Die Freie Hansestadt Bremen, innerhalb weniger Jahrzehnte zum industriellen Ballungszentrum und zu einem Hauptort der deutschen Arbeiterbewegung herangewachsen, nahm im Verlauf der deutschen Revolution 1918/19 – gemeinsam mit einigen wenigen anderen Regionen – eine Sonderstellung ein. Der Sozialdemokratische Verein Bremen gab eine der für den linken Flügel der Sozialdemokratie wesentlichen Tageszeitungen heraus, die von Alfred Henke geleitete „Bremer Bürgerzeitung“, ein Sprachrohr der führenden Linken um Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Julian Marchlewski und anderen. Die Mehrheit der Bremer Parteimitglieder folgte linken Redakteuren, wie Johann Knief, und Funktionären, die ihre Basis in der revolutionierten Werftarbeiterschaft hatten. Bedeutenden Einfluss besaßen die in Bremen wirkenden Anton Pannekoek und Karl Radek. So bildete sich in Bremen sehr bald nach der Überwindung des Schocks vom 4. August 1914 ein Zentrum jenes Flügels der Sozialdemokratie heraus, der die Vorstandspolitik der Vaterlandsverteidigung und des Burgfriedens bekämpfte. Er entwickelte eine Antikriegsopposition nach der Parole, die bereits der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 ausgegeben hatte: „Falls der Krieg… ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“[2]
In Bremen bildeten sich bereits 1916 jene widerstreitenden und 1917/1918 in drei Arbeiterparteien mündenden Strömungen heraus: einerseits die vorstandstreuen Mehrheitssozialdemokraten, andererseits die Linksradikalen um Johann Knief und zwischen ihnen die Anhänger einer gemäßigten Antikriegsopposition um Alfred Henke.[3] Das Besondere aber war: Die Mehrheitssozialdemokraten blieben in der Minderheit, die Vertreter der Mitte um Henke waren linkssozialistisch orientiert und die Linksradikalen um Knief entwickelten sich im Kontakt mit der Zimmerwalder Linken und gemeinsam mit ihren Anhängern in verschiedenen Reichsteilen zu den „Internationalen Kommunisten Deutschlands“. Sie hatten sich im Unterschied zur Spartakusgruppe 1917 nicht der USPD angeschlossen und traten – neben dem Spartakusbund – Ende 1918 als zweite Quellgruppe der KPD in Erscheinung.
Von diesen Entwicklungen war der Verlauf der Revolution in Bremen geprägt. Der Kampf um die Rätemacht, der die linken unabhängigen Sozialdemokraten und die Internationalen Kommunisten trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten verband, führte bis zur Proklamation einer Räterepublik Bremen am 10. Januar 1919. Dieser Akt der Solidarität mit den Berliner Januarkämpfern war zugleich Ausdruck der Illusion der Linksradikalen wie der Linkssozialisten in der Bremer USPD, man müsse und könne die Revolution noch über den erreichten bürgerlich-demokratischen Fortschritt bis zu einer sozialistischen Umwälzung vorantreiben.
Welche Rolle nun spielten die Kieler „Initialzündung“ und die Matrosen in persona im revolutionären Geschehen Bremens? Der linke Flügel der USPD um deren Mitbegründer Alfred Henke und die Linksradikalen um Johann Knief unterhielten bereits während des Krieges Beziehungen zu Matrosen der Kriegsflotte, die der USPD angehörten oder nahestanden bzw. revolutionäre Positionen der Linksradikalen teilten.
So geriet der Reichstagsabgeordnete der USPD Alfred Henke bei der juristischen Untersuchung der Rolle von Abgeordneten seiner Partei während der Marine-Unruhen im Sommer 1917 ins Visier der Reichsanwaltschaft. Sie stellte fest, Henke habe zu jener Zeit in Kiel eine Rede gehalten, man habe ihn für 24 Stunden festgenommen und bei ihm eine Liste mit12 Namen von Marineangehörigen der „SMS Ziethen“ gefunden, die Mitglieder der USPD seien, ferner einen Zettel mit den Namen von Reichpietsch und anderen an den Unruhen beteiligten Matrosen.[4]
Johann Knief hatte im Kreis seiner Anhänger bereits 1916 Möglichkeiten erörtert, vordringlich Beziehungen zu Angehörigen der Marine zu knüpfen, weil sie ihrer Qualifikation wegen zumeist gewerkschaftserfahrene Arbeiter waren und sich auf dem kleinem Raum von Schiffen leichter für den Antikriegskampf organisieren ließen als Angehörige von Feldtruppen. Knief traf sich mehrfach im Bremer „Reichsadler“ mit Matrosen aus Wilhelmshaven und Cuxhaven, konspirativ getarnt als Wiedersehen feiernde Urlauber. Kniefs Vertrauter Johann Brodmerkel hielt und vermittelte diese Beziehungen, auch zu linken Abgeordneten der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ im Reichstag. Über die Kontaktpartner unter den Matrosen gewannen die Bremer Linksradikalen nicht wenige Abonnenten für ihre Wochenschrift „Arbeiterpolitik“. Besonders enge Verbindungen mit der Gruppe um Knief pflegte der in Wilhelmshaven-Rüstringen dienstverpflichtete Matrose Karl Baier (1887-1973), im Zivilberuf Modelltischler, seit 1912 organisierter Sozialdemokrat und ab 1917 Mitglied der USPD. Baier wurde 1918 Vorsitzender des Soldatenrats in Cuxhaven, Mitglied des Zentralrats der Marine, des sog. 53er-Ausschuss, als dessen Vertreter er seit Dezember 1918 auch Mitglied des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins war, der bis zum I. Reichsrätekongress als zentrales Organ der Rätebewegung in Deutschland fungierte.[5]
Ähnlich eng waren die Beziehungen der Bremer Linksradikalen und Kniefs persönlich mit dem Maat Eugen Lieby (geb. 1885), im Zivilberuf Dreher. Er war gleichfalls seit der Vorkriegszeit Mitglied der SPD und in deren Spaltungsprozess zum Anhänger der linksradikalen Richtung geworden. Lieby war in Cuxhaven auf einem Minensuchboot stationiert. Als besonders angesehener Vertrauensmann seiner Kameraden wurde er 1918 zweiter Vorsitzender des Cuxhavener Soldatenrats, dann Nachfolger für den im Marinezentralrat in Berlin tätigen Karl Baier.
Bremen war kein Liegeplatz der kaiserlichen Kriegsflotte, sondern mit seinen Werften ein Zentrum des Kriegsschiffsbaus. Die ersten Matrosen, die in Bremen eintrafen, waren verhaftete Besatzungsmitglieder der Schlachtschiffe „Helgoland“ und „Thüringen“, die sich Ende Oktober 1918 dem Befehl zum Auslaufen gegen die britische Flotte widersetzt hatten. Über 200 von ihnen wurden in die Bremer Haftanstalt Oslebshausen verbracht. Dies geschah offenbar recht unauffällig, denn es löste kein bemerkenswertes Echo aus.
Den Anstoß für eine Umsturzbewegung in Bremen gab vielmehr eine von der USPD für den 4. November 1918 in die Casino-Säle einberufene öffentliche Versammlung, zu der sich über 5 000 Teilnehmer einfanden. Alfred Henke erklärte, seine Partei werde den ersten Jahrestag der russischen Revolution (gemeint ist der 7. November) zum Anlass nehmen, deren Sache in Deutschland zu ihrer Sache zu machen. Die Versammelten beschlossen einen entsprechenden Forderungskatalog. Sie verlangten nicht nur Waffenstillstand und Frieden, sondern auch die Aufhebung des Belagerungszustandes und des Hilfsdienstgesetzes, die Abschaffung aller Dynastien und die völlige Demokratisierung von Reich, Staat und Gemeinden bis hin zur Errichtung der sozialistischen Republik.[6] Diese Forderungen stimmten weitgehend mit jenen überein, welche die gemeinsame Konferenz der Spartakusgruppe und der Linksradikalen am 13. Oktober 1918 formuliert hatte. In Bremen waren also bereits am 4. November grundstürzende Parolen ausgegeben worden, so dass die USPD-Versammlung an diesem Tage als Auftakt zum revolutionären Geschehen gewertet werden muss.
Erst einen Tag später erfuhren die Bremer durch ihre nicht so rigide zensierten Tageszeitungen, vor allem durch die „Bremer Bürgerzeitung“, von den Vorgängen in Kiel und den so genannten 14 Kieler Punkten, die demokratische Grundrechte und die Befreiung der politischen Gefangenen einforderten, aber noch nicht die Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung verlangten. Das Anwachsen der Massenbasis gerade für diese Forderung in Bremen zeigte sich am 5. November. An diesem Tag bewogen die radikalen Kräfte, USPD und Linksradikale unter Wortführerschaft von Alfred Henke, eine von der SPD eigentlich zur Beruhigung der Lage anberaumte öffentliche Versammlung mit 4 000 Teilnehmern unter Hinweis auf die Vorgänge in Kiel dazu, gleichfalls der Resolution Henkes vom Vortag zuzustimmen.
Am 6. November erreichten bewaffnete Kieler Matrosen über Hamburg Bremen. Sofort in Gemeinschaft mit den mobilisierten Werftarbeitern der AG Weser befreiten sie die in Oslebshausen gefangen gehaltenen 230 Matrosen der Schiffe „Helgoland“ und „Thüringen“. Matrosen und Arbeiter zogen gemeinsam in die Bremer Innenstadt. Am gleichen Tag wurde am Bremer Hauptbahnhof ein Transport mit 350 seit dem 28. Oktober gefangenen Matrosen aus Wilhelmshaven gestoppt, die ins Munsterland verbracht werden sollten. 150 Seesoldaten der Transportbewachung solidarisierten sich mit den Gefangenen. Gemeinsam mit Arbeitern zogen sie alle wie die Arbeiter und Matrosen von Oslebshausen in die Innenstadt. Dort entwaffneten sie die Wachen an den Garnisonskasernen am Neustadtswall und forderten die Soldaten mit Erfolg auf, sich dem Aufstand anzuschließen. Alle diese Aktionen wurden von Matrosen und Werftarbeitern sowie von Funktionären der drei Arbeiterparteien[7] gemeinsam getragen.
Am 6. November entstand aus vier Vertretern der USPD und dreien der Linksradikalen als erstes Revolutionsorgan ein Aktionsausschuss, in den Mitglieder der Mehrheitssozialdemokratie nicht aufgenommen wurden. Am Vormittag des 7. November wählten die Arbeiter aller Betriebe ihre Arbeiterräte und deren Vertreter für den Bremer Arbeiterrat. Nach einer Massendemonstration mit ca. 30 000 Teilnehmern am Nachmittag konstituierte sich am Abend der Bremer Arbeiterrat mit einem erweiterten Aktionsausschuss aus zehn Mitgliedern der USPD und fünf Linksradikalen. Zum 1. Vorsitzenden wählten sie Henke, zu seinem Stellvertreter Johann Brodmerkel von den Linksradikalen. Johann Knief befand sich zu dieser Zeit noch als Schutzhäftling in Berlin. Am 8. November kooptierte der Ausschuss, um den Fachleutemangel zu beheben, sechs Gewerkschaftsfunktionäre, die Mitglieder der SPD waren. Unabhängige und Linksradikale gaben dadurch ihre Dominanz keineswegs auf. Am Ende von Umstrukturierungen und Personenwechseln bestand der Aktionsausschuss aus je acht Vertretern der USPD und der Linksradikalen sowie sechs Mitgliedern der Mehrheitssozialdemokratie. Hinzu kamen zwei Vertreter des Bremer Soldatenrats mit beratender Stimme.
Zwischen dem Bremer Arbeiterrat und dem Soldatenrat entwickelte sich kaum eine gedeihliche Zusammenarbeit. Im Soldatenrat dominierten Garnisonssoldaten des Landheeres über die an Zahl abnehmenden Matrosen. Ende November beschwerte sich der Soldatenrat über die „linksradikale Ausrichtung“ des Arbeiterrates, wohingegen er eine „rechtssozialistische Ausrichtung“ vertrete, ein sinnfälliger Ausdruck für die Lähmung der Rätebewegung, die allerorten sehr schnell zum Ort parteipolitischen Streits wurde und entsprechende fraktionelle Organisationsformen hervorbrachte.
Die Matrosen jedoch behielten ihr hohes Ansehen als Initiatoren der Revolution. Als die Revolutionsorgane das Waffentragen nur politisch zuverlässigen Arbeitern gestatteten, durften die ehemaligen Matrosen der Schiffe „Helgoland“ und „Thüringen“ ihre Waffen behalten. Die Leitung des Sicherheitsdienstes übertrug der Soldatenrat einem Matrosen. Sie stellten auch einen großen Teil der Straßenpatrouillen während der Revolutionstage. Ihre Zahl aber verringerte sich seit den ersten Tagen des Aufstandes. Bereits am 9. November hatten mehrere Hundert mit Gewehren und Maschinengewehren bewaffnete Matrosen in einem Sonderzug Bremen verlassen, um in Städten des Binnenlandes revolutionäre Arbeiter bewaffnet zu unterstützen.
In Bremen spielten revolutionäre Matrosen erst wieder eine wichtigere Rolle, nachdem Johann Knief am 18. November 1918 in seiner Heimatstadt eingetroffen war. Aufständische hatten den in Berlin als Schutzhäftling gefangen gehaltenen Kopf der Bremer Linksradikalen befreit. Auf dem Weg nach Bremen besuchte er zunächst eine der stärksten Gruppen der Linksradikalen in Dresden, dann aber Cuxhaven, den Kriegshafen für die Minenabwehr- und Sperreinheiten der Marine. Dort dienten Anfang November 1918 15 000 Mariner auf Schiffen, bei der Küstenartillerie, in Werkstätten und Lagern. Die Ereignisse in Kiel waren für Karl Baier und das von ihm gelenkte Vertrauensleutesystem das Signal für den Aufstand. Die Matrosen verbanden sich mit den Arbeitern der Stadt und bildeten einen gemeinsamen Arbeiter- und Soldatenrat mit zwei Vorsitzenden, einem aus dem militärischen, einem aus dem zivilen Bereich. Dieser Rat ging mit besonderer revolutionärer Konsequenz vor. Er setzte alle Offiziere ab, übernahm die Funktionen des örtlichen Staatsapparats und die militärische Befehlsgewalt zur Sicherung der Revolutionsergebnisse. Von Cuxhaven gingen auch wesentliche Impulse zur Zentralisierung der revolutionären Potenzen der Matrosenbewegung im regionalen wie im Reichsmaßstab aus, so die Bildung des Obersten Marinerates Niederelbe und des Zentralrats der Marine, des so genannten 53er-Ausschusses, im Reichsmarineamt in Berlin. In Cuxhaven, wo Karl Baier und Eugen Lieby an der Spitze der Matrosen standen und die Linksradikalen unter den Matrosen einen Rückhalt besaßen, wie an keinem anderen Standort, konnte Knief hoffen, militärische Unterstützung für seinen Kurs zu finden. Sein erklärtes Ziel war, die begonnene bürgerlich-demokratische Umwälzung unter wachsendem Einfluss der Internationalen Kommunisten Deutschlands in den Sturz der bisherigen Gesellschaftsordnung überzuleiten und eine als Diktatur des Proletariats bezeichnete sozialistische Gesellschaft zu errichten.
Dieser Konzeption lag freilich eine illusionäre Einschätzung der Situation zugrunde. Die Möglichkeiten der sich im Kurs auf eine bürgerlich-demokratische Nationalversammlung vereinigenden Konterrevolution wurden unterschätzt, der mögliche Einfluss der Internationalen Kommunisten auf die Arbeiterbewegung zugleich bei weitem überschätzt. Das verführte Knief und seine Anhänger zu der Auffassung, es sei eine Diktatur des Proletariats möglich und anzustreben, mit der eine Minderheit, die kommunistische Vorhut der Arbeiterklasse, im Interesse der Mehrheit der Gesellschaft, die diesem Weg noch nicht zu folgen bereit war, die Macht ausüben muss und kann.[8]
In Cuxhaven wurde Knief nicht enttäuscht. Aus dem Treffen mit seinen Anhängern unter den Matrosen entwickelte sich eine besonders enge Zusammenarbeit zwischen Knief und Eugen Lieby. Aus ihr erwuchs, wenn man so will, so etwas wie der militärische Arm der Bremer Linksradikalen. Lieby sorgte nicht nur für Waffen, die in Bremen in die Hände linksradikal orientierter Arbeiter gelangten, sondern gewann auch Matrosen für den Einsatz in Bremen. Knief revanchierte sich mit Vorträgen vor den Matrosen in Cuxhaven. Matrosen sicherten seinen Hin- und Rückweg. Knief unterstützte die Redaktion des Organs des Soldatenrats in Cuxhaven „Die neue Zeit“ und verzichtete auf Aufwandsgeld, das ihm der Soldatenrat später als Beihilfe für die von Knief ab 27. November 1918 herausgegebene Tageszeitung „Der Kommunist“ überwies. Karl Baier unterstützte die Bremer Linken auch von Berlin aus. Als Mitglied des Zentralrats der Marine sicherte er den Druck einer von Johann Knief unter dem Pseudonym Peter Unruh verfassten Broschüre in der Berliner Admiralsstabsdruckerei, die dem Reichsmarineamt unterstand. In dieser Schrift, die freilich erst im Januar 1919 ausgeliefert werden konnte, hatte Knief im Dezember 1918 unter dem Titel „Vom Zusammenbruch des deutschen Imperialismus bis zum Beginn der proletarischen Revolution“ sein Revolutionskonzept zusammenfassend dargestellt.
Als der Versuch, die Revolution in Bremen diesem Konzept folgend voranzutreiben, am 10. Januar 1919 in die Proklamation der Bremer Räterepublik mündete, begann der letzte Akt der Beteiligung von Matrosen am Revolutionsgeschehen in Bremen. Anfang Februar rückten Regierungstruppen auf Bremen vor, um zum entscheidenden militärischen Schlag gegen die Verteidiger der Räteherrschaft auszuholen. Nach eigener Aussage vor Gericht stellte sich Eugen Lieby auf Befehl des Cuxhavener Soldatenrats an die Spitze einer Hilfsexpedition von Matrosen, die auf Seiten der bewaffneten Arbeiter in den Kampf um Bremen eingriffen. Die Verteidiger übertrugen ihm den Oberbefehl.[9] Als Lieby am 4. Februar den Beschluss der Räteregierung unterschrieb, wonach die Kämpfe gegen eine Übermacht wegen der unnötigen Opfer einzustellen seien, hatte er die Kontrolle über seine Streitmacht bereits verloren. Noch am Abend kämpften Arbeiter weiter bis zu ihrer endgültigen Niederlage.
Eugen Lieby, nun steckbrieflich gesucht, kehrte zunächst nach Cuxhaven zurück und hielt sich dann in Hamburg und Braunschweig auf. Ende März war er einer der letzten Besucher Kniefs, der seit der Jahreswende 1918/19 schwer erkrankt war. Knief starb am 6. April. In dem demonstrativen Trauerzug der Bremer Arbeiter am 9. April marschierte Lieby an der Seite Heinrich Vogelers, als Kriegsinvalide Eugen Brauner verkleidet, hinter dem von Matrosen in Galauniform eskortierten Sarg mit Kniefs Leichnam. Im Mai hielt sich Lieby bei Heinrich Vogeler in Worpswede auf, wo ihn ein Großaufgebot von Militär und Polizei vergeblich suchte.[10] Im Juni 1919 stand er vor dem Kriegsgericht in Bremen. Danach verliert sich seine Spur.
Im Unterschied zu Karl Baier, dessen biographische Daten lexikalisch erfasst sind und der auch Erinnerungen veröffentlichte,[11] gibt es über den Matrosenführer Eugen Lieby keine biographischen Untersuchungen. Das ist zu bedauern, da man aus dem biographisch erhellten Mikrokosmos Einzelner bedeutende Einblicke in den Makrokosmos der Entwicklungen während ihrer Lebenszeit zu gewinnen vermag.
Wie wir sahen, waren die „Blaujacken“ in Bremen zwar nicht die Impulsgeber oder gar die Programmautoren des revolutionären Geschehens. Dennoch spielten sie keine zu unterschätzende Rolle. Besonders auffällig war die Nähe eines Teils der Matrosenbewegung zum äußersten linken Flügel der Arbeiterrevolutionäre.
Zum Schluss seien einige Bemerkungen zu einem allgemeinen Problem, zum Zusammenhang von Matrosen- und Arbeiterbewegung in der Revolution 1918/19, angefügt.
Natürlich ist dieser Zusammenhang in der Forschungsliteratur mitunter benannt worden, aber detaillierter untersucht wurde die Frage, warum gerade die Matrosen der kaiserlichen Kriegsflotte die Impulsgeber der Revolution wurden, eigentlich kaum. Einer der Matrosenführer während der Flottenmeuterei 1917, Willy Sachse, wie Reichpietsch und Köbis zum Tode verurteilt, aber zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigt, 1944 von den Nazis enthauptet, hat bereits 1925 in seiner Schrift „Deutschlands revolutionäre Matrosen“ auf wesentliche Besonderheiten der Schiffsbesatzungen im Vergleich zu den Landtruppen hingewiesen.[12] In manchen Revolutionsdarstellungen werden die besondere soziale Zusammensetzung der Schiffsmannschaften und deren Folgen für den politischen Habitus der Matrosen zwar erwähnt,[13] doch wird die Matrosenbewegung kaum dezidiert als Arbeiterbewegung behandelt, nämlich von Arbeitern in Marinekluft.
Tatsächlich war die Matrosenschaft ein Spiegelbild der Vorkriegssozialdemokratie und der Entwicklung der sozialdemokratischen Antikriegsbewegung während des Krieges. Die technischen Anforderungen der Kriegsflotte verlangten nach Mannschaften, die Vorbildung in technischen Berufen hatten. Auf den Schiffen benötigte man für die Antriebs- und Waffentechnik qualifizierte Schlosser, Maschinisten, Mechaniker, Heizer usw. Technische Qualifikationen bestimmten Musterung und Aushebung für die Marine. Für die Anforderungen der Seekriegstechnik geeignete Soldaten waren also hauptsächlich in Industriezentren und Werftstädten zu rekrutieren, also dort, wo die soziale und politische Arbeiterbewegung besonders stark entwickelt war. So fanden sich unter den Marinern wesentlich mehr durch die Sozialdemokratie geschulte und in Gewerkschaftskämpfen erfahrene Arbeiter zusammen als in den recht bunt gemischten Landtruppengattungen.
Unter diesen Arbeitern in Blaujacken waren nicht wenige, die gegen ihren Willen für eine von ihnen abgelehnte und bekämpfte Gesellschaftsordnung in den Krieg ziehen mussten, in deren antimilitaristischem Bewusstsein Bebels Wort „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ einen festen Platz hatte. In den Schiffen auf engstem Raum kaserniert, hatten sie beste Kommunikationsmöglichkeiten, den Verlauf des in die Sinnlosigkeit steuernden opferreichen Krieges zu diskutieren. Hier besaßen sie auch ungleich bessere Bedingungen für die Organisation ihres Widerstandes. Ihr in der Arbeiterbewegung gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung gewachsenes Selbstbewusstsein schloss Untertanengeist gegenüber den Offizieren aus, zumal sie sich ihrer Unentbehrlichkeit an Bord durchaus bewusst waren. Ihre eigene Situation wie die Nachrichten ihrer Angehörigen über die rapide Verschlechterung der Lebenslage an der so genannten Heimatfront veranlassten sie, je länger der Krieg dauerte umso mehr Kontakte zur Antikriegsbewegung an Land zu knüpfen. Es verwundert also nicht, dass sich fast alle in Spitzenpositionen der Matrosenbewegung Agierenden zur USPD bekannten, in der sie die sozialdemokratisch organisierte Antikriegsopposition sahen. Zudem ist auffällig, dass der linksradikale Flügel der Arbeiterbewegung unter den Matrosen mehr Parteigänger fand als unter den Feldsoldaten. Das gilt freilich nur für die Stadt Bremen, nicht für das gesamte Staatsgebiet, also nicht für Bremerhaven und die damals noch preußischen Unterweserorte Geestemünde und Lehe. Dort war die Matrosenbewegung mehrheitssozialdemokratisch dominiert, ihre Forderungen glichen eher einem Friedensprogramm mit demokratischen Detailforderungen als einem Verlangen nach Gesellschaftsumsturz.[14]
So liegt die Frage nahe, ob man, wie zumeist in der Literatur, so abgegrenzt von Matrosen und Arbeitern in der Revolution sprechen kann. Leider verfügen wir nicht über spezielle Untersuchungen der sozialen Struktur der Marinemannschaften geschweige denn ihrer Zugehörigkeit zur gewerkschaftlichen und politischen Organisation der Arbeiterbewegung vor dem Kriege. Aber fest stehen dürfte, dass sich diese wesentlich von den entsprechenden Strukturen des Feldheeres unterschied.
Die Matrosen in der deutschen Revolution waren in der Hauptsache politisierte Arbeiter, also Matrosen und Arbeiter zugleich. Die Matrosenbewegung war nicht ein Spezialfall militärischer Meuterei und Revolte, sondern inhärenter Bestandteil der Arbeiterbewegung während Krieg und Revolution.
[1] Dieser Text war Grundlage für das Referat des Autors auf dem Workshop: „Der Kieler Matrosenaufstand in der Revolution 1918. Epizentrum eines politischen Umbruchs?“, Kiel 3. bis 5. März 2016. Alle Angaben zum Verlauf der Revolution in Bremen fußen auf dem Standardwerk zur Bremer Revolutionsgeschichte von Peter Kuckuk: Bremen in der Deutschen Revolution 1918/1919, Bremen 1986. Sofern von den Bremer Linksradikalen bzw. „Internationalen Kommunisten Deutschlands“ die Rede ist, vgl. Gerhard Engel: Johann Knief – ein unvollendetes Leben, Berlin 2011. Angaben zum Auftreten der Matrosen im Bremer Revolutionsgeschehen stammen auch aus Robert Rosentreter: Blaujacken im Novembersturm. Rote Matrosen 1918/19, Berlin 1988, bes. S. 81-83, 208-210. Nur im Ausnahmefall werden Belegstellen aus diesen Titeln in den Anmerkungen gesondert gekennzeichnet.
[2] Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S. 66.
[3] Zur Person vgl. Gerhard Engel: Radikal, gemäßigt, vergessen: Alfred Henke (1868-1946). Erster Teil (1868-1918), in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2015/II, S. 67-85; Zweiter Teil (1918-1946), ebd. 2015/III, S. 78-97.
[4] Siehe Wilhelm Deist (Bearb.): Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, Zweiter Teil, Düsseldorf 1970, S 1027.
[5] Vgl. hierzu G Engel, wie Anm. 1, S. 299; Karl Baier: Kreuzer „Augsburg“ wird unter roter Flagge nach Hamburg geschickt, in: Vorwärts und nicht vergessen. Erlebnisberichte aktiver Teilnehmer der Novemberrevolution 1918/1919, Berlin 1958, S. 101-138, hier bes. S. 109, 113, 130f.; Gerhard Engel/Bärbel Holtz/Ingo Materna (Hrsg.): Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß, Berlin 1993, S. XXVI-XXXVII, bes. S. XXXVI f.
[6] Vgl. den Text der Resolution in P. Kuckuk, wie Anm.1, S. 305.
[7] Wenn von drei Arbeiterparteien die Rede ist, dann sind außer SPD und USPD die Linksradikalen gemeint, die in dem 1916 aus der SPD ausgeschlossenen Sozialdemokratischen Verein Bremen organisiert waren. Am 23. November benannten sie diesen in „Internationale Kommunisten Deutschlands, Gruppe Bremen“ um. Erst in der zweiten Dezemberdekade entstand auf einer Reichskonferenz der Linksradikalen in Berlin eine parteiähnliche, regional übergreifende Organisation der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“.
[8] Vgl. hierzu Gerhard Engel: Demokratie in Theorie und Praxis der Bremer Linksradikalen, in: Rainer Holze/Siegfried Prokop (Hg.): Basisdemokratie und Arbeiterbewegung. Günter Benser zum 80. Geburtstag, Berlin 2012, S. 98-106.
[9] Vgl. Staatsarchiv Bremen, 4,65-1519, unpag.
[10] Vgl. http://www.physiologus.de/hausdurch.htm (Aufruf 23. Februar 2016).
[11] Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2006, S. 71 f.; K. Baier, wie Anm. 5.
[12] Anti-Nauticus (d. i. Willy Sachse): Deutschlands revolutionäre Matrosen, Hamburg 1925, S. 7-10.
[13] Siehe z. B. Jakow S. Drabkin: Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin 1968, S. 109 f.
[14] Vgl. Peter Kuckuk: Die Rätebewegung in den Unterweserstädten Bremerhaven, Geestemünde und Lehe 1918/1921, in: Peter Kuckuk (Hrsg.), Die Revolution 1918/1919 in Bremen. Aufsätze und Dokumente (=Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens 27), Bremen 2010, S. 140 ff.