Mit dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Jahre 1991 ging der Zusammenbruch der Infrastruktur der staatstragenden Kommunistischen Partei der Sowjetunion einher. Ihre wissenschaftlichen Einrichtungen, darunter das Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU, das als Zitadelle der Parteiorthodoxie galt, und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU, die damals größten Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Geschichte der UdSSR und der KPdSU, setzten auf ihre Weise die vom Generalsekretär Michail Gorbatschow verkündete „Umgestaltung“ um.
Die umgestalteten Nachfolgeeinrichtungen erklärten ihre Absage an die Einengung der Forschung auf die Geschichte der KPdSU und wandten sich verstärkt der Soziologie und der vaterländischen politischen Geschichte zu. Im Juni 1991 erfolgte die Umbenennung des IML beim ZK der KPdSU in Institut für Theorie und Geschichte des Sozialismus beim ZK der KPdSU. Nach dem Augustputsch 1991 und dem anschließenden Verbot der Kommunistischen Partei wurden deren Archive in staatliche umgewandelt, die angeschlossenen Institute aufgelöst. Die Zeitschrift „Iswestija ZK KPSS“ (Nachrichten des ZK der KPdSU), die seit Januar 1989 u.a. Dokumente aus dem Zentralen Parteiarchiv veröffentlichte, stellte im August ihr Erscheinen ein.
In diese Zeit fällt auch die Auflösung des von Pawel Wolobujew geleiteten Wissenschaftlichen Rates der Akademie der Wissenschaften der UdSSR für die Geschichte der Oktoberrevolution. Die Koordinierung der Forschungsarbeiten übernahm der 1999 im Ergebnis der Zusammenlegung mit dem seit 1988 existierenden Rat für die Geschichte sozialer Reformen und Bewegungen gegründete Wissenschaftliche Rat für die Geschichte der sozialen Reformen, Bewegungen und Revolutionen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN). Dessen Leitung hatte Grigori Sewostjanow inne.
Zu den vom Rat organisierten Veranstaltungen gehörte die im November 2003 am Institut für russische Geschichte der RAN durchgeführte Tagung „Politische Parteien in den russischen Revolutionen Anfang des 20. Jahrhunderts“. Sie spiegelt die Bandbreite der nach kurzer Unterbrechung, im Gründungsjahr der neuen russländischen historischen Schule[1], 1993 aufgenommenen Forschungen zur Revolutionsthematik wider. Ein Drittel der im Tagungsband veröffentlichten Beiträge hat die Entwicklung der von März bis Oktober 1917 in Russland bestehenden acht überregionalen und 46 nationalen Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen zum Gegenstand. Mit Blick auf die in Russland 1917 dominante Volksbewegung diskutierten die Autoren u.a. Fragen nach dem Stellenwert, den Funktionen, der Rolle und der Akzeptanz der politischen Parteien in der Bevölkerung.
Neue Quelleneditionen zu russischen Parteiengeschichte
Die Geschichte des kurzlebigen russischen Mehrparteiensystems – es erfasste im Revolutionsjahr 1917 ungefähr 1,2 Prozentder Bevölkerung[2] – und der vier Dumas[3] ist in den letzten 20 Jahren um enzyklopädische Gesamtdarstellungen (vorgestellt wurden 127 Parteien und 700 Spitzenfunktionäre)[4] sowie um umfangreiche Dokumenteneditionen, die im Ergebnis internationaler Forschungsprojekte entstanden, bereichert worden. Von 1994 bis 2015 erschienen insgesamt 29 Bände mit Dokumenten der in Russland agierenden Parteien, darunter der Anarchisten (1883-1935), des Bundes (1894-1921), des Bundes der Sozialisten-Revolutionäre-Maximalisten (1906-1924), der Partei der Konstitutionellen Demokraten (1905-1922), der Menschewiki (1903-1951), der Sozialisten-Revolutionäre (1900-1925), der Linken Sozialisten-Revolutionäre (1917-1918), des Bundes des 17. Oktober (1905-1907) und der rechten Parteien (1905-1917).
Von 1994 bis zum Jubiläumsjahr 1997 erschienen drei Bände der Dokumentation „Die Menschewiki im Jahre 1917“. Die Moskauer Herausgeber hatten Arbeitskontakte zu den am so genannten „Menschewistischen Projekt“ beteiligten Wissenschaftlern in den USA aufgenommen. Offensichtlich bereitete auch die Edition von Dokumenten der rechten und konservativen Parteien – den politischen Gegnern der Bolschewiki – kaum Schwierigkeiten. Die entsprechenden Sammelbände lagen bis 1998 vor. Erst im Anschluss daran begannen russische Historiker mit der Edition von Dokumenten der Parteien aus dem linken nichtbolschewistischen Spektrum. Somit lag das Gros der Quelleneditionen im Umfang von 20 Bänden zu den Anarchisten, den Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), den Menschewiki, den Sozialisten-Revolutionären und den rechten Parteien bis zur Jahrtausendwende vor. In den Jahren 2002, 2004, 2010 und 2015 erschienen weitere sechs Bände, darunter die zum Bund und dem Bund der Sozialisten-Revolutionäre-Maximalisten. 2007 folgte ein Band mit den Vorworten zur Menschewiki-Edition, der ein vervollständigtes Sach- und ein Namenregister zu den edierten Bänden enthielt. Im November 2011 veröffentlichte Albert Nenarokow eine Untersuchung über die „rechten Menschewiki“. Eine völlig andere, die o.g. Editionen ignorierende Lesart der Geschichte der KPdSU legte ein von Alexander Besborodow geleitetes Autorenkollektiv 2014 vor.[5] Die „Vorgeschichte“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) von 1883 bis 1917 wird im 2. Kapitel dieses Buches „In Revolutionen und Kriegen. 1883-1920“ überwiegend aus Leninscher Perspektive skizziert. Mit Nenarokows Studie vergleichbare Abhandlungen zu den anderen sozialistischen Parteien sind nicht erschienen. Die Geschichtsschreibung hat es in den zurückliegenden fünf Jahren nicht vermocht, den Rückstand gegenüber den Quelleneditionen aufzuholen.[6] Versuche, wie der von Alexander Schubin[7], die Entwicklung von Februar bis Oktober 1917 zu untersuchen, bleiben die Ausnahme.
Seit 2006 wird die Quellenedition „Politische Parteien Rußlands“ durch das wiederbelebte „Russische Revolutionäre Archiv“ ergänzt. Bis 2016 erschienen in Moskau sieben vorzüglich kommentierte Bände mit Dokumenten und der Korrespondenz aus den Nachlässen maßgeblicher Funktionäre und Theoretiker unterschiedlicher Strömungen der Menschewiki: Georgi Plechanow (1905-1918), Juli Martow (1896-1904), Pawel Akselrod (1880-1905), Alexander Potressow (1894-1905) und Irakli Zereteli (1923-1958). Um die Untersuchung von Lenins Leben und Werk ist es hingegen schlechter bestellt. Auf die Edition unbekannter Lenin-Dokumente (im Jahre 1999) folgten keine nennenswerten biografischen Studien oder Werkanalysen. Lenins Umfeld ist kaum untersucht. Leo Trotzkis Schriften werden nach wie vor sporadisch ediert, während der 1988 eingesetzte Bucharin-Boom schnell abgeklungen ist. Ausgaben wie die noch nicht abgeschlossene Edition von Dokumenten aus dem Nachlass von Jewgeni Preobrashenski bleiben die Ausnahme.
1997 fand die vom Moskauer ROSSPEN-Verlag herausgegebene Edition über die Menschewiki im Jahr 1917 ihren Abschluss. Nenarokow und Juri Felschtschinski haben die in den USA geleisteten Vorarbeiten ausführlich kommentiert und gewürdigt.[8] Übersetzungen ausgewählter Dokumente aus dieser Edition fanden Aufnahme in den 1997 veröffentlichten Band „Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse?“.[9] Seit 1996 und 1997 gewann die Erschließung der Februarrevolution in Russland an Gewicht.[10] Am Vorabend ihres 100. Jahrestages zog Petr Saweljew, der an den o.g. Editionen mitarbeitete, eine Bilanz der Geschichtsschreibung der SDAPR in der UdSSR und in Russland.[11] In seinem informativen und quellengesättigten Bericht wies er u.a. darauf hin, daß seit 2008 keine regelmäßigen Tagungen mehr zur Geschichte der russischen Sozialdemokratie stattfanden.[12]
Die Debatten über die „Doppelherrschaft“, um ein weiteres Thema herauszugreifen, sind zum Erliegen gekommen. Neben den aus der Duma gespeisten Koalitionsregierungen existierte der 1917 ins Leben gerufene Petrograder Sowjet, der sofort einen Kompromiss mit der ihrem Wesen nach liberalen Provisorischen Regierung einging. Während dieser „Doppelherrschaft“ prägte dieser Kompromiss das Verhältnis von Revolution und Macht. Er sollte bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung halten. Doch die in Bewegung gekommenen Volksmassen hatten das Vertrauen in jegliche Machtorgane verloren. Die in Russland agierenden Parteien vermochten es in der kurzen Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, nicht, diese Massen an sich zu binden. Im Regelfall konnten die sich sehr schnell Politisierenden nicht zwischen den Strömungen, die sich zum Sozialismus bekannten, unterscheiden. Die Pläne der Menschewiki, Sozialisten-Revolutionäre und Konstitutionellen Demokraten, die Gemeindewahlen im Sommer 1917 für die Festigung ihrer lokalen Vertretungen zu nutzen, scheiterten. Von der im Sommer einsetzenden Verfolgung der Bolschewiki als „Partei des Umsturzes“ konnten sie nicht profitieren.
Der bewaffnete Aufstand der Bolschewiki im Oktober 1917 läutete das Ende dieser Entwicklung und des Mehrparteiensystems ein. Lenins Anhänger versprachen, die Erwartungen der Massen bezüglich der Beendigung des Krieges und der Lösung der Agrarfrage sofort zu erfüllen. Wozu auf die Einberufung der Konstituierenden Versammlung warten, fragten sie, wenn die Aussicht auf Brot, Freiheit und Frieden nicht mehr in weiter Ferne, sondern zum Greifen nahe lag. Worin die einen ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, den Beginn einer neuen Ära sahen, war für die anderen ein Putsch. Einfache sowie Führungsmitglieder der einstigen Verbündeten der Bolschewiki – der Anarchisten, des Bundes, der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki – wurden verfolgt und ins Exil getrieben. Ihre Wahrnehmung und Schilderung der Ereignisse im Revolutionsjahr ist Gegenstand zahlreicher Editionen.[13] Auf Ausbürgerungskampagnen folgten Schauprozesse gegen die Menschewiki und die Sozialisten-Revolutionäre. Einige in Sowjetrussland verbotene oder aufgelöste Parteien existierten im Ausland weiter. Viele ihrer im Land gebliebenen Mitglieder traten der Kommunistischen Partei Russlands bei.
Die Parteien nach dem Sturz der Zarenherrschaft
Solange die UdSSR als Weltmacht existierte, wurde die welthistorische Bedeutung ihrer Geburtsstunde im Oktober kaum in Frage gestellt. Erst das Ende der Sowjetunion 1991 brachte den Durchbruch neuer Sichtweisen mit sich, wobei in der Regel vermieden wurde, die Wurzeln der Fehlentwicklung in der Sowjetunion ausschließlich im Oktober zu suchen. Gleichzeitig verwiesen russische Historiker darauf, dass richtige, vom Oktober ausgehende Ansätze und Ideen in den darauf folgenden Jahren entstellt, vergessen, transformiert oder ad acta gelegt worden sind, und dass es ein Fehler wäre, die Wurzel für jede Entartung im von den Bolschewiki durchgeführten Umsturz und in der Auflösung der Konstituierenden Versammlung zu suchen.[14]
Alle in Russland bestehenden Organisationen und nationalen Ausgliederungen profitierten von der Politisierung der Bevölkerung, die auf der Suche nach einer politischen Heimat war. Das erklärt auch, warum keine der Parteien im Frühjahr 1917 monolith war, genau genommen agierten stets mehrere Parteien unter einem Parteidach. Ob sich die dem linken Flügel der IV. Duma zuzurechnenden Parteien zusammenfinden oder weiter auseinanderdriften würden, konnte niemand vorhersagen, da die Bereitschaft zum Kompromiss und das Streben nach Einheit vorherrschend waren. Symptomatisch ist, dass der Platz hinter der Rednertribüne im Taurischen Palais, dort wo früher ein Porträt des Zaren hing, leer blieb. Es wurde herausgeschnitten. Im neuen Russland gab es kein einigendes Symbol mehr.
In den Februartagen 1917 stand nicht die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, sondern deren Einberufung auf der Tagesordnung, eine Forderung, die Theoretiker aller Parteien – von den Bolschewiki bis hin zu den Kadetten – in ihre zu Programmen ausgebauten programmatischen Erklärungen aufgenommen hatten. „Frieden, Land und Brot waren die Ziele, denen die Arbeiter und Soldaten, die Schöpfer dieser plötzlich aufschießenden Sowjets, zustrebten. Keinerlei Unstimmigkeiten ließen sich zu damaliger Zeit in ihren Reihen entdecken, noch die kleinste Spur von Uneinigkeit zwischen Bolschewisten, Menschewisten und Sozialrevolutionären.‚Nach dem Sturz der Zarenmacht am 27. Februar 1917 wurde Rußland etwa vier Monate lang wie ein freies Land regiert, nämlich auf dem Wege des offenen Kampfes der sich frei bildenden Parteien und der freien Vereinbarungen zwischen ihnen. Um die Entwicklung der russischen Revolution zu begreifen, muß man also vor allem studieren, welches die wichtigsten Parteien waren, die Interessen welcher Klassen sie vertraten und welcher Art die Beziehungen all dieser Parteien zueinander waren.‘[15]Allerdings traten diese Parteien bereits, in Form von sachlichen Artikeln in ihrer Parteipresse, mit abweichenden Interpretationen der Revolution auf“, schreibt M. Philips Price, Augenzeuge der Ereignisse in Moskau.[16] Im Frühjahr ging es nicht um die Durchsetzung der Monopolstellung einer Partei im politischen Leben, sondern um die konsequente Überwindung der Folgen der Selbstherrschaft durch die der „revolutionären Demokratie“ verpflichteten sozialistischen, liberalen und demokratischen Parteien. Den Sturz des Zarismus, die wichtigste Forderung der aktivsten politischen Parteien, der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) und der SDAPR, hatte die Revolution herbeigeführt. Der Zar und die Romanow-Dynastie waren derart diskreditiert, dass sogar die der Monarchie verpflichteten Oktobristen auf Distanz zum Herrscherhaus gingen.[17] Unter diesen Bedingungen galt es, die Triebkräfte der Revolution zu bestimmen.
Die Demokratie erwies sich als parteiübergreifendes Identifikationsmerkmal. So wurde z.B. das Großkampfschiff „Imperator Nikolaus I.“ in „Demokratie“ umbenannt, Gesuche auf Änderung des Familiennamens „Romanow“ in „Demokratow“ waren keine Ausnahme.[18] Demokratie wurde im Sinne von Volksherrschaft als das Gegenstück zum Polizeistaat, zur Diktatur interpretiert. In einer seiner ersten Erklärungen verpflichtete sich der Arbeiter- und Soldatenrat „die provisorische Regierung zu unterstützen, soweit sie das mit dem Arbeiter- und Soldatenrat vereinbarte Programm einhielt. Der Arbeiter- und Soldatenrat, der als treibende Kraft bemüht war, die Revolution möglichst weit hinauszutreiben und die provisorische Regierung zu veranlassen, weitgehende Zugeständnisse an die Forderungen der revolutionären Demokratie zu machen, hatte sich somit auch als Kontrollinstanz seitens der Organe der revolutionären Demokratie gegenüber der provisorischen Regierung etabliert. Diese Kontrolltätigkeit hat dann auch, namentlich in der ersten Zeit, sehr segensreich gewirkt.“[19] Auch die Anarcho-Kommunisten, die eine Gleichstellung anarchistischer Gruppen mit den anderen sozialistischen Parteien und Strömungen forderten, erklärten sich in Anbetracht der Situation und um eine Demoralisierung zu verhindern, bereit, „Hand in Hand mit der Demokratie bis zum Sieg über den gemeinsamen Feind voran[zu]schreiten.“[20]
Trotz vorhandener theoretischer und taktischer Unterschiede bestand „eine lose Zusammenfassung der marxistischen und nichtmarxistischen Gruppen in einem Block, der allgemein als ‚revolutionäre Demokratie‘ des Sowjet bekannt war. Auf einer gemeinsamen Plattform begegneten sich damals alle revolutionären Parteien, – Friede mit den Arbeitern aller Länder auf der Grundlage des Verzichts auf Annexionen und Entschädigungen, Land für die Bauern und Sozialisierung der Industrie. Alle Parteien des Sowjets vermochten sich über theoretische Ziele zu verständigen. […] Andererseits herrschte die größte Unstimmigkeit unter den revolutionären Parteien über taktische Fragen. Die theoretischen Meinungsverschiedenheiten, die den rechten Flügel der Marxisten (Menschewisten) von den nicht-marxistischen Sozialrevolutionären trennten, waren nicht derart, daß sie die praktische Zusammenarbeit im Petrograder Sowjet verhinderten. Eine Zusammenarbeit im Sowjet war aber andererseits nicht möglich zwischen den beiden marxistischen Flügeln, der bolschewistischen Linken und der menschewistischen Rechten, weil sie, obschon durch keine theoretischen Meinungsverschiedenheiten getrennt, in Fragen der revolutionären Kampfesweise zu keinem modus vivendi kommen konnten.“[21]
Die Entwicklung der Parteien
Die Ausgangssituation der linken bzw. linksorientierten Gruppierungen nach der Februarrevolution 1917 in Russland war weitgehend identisch. Ihre führenden Funktionäre, die in der Regel im Exil lebten, drängten, von der Nachricht über die Revolution überrascht, nach Russland. Kriegsbedingt war die Verbindung zusammengebrochen. „Nach Rußland sind sämtliche Verbindungen abgerissen“, schrieb Martow am 28. Februar an seine Freundin, „keine Zeitungen, keine Zeitschriften, keine Briefe.“[22] „Aus Rußland bekommen wir nichts, nicht einmal Briefe!!“, hatte Lenin am 13. März aus Zürich an Inessa Armand geschrieben. Zwei Tage später las er „ganz aus dem Häuschen“[23] die in den Schweizer Zeitungen veröffentlichten Telegramme über den Sieg der Revolution in Petrograd.
„Die Schlagzeile der Zeitung lautete: ‚Umsturz in Petrograd. Nikolaus II. verzichtet auf Thron zugunsten seines Bruders Michail‘. – ‚Na und?‘ meinte ich zu Fotinski“, erinnert sich Ilja Ehrenburg. „‚Ist Michail besser als Nikolaus?‘ Doch Fotinski war in seiner Freude nicht zu beirren. Er holte eine andere Zeitung, wir fanden eine kurze Notiz: In Petrograd Streiks, Demonstrationen. ‚Eine richtige Revolution!‘ rief Fotinski. […] Eine Debatte hob an: Wird sich der neue Zar halten, oder kommt die Republik? Wir wußten nicht, dass die französische Zensur Nachrichten unterschlug, dass in Petrograd niemand mehr an Michail dachte, dass der Sowjet der Arbeiterdeputierten beriet, wie er sich zur Provisorischen Regierung verhalten sollte. […] Es war schwer zu verstehen, was in Rußland vorging.“[24]
Von einem Tag auf den anderen musste man umdenken. „Gestern schien es, als habe die Regierung Gutschkow-Miljukow bereits vollständig gesiegt und mit der Dynastie bereits Abmachungen getroffen. Heute stehen die Dinge so, daß keine Dynastie da ist, daß der Zar geflohen ist und offensichtlich die Konterrevolution vorbereitet! ...“[25]
Nachdem in den Exilorten Komitees für die Organisation der Rückreise gebildet worden waren, begannen die Vorbereitungen für die Rückreise.Die Exilanten trafen von 1917 bis 1918 in größeren (wie der von Martow geleiteten), in kleineren Gruppen, wie der um W. Lenin oder Plechanow, oder allein (wie der PSR-Linke W. Alexandrowitsch), in Russland ein. Im März 1917 kamen 17, im April 57, im Mai 274, im Juni vier, im Juli 11, im August neun, im September acht, im Oktober sechs, im November und Dezember je zwei Personen. 1918 waren es nur noch 27.
Auch wenn die biographischen Angaben oft unvollständig sind, zeichnet sich das Bild in seinen Grundzügen ab. Alle in Russland eingetroffenen Exilanten standen zunächst vor der Aufgabe, sich ein Bild von der Entwicklung der Ereignisse zu machen. Sie mussten ihre Parteien unter Berücksichtigung der neuen Handlungsmöglichkeiten reaktivieren (wie es u.a. bei den PSR-Maximalisten der Fall war), reorganisieren sowie neue Mitglieder und Sympathisanten gewinnen. Dabei arbeiteten sie mit ihren aus der Verbannung oder den Gefängnissen entlassenen Genossen zusammen.
In den auf den Februar folgenden Monaten März und April 1917 suchten sehr viele Bürger nach einer politischen Heimat und entschieden sich für die Mitgliedschaft in einer der liberalen, konservativen oder sozialistischen Parteien. Ganze Dörfer oder Regimenter erklärten ihren Eintritt in die PSR. Wer der SDAPR beitreten wollte, musste einen individuellen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Da die Menschewiki im Unterschied zu den Bolschewiki über ein organisatorisches Netzwerk im Land verfügten, fingen sie das Gros der Neuzugänge auf. Das änderte sich erst im Sommer 1917. Welche politischen Auffassungen die neuen Mitglieder mitbrachten, welche Strömung der jeweiligen Partei von dem Zustrom profitierte, bedarf weiterer Untersuchung. In der Regel hatten die neuen Mitglieder im Frühjahr keine klare Vorstellung von den programmatischen Unterschieden zwischen den linken Parteien.
Sowohl aus diesem Grund als auch mit Blick auf die von allen Parteien angestrebte Wahl zur Konstituierenden Versammlung war es erforderlich, den Wählern möglichst schnell einen Leitfaden in die Hand zu geben, der eine Orientierung im linken Parteienspektrum ermöglichte. Zeitgenössische Beobachter stellten zu Recht fest, dass die Parlamentstradition den russischen Arbeitern und Soldaten völlig fremd war. Was nun einsetzte, war der Kampf zwischen den Gruppierungen, die sich gemeinschaftlich an der Revolution beteiligt hatten.[26]
„Die Glanztage der März-Revolution hatten jedoch mit dem 1. Mai ihren Gipfelpunkt erreicht. Sie gingen vorüber, und was nun folgte, war der Kampf zwischen den sozialen Gruppen, die gemeinschaftlich Revolution gemacht hatten. Der Kampf ging um die Entscheidung, welche der Gruppen von nun an die Führerrolle in Rußland übernehmen sollte.“[27]
Zur Programmatik der Parteien März bis August 1917
Wie Verleger und Parteitheoretiker versuchten, Parteimitglieder und Wähler in Russland mit Informationen zu versorgen, lässt sich anhand der im Laufe des Jahres 1917 erschienen Broschüren zur Programmatik der linken Parteien erläutern. Unter diesem Blickwinkel wurden zehn Sammelbände[28] ausgewertet, die von März bis August 1917 in Moskau, Odessa, Petrograd bzw. Stawropol erschienen sind. Sechs Broschüren enthalten von den Herausgebern Samuil Sergejewitsch Sak, L. Slonimski, S. Michailow und Ignatij Wladislawowitsch Wladislawlew verfaßte Vor- oder Nachworte bzw. Geleitworte der Verlage, in denen die Dokumente der SDAPR[29], der Partei der Sozialisten-Revolutionäre (PSR)[30], der Kadetten[31], der Trudowiki[32], der Radikalen Partei[33], der Anarcho-Kommunisten[34] und der Sozialistischen Jüdischen Arbeiterpartei (SERP)[35] kommentiert werden.
Nur noch vier der sechs im März 1917 vorgestellten linken Parteien waren in den im August veröffentlichten Sammlungen vertreten. Es handelt sich um die SDAPR, die PSR, die Trudowiki und die Kadetten. Während diese Parteien ihren Platz behaupten konnten und ihre Programme auch weiterhin dokumentiert wurden, verzichteten die Herausgeber auf die Vorstellung der Anarchisten, der Radikalen Partei, der Oktobristen und der Sozialistischen Jüdischen Arbeiterpartei. Anlage und Kommentar der Dokumente widerspiegeln sowohl die Veränderungen in der öffentlichen Meinung, die Stellung der Parteien zur Demokratie sowie das Bestreben, zwischen überregionalen und nationalen Parteien zu unterscheiden.
Politische Parteien (den reaktionären, konservativen, liberalen, gemäßigt-progressiven und radikal-demokratischen Parteien steht die sozialistische gegenüber) seien das Spiegelbild der im Land agierenden politischen Kräfte, schrieb Wladislawlew vor dem 25. März 1917. Sie könnten „ihre Tätigkeit nur im Rahmen des Rechtsstaates richtig entfalten“[36]. Ungünstige politische Bedingungen behinderten die Herausbildung eines differenzierten Parteienspektrums, das der objektiven Sachlage und den politischen Kräfteverhältnissen entspreche. Im Gefolge des Auseinanderbrechens der großen Parteien entstehen kleine politische Gruppierungen. Sie seien „konturlos“ und instabil und damit dem Untergang geweiht. Diese Neugründungen seien nicht von Dauer und zerfielen ebenso schnell, wie sie entstanden seien. Wladislawlew konstatierte nach dieser Zustandsbeschreibung mit Genugtuung, daß die Zahl der parteilosen Dumaabgeordneten ab-, die Zahl der Parteimitglieder unter den Abgeordneten jedoch beständig zunahm. Dies „spricht für eine zunehmende politische Reife der Mitglieder unserer jungen Vertretungskörperschaft“.
Wladislawlew sah die Möglichkeit der Wiederbelebung der von 1905 bis 1906 bestehenden Radikalen Partei. Obwohl die Radikale Partei schon lange nicht mehr existierte, bemerkte er unter Hinweis auf Pressemeldungen über eine bevorstehende „Radikal-Demokratische“ bzw. „Radikal-Republikanische“ Parteigründung, bestehe Grund für die Annahme, dass sie bald wieder zum Leben erweckt werde.
Anfang April 1917 wurde die liberal-republikanische Partei gegründet, der Oktobristen und Konservative angehörten. Im September erfolgte die Vereinigung mit der radikal-demokratischen Partei.
Die Aufnahme der Ausarbeitung über die Taktik der Anarchisten-Kommunisten in eine in Petrograd veröffentlichte Broschüre erklärt sich aus dem kurzzeitigen Hervortreten der Partei in Kronstadt. In Odessa und Stawropol ist es hingegen die lokal bedeutende Partei SERP. Sowohl Wladislawlew als auch die anderen Herausgeber stellten nur solche politischen Parteien und deren Programme vor, die ihrer Meinung nach eine gesicherte Perspektive hatten.
In den hier ausgewerteten zehn, zwischen März und Juli 1917 in Moskau (P1, P5, P8), Odessa (P3, P6), Petrograd (P2, P4, P7,) und Stawropol (P10) publizierten Broschüren wurden den Wählern insgesamt neun Programme russischer politischer Parteien vorgestellt. In einem einzigen Fall (P6) wurden ausschließlich Programme sozialistischer Parteien und deren Stellungnahme zur Beendigung des Krieges berücksichtigt. Der Stellenwert, den die Herausgeber den Parteien beimessen, unterscheidet sich kaum. SDAPR und PSR, gefolgt von den Trudowiki, belegen die Plätze 1 bis 3. Bis Juni änderte sich die Rangfolge nicht.
Es ist aufschlussreich, wie die Herausgeber ihre Entscheidung für die Vorstellung der Programmdokumente der noch nicht „etablierten“ Parteien begründen. In den ersten Broschüren liegt die Betonung auf der weiteren Radikalisierung des politischen Lebens.
Mit zunehmender Betonung der Demokratisierung, der Hoffnung auf die Einberufung der Konstituierenden Versammlung änderte sich bis zum Sommer die Gewichtung der Kommentare. Das russische Volk stehe nach dem Sturz der Selbstherrschaft vor gewaltigen schöpferischen Aufgaben. An diesem Aufbau müsse sich das ganze Volk beteiligen. Die alte Ordnung hatte die Volksmeinung stets ignoriert bzw. unterdrückt. Nunmehr müsse sich jeder Bürger, der diesen Ehrennamen verdient, in einer Partei organisieren bzw. eine Partei unterstützen. Denn nur auf diese Weise könne das staatliche und örtliche Leben umgestaltet werden. Unmittelbar vor Einberufung der Konstituierenden Versammlung müsse jeder Bürger die Möglichkeit erhalten, sich für ein Parteiprogramm zu entscheiden, das seinen Vorstellungen am meisten entspricht.
Die drei Parteien, die das meiste für die Revolution getan haben, sind auch die mitgliederstärksten. Aber weder sie noch die anderen haben grundsätzlich neue Programme veröffentlicht, sieht man von kleinen Änderungen ab. In den nächsten Wochen, ist der Vorbemerkung zu entnehmen, plane der Verlag die Herausgabe von Programmdokumenten kleinerer Parteien und Gruppen, die die neue Ordnung unterstützen[37]. Die Programmerklärung der Oktobristen[38], die sich auf das Zarenmanifest vom 17. Oktober 1905 stützte, sei überholt. Die Führungsmitglieder dieser Parteien hatten sowohl in der Duma als auch in der Provisorischen Regierung Spitzenpositionen inne, seienaber noch nicht mit Vorschlägen zur Reorganisation der alten Parteien hervorgetreten.[39]
Die wenigen Wochen, in denen die Trudowiki, die Sozialdemokraten und die Sozialisten-Revolutionäre (PSR) ihre Programmaussagen präzisierten, genügten, um den Stimmungsumschwung zu fixieren. Die unter Berücksichtigung des 5. Parteitages[40] der Trudowiki vom 7. bis 11. April 1917, der 7. (April)konferenz der SDAPR[41] vom 24. bis 29. April 1917 und des 3. Parteitages der Sozialisten-Revolutionäre[42] vom 25. Mai bis 4. Juni 1917 herausgegebene Broschüre wies bereits im Titel die zentralen Fragen – sofortiger Friedensschluss sowie die Lösung der Eigentumsfrage – aus. In einer nächsten Folge sollten die Unterschiede zwischen den etablierten Parteien herausgearbeitet und die wichtigsten nationalen Parteien ausführlicher vorgestellt werden. Gleichzeitig machten die Herausgeber auf die Polarisierungen innerhalb der einzelnen Parteien aufmerksam. Diese schienen ihnen nicht so wichtig zu sein, wie die Betonung des zunehmenden sozialistischen Elementes in den Programmen aller, dem linken Spektrum zugeordneten Parteien.
Die Hoffnung auf die Einheit der Linken, vor allem auf die Überwindung der andauernden Spaltung in der russischen Sozialdemokratie, spricht aus den Kommentaren von Michailow.[43] Samuil Sak weist auf die Demokratisierung der Kadetten als Partei des Mittelstandes und das Verschwinden der Oktobristen von der politischen Bühne des Landes hin. Eine vereinigte sozialistische Partei könnte ein Sammelbecken für jene Kräfte sein, die auf dem Boden des evolutionären bzw. des revolutionären Sozialismus stehen. Weitere Kristallisationspunkte stellen die SERP und die PSR dar.[44] Wladislawlew hingegen setzte auf eine mögliche Vereinigung der Sozialisten-Revolutionäre und Sozialdemokraten.[45] Hinsichtlich der SDAPR war jedoch nur von den Menschewiki die Rede, denn Lenin verfolgte – so Wladislawlew – eine anarcho-syndikalistische Politik. Eine Vereinigung von Menschewiki und Bolschewiki sei nicht in Sicht, fasste er zusammen.[46]
Als Ergänzung zu dieser Dokumentation bot der Verlag diverse von Iosif Jaschunski verfasste Broschüren mit Erläuterungen des Wahlrechts und des Aufbaus der Demokratischen Republik an. Im Vorwort zur 2. Auflage der Programmbroschüre, die Mitte/Ende Juni 1917 erschien, wies I. W. Wladislawlew darauf hin, dass die Entwicklung (seit Erscheinen der 1. Auflage) gezeigt habe, dass kein Bedarf nach einer neuen radikal-sozialistischen Partei bestehe. Die neu gegründete Radikal-demokratische Partei habe einen anderen Weg eingeschlagen und werde in einer der nächsten Ausgaben – zusammen mit anderen Neugründungen – vorgestellt.[47] In der von Wladislawlew besorgten 2. Auflage finden sich die in der 1. Auflage vorgestellten Programme der SDAPR, der PSR und der Volkssozialisten. Hinzu kam das überarbeitete Programm der Partei der Volksfreiheit. Im Vergleich zur 1. Auflage seidie Partei der Volksfreiheit demokratischer geworden. Die Radikale Partei und die Konstitutionellen Demokraten waren in der 2. Auflage nicht mehr vertreten.
Im ersten, einleitenden Teil skizziert Wladislawlew die Geschichte der im Band vertretenen Parteien und ihrer nationalen Gliederungen von ihrer Gründung bis Juni 1917. Die Broschüre erschien nach der Vereinigung der Trudowiki mit den Volkssozialisten.
Die Broschüren enthielten auch Erläuterungen zum allgemeinen Wahlrecht und den Grundsätzen der Demokratischen Republik. Politische Parteien werden als „Vereinigungen gleichgesinnter Bürger mit gleichen Zielen im Hinblick auf den Staatsaufbau“ definiert, „die sich zum Kampf um die Verwirklichung ihrer Ideale organisiert haben“. Es wird zwischen reaktionären und konservativen, liberalen und gemäßigt progressiven, radikaldemokratischen und sozialistischen Parteien unterschieden.[48] Die Besonderheit der linken Parteien bestehe darin, dass sie ihre Ziele nicht auf ein Minimalprogramm beschränken, sondern von der Demokratisierung zur Sozialisierung weiterschreiten wollen. Mit Blick auf die Entwicklung der Bolschewiki und Menschewiki hebt der Herausgeber die „typische Begleiterscheinung“ der Entwicklung linker Parteien, die ideologischen Meinungsverschiedenheiten, hervor. Noch könne man auf den Einigungsprozess hoffen, betonte Wladislawlew unter Hinweis auf die Konferenzen der Menschewiki vom März[49] und Mai[50].
Mit der Rückkehr der Gruppe um Lenin im April 1917 ändern sich die Situation innerhalb des bolschewistischen Flügels sowie das Kräfteverhältnis zwischen Menschewiki und Bolschewiki von Grund auf. An der 7. Aprilkonferenz der Bolschewiki in Petrograd vom 24. bis 29. April 1917 nahmen 133 Delegierte teil, die 78 Parteiorganisationen mit ca. 80.000 Mitgliedern vertraten.Die Bolschewiki – sohieß es in der Polemik von Zeitgenossen– näherten sich unter Lenins Führung immer mehr dem Anarcho-Syndikalismus an.
Die Programme aller Parteien müssten, so Wladislawlew, spätestens ab dem Sommer 1917 überarbeitet werden, denn die Revolution seizu diesem Zeitpunkt so weit fortgeschritten, daß alle in den Programmen fixierten Ziele im Wesentlichen erfüllt seien. Die Sozialrevolutionäre und Trudowikihatten im Frühjahr mit einer Überarbeitung ihrer Programme begonnen. Nunmehr wären die Parteien gefordert, wirklich unter den Massen zu arbeiten. Vor der Revolution, bemerkte S. Sak,[51] habe es genau genommen keine politischen Parteien, sondern nur Parlamentsfraktionen gegeben. Aber auch nach der Revolution ist die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor nicht in Parteien organisiert. Das sei jedoch eine Bedingung für die Entfaltung wirklicher Demokratie. In diesem Zusammenhang erinnerte der Herausgeber erneut daran, dass die Vereinigung der sozialistischen Parteien an der Tagesordnung wäre.
Begleiterscheinung dieser Auseinandersetzungen seien Streit, Kampf der Richtungen und Flügel sowie eine deutlichere Differenzierung. Es werde noch viele – aber hoffentlich klärende – Kämpfe geben, hob S. Sak hervor. Während die einen auf die Demokratische Republik orientieren, propagieren die anderen das Voranschreiten zum Sozialismus auf revolutionären oder auf evolutionärem Wege. Die Vertreter dieser Richtungen hätten zunächst nur das Ende des Konservatismus und Oktobrismus herbeigeführt. Jetzt müssten sie genug Toleranz aufbringen, um in der Konstituierenden Versammlung über das weitere Schicksal des Landes zu beraten.
Doch die Frage der Macht war im Hochsommer ein denkbar ungünstiges Thema, einander näherzukommen. Die Krise der Koalitionspolitik dauerte an, es kam zu keiner Einigung der demokratischen Kräfte in Russland. Dafür sammelten sich die Kräfte der Konterrevolution. Befehlshaber des Petrograder Militärbezirks Kornilow wollte die Situation ausnutzen und die Bolschewiki mit einem gezielten Militärschlag vernichten. Der Kornilowputsch hatte dem Koalitionsgedanken den Todesstoß versetzt. Von diesem Zeitpunkt an erschienen auch keine gemeinsamen Programmeditionen mehr.
[1] Petr Jur‘evič Savel’ev: Genezis RSDRP: Istoriografija i istočniki. Moskva 2016, S. 129.
[2] Sergej Georgievič Kara-Murza: Partii v 1917 godu. Ot Fevralja k Oktjabrju. In: Političeskie Partii v rossijskich revoljucijach v načale XX veka. Moskva 2005, S. 297.
[3] Gosudarstvennaja Duma Rossijskoj Imperii 1906-1917. Moskva 2008.
[4] Političeskie partii Rossii. Konec 19-pervaja tret’ 20 veka. Ėnciklopedija. Moskva 1996.
[5] Istorija Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza. Moskva 2014.
[6] Al’bert Pavlovič Nenarokov: Pravyj men’ševizm. Prozrenija rossijskoj social-demokratii. Moskva 2012, S. 25-89. (Kapitel: Über den Zustand der Forschungen zur Geschichte der SDASPR. )
[7] Aleksandr Vladlenovič Šubin: Velikaja Rossijskaja revoljucija: otfevralja k oktjabrju 1917 goda. Moskva 2014.
[8] Jurij Georgievič Fel’štinskij; Georgij Iosifovič Černjavskij: Men’ševiki v revoljucii: Stat‘i i vospominanija socialdemokratičeskich dejatelej. Moskva 2016.
[9] Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse? Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Wladislaw Hedeler, Horst Schützler, Sonja Striegnitz. Berlin 1997.
[10] Vgl. die von der RGGU vorgelegte Dokumentation: Fevral’skaja revoljucija 1917. Sbornik dokumentov. Moskva 1996, und die von der RAN besorgte Ausgabe: Fevral’skaja revoljucija. Ot novych istočnikov k novomu osmysleniju. Moskva 1997.
[11] Petr Jur‘evič Savel’ev: Genezis RSDRP: Istororiografija i istočniki. A.a.O.
[12] Ebenda, S. 148.
[13] Velikaja russkaja revoljucija glazami intellektualov. Chrestomatija. Sost. Aleksandr Aleksandrovič Veršinin, Marija Vladimirovna Gurylina. Moskva 2015; Boris Valentinovič Jakovenko: Istorijavelikoj russkoj revoljucii. Fevral’sko-martovskaja revoljucija i ee posledstvija. Moskva 2013.
[14] Jurij Aleksandrovič Poljakov: Oktjabr‘ 1917 goda: diskussii prodolžajutsja. In: Političeskie Partii v rossijskich revoljucijach v načale XX veka. Moskva 2005, S. 289; Al’bert Pavlovič Nenarokov: Pravyj men’ševizm. Prozrenija rossijskoj social-demokratii. Moskva 2012, S. 54-55.
[15] W. I. Lenin: Die Lehren der Revolution. In: LW, Bd. 25, S. 232.
[16] Morgan Philips Price: Die Russische Revolution. Erinnerungen aus den Jahren 1917-1919. Hamburg 1921, S.14.
[17] Programmy političeskich partij. Podredakciej is predisloviem Samuila Sergeeviča Zaka. Izdanie 2-oe, ispravlennoe. Odessa 1917 [=P9, sh. FN 28], S. 3.
[18] Boris Ivanovič Kolonickij: „Demokratija“ kak identifikacija: K izučeniju političeskogo soznanija fevral’skoj revoljucii. In: Fevral’skaja revoljucija. Ot novych istočnikov k novomu osmysleniju. Moskva 1997, S. 109.
[19] N. G. Verow: Die große russische Revolution. Berlin 1917, S. 81-82. Unter dem Pseudonym Verow veröffentlichte der Menschewik Vladimir Konstantinovič Ikov (1882-1956).
[20] Vneočerednoe zajavlenie predstavitelja Petrogradskoj gruppy anarchistov-kommunistov ovozmožnostiučastija delegatov anarchistov v rabote Sovetarabočich i soldatskich deputatov. In: Anarchisty. Dokumenty i materialy 1917-1935. Moskva 1995, S. 17-18.
[21] Morgan Philips Price: Die Russische Revolution, a.a.O. (FN 16)S. 30.
[22] Julij Osipovič Martov-Nadežda Samojlovna Kristi, 28.2.1917. In: 1917 častnye svidetel’stva o revoljucii v pis’mach Lunačarskogo i Martova. Moskva 2005, S. 139.
[23] W. I. Lenin an Inessa Fjodorowna Armand, 15.3.1917. In: W. I. Lenin: Briefe, Berlin 1967, Bd. IV, S. 397.
[24] Ilja Ehrenburg: Menschen, Jahre Leben. Memoiren. Berlin 1978, Bd. 1, S. 217f.
[25] W. I. Lenin an Alexandra Michailowna Kollontai, 17.3.1917. In: W. I. Lenin: Briefe, Berlin 1967, Bd. IV, S. 400.
[26] Morgan Philips Price, a.a.O., S. 19.
[27] Morgan Philips Price: a.a.O., S. 19.
[28] Programmy političeskich partij v Rossii. Pod redakcieji s predisloviem Ignatija Vladislavoviča Vladislavleva. Vyp. I-j. Moskva 1917. Das Vorwort ist mit März 1917 datiert. Der Parteitag der Kadetten, der am 25. März begann, ist nicht berücksichtigt worden. Im Folgenden [P1]; Programmy političeskich partij. Petrograd 1917. In dieser Ausgabe sind die Mitteilungen über die Änderungen im Programm der Kadetten auf dem 7. Parteitag berücksichtigt worden. Im Folgenden [P2]; Programmy russkich političeskich partij. Odessa 1917. Im Folgenden [P3]; Programmy političeskich partij v Rossii. Po oficial’noj partijnoj literature. Petrograd [1917], im Folgenden [P4]; Programmy političeskich partij pred“ Učreditel`nym Sobraniem. Moskva 1917, im Folgenden [P5]; Programmy russkich socialističeskich partij (socialistov-revoljucionerov, trudovikov i socialdemokratov) s rezoljucijami s’ezdov 1917g ob otnošenii k vojne i proč. Odessa 1917, im Folgenden [P6]; Programmy rossijskich političeskich partij. Polnyj tekst programm partij s.-d., s.-r., narodnych socialistov, trudovikov, k.-d., s vstupitel’nymi zametkami S. G. Michajlova. Petrograd 1917, im Folgenden [P7]; Programmy političeskich partij v Rossii. Pod redakciej i so stat’ej I. V. Vladislavleva: „Kratkie svedenija o političeskich partijach v Rossii“. Vyp. 1-j. Izd. 2-oe, ispr. Moskva 1917, im folgenden [P8]; Programmy političeskich partij. Podredakciej i s predisloviem Samuila Sergeeviča Zaka. Izdanie 2-oe, ispravlennoe. Odessa 1917, im Folgenden [P9]; Programmy russkich političeskich partij. Stavropol’ 1917, im Folgenden [P10].
[29] Programm 1903. In: P1, P2, P3, P4, P5, P6, P7, P8, P9, P10;Manifest 1898. In: P1.
[30] Programm 1901. In: P1, P2, P3, P4, P5, P6, P7, P8, P9, P10.Einen ausführlichen Überblick über die Erarbeitung von Programm und Statut gibt der Band „Partija Socialistov-Revoljucionerov. Dokumenty i materialy v 3-ch tt. T 1. 1900-1907 gg.“ Moskva 1996.
[31] Programm 1905. In: P1. Mit den Änderungen vom März 1917 in P3, P4, P5, P7, P8, P9, P10; Auszüge aus der auf dem 7. Parteitag vom 25.-28. März 1917 angenommenen Entschließung über Russlands Entwicklung als parlamentarische Republik, in P3 und P7.
[32] Die Volkssozialistische Arbeitspartei knüpfte an die Traditionen der Volkstümler an. Programmentwurf der Partei der Volkssozialisten vom Mai/Juni 1906 [siehe: P1]. Im Juni 1917 vereinigte sich diese Partei mit den Trudowiki und nahm das Programm an [siehe P3, P4, P6, P7, P8, P10]. P7 dokumentiert sowohl das Programm der Volkssozialistischen Arbeitspartei als auch der Gruppe der Trudowiki.
[33] Das 1905 vorgelegte Programm (P1 und P4) dieser Partei, der Rechtsanwälte, Ärzte und Eisenbahner angehörten wies deutlichere sozialistische Tendenzen auf, als das der Kadetten und kam dem von der Sozialdemokratie propagierten Minimalprogramm nahe.
[34] Erklärung über die Taktik 1917. In: P4. Seit dem 13. März 1917 existierte die Moskauer Föderation der anarchistischen Gruppen. Die erste Ausgabe ihrer Zeitung erschien im September, das eigentliche Programmdokument am 6. November 1917. Im Juli 1917 sprachen sich die Anarchisten-Kommunisten für die Schaffung einer sozialistischen Regierung aus.
[35] Die Partei ging im Dezember 1905 aus einer seit 1903 bestehenden Gruppe jüdischer Intellektueller hervor. Seit Mai 1917 bildete diese Partei ein Sammelbecken für fortschrittliche jüdische Intellektuelle. Programm, in P9 und P10.
[36] P1, S. 3. Vorwort von Ignatij Vladislavovič Vladislavlev.
[37] Namentlich genannt wurden die Trudowiki und die Radikal-demokratische Partei. P5, S. 4.
[38] 1996 erschien in Moskau der erste Band der zweibändigen Ausgabe „Partija ‘Sojuz 17 oktjabrja’. Protokolys‘ezdov i zasedanij CK 1905-1907“.
[39] P5, Vorbemerkung des Verlages.
[40] Auf diesem Parteitag definierten sich die Trudowiki als sozialistische Partei. Die Forderung nach einer Demokratischen Republik wurde in das Programm aufgenommen, der Kurs der Provisorischen Regierung begrüßt.
[41] Auf dieser Konferenz konnte sich Lew Borissowitsch Kamenew, der die Auffassung vertrat, die bürgerlich-demokratische Revolution sei in Russland nicht abgeschlossen, nicht durchsetzen. W. I. Lenins „Aprilthesen“ wurden als Aktionsprogramm angenommen und die Bezeichnung „Bolschewiki“ dem Parteinamen hinzugefügt. Eine Mehrheit der Delegierten wandte sich gegen Lenins Vorschlag einer Namensänderung in „Kommunistische Partei“.
[42] Die Sozialrevolutionäre unterstützten die Provisorische Regierung und wandten sich ausdrücklich gegen „abenteuerliche Versuche, die Macht zu erobern“. In der vom Parteitag verabschiedeten Entschließung „Über das Verhältnis zum Krieg“ wurde ein demokratischer Frieden für die ganze Welt gefordert. Die Stockholmer Konferenz, für deren Einberufung sich die Sozialrevolutionäre einsetzten, könnte dazu beitragen, den Friedensprozess zu beschleunigen.
[43] P7, S. 2.
[44] P9, S. 6-7.
[45] P8, S. 15.
[46] P8, S. 14.
[47] P8, S. 4.
[48] P8, S. 5.
[49] Gemeint ist die Bildung des Organisationskomitees zur Vorbereitung eines Vereinigungsparteitages am 8. März 1917, siehe: Informacija o sobranii 8 martasocial-demokratov, sozdavšich organizacionnoe bjuro dlja ob‘edinenija RSDRP. In: Men’ševiki v 1917 godu. T. 2, S. 148.
[50] Gemeint ist die Gesamtrussische Konferenz der SDAPR vom 7. bis 12. Mai 1917, siehe: Obščerossijskaja Konferencija RSDRP 7-12 maja. In: ebenda, S. 378-462.
[51] P9, S. 4.