Wolfgang Neef an Mohssen Massarat (23.11.2011)
Lieber Mohssen, ich hab deinen Text[1] gelesen und finde in ihm – wie in vielen marxistischen Texten – einen ungeheuer großen blinden Fleck, der sich am besten an deiner Behauptung zeigen lässt, dass der Kapitalismus nach Ende der fossilen Energieressourcen mit „unerschöpfbaren“ Energiequellen weitermachen kann. Die sind deshalb nicht „unerschöpfbar“, weil es um Energiewandlung geht, also die Umwandlung von Sonnenenergie in Energieformen, die man technisch vielfältig, flexibel etc. handhaben kann, und das braucht wiederum heute und auf Sicht noch in den Größenordnungen, wie sie der Kapitalismus und das „Wachstum“ erfordern, auch wegen der damit zusammenhängenden Verluste, riesige materielle Ressourcen (die energetische Bilanz erneuerbarer Energien, aber auch der Schürfung von Stoffen jeder Art ist dafür entscheidend, nicht die Erfindungskraft von Ingenieuren oder das Kapital, das man dafür braucht. Und natürlich die Verfügbarkeit z.B. „seltener Erden“ in Größenordnungen, die die Lagerstätten gar nicht hergeben etc.). Wie in deinem gesamten Text, unterschlägst du die physikalisch-biologischen und viele menschliche Grundbedingungen des Lebens als eine wesentliche Bedingung, die in dem Moment nur als neu erscheint, wo die fossilen Energieressourcen zu Ende gehen. Schon immer hat der Kapitalismus und seine Marxsche Analyse nicht nur den gesamten Bereich der Reproduktion der Arbeitskraft fast unbeachtet gelassen (siehe z.B. das ziemlich „alte“ Buch von Christel Neusüß zu diesem Thema[2]). Er hat auch die Illusion der industriellen Epoche geteilt, die natürlichen „Ressourcen“ seien unerschöpflich, durch Technik beliebig neu produzierbar und manipulierbar. Nicht nur der Klimawandel zeigt uns das Gegenteil, weil er die Lebensbedingungen für Milliarden von Menschen so gefährdet, dass sie auch als Konsumenten immer neuer Industriegüter (die zum Wachstum unentbehrlich sind) gar nicht mehr infrage kommen, denn sie kämpfen um die simpelsten Lebensgrundlagen wie Wasser, fruchtbare Böden etc. – alles „Ressourcen“, die durch den Klimawandel, die Industrialisierung der Landwirtschaft etc. der exponentiell fortschreitenden Zerstörung ausgesetzt sind. Dabei ist noch nicht einmal bedacht, dass die biologischen Grundlagen der Reproduktion der Natur höchst empfindliche Gebilde sind. Deine Behauptung, diese Gesetzmäßigkeiten seien so viel einfacher als die gesellschaftlichen, stammt ebenfalls aus der Epochen-Illusion (Bacon), man werde sie schon in den Griff bekommen – das Gegenteil ist der Fall: Unsere sozialen Konstruktionen wie der Kapitalismus sind dem gegenüber – auch wenn du zu Recht den „logischen“ vom auf die soziale Wirklichkeit bezogenen Kapitalismus unterscheidest – recht simpel und insbesondere durch menschliche Anstrengungen veränderbar, die der biologisch-physikalischen Wirklichkeit aber überhaupt nicht. Dass das zudem mit dem Wachstum so nicht funktioniert, haben inzwischen ja ein paar mehr Leute begriffen – der Ökonom Boulding hat einmal den schönen Satz geprägt: „Anyone who believes exponential growth can go on forever in an finite world is either a madman or an economist“.
Ich lege dir einen Text von mir aus „Forum Wissenschaft“[3] bei, in dem dazu noch einiges mehr ausgeführt wird.
Freundlichen Gruß, Wolfgang Neef
Mohssen Massarat an Wolfgang Neef (26.11.2011)
Lieber Wolfgang Neef, Danke für Deine Replik. Um gleich zur Sache zu kommen: Deine Erwiderung ist m. E. einem bei Dir ziemlich tief sitzenden Vorurteil geschuldet, dass Marxisten, der Marxschen Euphorie der grenzenlosen Entfaltung der Produktivkräfte folgend, dem selben Irrtum unterlägen und die Begrenztheit des Planeten und die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ignorierten. Es ist nicht das erste Mal, dass Du zur Feder greifst, sobald Du glaubst, bei mir und vielleicht auch andern „den blinden ökologischen Fleck“ entdeckt zu haben. Diesmal glaubtest Du an folgender Stelle meines Essays „Missverständnisse über den Kapitalismus“ fündig geworden zu sein:
„In Westeuropa ist der Kapitalismus historisch mit fossilen Energiequellen, vor allem diversen Kohlearten, in den USA viel stärker mit Öl zusammengewachsen. Er wird aber nicht zusammenbrechen, wenn sämtliche Kohle- und Ölressourcen aufgebraucht sind. Der Kapitalismus kann auch mit der Solarenergie auskommen und mit dieser unerschöpfbaren Energiequelle möglicherweise sogar eine höhere Stabilität aufweisen.“
Schon die Erwähnung der Begriffe „unerschöpfbar“ und „Stabilität“ reichten Dir in diesem Satz offensichtlich aus, um Deinem oben beschriebenen Vorurteil freien Lauf zu lassen und darin „und in vielen marxistischen Texten einen ungeheuer großen blinden Fleck“ zu erblicken, weil ich, wie Du behauptest, geschrieben haben soll „dass der Kapitalismus nach Ende der fossilen Energieressourcen mit unerschöpfbaren Energiequellen weiter machen kann.“
Jeder unvoreingenommene Mensch erkennt doch, dass in dem von Dir ausgesuchten Satz, und übrigens im gesamten Text, davon, dass der Kapitalismus „weitermachen kann“, überhaupt nicht – weder direkt noch indirekt – die Rede ist. Du hast offensichtlich auch nicht wahrgenommen, worum es bei diesem Text eigentlich geht. Es geht um die Auseinandersetzung mit den doch weit verbreiteten Missverständnissen über den Kapitalismus und nicht über Missverständnisse über die gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Und es gehört nun mal zu einer wissenschaftlich sauberen Gesellschafts- und Systemanalyse dazu, gemäß der Methode der Abstraktion und Komplexitätsreduktion, die Systeme zunächst entlang ihrer eigenen inneren Gesetzmäßigkeiten zu analysieren, beispielsweise herauszuarbeiten, dass der Kapitalismus sich, entgegen weit verbreiteten naiven Vorstellungen, sehr gut den neuen Rahmenbedingengen anpassen kann und dass es daher höchst unpolitisch wäre, dessen Zusammenbruch von äußeren Faktoren abhängig zu machen.
Deshalb findest Du auch in meinem Text, der der methodische Teil eines Buches werden soll, keinen einzigen Satz über die Naturgrenzen, mit denen sich jedes Gesellschaftssystem und nicht nur der Kapitalismus konfrontiert sieht. Mir sind gesellschaftliche Naturverhältnisse sehr wohl bekannt. Dazu empfehle ich Dir gern die Lektüre meines vor fast 20 Jahren veröffentlichten Buches „Endlichkeit der Natur und Überfluss in der Marktökonomie“[4]. Dich interessieren offensichtlich kaum die sehr komplexen Probleme gesellschaftlicher Systeme, die dann auch noch komplexer werden, wenn Naturverhältnisse in sie hineinwirken. Du glaubst, wie viele andere Ingenieur- und Naturwissenschaftler, es reiche völlig aus, immer wieder und überall, mit oder ohne Zusammenhang und ohne ein Nachdenken über Vermittlungsprobleme auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse hinweisen zu müssen und dies ständig zu wiederholen – alles andere ergäbe sich dann von selbst.
Das Wissen über ökologische Grenzen ist zwar eine wichtige Voraussetzung für den Systemwechsel, dieses Wissen allein aber reicht dazu nicht aus. Über die Erwärmung des Planeten durch den fossilen Energieverbrauch weiß beispielsweise mittlerweile jedes Kind Bescheid, aber es ändert sich trotzdem nichts. Der Natur ist es zwar einerlei, welche sozialen Gruppen und welche Länder die Erderwärmung verursachen. Für die Vermeidung des verschwenderischen Energieverbrauchs ist jedoch die Frage nach den gesellschaftlichen Triebkräften dieses Verbrauchs zentral. Daher kommen wir nicht umhin, über die Gesellschaft, den Kapitalismus und auch die Missverständnisse darüber zu reden. Dazu gehört die Analyse der Machtverhältnisse, der unterschiedlichen Interessen, der Manipulationsmechanismen, die Analyse des deformierten Bewusstseins etc. Die überwältigende Mehrheit der Menschen könnten nur dann für einen Systemwechsel gewonnen werden, wenn sie Alternativen hätten und sich in gesellschaftlichen Bündnissen stark genug fühlten, um die Machtfrage und den Systemwechsel auf die Tagesordnung zu setzen. Ihnen hilft es niemals, ihnen missionarisch die steigende Erderwärmung immer wieder vor die Nase zu halten.
Das naive Missionarentum hat noch nie in der Menschheitsgeschichte irgend etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen im positiven Sinne geändert, weil dessen Anschauung so gut wie alles, was für eine Veränderung erforderlich wäre, einfach ausblendet. Dabei wäre es doch so ungeheuer wichtig, dass sich Naturwissenschaftler und Sozialwissenschafter gegenseitig befruchten, um die höchst komplexen gesellschaftlichen Naturverhältnisse interdisziplinär besser durchdringen und politisch wirksamer handeln zu können. Das setzt allerdings einen gegenseitigen Respekt vor den unterschiedlichen Ansätzen und Aufklärungsinstrumentarien voraus.
Mit besten Grüßen, Mohssen Massarrat
Wolfgang Neef an Mohssen Massarat (6.12.2011)
Lieber Mohssen, vielen Dank für deine Replik. Ich weiß nicht, warum du mir unterstellst, dass ich deine Texte nur lese, um blinde Flecken ausfindig zu machen. Ich hab den Aufsatz mit Interesse gelesen. Genau weil ich finde, dass die „zwei Kulturen“ zusammen an die Analyse des Kapitalismus, der Machtverhältnisse etc. gehen sollten, wie du richtig schreibst, um sich gegenseitig zu befruchten.
Natürlich habe ich, wie andere auch, eine durch meine Vorbildung, mein politisches Engagement und meine ständige Rückkopplung mit jungen Menschen, die eine Ingenieursausbildung absolvieren, geprägte Sichtweise. Ich kenne die „zwei Kulturen“ jeweils einigermaßen (als Diplom-Ingenieur, aber auch als promovierter Soziologe) und hab inzwischen einige Erfahrung auch mit kontroversen Debatten zu diesem Thema. Eine davon ist, dass die Emotionen schnell hochgehen – wie auch bei dir: „Missionarentum“, sogar „naives Missionarentum“ kriege ich um die Ohren geschlagen. Unter Missionarentum verstehe ich den Versuch, andere mit transzendenten Vorstellungen zu einem Glauben zu bekehren – ich argumentiere aber nicht mit Transzendentem, sondern auf der Basis von ziemlich viel empirischem Wissen. Vielleicht könnte man sogar sagen: Diejenigen, die auf einer endlichen Welt materielle Ressourcen für „unerschöpfbar“ halten, sind die Missionare, weil sie einen (säkularen) Glauben reproduzieren, der die Epoche des Industrialismus kennzeichnet und – wie die christliche Kirche – die naturwissenschaftlichen Fakten, die Basis für seinen Erfolg waren, immer dann beiseite schiebt, wenn sie die Grenzen aufzeigen.
Genau diese beiden Sätze in deinem Aufsatz, die sich gegen Elmar Altvaters Thesen vom „Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ wenden (S. 55), thematisieren Naturgrenzen – als praktisch nicht vorhanden. Insofern hast du eben nicht „keinen einzigen Satz über die Naturgrenzen“ geschrieben und damit so nebenbei ein ganzes Buch vom Tisch gewischt.
In Z 88 ist genau nach deinem Aufsatz ein Beitrag von K. H. Tjaden[5] veröffentlicht, der – besser als ich es kann – das Problem benennt, das ich mit dieser „Analyse … der Systeme zunächst entlang ihrer eigenen inneren Gesetzmäßigkeit“ (deine Replik) und der damit verbundenen „Komplexitätsreduktion“ habe. Diese Reduktion nämlich wäre nur zulässig, wenn die Naturverhältnisse eine untergeordnete Rolle bei der Entwicklung des kapitalistisch getriebenen Industrialismus spielen würden. Genau das Gegenteil ist der Fall: Ohne fossile Energien und deren Wandlung in technische Antriebskräfte, ohne die exponentiell steigende Vermüllung der Erde hätte der Kapitalismus seine Wachstums-Imperative zur Geldvermehrung niemals in materielles Wachstum umsetzen können, er wäre schon auf den ersten Metern seines Weges gescheitert. Tjaden schreibt dazu, der Fehler sei, dass „die gemeinten Gesamtheiten gesellschaftlicher Tätigkeiten von Menschen (also der Kern marxistischer Analyse, d. Verf.) nicht als Subsysteme des globalen Systems der Geo-Biosphäre unseres Planeten aufgefasst, sondern einem Abstraktum ’Natur’ gegenübergestellt werden“ – das man dann durch „Komplexitätsreduktion“ erst einmal glaubt, vernachlässigen zu können, indem man menschliche Tätigkeit und Geschichte einerseits und außermenschliche Natur andererseits voneinander trennt, die Analyse jeweils auf das eine oder andere beschränkt und erst dann versucht, diese beiden Elemente zusammenzufügen, auch wenn sie schon lange nicht mehr zusammen passen. Ich hab das (in dem dir mitgeschickten Aufsatz ‚Die zweite Kristallschale’) mit Watzlawicks Argumentationsmuster von den „zwei Ebenen“ der Wirklichkeitswahrnehmung versucht zu beschreiben: Die der menschlich-gesellschaftlichen oder sozio- bzw. polit-ökonomischen Konstruktion einerseits und der materiellen Realität der Geo-Biosphäre, der natürlichen „Mitwelt“ der Menschen (besser als Umwelt) andererseits. Im herrschenden ökonomisch-politischen Diskurs, auch im marxistischen, wird diese Trennung fast ständig und konsequent praktiziert, wenn überhaupt auf die Mitwelt eingegangen wird. Da nützt es auch nichts, wenn diese „gesellschaftlichen Naturverhältnisse sehr wohl bekannt“ (deine Replik) sind: Die Trennung bleibt. Das Seltsame ist dann aber, dass die menschliche, gesellschaftlich-wirtschaftliche Konstruktion für die Basis gehalten wird (für Neoliberale: alternativlos, für Marxisten ersetzbar durch eine andere) und die uns ernährende geo-biologische Sphäre mit Tieren und Pflanzen für durch Technik beliebig vermehr- und manipulierbar. Was Tiere betrifft, nur nebenbei: Auch beliebig benutzbar, Qualen und Missachtung ihrer Lebensbedürfnisse inbegriffen.
Dass es umgekehrt ist, dass für eine Analyse der Frage, ob der Kapitalismus „am Ende“ sein könnte, beide Teile zusammen gedacht werden müssen und nicht nur gegenüber gestellt (was du ja in deiner Replik auch schreibst), dass auch die Glaubenssätze an die fortdauernde technische Machbarkeit des „Fortschritts“ auf den Prüfstand gehören, ist nun – mit deiner Begrifflichkeit – mein „Vorurteil“, das ich „ständig wiederhole“ und du somit meinem „Missionarentum“ zurechnest.
Man kann, wenn man über den Diskurs herrscht, durch ständiges Wiederholen von Falschem – wie das in den letzten 35 Jahren besonders penetrant durch die Ideologen des Neoliberalismus geschehen ist, aber schon seit Bacon, Smith und der industriellen Revolution die Ökonomie prägt – den Glauben daran erzeugen und festigen, dass man das Zeitalter der Begrenzung menschlicher Entwicklung auf die natürlichen Möglichkeiten durch die Entfaltung der Produktivkräfte endgültig hinter sich gelassen hat und dass Wachstum auch in einer endlichen Welt ewig fortgesetzt werden kann. Das gipfelt dann in der Vorstellung von Hubert Markl („Pflicht zur Widernatürlichkeit“, SPIEGEL 1995[6]), wenn die Natur das nicht wegstecken könne, müsse man die Verantwortung als Gattung Mensch übernehmen und den Laden selbst managen. Dadurch wird es aber nicht richtiger, und seitdem stellt sich ja auch heraus, dass trotz vielen Wissens nicht einmal der Versuch gemacht wird, das zu tun (es dürfte ohnehin nicht möglich sein). Selbst wenn man der Meinung ist, die ganze naturwissenschaftliche Empirie zu Klimawandel, Artensterben, Zerstörung der Biosphäre sei Blödsinn und Panikmache, wäre es vielleicht angebracht, mit Hans Jonas aus Vorsorge zu handeln – oder, wie ich als Flugzeugbau-Ingenieur gelernt habe, bei der Auslegung von Systemen immer den Worst Case anzunehmen (ohne diese Sicherheits-Philosophie würde niemand ein Flugzeug besteigen), um nicht von unseren Enkeln gefragt zu werden, warum wir den möglichen Schlamassel nicht durch mehr Vernunft und Vorsorgedenken verhindert haben.
Seit Cato ist aber auch das Wiederholen von Richtigem (soweit es wissenschaftlich zu belegen ist) ein legitimes Mittel, um es politisch wirksam zu machen – zugegeben, es kann manchmal penetrant wirken und die Fortschritts-Gläubigen richtig ärgern. Nötig bleibt es aber.
Freundlichen Gruß, Wolfgang Neef
Mohssen Massarat an Wolfgang Neef (14.12.2011)
Lieber Wolfgang, besten Dank für Deine Rückmeldung. Ich melde mich noch einmal zu Deiner Replik, da mir darin ein wichtiger Aspekt und auch ein methodischer Dissens ins Auge stach, den zu kommentieren mir in der Debatte zu Missverständnissen über den Kapitalismus wichtig erscheint.
I. Vorweg möchte ich, um Dir die Mühe eines weiteren Versuchs zu ersparen, mich doch als Wachstumsfetischisten hinzustellen, dem man diesen „Irrglauben“ austreiben müsste, ein grundsätzliches Bekenntnis ablegen: Ich habe seit ca. 25 Jahren begriffen, dass wir die Natur brauchen und dass aber die Natur uns nicht braucht. Du rennst also bei vielen Deiner Einlassungen über die Missachtung dieser Wahrheit durch liberale, neoliberale aber auch teilweise durch marxistische Ökonomen bei mir offene Türen ein. Leider bist Du meiner Empfehlung, Dir selbst durch die Lektüre meiner Publikationen darüber Gewissheit zu schaffen, nicht nachgekommen und hast es stattdessen offensichtlich vorgezogen, Dich an dem Wort unerschöpflich in meinem Text, so richtig festzubeißen, nachdem ich Deine Unterstellung widerlegen konnte, ich würde in den „Missverständnissen“ behaupten, das Kapital könne so wie bisher weiter machen. Der Begriff „unerschöpflich“ bezieht sich in meinem Text ausschließlich auf die Sonnenenergie und auf nichts Anders. Du kannst in meinem Text auch nicht den geringsten Hinweis darüber finden, dass ich diese „unerschöpfliche“ Energiequelle für die einzig entscheidende stoffliche Basis allen Produzierens und der Kultur halte. Übrigens haben alle Begriffe einen historischen Ursprung. Es mag daher zutreffen, dass Missionarentum tatsächlich transzendentalen Ursprungs ist, die Art, wie Du aber andere belehren bzw. aufklären willst, empfinde ich als missionarisch.
II. Kommen wir zurück zu unserem methodischen Dissens, der mir sehr wichtig erscheint und offensichtlich nicht nur ein Dissens zwischen Dir und mir ist. Du und die Schule, der Du anhängst, halten es für falsch, das gesellschaftliche Subsystem von der Biosphäre unseres Planeten getrennt zu denken und zu analysieren. Jede gedankliche Trennung des Subsystems Gesellschaft vom Gesamtsystem Naturverhältnisse führe zwangsläufig, so Deine Argumentation, zunächst zu einer Gegenüberstellung von Gesellschaft und Natur und dann zur Herrschaft der Gesellschaft (des Menschen) über die Natur und somit auch zu deren grenzenlosen Ausbeutung sowie zu ökologischen Katastrophen. Im Umkehrschluss geht Deine/Eure Schule von der Annahme aus, die Gesellschaftsverhältnisse seien grundsätzlich integraler, ja organischer Bestandteil der Naturverhältnisse, so dass jegliche Trennung der beiden Teile unweigerlich zu Fehleinschätzungen der Naturgrenzen und zur Verkehrung der (Herrschafts-)Verhältnisse führen müsse. Gegen diese Annahme und deren politische Folgen möchte ich drei Anmerkungen machen.
II.1. Die gedankliche Trennung des Subsystems Gesellschaft vom Gesamtsystem Natur kann zwar zum Imperativ „macht Euch die Natur untertan“ führen, dies ist jedoch nicht die einzig denkbare Möglichkeit, zu der die selektive Analyse des Gesellschaftssystem führen muss. Denkbar ist auch die Schlussfolgerung, erst durch die gedankliche Trennung und die Komplexitätsreduktion überhaupt die durch die Natur gesetzten Grenzen des Subsystems Gesellschaft besser erkennen und die Rahmenbedingen für ihre Dauerhaftigkeit und Stabilität innerhalb des Gesamtsystems konsequenter definieren zu können. Warum beschränkst Du aber die Konsequenzen der Komplexitätsreduktion lediglich auf die negative Seite dieser wissenschaftlich eigentlich sinnvollen Methode? Oder willst Du darauf hinaus, durch die Festlegung auf die methodische Einbahnstrasse, dass Gesellschaft nur als unzertrennbarer Bestandteil der Natur zu denken sei, die komplexe Realität so hinzubiegen, dass Dein gedachter Einheitsbrei als Realität erscheint?
II.2. Für die stillschweigende Annahme Deiner/Eurer Schule, das Subsystem Gesellschaft würde organisch zum Gesamtsystem Natur gehören, werden keine belastbaren Beweise geliefert. Die Tatsache, dass die Entwicklung des Kapitalismus mit der Anwendung fossiler Energien einher gegangen ist, als Beleg für die These von der „Gesellschaft als organischem Teil der Natur“, die Du vertrittst (s. Deine Replik), beweist erst, dass Du – und auch andere – zwischen eben dem logischen und dem historischen Kapitalismus nicht unterscheidet und den Kapitalismus eher tautologisch und geschichtsdeterministisch verklärt. „Der Kapitalismus, den wir kennen“ sei ein fossiler Kapitalismus, weil er vor zweihundert Jahren keine produktivere Energiequelle kannte als eben die fossilen Energiequellen. Die Kehrseite dieses Geschichtsdeterminismus ist allerdings ein folgenreicher Fatalismus und eine Naturgläubigkeit, der alle politisch denkbaren Handlungsperspektiven blockiert. Denn die These, nein eigentlich der Glaubenssatz, „Natur ist alles, Gesellschaft ist nichts“ (diese Zuspitzung ist die logische Konsequenz der Leugnung der Eigenständigkeit menschlicher Gesellschaft) lässt nur eine einzige Lösungsperspektive zu: Die Rache der Natur und der Untergang der Gesellschaft als „Strafe“ für menschliches Fehlverhalten. Anstelle von wirkungsvollen Klimaschutzstrategien, die nur politisch zu organisieren sind, erscheint innerhalb dieser Logik nur die Klimakatastrophe selbst als Lösung. Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich behaupte nicht, dass Du nur diese Lösung willst. Selbstverständlich plädierst Du für eine radikale Nachhaltigkeit und für politisches Handeln gegen die durch Menschen verursachten Fehlentwicklungen. Ich beschreibe allerdings die logische Konsequenz der Methode, man sollte auf eine gedanklich-analytische Trennung zwischen Subsystem Gesellschaft und Gesamtsystem Natur verzichten, wie Du sie empfiehlst, die ich aber aus den oben genannten Gründen entschieden ablehne.
II.3. Die gedankliche Trennung des Subsystems Gesellschaft vom Gesamtsystem Natur ist jedoch unerlässlich, weil es erstens nur durch den Zustand der Trennung möglich ist, die Wechselwirkung beider Teile aufeinander wissenschaftlich unverfälscht und möglichst exakt zu durchdringen. Und zweitens weil das Subsystem Gesellschaft innerhalb des von der Natur gesetzten Rahmens den eigenen Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten folgt, die man umfassend und systematisch nur durch die gedanklich-analytische Selektion vom Gesamtsystem Natur erkennen kann. Die Existenz der vorkapitalistischen Gesellschaften beruhte entweder auf der Sammler-Jäger-Lebensweise oder auf verschiedenen Formen der miteinander über den Markt im Austausch stehenden Gemeinschaften. Die Existenz und Eigendynamik des Subsystems kapitalistischer Gesellschaften, so wie wir sie kennen, beruht auf Privateigentum, Mehrwertproduktion, Konkurrenz etc. Ob und wie aber kapitalistische Gesellschaften ihre Beziehung zu den Naturverhältnissen regeln, ob zerstörerisch oder nachhaltig, hängt ganz und gar von spezifisch historisch sich wandelnden Macht- und Klassenverhältnissen, von der Bewusstseinsentwicklung und auch vom Verständnis und von Missverständnissen darüber ab, was im und mit dem Kapitalismus möglich und was nicht möglich ist. Auch die Handlungsalternativen im Kapitalismus setzen genaue Kenntnis der ökonomischen, sozialen und kulturellen Triebkräfte voraus, um z. B. wirksame Klimaschutz-Reformen zu entwickeln, Kräfteverhältnisse einzuschätzen, Bündnismöglichkeiten zur Durchsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien oder aber auch zur Überwindung des Kapitalismus selbst zu ergründen, vor falschen Alternativen und gefahrvollen Bündnissen zu warnen etc. Den Beitrag „Missverständnisse über den Kapitalismus“ habe ich genau zu diesem Zweck verfasst. Dazu musste die Methode der gedanklichen Trennung des Subsystems von den Naturverhältnissen strikt eingehalten werden. Naturalistische Glaubenssätze und Geschichtsdeterminismus führen dagegen zur Entpolitisierung und im schlimmsten Fall zum Fatalismus.
Mit besten Grüßen, Mohssen
„Klassenfrage“ in Lateinamerika
Dieter Boris zu Helge Buttkereit in Z 88
Helge Buttkereit (HB) hat in der letzten Z einen Aufsehen erregenden Artikel zur „Klassenfrage in Lateinamerika“ veröffentlicht.[7] Dabei stellt sich ihm die (nicht mehr ganz neue) Frage: „Welche Klasse trägt die Bewegungen, die als ‚Neue Linke’ beschrieben wird?“(86)
Schon seine „ersten Überlegungen“ zu diesem Thema möchten „auf Fehlstellen in der Literatur“(86) aufmerksam machen. Obwohl er – nach eigenen Angaben – erst „am Anfang“ der Beschäftigung mit dieser Problematik steht, und noch keine „zufrieden stellende Antworten“ geben kann, hat er die einschlägige Literatur offenbar so weit schon durchgearbeitet, dass ihm eine öffentliche Unterrichtung eines breiteren Publikums über die gewonnenen neuen Erkenntnisse sinnvoll erscheint.
Nach einer scharfzüngigen Kritik an einigen – wohl eher zufällig ausgewählten – Autoren und Schriften (A. Boron, D. Azzellini, D. Boris, J. Roesler u.a.) die seiner Ansicht nach allesamt die Spezifik der lateinamerikanischen Klassenverhältnisse – in der einen oder anderen Form – verkennen (87ff.), rekurriert er auf das alte Thema „Marx und die Produktionsepochen“ (91ff.), um sich offenbar von dort inspirieren zu lassen. Er nähert sich Marx über die Rezeption der Dissertation Rudi Dutschkes („Versuch, Marx auf die Beine zustellen“, 1974). So gewinnt er Argumente gegen ein „tradiertes Geschichtsbild in der Linken“ (91), welches durch den „Geschichtsdeterminismus“ Stalin’scher Prägung gekennzeichnet sei. Vor diesem Hintergrund erscheint es ihm „unerlässlich, sich mit der konkreten Geschichte des alten Amerika zu befassen, um der Frage nachzugehen, welche Momente vorkapitalistischer Gesellschaften heute noch wirksam sind und konkret in Erscheinung treten“ (92). Es folgen Ausführungen zur sog. „asiatischen bzw. altamerikanischen Produktionsweise“, die sich weitgehend auf einige historische Passagen der jüngst erschienenen Bolivien-Studie von Robert Lessmann stützen. Trotz „fehlender Vorarbeiten“ (wessen Vorarbeiten, des Autors oder allgemein der wissenschaftlichen community zu diesem Thema?)[8] kann HB bereits ein Zwischenresümée seiner Studien und Forschungen präsentieren: „Es sollte klar geworden sein, dass sich die Verhältnisse in Lateinamerika und Europa unterscheiden, die Entwicklung der Klassen sich also nicht einfach in Analogie zur europäischen vollzogen hat.“(95) Donnerwetter, wer hätte das gedacht?! Von dieser Erkenntnis aus sollte auf jeden Fall weiter gearbeitet werden. Auch die Einsicht, dass der Staat in den altamerikanischen Gesellschaften bei der Klassenbildung „ebenfalls … eine zentrale Rolle“ wie „im heutigen Lateinamerika“ „spielt“ (94) sollte unbedingt und „zielführend“ weiter vertieft werden, denn die historische Spezifik – so unterstreichenswert im allgemeinen – scheint nicht immer gültig zu sein.
Es ist zweifellos eine äußerst lohnende Aufgabe weiter zu begründen, „dass die Marginalisierten als Basis der „Neuen Linken“ sich in ihrem Kampf auf Organisationsformen der Gemeinschaft stützen, die wie dargelegt ihre Wurzel bereits in der vorkolumbianischen Gesellschaft haben.“ (95) Das wirft wiederum viele Fragen auf: Wer sind die Marginalisierten? Sind es nur Marginale, die die neuen Linksregierungen unterstützen? Welche Organisationsformen sind gemeint? Haben solidarische, gemeinschaftliche Formen oder Rätemodelle immer etwas mit vorkolumbianischen Strukturen zu tun? Muss z.B. nicht zwischen Brasilien und Bolivien in Bezug auf die Relevanz vorkolumbianischer Elemente für die heutige Sozialstruktur unterschieden werden? Zu all diesem gibt es bereits eine reichhaltige und differenzierte Literatur. Diese gilt es erst einmal sorgfältig zu rezipieren und zu verarbeiten – bevor Torheiten oder Banalitäten im Brustton des Entdeckers verkündet werden.
„Provokante Beiträge als Diskussionsanregung“ (95) sind sicherlich sehr willkommen, wenn sie einen Mindeststandard an Seriosität, Literaturkenntnis und Fähigkeit zu wissenschaftlicher Beweisführung beinhalten. Letzteres ist z.B. nicht erkennbar, wenn HB mir vorwirft, ich sei „letztlich in der Verwertungslogik des Kapitals stecken (geblieben)“ und übernähme „gleichzeitig stillschweigend deren Ideologie eines weltumspannenden einheitlichen Kapitalismus und der Nivellierung aller historischen Unterschiede“ (90). Denn HB versäumt es, einen Beleg oder Beweis für eine derartig abwegige These in meinen Schriften zu präsentieren. Durch den Gebrauch des Wörtchens „vormodern“ hätte ich dergleichen „nahe gelegt“. Peinlich nur, das HB selbst diesen Begriff benutzt, ohne allerdings die gleichen inkriminierenden Rückschlüsse auf sich selbst zu beziehen. „Dabei handelt es sich um eine konkrete Form der angesprochenen ‚Vormoderne’, eine Form der bäuerlichen Subsistenzökonomie.“ (94) HB behauptet des Weiteren, „das Wirken einer Formationstheorie eines einheitlichen Geschichtsverlaufs von der Urgesellschaft über die Antike, den Feudalismus bis zum Kapitalismus“(89) sowohl in der Studie J. Röslers wie meiner zur Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas wahrnehmen zu können; womit wir zugleich „in die Ideologie des Kapitalismus zurückfallen“ (89). Weder Rösler noch ich haben irgendwo – weder explizit noch implizit – geschichtsphilosophische Ausführungen dieser oder ähnlicher Art gemacht. Wenn HB behauptet, dass dies aus unseren „Formulierungen“ hervorginge, so müsste er sie schon zitieren.
Wahrscheinlich trifft auch im Falle HBs das Diktum zu: Solide Literaturkenntnis schützt vor vorschneller Entdeckereuphorie. Vielleicht wäre es nützlich, sich bei der weitergehenden Beschäftigung mit dem Thema Sozial- und Klassenstrukturen in Lateinamerika zuerst einen Überblick über die seit mindestens sechs Jahrzehnten andauernde entsprechende sozialwissenschaftliche Debatte zu verschaffen.[9] HB steht wirklich ganz am Anfang. Das ist eine der wenigen glaubwürdigen Aussagen in seinem Text. Er kennt offenbar keine einzige lateinamerikanische (oder spanischsprachige) oder angelsächsische Arbeit zu der von ihm aufgeworfenen Thematik. Jedenfalls fehlen jegliche Literaturverweise dieser Art in seinem Artikel.
[1] Mohssen Massarat, Missverständnisse über Kapitalismus, in: Z 88, Dezember 2011, S. 42-59.
[2] Christel Neusüß, Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander, Hamburg 1985
[3] Wolfgang Neef: Die zweite Kristallschale. In: Forum Wissenschaft Nr. 4, 2009, S. 37 ff.
[4] Marburg 1993 [Metropolis]
[5] Karl Hermann Tjaden, Schwachstellen in der gängigen Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaft. Barrieren und Chancen einer marxistischen Mensch-Umwelt-Theorie, in: Z 88, Dezember 2011, S. 60-75.
[6] Der Spiegel, 27.11.1995
[7] Helge Buttkereit, Zur Klassenfrage in Lateinamerika. Erste Überlegungen zu einem aktuellen und historischen Problem, in: Z 88, Dez. 2011, S. 86ff.
[8] Auch im Zusammenhang der Problematik altamerikanischer Gesellschaften bemerkt HB häufig „muss noch untersucht werden“, „gibt erste Hinweise“, „zu wenig Arbeiten“ etc., offenbar ohne auch nur minimal die weitläufige und sehr differenzierte Literatur zu diesem Thema zu kennen, siehe z.B. den umfassenden Überblick über die einschlägige Diskussion von Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden (Maya, Inka und Azteken - Altamerikanische Kulturen und europäische Gewaltherrschaft: Unterwerfung, Anpassung und Widerstand), in: Urte Sperling u.a.(Hg.): Gesellschaft von Tikal bis irgendwo, Kassel( Jenior Verlag), 2004, S.92-178.
[9] Vgl. Boris, Dieter (2008): Sozialstrukturen in Lateinamerika, in: Boris, D./Gerstenlauer, Th./Jenss, A./Schank. K./Schulten, J. (Hg.). Sozialstrukturen in Lateinamerika. Ein Überblick, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften), S. 9-43.