hervorgegangene Bewegung Podemos (etwas polemisch übersetzt: „Yes wecan“, dt. „Wir schaffen das“) die „Kinderkrankheiten“ der Vorgängerbewegung überwinden kann, wird sich zeigen. Vgl. R. Zelik (2016), darin: Warum Podemos kein Modell ist, 60-66.
[63] Klein (2013), 34-53.
[64] Schon Huffschmid/Jung (1988/2010) hatten verschiedene Varianten des staatsmonopolistischen Kapitalismus unterschieden, die für eine „Reformalternative“ ganz unterschiedliche Voraussetzungen böten. Zur Variantendiskussion sh. auch verschiedene Beiträge in Marxistische Studien. Jahrbuch des IMSF, Frankfurt/M., 1978ff.
[65] Klein (2013), 166.