100 Jahre Spaltung der deutschen Sozialdemokratie
Kolloquium der Friedrich Ebert Stiftung, 16. bis 17. Februar 2017, Berlin
Der auf Einladung von Prof. Uli Schöler und Thilo Scholle in Kooperation mit dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführte Autorenworkshop am 16./17. Februar 2017 befasste sich intensiv mit der Aufarbeitung des 100 Jahre zurückliegenden Spaltungsprozesses der deutschen Sozialdemokratie und der Formierung der sich in Konkurrenz und Systemkonflikt bewegenden Strömungen der Arbeiterbewegung. Nicht die Beschwörung tradierter Muster der politisch-ideologischen und historiographischen Identitätsstiftung seit dem I. Weltkrieg und der Novemberrevolution stünden im Blickpunkt dieses Kolloquiums, sondern die Betrachtung und Diskussion vielgestaltiger Prozesse, die in diesen Spaltungsprozesses hineinwirkten, so Prof. Dr. Uli Schöler (Berlin) in seiner Eröffnung. Die alten Deutungsmuster von Reformismus, Zentrismus und Radikalismus als kontingenten Strömungen der alten Sozialdemokratie und der Herausbildung der neuen Parteien (M)SPD, USPD und KPD hielten neueren Erkenntnissen wie schon damals beobachtbaren Realitäten längst nicht mehr stand, da allein die USPD ideologisch Vertreter aller Strömungen in sich vereinte. Mithilfe eines biographisch orientierten Ansatzes, so der Jurist Thilo Scholle (Düsseldorf/Berlin), soll in diesem Arbeitsprozess ein wissenschaftliches Diskussionsergebnis entstehen, das noch 2017 als Buch erscheinen soll. Und tatsächlich war das deutliche Bemühen der anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer spürbar, alte Gräben durch neue tragfähige Pfade zu überwinden.
Im ersten Block gab der Germanist Dr. Jens Ebert (Berlin) einen Einblick in sozialdemokratische Feldpostkorrespondenzen während des Krieges, etwa von Käthe und Hermann Duncker oder von Helene und Wilhelm Kaisen. Die „Europadiskussion 1914-1922“ wiederum thematisierte Dr. Willi Buschak an den Protagonisten Max Cohen, Georg Ledebour, Hermann Kranold und Richard Calwer. Während bei Ledebour das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine gleichberechtigte Konföderation konstituierte, liebäugelten Cohen, Kranold und Calwer mehr oder weniger mit einem von Deutschland hegemonisierten kontinentalen Staatenbund ohne Großbritannien und Russland. Moritz Rudolph (Doktorand, Leipzig) charakterisierte die Positionen von Joseph Bloch, des Herausgebers der „Socialistischen Monatshefte“. Dieser favorisierte ein friedliches Kontinentaleuropa, in dem Frankreich dank seiner revolutionären Tradition eine Führungsrolle zukäme.
Den langen Atem Wolfgang Heines auf dem Weg zur „Burgfriedenspolitik“ beschrieb Dr. Bernward Anton (München). Heine habe seit 1898 eine „Kompensationspolitik“ gegenüber dem Reich vertreten, die 1914 zur Zustimmung der SPD-Fraktion zur Bewilligung der Kriegskredite in der Erwartung geführt habe, politische Zugeständnisse für die Arbeiterschaft als Gegenleistung zu erhalten („nationale Integration“). In der historischen Situation des August 1914 zeigte sich, dass festgefügte Blöcke in der SPD nicht zwingend bestanden: „Revisionisten“ wie Bernstein und Eisner waren Burgfriedensgegner, „Zentristen“ wie Cunow und Lensch letztlich Befürworter des Burgfriedens. Und nicht alle Oppositionellen fanden den Weg zur SAG/USPD, wie auch Uli Schöler hervorhob und Gustav Hoch nannte. Mit Hugo Haase wies er auf den Vertreter einer Verständigungslinie zwischen den Konfliktparteien hin, der vergeblich versuchte, Brücken zu bauen und 1916 selbst Opfer antisemitischer Schmähungen aus den eigenen Reihen wurde. Dass auch Gewerkschafter in diesen Spaltungsprozess eingebunden waren, erläuterten der in Mainz lehrende Dr. Reiner Tossdorff (Robert Dissmann) und Prof. Dr. Karl Christian Führer (Carl Legien) von der Universität Hamburg.
Am Folgetag, der eher einem biographisch orientierten Ansatz folgte, präsentierten Dr. Felicitas Söhner (Ulm) die bayerische Sozialistin und Pazifistin Antonia Pfülf sowie Dr. Siegfried Heimann (Berlin) den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Auch Braun stand einer Ausgrenzung der Opposition nach 1916 keineswegs uneingeschränkt positiv gegenüber. An der Person Rudolf Hilferdings wurde im Vortrag von Stefan Hillger (Braunschweig) erkennbar, wie sehr diese Frage die handelnden Personen umtrieb. Hilferdings Marxismus war stets begleitet vom Bestreben, die Flügel der Partei programmatisch zu einen. Dasselbe konstatierte Uli Schöler für Karl Kautsky, der noch am 4. August 1914 der zerstrittenen Fraktion vergebens einen Kompromissvorschlag vorlegte und zeitlebens für eine gemeinsame Sozialdemokratie stand. Holger Czitrich-Stahl (Glienicke) charakterisierte Georg Ledebour als einen Politiker, an dem sich die Geister schieden und die sich durch eher konfrontatives denn integratives Agieren auszeichnete. So betrachtet musste sein Plädoyer für eine pluralistische linkssozialistische Partei incl. der Kommunisten ins Leere laufen. Es folgten der Historiker Dr. Volker Stalmann, der den Rätetheoretiker Ernst Däumig vorstellte, und Thilo Scholle mit einem Vortrag über Paul Levi, an dessen Leben sich die ganze Differenziertheit auch der politischen Gruppen zwischen SPD und KPD ausdrückte. Prof. Dr. Jörg Wollenberg (Bremen) schließlich sprach über die deutlich links agierende Bremer Sozialdemokratie, die Arbeiterräte und sozialistische Zeitungen wie die „Bremer Bürgerzeitung“ und die „Arbeiterpolitik“.
Prof. Dr. Detlef Lehnert (FU Berlin/Paul Löbe Stiftung) eröffnete den Schlussteil des Kolloquiums mit einem Vortrag über Paul Löbe und dessen Arbeit in der „Einigungsstelle“ SPD/USPD. Auch Löbe als moderater Kritiker des Burgfriedens war in der MSPD verblieben. Den Schlusspunkt setzte Philipp Kufferath (Bonn/Archiv für Sozialgeschichte), der die Entstehung der Arbeiterwohlfahrt aus dem Kontext von Weltkrieg und Spaltung herleitete.
Abschließend einigten sich die Teilnehmer darauf, den biographischen Ansatz zu erweitern. Z. B. sollten die persönlichen Dimensionen der Spaltung zwischen den handelnden Personen stärker betrachtet und bewertet werden, denn die Trennung der Sozialdemokratie in MSPD, USPD und KPD war viel mehr als eine reine ideologische Spaltung, sowohl persönliche als auch generationsspezifische Ursachen sowie die jeweilige Grundhaltung zu Krieg, Frieden und Landesverteidigung standen jeweils Pate. Außerdem bedarf es einer historisch-konkreten und organisationspolitischen Einbettung der biographischen Betrachtung der Handelnden in die herrschenden Rahmenbedingungen. Dies soll in die in erweiterter Form gestaltete Buchausgabe einfließen.
Holger Czitrich-Stahl
Echo der Russischen Revolutionen
Treffen von Gewerkschaftslinken und Bewegungsaktiven, 23. Februar 2017, Berlin
Eine gutbesuchte Halbtageskonferenz fand am 23. Februar 2017 in der „Hellen Panke“ – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin zum Thema „Das Echo der Russischen Revolutionen“ statt. Nach einer Einführung von Stefan Bollinger sprachen fünf Referenten. Während die im Programm vorgesehenen Beiträge ein differenziertes, generell aber die historische Bedeutung der Oktoberrevolution unterstreichendes Bild zeichneten, ging es in der freien Diskussion kontrovers zu. Im Einzelnen lassen sich die Streitpunkte in einem knappen Bericht nicht wiedergeben. Die Geister schieden sich vor allem an zwei Fragen: 1. am Verhältnis zwischen Februarrevolution und Oktoberrevolution und dem historischen Stellenwert beider Ereignisse, 2. an der Frage, ob die Oktoberrevolution von vornherein einen Bruch mit dem emanzipatorischen Anspruch der Arbeiterbewegung dargestellt habe oder ob sie auch emanzipatorische Veränderungen eingeleitet habe.
Je positiver die Februarrevolution und die durch die Provisorische Regierung betriebene Politik bewertet wurde, desto negativer wurde die Oktoberrevolution beurteilt (im Einzelfall bis hin zur Stigmatisierung als Pogrom oder Putsch). Und umgekehrt, je deutlicher die Defizite der auf den Februar folgenden Politik und die Verantwortung der Provisorischen Regierung für die Fortführung des Krieges, für die ungelöste Agrarfrage und für die Bekämpfung der radikalen Linken benannt wurden, desto stärker trat die Unausweichlichkeit und Berechtigung des Oktoberumsturzes hervor. Hob die eine Position darauf ab, dass im bolschewistischen Verständnis von Revolution, Macht und Partei per se eine antiemanzipatorische, zum Stalinismus hinführende Politik angelegt war, so betonte die andere die Rolle der Bolschewiki bei der Beendigung des Krieges, der Übergabe des Landes an die Bauern, den kulturellen Aufbruch im jungen Sowjetstaat, die Anerkennung der Homosexualität, des Rechtes auf Abtreibung und andere Errungenschaften.
In den Meinungsverschiedenheiten offenbarten sich letztlich zwei theoretisch-methodologisch unterschiedliche Zugänge zur Geschichte: Eine vom Kollaps des „Realsozialismus“ ausgehende, aus Fehlentwicklungen Schlussfolgerungen ziehende Betrachtungsweise und eine auf die realen Umstände in Zeit und Ort verweisende, das gesamte Umfeld, die realen Handlungsspielräume und den zeitgenössischen Erfahrungshorizont respektierende Interpretation.
Die Anstöße zu den hier skizzierten Debatten, in denen die Mehrheit die historische Bedeutung der Oktoberrevolution anerkannte und Verständnis für das Agieren der Bolschewiki zeigte, gingen von den Referenten aus. Bollinger hatte die Geschehnisse von Februar 1917 bis zum Beginn der Neuen Ökonomischen Politik und der Gründung der UdSSR im Jahre 1922 als durchgängigen revolutionären Prozess vorgestellt und die weltweite Fanalwirkung der Oktoberrevolution und Sowjetrusslands hervorgehoben. Diese sei für das 20. Jahrhundert so zentral gewesen wie die Französische Revolution von 1789 für das Europa des 19. Jahrhundert. Marga Voigt hatte – gestützt auf die unlängst von ihr herausgegebene Briefedition – Clara Zetkin mit deren eigenen Texten als konsequente Befürworterin der Oktoberrevolution zu Wort kommen lassen. Es war nicht zuletzt diese unreflektierte Wiedergabe, die Kritiker der Oktoberrevolution auf den Plan rief.
Es tat der Tagung gut, dass in zwei Beiträgen auf das Echo der Russischen Revolutionen in anderen Ländern eingegangen wurde und sich somit Vergleichsmöglichkeiten boten. Hans Hautmann stellte die Vorgänge in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie – wie Russland ein Vielvölkerstaat mit einer maroden Dynastie – vor. Hier wurde der Impuls der russischen Revolutionen früh aufgegriffen und führte zu starken Protestbewegungen gegen Krieg und Verelendung. Als aufschlussreich erwiesen sich seine Erklärungen, wie durch das Agieren der Austromarxisten das Entstehen einer starken kommunistischen Partei in Deutschösterreich verhindert wurde. Auf die überwiegend unter anarchistischem Einfluss stehende revolutionäre Bewegung in Spanien ging Reiner Tossdorf ein. Auch hier sahen sich die herrschenden Klassen unter dem Druck der von Russland inspirierten Bewegungen zu Zugeständnissen an die arbeitende Bevölkerung gezwungen.
Mario Keßler stellte anhand von Reiseberichten (Alfons Goldschmidt, Franz Jung, H. G. Wells und Bertrand Russel) vor, wie ausländische Beobachter den frühen Sowjetstaat erlebt und dessen Perspektiven beurteilt hatten. Diesen begrenzten Gesichtskreis ergänzte Marcel Bois durch eine umfassendere Analyse der Rezeption der Russischen Revolutionen in der deutschen Arbeiterbewegung im ersten Jahrzehnt. Sein Blick richtete sich auf die unter dem Einfluss der Russischen Revolutionen ausbrechenden Massenstreiks wie auch auf die unterschiedlichen Positionierungen von Mehrheitssozialisten, Unabhängigen Sozialdemokraten und Spartakisten/Kommunisten. Deutsche Revolutionäre und Lenin waren sich einig, dass das Schicksal der Russischen Revolution davon abhing, ob ihr Impuls in Mittel- und Westeuropa aufgegriffen werde oder ob sie isoliert bliebe, und dass bei einer erfolgreichen sozialistischen Revolution in Deutschland die Vorreiterrolle von Russland auf Deutschland übergehen werde. Diese Konstellation wird von den Kritikern der Bolschewiki oft außer Acht gelassen.
Eine einvernehmliche Klärung der aufgeworfenen Probleme war weder von dieser Tagung zu erwarten, noch ist überhaupt jemals damit zu rechnen. Realistisch angestrebt werden kann nur ein entideologisierter, tatsachennaher, die Zeitumstände wie die Langzeitfolgen berücksichtigender fairer Diskurs. Deshalb war Stefan Bollinger gut beraten, in seinen Schlussbemerkungen darauf zu verzichten, einen nichtexistierenden Konsens herzustellen. Festgehalten sei sein Hinweis, dass die weltweite Wirkung der Russischen Revolutionen auch unabhängig von den inneren Verhältnissen und Auseinandersetzungen im ehemaligen Zarenreich gegeben war.
Günter Benser
50 Jahre Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945
Frankfurt am Main, 25. Februar 2017
In diesem Jahr blickt der in Frankfurt am Main ansässige Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 auf ein halbes Jahrhundert Geschichte zurück. Für das Team und die Mitglieder des Studienkreises Anlass, zur Rückschau und Vorbereitung auf künftige Aufgaben. Wie die Erinnerungskultur sich verändert und welchen Weg sie nehmen wird – auch darum ging es bei einer Festveranstaltung Ende Februar in Frankfurt.
„Wir dürfen nicht bei der Erforschung des Widerstandes gegen Nazi-Deutschland stehen bleiben, Wir müssen analysieren, wo wir heute stehen, und welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen müssen.“ Mit dieser Forderung von Edgar Weick endete die Feier zum 50. Jubiläum des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945. Weick gehörte zu den Initiatoren des Vereins, der im Anschluss an eine Schulbuchkonferenz im Februar 1967 in Frankfurt gegründet wurde. Ziel war es damals, den Widerstand gegen das NS-Regime in seiner gesamten sozialen und politischen Breite zu erforschen und zu vermitteln. Damit sollte auch der Widerstand der Arbeiterbewegung in die Schulbücher gebracht werden. Aus diesem Vorhaben entstand das Dokumentationsarchiv des deutschen Widerstandes, das heute seinen Sitz im Frankfurter Westend hat. Das Arbeitsgebiet hat sich in den vergangen 50 Jahren erweitert auf die Erforschung und Vermittlung aller Formen des Widerstands gegen den Nazi-Terror: die widerständigen Aktionen von Frauen, Jugendlichen, jüdische Menschen, den Angehörigen verschiedener Konfessionen oder Sinti und Roma.
Das Anliegen des Studienkreises wird heute von vielen politischen Kräften geteilt. So überbrachte zur Jubiläumsfeier mit 130 Gästen die Frankfurter Kulturdezernentin Dr. Ina Hartwig die Glückwünsche der Stadt. Die Arbeit des Studienkreises sei unverzichtbar für die historische Spurensuche in Frankfurt. Hartwig mahnte, wie andere Redner, zur Wachsamkeit vor allen, die die Demokratie untergraben wollen. Auch die Leiterin des Gedenkstättenreferates der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) Dr. Monika Hölscher gratulierte der „vermutlich ältesten Gedenkeinrichtung zur NS-Zeit in Hessen“ zum 50-jährigen Bestehen. Zu den Gratulanten gehörten auch Cornelia Kerth (VVN-BdA) und Dr. Gunnar Richter (Gedenkstätte Breitenau, LAG Hessen).
In der anschließenden Diskussionsrunde unter der Leitung von Dr. Thomas Lutz (Topographie des Terrors, Berlin) wurde die Bedeutung des Widerstandes, aber auch die Schwierigkeit seiner künftigen Vermittlung erläutert. Ohne Frage: Die Epoche der Zeitzeugen geht zu Ende; statt ihrer sprechen nun ihre Kinder, wie Mirjam Heydorn eindrücklich bewies. Die Tochter der Widerstandskämpfer Irmgard und Heinz-Joachim Heydorn hat den Mut ihrer Eltern, die sich als junge Menschen für den Widerstand entschieden, als Verpflichtung für ihr eigenes Leben angenommen. Sie und Edgar Weick berichteten eindrücklich, wie wenig Widerstandskämpferinnen und -kämpfer in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren anerkannt und akzeptiert waren. Der Makel der Vaterlandsverräter haftete ihnen lange an. Erst spät konnte Irmgard Heydorn vor Schülerinnen und Schülern von ihren Erlebnissen berichten und so etwas von ihren Erfahrungen weitergeben.
Dr. Christine Müller-Botsch von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin zeigte sich überzeugt, dass das Wissen um die vielfältigen Arten des Widerstands heute zum allgemeinen Wissen gehört. Anders als in den Nachkriegsjahren gelten heute die Widerstandsaktivisten eben nicht mehr als negative Figuren, sondern vielmehr als Vorbilder. Von einem ähnlichen Wandel in der Wahrnehmung berichtete der Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), Dr. Gerhard Baumgartner. Das Wiener DÖW hatte vor 50 Jahren bei der Gründung des Studienkreises Pate gestanden.
Einig waren sich alle TeilnehmerInnen der Veranstaltung, dass der lange Weg der Erforschung und Vermittlung des antifaschistischen Widerstands noch nicht zu Ende ist. In Zeiten des zunehmenden Populismus gilt es, die Sinne zu schärfen für nationalistische Strömungen und wachsam zu bleiben. Dabei hilft der Blick in die Geschichte, wenn man auch mit Analogien zur Jetzt-Zeit vorsichtig sein sollte. Und es gilt, die Geschichte des Widerstandes auch über 70 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, für jüngere Generationen verständlich zu vermitteln.
Der Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 zeigt mit seinem umfangreichen Jubiläumsprogramm, dass es Brücken vom Damals zum Heute gibt. Ein Reihe mit Film-Klassikern, die sich mit dem Widerstand in Europa befassen, ein Konzert mit den „Grenzgängern“, die Lieder des Widerstands neu interpretieren. Mehr Details zum Programm: http://www.widerstand-1933-1945.de/resource/system/3_1479980931.pdf.
Thomas Altmeyer
Prekarisierung Unbound?
Konferenz zum gegenwärtigen Stand der Prekarisierungsforschung aus interdisziplinärer Perspektive – 2. bis 3. März 2017, Humboldt-Universität zu Berlin
Das Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und das DFG-Projekt „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit’ und ‚Liebe’ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“1 der Humboldt-Universität zu Berlin (HU)Berlin lockten knapp 200 TeilnehmerInnen zu einer Tagung, bei der die Begriffe Prekarisierung, Prekarität und Prekariat im Mittelpunkt standen. Begriffe, mit denen in den letzten beiden Jahrzehnten auf die soziale Frage des 21. Jahrhunderts Bezug genommen und nach wissenschaftlichen Diagnosen und Handlungsempfehlungen gesucht wird. Die Tagung war ursprünglich als Abschlusskonferenz des eingangs erwähnten DFG-Projekts geplant. Im Zuge ihrer Vorbereitung kamen jedoch „Fragen über Fragen“ auf, die im Zusammenhang mit Prekarität zu sehen seien, was zu einer Ausweitung der Konferenzthemen führte – so Christine Wimbauer (HU Berlin), in ihrem Eingangsstatement. Einige dieser Fragen lauteten: Was ist für wen prekär geworden? Wie kann man Prekarität messen? Gibt es ein Prekariat und falls ja, wer gehört dazu? Welche Bedeutungen haben Prekarisierung und Prekarität außerhalb westlicher Arbeitsgesellschaften? Welcher gesellschaftspolitische Handlungsbedarf ist hier entstanden?
Hauptvorträge kamen von den drei renommierten Prekaritäts-Forschern Brigitte Aulenbacher, Klaus Dörre und Isabell Lorey. Verschiedene Panels näherten sich der im Veranstaltungstitel aufgeworfenen Frage „Prekarisierung Unbound?“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus Platzgründen können hier keine einzelne Beiträge herausgegriffen werden, daher sei auf die Veranstaltungshomepage2 verwiesen, auf der die Abstracts der einzelnen Konferenzbeiträge zu finden sind. Viele der TagungsteilnehmerInnen bewerteten die Konferenz positiv, was nicht zuletzt der thematischen Vielfalt und der Möglichkeit des Austauschs geschuldet war. Die Panel-Vorträge stellten Ergebnissen aus laufenden Forschungsprojekten oder aus Promotionsvorhaben vor. In den Vorträgen der Keynote Speaker wurden vor allem gesellschaftskritische und politische Dimensionen thematisiert, was für das notwendige „kritische Narrativ“ auf der Konferenz sorgte.
Brigitte Aulenbacher (Johannes-Kepler Universität Linz) stellte in ihrem Vortrag fest, dass Fragen von Gerechtigkeit nicht erst seit den Auftritten von Martin Schulz öffentliche Beachtung erfahren, sondern seit geraumer Zeit im Kontext prekärer Arbeits-, Sorge- und Lebensverhältnisse neu aufgerufen werden. Mit diesen Fragen wird eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Leistungsanforderungen einerseits und Gerechtigkeitsvorstellungen andererseits verhandelt. Die Wandlung zum Social Investment State, in dem Altenpflege als reiner Kostenfaktor einer humankapitalorientierten Strategie gilt, führt Aulenbacher als Beispiel für den Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit in kapitalistischen Gesellschaften an. Mit Social Freezing3 werden biologische Grenzen einzig und allein deswegen außer Kraft gesetzt, um die kapitalistische Verwertung menschlicher Arbeitskraft ununterbrochen aufrecht zu erhalten. Daraus leitet Aulenbacher die These ab, dass wir es mittlerweile mit einer neuen Stufe kapitalistischer Vergesellschaftung sozialer Reproduktion zu tun haben. Selbst- und Fürsorge und Sorgearbeit werden in verschärfter Weise in Wert gesetzt. Aufkeimende Protestfähigkeit und wachsenden Widerstand erkennt Aulenbacher nicht nur in dem in Deutschland verbreiteten Netzwerk Care-Revolution, dass für eine neue Wertschätzung von Care-Arbeit streitet, sondern auch an der international zunehmenden Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Isabell Lorey (Universität Kassel) konstatierte in ihrem Input „Prekarisierung, Schulden und Zeit“, dass das Normalarbeitsverhältnis, das den Beschäftigten in der Nachkriegszeit materiellen Wohlstand sicherte, zunehmend durch einen Prozess zerstört wird, den sie als „Normalisierung von Prekarisierung“ bezeichnet. Gute Beschäftigungsverhältnisse unterliegen der Verknappung. Die meisten der neu entstandenen Arbeitsplätze sind in Branchen anzutreffen, in denen prekäre Beschäftigungsverhältnisse vorherrschen. Am auffälligsten kann dies für den Erziehungs- und Sozialsektor festgestellt werden. Lorey spitzte ihre Diagnose dahingehend zu, dass soziale Beziehungen messbar gemacht würden, um folglich als reine Produktivitätskennziffer bewertet zu werden. Eine Möglichkeit sich dieser Marktlogik zu entziehen, wird derzeit – unter krisenhaften Bedingungen – in Griechenland sichtbar. In den öffentlichen Krankenhäusern, wo massenhafte Entlassungen stattfanden, wurde mittels Alternativstrukturen die Krankheitsversorgung notdürftig aufrechterhalten, was als solidarische Formen sozialer Beziehungen gedeutet werden kann.
Klaus Dörre (Friedrich-Schiller-Universität Jena) stellte ein Zitat von Jürgen Habermas, nach dem die Saat für einen neuen Faschismus gelegt sei, an den Anfang seines Vortrages und erklärte, dass wir uns angesichts des Erstarkens rechtsgerichteter Strömungen in der westlichen Welt in einer außergewöhnlichen politischen Situation befinden. Mit dem Vortragstitel „Prekarisierung – Triebkraft eines neuen Rechtspopulismus?“ verbunden war die Frage, ob sich Zusammenhänge zwischen sozialer Unsicherheit und rechtspopulistischen Orientierungen nachweisen lassen. Anknüpfend an die Forschungsergebnisse Robert Castels, der vor vielen Jahren diesen Zusammenhang bejaht hatte, stellte Dörre seine Einschätzungen zu neuen Tendenzen der gegenwärtigen Entwicklungen dar.
Dabei konstatierte er eine populistische Lücke, die von rechten Gruppierungen genutzt werde und deren Aufkommen teilweise dem Versagen der linken Parteien zuzuschreiben sei, deren Ausstrahlung kaum noch zu den Arbeitern generell, geschweige denn zu den prekär Beschäftigten vordringe. Aus der Beobachtung heraus, dass Rechtspopulisten „Meister der Ambivalenz“ sind, da sie einerseits gegen das Establishment hetzen, jedoch wiederum die Vermögenssteuer als Zwangssolidarität begreifen und damit der sozialen Ungleichheit keinen Riegel vorschieben wollen, erkennt Dörre eine Möglichkeit, Gegenpositionen zu formulieren. Der Aufstieg der Rechtspopulisten sei aufzuhalten, wenn klar wird: „Die wollen nicht umverteilen“.
Dörre plädierte in seinem Schlusswort dafür, den Elfenbeinturm der Universität zu verlassen und an den Brennpunkten der Gesellschaft zu forschen. Es sei sinnvoll, den Zusammenhang von sozialer Frage, Zivilgesellschaft und Demokratie zum Gegenstand öffentlicher Soziologie zu machen.
Daniel Menning
Zwei Veranstaltungen zum 90. Geburtstag von Hans Heinz Holz
25. Februar 2017, Berlin, und 3./4. März, TU Darmstadt
Am 26. Februar dieses Jahres wäre der 2011 verstorbene marxistische Philosoph Hans Heinz Holz neunzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass fanden Ende Februar/Anfang März zwei Veranstaltungen statt, welche dem Leben und Werk von Hans Heinz Holz Reverenz erwiesen.
In der Berliner Urania wurde am 25. Februar von der Fondazione Centro di Studi Filosofici, Sant’ Abbondio, der Gesellschaft für Dialektische Philosophie und dem Parteivorstand der DKP eine Konferenz und Feier zu Ehren Holzens ausgerichtet, die unter anderem von der Marx-Engels-Stiftung und der Leibnizsozietät mitunterstützt wurde. „Die raue See des Widerspruchs“, so der Titel der Veranstaltung, stand paradigmatisch nicht nur für das Werk und Leben von Hans Heinz Holz, sondern auch für den Konferenzteil der Veranstaltung. Dieser sollte den Veranstaltern gemäß die zentralen Begriffe des Holz’schen Denkens in moderierten Streitgesprächen prüfen, wenden und kontrovers diskutieren.
So trafen in den zwei vormittäglichen Panels, die sich mit der Widerspiegelungstheorie und der Metaphysik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ befassten, in der Tat Verfechter und Kritiker dieser zwei zentralen Aspekte des Holz’schen Werkes aufeinander. Hans Heinz Holz hat mit Vehemenz, die Auffassung vertreten, dass der Marxismus, will er den Imperativ von Marxens 11. Feuerbachthese für die Einheit von Theorie und Praxis erfüllen, wissenschaftliche Weltanschauung sein muss, also „eine Philosophie, die sich nicht bloß mit diesem oder jenem Aspekt der Welt befaßt – mit dem richtigen Denken (wie die Logik), mit den Prinzipien und Verfahren des Erkennens (wie die Erkenntnistheorie), mit den Regeln des richtigen Verhaltens (wie die Ethik); er will eine Auffassung der Welt als ganzer, Natur und Gesellschaft, in ihrer Entwicklung geben und diese Auffassung von den Einsichten der Wissenschaften und ihrer Interpretation zu einem Gesamtzusammenhang aus gewinnen ... Die Welt im ganzen kann nie ein Gegenstand unserer Erfahrung sein, weil sie über jede mögliche Erfahrung hinausreicht; aber sie ist die Voraussetzung dafür, daß wir Erfahrung von Teilen und Ausschnitten der Welt haben, denn jeder begrenzte Erfahrungsgegenstand schließt ein, daß es jenseits der Grenze ein Anderes gibt, etwas ‚Umgebendes’, aus dem das Eingegrenzte (Segment) ‚herausgeschnitten’ ist. Der in der Erfahrung nicht vorkommende Gesamtzusammenhang kann nur methodisch konstruiert und in einem Modell abgebildet werden. Genau dies leistet die universelle Widerspiegelungstheorie, die die Welt als ein Wechselwirkungssystem, als ein Reflexionssystem aller ihrer Elemente und Teile konstruiert, in dem Widersprüche auf geregelte Weise koexistieren und aufgehoben werden.”
Der Soziologe Richard Sorg moderierte das Streitgespräch über die von Holz im Sinne des Leibniz’schen „miroir vivant“ – eines (lebenden, besser) wirkend-bewirkten Spiegels – verwendete Metapher der Widerwiderspiegelung zum Ausdruck des ontologischen Verhältnisses, dass jedes Einzelne mannigfach in seinen verschiedenen Zusammenhängen Wirkendes und von den verschiedenen Zusammenhängen Bewirktes ist, wodurch Wirken in seinem dialektischen Doppelcharakter sowohl aktiv als auch passiv als übergreifende Strukturrelation eines wechselseitigen materiellen Verhältnisses zu verstehen ist, dessen höchste Form die menschliche Reflexions- und Erkenntnistätigkeit ist. Als Kontrahenten in diesem Streitgespräch traten Hans-Joachim Petsche, Philosophieprofessor an der Universität Potsdam, und der Schüler Hans Heinz Holz’ und Vorsitzende der Gesellschaft für Dialektische Philosophie, Andreas Hüllinghorst, gegeneinander an. Während Petsche seine Kritik an der Widerspiegelungstheorie entlang eines naturwissenschaftlichen Verständnisses des Spiegels entwickelte, hob Hüllinghorst das metaphorisch-phänomenale Begreifen der Spiegellogik hervor.
Ähnlich kontrovers verlief das zweite von der Philosophin Renate Wahsner moderierte Streitgespräch zwischen den Nachwuchswissenschaftlern Jan Loheit (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) und Martin Küpper (Universität Potsdam) über Hans Heinz Holz’ Rehabilitierung des Metaphysikbegriffs für eine materialistische Dialektik. Während Loheit der Metaphysik als einem Konzept einer außerhalb von Raum und Zeit stehenden Philosophie den Wert in der konkret-historischen Bewährung absprach, verteidigte Küpper die Metaphysik als Wissenschaft der Formbestimmungen des Seins, die im Sinne von Holz als System qua Methode der materialistischen Dialektik sich selbst in der Einheit von Theorie und Praxis – in der dreifachen Hegel’schen Bedeutung – aufhebe.
Bei den Panels am Nachmittag, die einerseits Hans Heinz Holz’ Schaffen als Kunsttheoretiker und -kritiker, anderseits seinem Engagement als kommunistischer Politiker gewidmet waren, ging es dann weit weniger kontrovers zu. Der österreichische Jurist und Stiftungsrat der Holz-Stiftung Alfred J. Noll und der Schweizer Konstruktive Künstler Hans Jörg Glattfelder, ein langjährige Freund wie Diskussionspartner von Holz, sprachen miteinander über die Holz’sche Ästhetik. Diese versteht Kunst, wie Noll und Glattfelder herausarbeiteten, als sinnliche Reflexion und Kunstwerke – bei Holz vor allem jene der bildenden Künste – als Medien der Erfahrung der menschlichen Wirklichkeit als Widerspiegelungsverhältnis. Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP, und jeweils ein Vertreter der türkischen Partei der Arbeit (EMEP) und der Partei der Arbeit Österreichs (PdA), mit welchen Holz politisch und persönlich verbunden war, unterhielten sich in einem von Jürgen Lloyd, dem Leiter der Karl-Liebknecht-Schule der DKP, moderierten Gespräch entlang eines Holz’schen Textes zur Zukunft des Marxismus über die politische Organisation als Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis. Die Diskutanten stimmten darin überein, dass Hans Heinz Holz mit seinen Werken einen entscheidenden Beitrag zur philosophischen Grundlegung einer revolutionären Theorie-Praxis für am Marxismus orientierte Organisationen geleistet habe und dass es heute mehr denn je darum gehe, den theoretischen und praktischen Auf- bzw. Ausbau eben dieser zu forcieren.
Den Abschluss der von mehr als hundert Menschen besuchten Veranstaltung bildeten Erzählungen von Hans Heinz Holz’ internationalen FreundInnen und WeggefährtInnen wie Isabel Monal Rodríguez, Direktorin der kubanischen Philosophiezeitschrift Marx ahora, und dem Juristen und Rechtsphilosophen Hermann Klenner, die von der Musik Mikis Theodorakis’ – hervorragend dargebracht vom Künstlerkollektiv Quijote – umrahmt wurden.
Nicht weniger würdig, aber von gänzlich anderem Charakter gestaltete sich das am 3./4. März von der Holz-Stiftung und dem Institut für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt ebendort durchgeführte akademische Kolloquium „Dialektik – Ontologie – Kunst“. Christoph Hubig, als Philosophieprofessor an der TU Darmstadt der Gastgeber des Workshops, sprach über „spekulative Sätze“ und die „logische Grammatik eines Denkens von und in Verhältnissen“ und setzte sich hierbei kritisch mit Holzens Begriff der „Reflexion der Reflexion“ und dessen Fassung der Spiegelmetapher auseinander.
In den Vorträgen von Hans Jörg Glattfelder über „Konstruktion, Spekulation und Metapher“, jenem des Künstlers Jochen Stankowski, dem Neffen Anton Stankowskis, und Michael Weingarten, Philosophieprofessor an der Universität Stuttgart, gemeinsam gehalten über „Kunst, Konstruktion, Dialektik“ stand unter anderem Hans Heinz Holz’ Realismusbegriff im Mittelpunkt, dessen Prinzip in der veranschaulichenden-verwesentlichenden Reflexion zu finden ist, das sich in verschiedensten künstlerischen Ausdrucksformen bis hin zur abstrakten, konkreten und seriellen Kunst verwirklichen lässt.
Der nächste Tag stand im Zeichen einer jüngeren Generation von Forschenden. Robert Caner Liese von der Universität Barcelona sprach zur Kleist-Deutung von Hans Heinz Holz und problematisierte die Subjekts- und Freiheitstheorie in dessen sprachphilosophischen Überlegungen. Der Autor dieser Zeilen sprach im Anschluss an Hans Heinz Holz über Dialektisches in der antiken Philosophie Chinas, speziell im Dàodéjīng, der Gründungsschrift des Daoismus, im Vergleich mit den Sentenzen der frühen griechischen Philosophen Heraklit. Daniel Hackbarth von der Universität Stuttgart sprach zum „Materialismus-Problem“ bei Holz und Horkeimer, wobei er die Bedeutung des Festhaltens des letzteren am Erkenntnisanspruch einer Gesellschaftstheorie gegen eine ontologische Gründung des Denkens wie bei Holz hervorhob. Claus Baumann, ebenfalls von der Universität Stuttgart, beschäftigte sich mit dem „Tätigkeits- und Arbeitsbegriff“ bei Karl Marx und Hans Heinz Holz und wies auf mögliche Unterschiede in deren Fassung bei beiden hin in kritischer Auseinandersetzung mit Holzens naturgeschichtlicher Herleitung der menschlichen Praxis.
Die Beiträge und Diskussion beider Veranstaltungen, die in Bälde auch in Buchform erscheinen sollen, zeigen auf, wie fruchtbar und lohnend die Aneignung des und die kritische Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Oeuvre von Hans Heinz Holz für die dialektische Philosophie, die Ästhetik und die marxistische Theorie und Praxis sind. Insofern ist es positiv hervorzuheben, dass die Organisatoren beider Veranstaltungen auch in Zukunft in regelmäßigen Abständen Konferenzen und Workshops zu Hans Heinz Holz’ Werk abzuhalten gedenken.
Hannes Fellner
Bloch und Lukács: Die Russische Revolution als philosophisches Schlüsselereignis
Internationale-Georg-Lukács-Gesellschaft, Ernst-Bloch-Gesellschaft, Bloch-Assoziation und Helle Panke e.V., Berlin, 11. März 2017
Wenn am Ende einer Tagung der Bogen zu deren Einleitung geschlagen, das Gesagte auf seinen Aktualitätswert geprüft wird und es zum Abschluss hoch her geht, dann ist das ein gutes Zeichen. Organisiert hatten die Konferenz vier eigenständige Vereine, die Internationale-Georg-Lukács-Gesellschaft, die Ernst-Bloch-Gesellschaft, die Bloch-Assoziation und die gastgebende Helle Panke aus Berlin. In acht Stunden kamen 10 ReferentInnen zu Wort, die inhaltliche Spanne war groß, die Teilnehmerzahl an der Kapazitätsgrenze. Wer da war, konnte erfahren, wie die damaligen Jugendfreunde Ernst Bloch und Georg Lukács die Oktoberrevolution aus dem westlichen Ausland wahrnahmen, und wie sie das welthistorische Ereignis verarbeiteten. Das persönliche Verhältnis zwischen beiden marxistischen Denkern, ihre unterschiedlichen Auffassungen von Praxisphilosophie bis hin zum Einfluss der zwei auf die westliche Neue Linke und 1968 waren Themen der Tagung.
Eröffnet wurde sie mit einem Referat des stellvertretenden Vorsitzenden der Hellen Panke, Stefan Bollinger. Er führte mit Lenin sogleich den Anführer der Bolschewiki, der für beide Philosophen zeitlebens ein positiver Bezugspunkt blieb, in die Veranstaltung ein. Bollinger ging kritisch auf Demokratiedefizite in Lukács‘ Werk ein. Um diesem gerecht zu werden, müsse man aber zugleich die demokratisch-sozialistischen Elemente bei ihm betonen. Bollinger nutzte Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923), um nach dem heutigen Ort des „Proletariats“ und dem schwierigen Verhältnis der– aktuell noch immer auf Identitätspolitik ausgerichteten – Linken zur Arbeiterklasse zu fragen.
Über Blochs Verhältnis zu Lukács sprach im Anschluss Rüdiger Dannemann (Essen). Die beiden kannten sich seit Anfang des Jahrhunderts aus der gemeinsamen Heidelberger Studienzeit. Sie gewannen damals zunächst eine „prä-marxistische Denkperspektive“, von der jeder auf seine Weise später profitieren sollte. Obwohl beide damals gleichermaßen produktive Denker waren, habe Lukács Bloch die Ermutigung zu einem eigenen philosophischen Ansatz zu verdanken. Dafür war Lukács wiederum früher als Bloch Anhänger der Bolschewiki. In den 20er Jahren entzweiten sich die beiden dann im Streit über den Expressionismus, den Lukács, im Gegensatz zu Bloch, als „bürgerlich“ ablehnte.
Der auf Englisch referierende Eric-John Russell (London) sprach über Lukács als „lebende Antinomie“. Lukács habe die Notwendigkeit bestimmter Antinomien aus dem Deutschen Idealismus übernommen (über Antinomien bei Kant referierte später im Detail Martin Blumentritt), sie aber nicht auf die Vernunft zurückgeführt, sondern auf die warenförmige Vermittlung der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. Dieses Verhältnis sei nicht nur entscheidend für „Geschichte und Klassenbewusstsein“, auch Lukács selbst habe sich in seinem Leben in bestimmte Antinomien verstrickt.
Patrick Eiden-Offe (Berlin) meinte, dass sich in Lukács‘ Frühwerk deutliche Einflüsse eines romantischen Antikapitalismus ausmachen lassen. Dieser werde zwar häufig kritisiert, könne aber auch als „Wärmestrom“ im Sinne Blochs verstanden und somit als eine Urkraft der Arbeiterbewegung interpretiert werden. Das gelte jedoch nur, wenn man romantischen Antikapitalismus nicht regressiv verstehe, sondern als Ausgang für kritisches Denken nutze.
„Die Bedeutung von ‚Geschichte und Klassenbewusstsein‘ für die Entwicklung der Blochschen Philosophie“ beschrieb Hans-Ernst Schiller (Düsseldorf). Er attestierte dem Gesamtwerk Blochs eine chiliastische Grundhaltung. War diese anfangs noch theologisch geprägt, so habe sie sich Anfang der 20er Jahre marxistisch aufgeladen. Schiller meint, dass dies wesentlich dem Einfluss von Lukács zu verdanken sei und untermauerte dies mittels Zitaten. Völlig habe Bloch dessen Position jedoch nicht übernommen, so Schiller, denn „trotz aller Bewunderung und entschlossener Adaption einiger Grundgedanken aus ‘Geschichte und Klassenbewusstsein‘ ist Bloch nicht bereit, die metaphysische Dimension seines Denkens aufzugeben“.
Martin Küpper (Berlin) schilderte in seinem Vortrag, wie Bloch das Spekulieren der Philosophie wieder in die marxistische Gesellschaftskritik einführte. Er sah im Spekulieren einen Modus des Denkens, der für die Begriffsgenese genutzt werden sollte. Denken, Schauen, Vorstellung und Selbsterkenntnis seien Kernpunkte in dem Prozess, in welchem das Subjekt sich seine Umwelt erst schaffe. In Blochs Anfang der 20er Jahre entstandenem „Zehlendorfer Manuskript“ habe dieser allerdings gefordert, nicht auf hegelianische Weltgeister, sondern auf Materie zu spekulieren. Damit bestätigte Küpper die von Schiller beschriebene Entwicklung Blochs hin zum Materialismus.
Doris Zeilinger (Nürnberg) von der Bloch-Assoziation widmete sich dessen Kategorienlehre, die er in jungen Jahren begonnen hatte, aber erst Anfang der 1970er fertigstellen konnte. Die Frage, wie man fertige Kategorien für eine unfertige Welt schaffen sollte, beschäftigte ihn sein Leben lang. Das Resultat findet sich im Spätwerk „Experimentum Mundi“ von 1975. Zeilinger zeigte zudem in einem Vergleich von Passagen einschlägiger Kategorien die Unterschiede zwischen Bloch und Lukács: Bloch habe eine Ontologie des Noch-Nicht-Seins verfasst, Lukács hingegen eine Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Bloch sah Natur als hypothetisches Subjekt, Lukács als Basis.
Im anschließenden Panel der Bloch-Gesellschaft beschrieb Werner Wild (Tübingen), dass Bloch zur Zeit der Oktoberrevolution in seinem Schweizer Exil den Bolschewiki sehr zurückhaltend gegenüberstand. Während Lukács durch die Tat zum Marxisten geworden sei, war für Bloch die Zeit für die Tat noch nicht reif. Bloch hielt die Taktik der Bolschewiki für falsch, er kritisierte ihren Revolutionsbegriff als zu schlicht und warnte vor neuem Despotismus. Er wird, so Wild, erst 1923 zum Marxismus übergehen und die kritische Distanz zunehmend aufgeben. Gipfeln wird dies später in seiner Rechtfertigung der Moskauer Schauprozesse. Francesca Vidal (Landau) ging auf die Funktion „des Neuen“ bei Bloch ein. Der Wunsch nach einem „Neuen Menschen“ habe in der Utopiegeschichte der Neuzeit das Eschaton vom Jenseits in das Diesseits verlagern wollen. Dies setzt sich bis heute fort, wie beispielsweise das Human Enhancement belegt. Auch nach dem Ersten Weltkrieg sollte alles neu sein, anders werden: Kunst, Sprache, Ästhetik, Denken. Bloch las Enttäuschungen, wie z.B. den Krieg, nicht gegen die Hoffnung, sondern als Beleg für Unabgegoltenes, mithin als Handlungsanweisung. Sein „Geist der Utopie“ sei deshalb gegen den Ungeist der damaligen Zeit gerichtet gewesen.
Über den Ungeist der heutigen Zeit sprach abschließend Micha Brumlik (Berlin). Sein Versuch, das Gesagte in die Jetztzeit zu holen, war provokant zugespitzt und führte zu einer lebhaften Abschlussdiskussion. Brumlik knüpfte an aktuelle Debatten unter Linken über das Proletariat an. Darin, dass viele Arbeiter und Arbeitslose Trump wählten und auch in Europa zum Lager der Rechtspopulisten überlaufen, sah er den Beleg für das Ende der im „Kommunistischen Manifest“ eröffneten „Utopie vom Proletariat“. Lukács sei in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ zwar davon ausgegangen, dass die Krise ohne wachsendes Klassenbewusstsein des Proletariats nicht zu bewältigen sein wird, er habe aber dieses revolutionäre Bewusstsein ohne Rücksicht auf die empirische Situation rein philosophisch-kategorial abgeleitet und dem Proletariat „zugerechnet“. An ein revolutionäres Klassenbewusstsein sei jedenfalls „heute überhaupt nicht mehr zu denken“, so Brumlik. Die Globalisierung habe nicht zur Weltrevolution, sondern offenbar zu einer reaktionären Regression der Arbeiterklasse geführt. Die Befriedung der Klassengegensätze durch den Sozialstaat habe den Rest erledigt. Er kam zu einer pessimistischen Einschätzung, hielt aber noch Blochs „Prinzips Hoffnung“ am Leben, falls – aber nur falls –das „Freiheitsverlangen die Basis für die freiheitliche Tat“ ist. Brumlik bezweifelte jedoch, dass die Arbeiterklasse solch ein Verlangen in ausreichendem Maße habe. Deshalb forderte er von der Linken, „mehr Soziologie zu betreiben“, politische Aufklärungsarbeit zu leisten und das Proletariat, das zumindest in den klassischen Industrienationen im Schwinden begriffen sei, nicht länger zu idealisieren, wie es Bloch und Lukács noch getan hätten.
Auf diese zugespitzten Thesen folgte eine Diskussion darüber, was das Proletariat denn eigentlich (gewesen) sei und was es, bei aller Kritik, in über 160 Jahren erreicht habe. Ein Einwand war, ob der Befund seines Schwindens nicht vielmehr selbst dem idealisierten engen Begriff des traditionellen Marxismus folge, der Proletariat mit dem Industrieproletariat gleichsetze. Aktuell gebe es schließlich nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch in den klassischen Industrienationen eine Zunahme der „Ware Arbeitskraft“ sowie eine Verschärfung ihrer Ausbeutung und Arbeitsbedingungen.
Alexander Amberger
„1917 – 2017. Die Oktoberrevolution, das 20. Jahrhundert und wir“
10. Marxistische Studienwoche, 13. bis 17. März 2017, Frankfurt/M.
Genau einhundert Jahre nach dem Sturz des Zaren Nikolaus II. widmete sich im „Haus der Jugend“ die diesjährige Marxistische Studienwoche (MaWo) der Bedeutung der Oktoberrevolution und der durch diese angestoßenen „gewaltigsten Revolutionsbewegung der modernen Geschichte“ (Eric Hobsbawm) für die globalpolitische Entwicklung des „kurzen 20. Jahrhunderts“ sowie – nach dessen Ende – für aktuelle Problemlagen und Strategien heutiger sozialistischer und kommunistischer Bewegungen. Organisiert wurde die Veranstaltung, an der knapp 50 Studierende teilnahmen, von „Z“, der Heinz-Jung-Stiftung (Frankfurt/M.) sowie einer engagierten aus früheren Teilnehmern und Teilnehmerinnen bestehenden Gruppe. Als theoretische Vorbereitung und textliche Grundlage für das umfangreiche Programm aus Vorträgen, Arbeitsgruppen und Kulturveranstaltungen dienten Z 109, Eric Hobsbawms Schlüsselwerk der marxistischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, „Das Zeitalter der Extreme“, sowie ein mit vielfältiger Literatur versehener Reader.
Nach einem an Thesen Hobsbawms anschließenden Inputreferat der Vorbereitungsgruppe von Dominik Feldmann (Siegen) und Patrick Ölkrug (Winterberg) eröffnete Georg Fülberth (Marburg) die Reihe der Vorträge mit einem Blick auf das „lange“ 19. Jahrhundert. Mit dem Ziel einer Historisierung der materialistischen Geschichtsauffassung beleuchtete er diese im Verhältnis zu zwei prägenden Charakteristika ihrer Entstehungszeit: Der politischen Revolution und dem Krieg.1 Die sichere Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Revolution habe Marx und Engels nicht nur die Kritik der Politischen Ökonomie von Beginn an als eine Revolutionswissenschaft entwerfen lassen, sondern sich auch durch ihre gesamten politischen Aktivitäten gezogen. Die Beschäftigung mit dem Krieg sei primär das Metier des militärisch und militärtheoretisch geschulten Engels gewesen, doch habe auch Marx zeitlebens die Möglichkeit eines revolutionären Krieges gesehen und aus der Feindschaft gegenüber dem französischen Bonapartismus sowie dem russischen Zarismus als Hort der Reaktion eine Befürwortung militärischer Gegenwehr Preußens begründet. An die Stelle dieser zuversichtlichen Haltung sei in Engels‘ letzten Jahren jedoch die vorausschauende Befürchtung eines möglichen Weltkriegs gerückt, die von den tatsächlichen Ereignissen des folgenden Jahrhunderts in einem für ihn wohl nicht mehr begreifbar gewesenem Maße übertroffen worden sei.
Den Dienstag begann Stefan Bollinger (Berlin)mit einer Neuaneignung des einheitlichen revolutionären Prozesses von der bürgerlich-demokratischen Februar- über die sich sozialistisch verstehende Oktoberrevolution bis hin zur sich stabilisierenden staatlich organisierten Revolution mit dem Schwenk zur NÖP 1921 und der Gründung der UdSSR 1922.2 Dabei wies er bei aller Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit der durch die Revolution hervorgebrachten Ordnung auf ihre zivilisatorische Kraft hin: So habe sie nicht nur gegen massiven nationalen und internationalen Widerstand den Frieden und eine Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse durchgesetzt, sondern sei zudem Fanal für alle unmittelbaren Widerstandsaktionen gegen Krieg und Ausbeutung auch in den anderen kriegführenden Ländern gewesen. Noch radikaler habe die Russische Revolution mittel- und langfristig durch den Anstoß einer mehrere Jahrzehnte andauernden Welle der Revolutionen und antikolonialen Bewegungen sowie durch die hiermit etablierte Weltordnung gewirkt, in der ein Drittel der Erde von Regimen beherrscht wurde, die sich konstitutiv auf das Vorbild des „Roten Oktober“ bezogen hätten. Doch auch auf der anderen Seite der bipolaren Ordnung wäre das „sozialdemokratische Jahrhundert“ ohne den Realsozialismus nicht möglich gewesen und habe folglich gemeinsam mit dessen Niederlage sein Ende gefunden.
Anschließend beleuchtete Wladislaw Hedeler (Berlin)die historiographisch wenig beachtete nichtbolschewistische Linke vom Februar bis Oktober 1917 hinsichtlich ihrer kritischen Beiträge zu jenen Problemen, die Manfred Kossok als Ursachen für die „periphere Revolution“ bezeichnete, die nicht in der Lage gewesen sei, ins hochindustrialisierte „Zentrum“ vorzustoßen. Die hierfür von ihm herangezogenen Debatten hätten unter anderem die Unreife Russlands sowie Lenins Strategie sowohl der Inkaufnahme „ökonomisch falscher Entscheidungen“ als auch der Durchführung eines Militärkomplotts statt einer wirklichen proletarischen Massenbewegung zum Thema gehabt. Weitere Streitpunkte hätten der Umgang mit den Errungenschaften der Februarrevolution und der (bürgerlichen) Demokratie sowie die Hinwendung der Sowjetunion gen Osten nach dem Scheitern der Revolutionen im Westen gebildet.3
Am Mittwoch sprach Frank Deppe (Marburg)zu den Ursachen der Oktoberrevolution sowie der widersprüchlichen Entwicklung des von ihr eingeleiteten Systems und erweiterte die Perspektive auf die Dynamik von Revolution und Konterrevolution im 20. Jahrhundert. Hinsichtlich dieses permanenten Widerspruchs erläuterte Deppe die verschiedenen historischen Konstellationen seit dem frühen Auftreten der sozialistischen Bewegung im Jahre 1848 und vor allem im Gefolge der Oktoberrevolution: Nach dem Sieg über den Gipfel der Konterrevolution, den Faschismus, habe zunächst in vielen Ländern die Erwartung eines baldigen Übergangs zum Sozialismus bestanden, bis mit der Truman-Doktrin eine neue Phase der weltweiten Gegenrevolution, der Kalte Krieg, eingeläutet worden sei. In diesem an der Peripherie durchaus „heiß“ und opferreich geführten Krieg habe sich die kapitalistische Seite nicht ausschließlich repressiv durchgesetzt, sondern ebenso durch große Hegemoniekapazitäten im ideologischen Bereich, durch eine erfolgreichere ökonomische Modernisierung als die stagnierende Sowjetunion unter Breschnew und nicht zuletzt durch das gegenseitige Aufrüsten, das für den Osten immer eine Überdehnung bedeutete. In Bezug auf eine (aktuelle) marxistische Revolutionstheoriebetonte er die notwendige Vermittlung einer langfristig orientierten Strukturanalyse mit unmittelbaren politischen Handlungskonstellationen im Gegensatz zur Annahme u. a. Auguste Blanquis, die Revolution könne jederzeit stattfinden.
Ebenfalls am Mittwoch referierte Kerstin Wolter (Berlin)über die Rolle der Frauen in der Revolution. In den Revolutionen 1917 seien neben dem konterrevolutionären Frauenbataillon vor allem die „Bolschewitschki“ aufgetreten: Diese überdurchschnittlich gebildeten, dem als bourgeois gescholtenen Feminismus gegenüber kritisch eingestellten Frauen seien zwar fast nie Teil der oberen Führung gewesen, hätten aber auf lokaler Ebene oft leitende Funktionen in politischen Büros und nach dem Bürgerkrieg wichtige Positionen in der staatlichen Verwaltung übernommen. Obwohl der fortschrittliche Anspruch der Bolschewiki vor allem mit Zunahme autoritärer Parteistrukturen in der Praxis immer weniger habe erreicht werden können und wichtige Reformen unter Stalin rückgängig gemacht worden seien, hätten sich in den ersten Jahren nach der Revolution zahlreiche neue Partizipationsmöglichkeiten für Frauen nicht nur in der Partei oder der Roten Armee ergeben, sondern seien mit der Einführung des Wahlrechts, der Möglichkeit von Abtreibung und Scheidung sowie der Legalisierung von Homosexualität weltweit die fortschrittlichsten Rechte jener Zeit durchgesetzt und die Überwindung der patriarchalen Familie durch Vergesellschaftung der bisherigen „Frauenaufgaben“ und des Alltagslebens aktiv angestrebt worden.
Am Donnerstag betrachtete Sabine Kebir (Berlin)Teile des theoretischen Denkens Antonio Gramscis als praktische Verarbeitung der Oktoberrevolution.4 Eine Besonderheit dieser Rezeption sei die antikoloniale Perspektive Gramscis gewesen, der im Gegensatz zu weiten Teilen der sozialistischen Bewegung bereits vor der Revolution gegen koloniale Expansion gekämpft hätte: Für ihn habe die Oktoberrevolution nicht nur den Sieg über den Zarismus, sondern auch den Beginn einer Ära der antikolonialen Befreiungskämpfe bedeutet. Ein anderer maßgeblicher Aspekt im Werk Gramscis habe in der Differenzierung der Revolutionsvoraussetzungen in Russland und den westlichen Ländern bestanden: Während im halbfeudalen Zarenreich die Revolution staatsstreichartig hatte vollzogen werden können, bräuchten bürgerlich-demokratische Systeme nicht mehr ausschließlich staatliche Repression zum Unterdrücken widerständiger Bewegungen, da das Phänomen der integrativen „Zivilgesellschaft“ die Klassenherrschaft verschleiere und stabilisiere, was einen längeren Stellungskrieg und Auseinandersetzungen im Bereich der kulturellen Hegemonie notwendig mache. Der bürgerlichen Zivilgesellschaft habe Gramsci die Notwendigkeit einer in der Sowjetunion noch fehlenden sozialistischen Zivilgesellschaft entgegengesetzt, die den Staat „absorbieren“ müsse.
Danach skizzierte Michael Brie (Berlin)Lenins Jahre „der Ohnmacht“ in der Schweiz von 1914 bis 1917. Die Phase der eigenen Handlungsunfähigkeit habe der Dialektiker Lenin dazu genutzt, in einer Bewegung des „Zurückgehens, um sicherer zu treffen“ die Voraussetzungen für sein eigenes eingreifendes Handeln (wieder)herzustellen. Dies sei geschehen durch: 1. die „Formulierung eines konkreten NEIN“ gegenüber der II. Internationale und dem Krieg, 2. die „Arbeit an einer Philosophie der dialektischen Praxis“ durch Hegel- und Marx-Studien, 3. die „Entwicklung einer eigenen Erzählung“ zur Identitätsbildung, 4. eine „strategisch orientierte Gesellschaftsanalyse“ in Form der Imperialismustheorie, 5. eine „Theorie der Revolution“, 6. den Entwurf von „Szenarien der Transformation und einer Definition der Epoche als konkrete Handlungssituation“ durch die Bestimmung zentraler langfristiger Entwicklungstendenzen und unmittelbarer Handlungsoptionen, 7. der „Begründung eines konkreten emanzipatorischen Horizonts“ in Form der Diktatur des Proletariats sowie 8. der „Ausarbeitung einer Strategie mit konkreten Einstiegsprojekten als alternatives JA“. Dabei habe sich Lenins Bürgerkriegsstrategie des „unversöhnlichen Gegensatzes“ unter den Bedingungen Russlands 1917 zwar als Stärke erwiesen, in den folgenden Jahren aber zunehmend zu widersprüchlichen Entwicklungen geführt.
Neben den Vorträgen boten die Arbeitsgruppenphasen eine vertiefte Lektüre und Diskussion ausgewählter Texte im Reader unter verschiedenen Schwerpunkten sowie die Möglichkeit, gemeinsam mit einzelnen Referentinnen und Referenten bestimmte Themenaspekte der Vorträge aufzugreifen und detaillierter zu bearbeiten.
Ein weiterer elementarer Bestandteil der MaWo war außerdem das vielfältige Kulturprogramm: Am Montag bot Erich Schaffner (Mörfelden)im Club Voltaire ausgewählte Lyrik, Lieder und Anekdoten zum Titelthema „Lenin, Majakowski und ich. 100 Jahre Oktoberrevolution“ dar. Am Dienstag lief im Deutschen Filmmuseum Frankfurt eigens für die MaWo Sergej Eisensteins Klassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ über die Revolution von 1905, zu dem Günter Giesenfeld (Marburg) einen Einführungsvortrag hielt. Den „freien“ Mittwochabend nutzten zudem einige, um außerhalb des offiziellen Programms den „jungen Karl Marx“ im Kino zu sehen. Dem Charakter der ganzen Woche entsprechend wurde das Kulturprogramm sehr diskussionsreich abgeschlossen durch die bebilderten Ausführungen Reiner Diederichs (Frankfurt/M.)zur russischen Avantgarde 1915-1932 am Donnerstagabend im Club Voltaire. Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine lebhafte Podiumsdiskussion zwischen Michael Brie, Frank Deppe und Philipp Kissel (Frankfurt/M.)zum Thema „Revolution, Reform, Transformation – sozialistische Strategie heute“.
Jonathan Riedl
150 Jahre „Das Kapital“ – Das Kapital in der Kritik
Oldenburg, 24. bis 25. März 2017
Vom 24. bis zum 25.03.2017 fand an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg die Tagung 150 Jahre ‚Das Kapital‘ – Das Kapital in der Kritik statt. Erklärte Intention der Veranstalter, zusammengeschlossen im Forum für Marx Forschung Oldenburg, war das Begreifen der Spezifik der auf der kapitalistischen Produktionsweise basierenden Vergesellschaftungsform. Ein Begreifen, das nicht von dem politischen Impuls losgelöst werden kann, das Begriffene abzuschaffen. Der „neue Anlauf“ des Forums, „in der Alma Mater jenes politisch brisante Buch zum Gegenstand wissenschaftlicher Debatten zu machen“ (so der Programm-Flyer), stand damit vor der Herausforderung, das Verhältnis von Theorie und Praxis (bei Marx wie auch in der heutigen Kritik der politischen Ökonomie) zu reflektieren und sich zu einer Institution quer zu stellen, die selbst dem Verblendungszusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft unterliegt und die damit das Marxsche Werk seit jeher ausgrenzte. Die Veranstaltung einer Tagung, bei der Das Kapital (und damit auch das Kapital) zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht wird anstatt das Marxsche Werk bloß als Teil einer als kontingent unterstellten Philosophiegeschichte zu verstehen, deren Dynamik Begriffe frei entlässt und nicht mehr an die Kritik der politischen Ökonomie rückbindet, könnte damit schon als ein Erfolg bewertet werden. Dies wird auch durch das große Interesse der ca. 150 Teilnehmenden bestätigt (darunter viele junge Menschen), die durchgängig allen Vorträgen konzentriert beiwohnten. Unterstützt wurde die Veranstaltung u. a. durch die Rosa Luxemburg Stiftung und das DFG-Projekt Marx und die „Kritik im Handgemenge“ der Universität Osnabrück, so dass zugleich einige der sehr wenigen Marx-Projekte im bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb zusammengeführt wurden.
Das Ereignis hat für die Universität Oldenburg auch insofern Symbolkraft, als bis 2013 die Marxsche Theorie in Oldenburg noch durch eine außerplanmäßige Professur vertreten war, wohingegen danach der inhaltlichen Ausgestaltung des Instituts für Philosophie eine deutlich andere Richtung aufgeprägt wurde. Auch wenn eine solche Initiative zum Erhalt dieses in Deutschland an den Hochschulen kaum vertretenden Forschungsschwerpunkts sehr spät und nunmehr ohne größeren institutionellen Rückhalt kommt, so ist die Wichtigkeit von regelmäßigen Versammlungen derer, die in der Kritik der politischen Ökonomie die Grundlage von Gesellschaftskritik sehen, umso mehr hervorzuheben.
Die Universität als institutioneller Rahmen bietet sich dafür nach wie vor an, wiewohl aus o.g. Gründen gerade dort die Gefahr besteht, Marx einzugemeinden oder sich in Das Kapital-immanenten Detailfragen zu verstricken und jeden politischen Impetus aus den Augen zu verlieren. Der formale Erhalt eines Forschungsschwerpunktes hilft überhaupt nichts. Indes ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung unabdingbar, um die Verbindlichkeit Marxscher Theorie durch Begriffe darzulegen, die das Wesen des Kapitals erkennen lassen und die bis heute standhalten, wie im Programm-Flyer formuliert. Diese Herausforderung wurde auf der Tagung von mehreren Vortragenden angenommen. So gab es zahlreiche Beiträge, die sich mit der Entwicklung grundlegender Begrifflichkeiten in Marxens Kapital auseinandersetzten. Der Vortrag des Philosophen Andreas Arndt (Berlin) lieferte dabei insofern einen provokanten Auftakt, als er eine Deckung der dialektischen Methode Hegels und Marx behauptete. Die anderen Vorträge zeigten dagegen gerade anhand der Differenz zu Hegel die historische Spezifität der Marxschen Theorie auf. Dass dies in mehreren Vorträgen anhand zentraler Begrifflichkeiten aus dem ersten Band des Kapitals erfolgte, so am Begriff der Freiheit (Sabine Hollewedde und Frank Kuhne, Philosophen aus Oldenburg bzw. Hannover), am Begriff der Substanz (Ulrich Ruschig, Oldenburg/Philosoph) oder am Begriff des Widerspruchs (Hans-Ernst Schiller, Düsseldorf/Philosoph), ist dabei nicht per se zu kritisieren, sondern stellt einen notwendigen Bedingung für eine reflektierte Kritik der politischen Ökonomie heute dar. Diese grundlegende, eine Reflexion auf die Marxsche Theorie ermöglichende Auseinandersetzung wurde durch Beiträge ergänzt, die konzeptionelle Probleme bei Marx untersuchten und das Projekt einer materialistischen Dialektik weiter zu entwickeln versuchten. Hans-Georg Bensch (Hannover und Oldenburg/Philosoph) machte das achte Kapitel des Kapitals zum Gegenstand und versuchte anhand einer systematischen Deutung dieses als historisch verstandenen Kapitels den Begriff des Kapitals weiter zu entwickeln. Fritz Fiehler (Hamburg/Wirtschaftswissenschaftler) bemühte sich um eine genaue Bestimmung des allgemeinen Gesetzes kapitalistischer Akkumulation und Dieter Wolf (Mühlheim an der Ruhr/Soziologe) arbeitete Probleme bei Marx hinsichtlich der wissenschaftlichen Verfahrensweise bei der Bestimmung des Doppelcharakters der Arbeit heraus. Weitere Vorträge kritisierten mystifizierende Sichtweisen auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, wie zum Beispiel in der japanischen Uno-Schule (Elena Louisa Lange, Zürich/Philosophin und Japanologin), oder falsche Trennungen von wissenschaftlichem und politischem Anspruch des Marxschen Werkes (Matthias Spekker, Osnabrück/Sozial- und Politikwissenschaftler). Dieses Programm hat eine solide Basis geschaffen, um mit der kollektiven Arbeit am Begriff weiterzumachen und den Blick auf aktuelle Herausforderungen zu lenken, wie auf die Auseinandersetzung mit dem Finanzkapital. Eine Folgeveranstaltung ist also dringend zu empfehlen!
Die Beiträge dieser Tagung werden in einer Ausgabe der Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie veröffentlicht werden.
Steffen Stolzenberger
Ungleichheit und Kapitalkriminalität
Fachtagung von Business Crime Control, Frankfurt a.M., 1. April 2017
Im Bürgerhaus Bornheim fand die jährliche Fachtagung von Business Crime Control zum Thema: „Wachsende Ungleichheit und Kapitalkriminalität – Folgen neoliberaler Deregulierung“ statt. Mitveranstalter war wie in den vergangenen Jahren die Friedens- und Zukunftswerkstatt. Unterstützt wurde die Tagung vom Frankfurter Club Voltaire, der KunstGesellschaft und attac Frankfurt am Main.
Für den BCC-Vorstand begründete Peter Menne zu Beginn die Wahl des Themas. Was haben wachsende soziale Ungleichheit und Kapitalkriminalität miteinander zu tun? Der gemeinsame Hintergrund ist zunächst einmal die Dominanz des Neoliberalismus seit Jahrzehnten. Löhne und Gehälter wurden unter dem Gesichtspunkt der „Marktfreiheit“ und der internationalen Konkurrenz gedrückt, Gewinneinkommen stiegen und wurden immer weniger besteuert. Die Schere zwischen Reichtum und Armut öffnete sich zunehmend.
Andererseits förderte der neoliberale Abbau von Regulierungen eine Selbstbedienungsmentalität, das Unrechtsbewusstsein bei „Grenzüberschreitungen” sank. Der größere Überschuss an Kapital, der durch die immer ungleichere Verteilung entstand, führte – auch wegen weniger lukrativen produktiven Investitionsmöglichkeiten – zu spekulativen und riskanten Anlagestrategien, oft hart an der Grenze der Legalität und über sie hinaus.
Für den Mitveranstalter, die Zukunfts- und Friedenswerkstatt, sprach Karl-Heinz Peil ein Grußwort. Die soziale Ungleichheit sei für die Friedensbewegung zunehmend ein Thema. Denn sie werde durch forcierte militärische Aufrüstungsprogramme mit scheinbar unbegrenzten finanziellen Mitteln verstärkt – sowohl in Deutschland wie in vielen anderen Ländern. Bei der Kapitalkriminalität gehe es nicht nur um Machenschaften von Industrie und Finanzwirtschaft, sondern um die Kumpanei mit der Politik bzw. das Zusammenspiel mit korrupten Politikern. Als Beispiel nannte er den Dieselabgas-Skandal. Die aktuelle Debatte um die Autobahnprivatisierung zeige, dass es sinnvoll gewesen wäre, bei der seinerzeit nur durch die Gewerkschaften und die Partei Die Linke getragenen Kampagne gegen die Verankerung einer Schuldenbremse in der Hessischen Landesverfassung von einer „kriminellen Handlung” zu reden, die dazu dienen sollte, Projekte der „Öffentlich-privaten Partnerschaft” zu fördern. Bei diesen Projekten profitieren erfahrungsgemäß hauptsächlich die beteiligten Unternehmen.
Das erste Referat der Tagung hielt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Grabka stellte empirische Daten zum Auseinanderdriften sowohl von Einkommen wie auch von Vermögen in der Bundesrepublik vor. Während die mittleren Einkommen von 1991 bis 2014 um mehr als acht Prozent stiegen, legten die höchsten Einkommen um bis zu 26 Prozent zu. Die unteren Einkommen gingen dagegen real zurück. Folglich hat die Einkommensungleichheit insgesamt zugenommen. Auch das Risiko, arm zu sein, ist zuletzt wieder gestiegen. Grabka betonte, wie unvollständig die Daten bei der Vermögensverteilung sind. Über die Superreichen ist wenig bekannt. Die gut erfassten unteren 50 Prozent der Bevölkerung haben einen verschwindend geringen Anteil am Gesamtvermögen. Ganz unten gibt es kein Vermögen, sondern nur Schulden.
Die Bundesrepublik schneidet auch im internationalen Vergleich schlecht ab, was die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die ungleiche Verteilung der Steuerlast zwischen Lohn- und Gewinneinkommen betrifft.
Benedict Ugarte Chacón, Referent der Fraktion Die Linke im Cum/Ex-Untersuchungsausschuss des Bundestages, stellte in seinem Referat anschaulich dar, wie die sogenannten Cum/Ex-Geschäfte funktionierten, wer dabei nichts oder zu wenig gegen sie unternahm, und wer von ihnen profitierte oder profitieren wollte. Durch die Cum/Ex-Geschäfte mit Aktien wurden dem Staatshaushalt ca. 12 Mrd. Euro an Steuern entzogen. Es ging um die mehrfache Erstattung nur einmal gezahlter Kapitalertragssteuern auf Dividenden. Die FAZ nannte dies den „größten Steuerbluff aller Zeiten“. Er wurde lange Zeit geduldet. Die Cum/Ex-Geschäfte sind, so Chacón, typisch für wirtschaftskriminelles Handeln – ob formal noch legal, geduldet oder bereits juristisch verfolgt.
Das dritte Referat der Tagung hatte die Rolle der Medien zum Thema – klären sie über die wachsende soziale Ungleichheit und Kapitalkriminalität genügend auf? Mathew D. Rose, der als investigativer Journalist unter anderem an der Aufdeckung des Berliner Bankenskandals beteiligt war, verneinte das. Die zunehmende Konzentration von Reichtum in den Händen einer kleinen Minderheit bewirkt, dass sie immer stärker die Medien beeinflussen oder sogar kontrollieren kann. Diese Entwicklung bedroht eines der grundlegenden Elemente jeder demokratischen Gesellschaft: die Vielfalt und den freien Fluss von Informationen und Meinungen.
In der Diskussion wurde der These von Rose, dass auch die öffentlich-rechtlichen Medien bereits weitgehend auf eine Linie gebracht worden seien und man den Fernseher getrost abschalten könne, widersprochen. Hier gebe es durchaus noch Beispiele für kritischen Journalismus, informative Sendungen und Meinungsstreit. Rose stellte die in Gründung befindliche Genossenschaft „EDM European Democratic Media“ vor. EDM möchte „einen länderübergreifenden demokratischen Austausch von Ideen unterstützen, um eine egalitäre, gerechte und soziale Alternative zum dominanten neo-liberalen Europa zu fördern“. Beteiligt sind Wissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern, zum Beispiel Yanis Varoufakis, Heiner Flassbeck und Wolfgang Streeck.
Bei der abschließenden Diskussion der Tagungsergebnisse mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden einige Forderungen aufgestellt, die sich der Vorstand von Business Crime Control zu Eigen machte und in einer Pressemitteilung veröffentlichte (siehe www.businesscrime.de):
- Die wachsende soziale Ungleichheit und das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Deutschland machen ein Umsteuern in der Steuer- und Sozialpolitik notwendig.
- Ungerechtigkeiten durch die Steuerprogression müssen beseitigt, hohe Einkommen und Vermögen höher besteuert werden. Die Vermögenssteuer ist wieder einzuführen und die Erbschaftssteuer sozial und wirtschaftlich funktional zu reformieren.
- Steueroasen in Deutschland und Europa müssen geschlossen werden. Die Steuerverwaltung ist personell und organisatorisch so auszustatten, dass sie systematischem Steuerbetrug in Zukunft wirksam entgegentreten kann.
- Die Unabhängigkeit der Medien von Kapitalinteressen muss gestärkt werden, damit sie über alle Formen von Wirtschaftskriminalität umfassend aufklären und die Debatte über notwendige Gegenmaßnahmen befördern können. Dazu gehört auch die Förderung alternativer, zivilgesellschaftlicher Medien-Initiativen.
Reiner Diederich
1 In Kooperation mit dem Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin und der Sektion Soziale Ungleichheit der DGS.
2 https://www.gender.hu-berlin.de/de/veranstaltungen/gender-kolloquien/prekarisierung-unbound/abstracts
3 Definition: „Bei dieser Methode lassen sich Frauen unbefruchtete Eizellen entnehmen und aus nicht-medizinischen Gründen einfrieren. Die Gründe dafür sind etwa ein fehlender Partner oder Karrierepläne. Die Zellen können nach Jahren bis Jahrzehnten wieder aufgetaut, befruchtet und in die Gebärmutter eingesetzt werden.“ (ZEIT Online vom 15. Oktober 2014)
1 Vgl. Georg Fülberth, Engels, Revolution, Krieg, in diesem Heft, S. 105-114.
2 Vgl. Stefan Bollinger, Krieg und Revolution. Die russischen Revolutionen von 1917 bis 1922, in: Z 109 (März 2017), S. 32-44.
3 Wladislaw Hedeler, Oktoberrevolution – periphere Revolution? Leitrevolution? In diesem Heft, S. 93-104.
4 Vgl. Sabine Kebir, Antonio Gramsci: Die Revolution im Osten, im Süden und im Westen, in diesem Heft, S. 83-92.