Postkapitalismus

Ulbrichts Versuch einer sozialistischen Marktwirtschaft

Ein Blick zurück aus postkapitalistischer Sicht

von Jörg Roesler
März 2017

1. Warum man sich mit dem DDR-Reformsozialismus der 60er Jahre heute noch beschäftigen sollte

Seit der 2007 einsetzenden zweiten großen Krise der kapitalistischen Gesellschaftsformation haben linke Autoren in verstärktem Maße Vorstellungen über den Postkapitalismus entwickelt. In diesem Zusammenhang haben u. a. Stephan Krüger und Sahra Wagenknecht ihre Vorstellungen von einer zukünftigen sozialistischen Marktwirtschaft vorgelegt.

Dabei geht es ihnen nicht nur um theoretische Überlegungen zu neuen Strukturen und Funktionsweisen. Die Vorstellungen der beiden sind erfrischend unkonventionell, keine Utopien, vielmehr vielfach erfreulich konkret. Beide vermitteln akzeptable Vorstellungen von einer anders organisierten sozialistischen Wirtschaft bei deutlicher Abkehr von dem Anfang der 1990er Jahre Geschichte gewordenen Gesellschaftsentwurf einer administrativen Zentralplanwirtschaft „mit den Zerrbildern von Mangelwirtschaft, kollektivistischer Bevormundung und politischen Fehlleistungen“ (Krüger 2016, 16). Alle mit den gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnissen unzufriedenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler werden angesprochen, sich an der Gedankenarbeit für die Ausgestaltung der zukünftigen Gesellschaftsformation und der Transformation dorthin zu beteiligen. „Wenn wir wirklich besser leben wollen,“ heißt es bei Sahra Wagenknecht, „müssen wir die Gestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung in Angriff nehmen“ (Wagenknecht 2016, 28). Gilt die Beteiligung an der auf dieses Ziel gerichteten Gedankenarbeit auch für Wirtschaftshistoriker, also für Wissenschaftler, deren Forschungsfeld die Vergangenheit – in diesem Falle die des Realsozialismus – ist?

Auf den ersten Blick wird man diese Frage nach dem Studium der vorliegenden Transformationsliteratur mit „Nein“ beantworten wollen, gilt doch die historisch gewordene Periode einer zum Kapitalismus alternativen Wirtschaftsweise auf der Suche nach postkapitalistischen Wirtschaftsformen meistens als Musterbeispiel dafür, wie man es nicht (wieder) machen sollte. Zumindest hält man die Analyse der „alten Planwirtschaft“ doch in Bezug auf Anregungen für die zukünftige sozialistische Marktwirtschaft für unergiebig (Vgl. z. B. Wagenknecht 2016, 113, 271). Das leuchtet auch dem Wirtschaftshistoriker ein für diejenigen osteuropäischen Zentralplanwirtschaften, in denen der Markt für die Gestaltung der Wirtschaft dem Plan völlig untergeordnet blieb, in denen er bestenfalls als ein (noch) notwendiges Übel betrachtet und behandelt wurde. Doch gilt dieses Urteil auch für die Zeit der Wirtschaftsreformen der 1960er Jahre, während derer Gültigkeit die Nutzung des Marktes nicht nur als Ergänzung des Planes gesehen sondern als zweites Standbein einer effektiveren Wirtschaftsführung betrachtet wurde?

Im Unterschied zu Sahra Wagenknecht verweist Stephan Krüger auf diese Reformperioden, „die jedoch nicht weit genug gingen und in der Praxis nur unvollständig umgesetzt werden konnten“ (Krüger 2016, 15). Krüger bezieht sich dabei im Blick auf Osteuropa ausdrücklich auf den NÖM (neuer ökonomischer Mechanismus) in Ungarn, auf die jugoslawischen Wirtschaftsreformen und auf die während des „Prager Frühlings“ 1968 entwickelten Reformvorstellungen Ota Siks in der Tschechoslowakei. Was das NÖS (neues ökonomisches System) in der DDR und Reforminitiativen in den übrigen realsozialistischen Ländern betrifft, so glaubt Krüger auf deren Analyse zwecks auswertbaren Erfahrungen für eine postkapitalistische sozialistische Marktwirtschaft verzichten zu können, denn „in allen anderen realsozialistischen Ländern des RGW-Raumes wurden die mit den Reformen der 1960er eingeführten Dezentralisierungsmaßnahmen teilweise wieder zurückgenommen, so in der DDR anfangs der 1970er Jahre“ (Krüger 2016, 319f). Die Reformdiskussion sei nicht weit genug in Richtung Anwendung der Marktwirtschaft gegangen und selbst das Diskutierte sei in der Praxis nur unvollständig umgesetzt worden (Krüger 2016, 15). Dieses Pauschalurteil ist m. E. so nicht zu akzeptieren.

2. Die Wirtschaftsreform des NÖS – beabsichtigte und begonnene Integration des Marktes in die traditionelle Planwirtschaft

Ähnlich gearteten Charakteristiken des NÖS hat in den 1990er Jahren ein Insider, Claus Krömke, persönlicher Referent Günter Mittags, entschieden widersprochen. Zusammen mit Horst Böttcher, dem persönlichen Referenten von Erich Apel, dem Vorgänger Mittags als Wirtschaftssekretär der SED während der NÖS-Periode, verfasste Krömke „aufgrund von Vorarbeiten anderer“ vier Broschüren über die Wirtschaftsreform, die seinerzeit weite Verbreitung fanden. Damit, schreibt Krömke, „sollten vor allem der Parteiöffentlichkeit die Ideen des NÖS vorgestellt werden. Zu diesen Manuskripten gehörte u.a. eine Polemik mit der Stalinschen Auffassung über die faktische Nichtexistenz der Warenproduktion im Sozialismus, dem theoretischen Knackpunkt aller Reformversuche. … Gegenüber der kanonisierten Lehre über die Politische Ökonomie war das NÖS eine Gedankenrevolution – gewissermaßen der Weg vom Mittelalter zur Aufklärung“ (Krömke 1996, 5f). Walter Ulbricht, SED- Parteichef während der 1960er Jahre, hat seine Haltung zur Existenzberechtigung der Marktwirtschaft im Sozialismus am prägnantesten 1967 im Referat auf dem VII. Parteitag der SED gezeigt, als er – in Richtung innerparteilicher Gegner der Wirtschaftsreform gewandt – verkündete: „Die gesellschaftlichen Erfordernisse sind grundlegender und umfassender als die Markterfordernisse. Aber wer den Markterfordernissen nicht genügt, kann auch den gesellschaftlichen Erfordernissen nicht entsprechen.“ (Ulbricht 1969, 263)

Dies dürfte genügen, um nachzuweisen, dass seitens der Reformer in der SED mit dem NÖS ein Bruch mit der administrativen Zentralplanwirtschaft, wie sie in den 1950er Jahren in der DDR entsprechend dem sowjetischen Vorbild aufgebaut wurde, beabsichtigt war. Doch wieweit wurde diese Absicht durchgesetzt?

Bei der Beantwortung dieser Frage muss man berücksichtigen, dass das NÖS schrittweise, in drei Etappen, über einen Zeitraum von mehreren Jahren eingeführt wurde. In den ersten drei Jahren, offiziell als erste (1964/65) und zweite Etappe (1966/67) des NÖS bezeichnet, veränderte sich nach Krömkes Einschätzung (Krömke 1996, 18f) bezüglich verstärkter marktwirtschaftlicher Regulierung in der Wirtschaftsweise der Betriebe noch nichts Entscheidendes. Das wurde erst in der dritten Reformphase 1967/68 anders nach der Verkündung des „Ökonomischen Systems des Sozialismus“ auf dem VII. Parteitag vom April 1967. Für die abgekürzt als ÖSS bezeichnete dritte Etappe der Wirtschaftsreform in der DDR forderte Ulbricht nunmehr „die konsequente Entfaltung der sozialistischen Warenwirtschaft“ (Ulbricht 1969, 261). Ulbrichts langjähriger Wirtschaftsberater Wolfgang Berger schrieb, Ulbrichts Aufforderung 1992 kommentierend: „In diesem Sinne wurde begonnen, die volkseigenen Betriebe als sozialistischen Warenproduzenten zu organisieren das heißt ihre Eigenverantwortung im Rahmen der Planvorgaben beträchtlich zu steigern, eine exakte Kostenrechnung durchzusetzen, die Preisgestaltung so zu ändern, dass jeder gut arbeitende Betriebe Gewinne erzielte und so die Mittel erhielt, neue produktivere Maschinen und Anlagen zu kaufen. Darüber hinaus sollten aus diesem Gewinn der Prämienfonds aufgestockt und soziale Maßnahmen im Betrieb finanziert werden. Es ging darum, auf diese Weise das materielle Interesse der Angehörigen des Betriebskollektivs an guter Arbeit, am Gedeihen ihres Betriebes zu festigen.“ (Berger 1992, 31).

Schritt für Schritt wurde mittels diesen unter dem Begriff „Eigenerwirtschaftung der Mittel durch die Betriebe“ zusammengefassten Maßnahmen in der DDR der Anteil der Marktregulierung am System der Wirtschaftslenkung erweitert. Dabei ging es nicht mehr nur um die Formulierung von Zielstellungen, sondern um die Durchsetzung praktischer Maßnahmen. Dies spiegelt u.a. eine Rede von Günter Mittag über den Abbau von Preissubventionen für bestimmte Konsumgüter wider, die er auf der 13. Tagung des ZK der SED im Sommer 1970 hielt: „Es wird davon ausgegangen, dass die Betriebe auch in einer 'sozialistischen Volkswirtschaft' eigene ökonomische Interessen haben, Gewinn erwirtschaften wollen, und dass diese Interessen über die Preise beeinflusst werden, bis hin zum Endverbraucher. Nur indem diese Interessen der Produzenten anerkannt werden, ist eine bessere Versorgung der Konsumenten zu erreichen.“ (Zit. in: Krömke 1996, 27)

Vergleicht man diese Vorstellungen mit der Charakterisierung der für eine postkapitalistische sozialistische Marktwirtschaft wünschenswerten Betriebsformen bei Sahra Wagenknecht (Wagenknecht 2016, 264ff), dann wird erkennbar, wieweit in der DDR in den 1960er Jahren bereits die Funktionsweise der von ihr für eine postkapitalistische Marktwirtschaft propagierten Betriebsformen vorausgedacht worden war.

Nun ist es nicht zu leugnen, dass die Reforminitiative in der DDR scheiterte – allerdings erst nach sechs Jahren Laufzeit. (Die von Stephan Krüger deutlich erfolgreicher eingeschätzte ungarische Reform scheiterte übrigens auch. Sie allerdings erst nach nach 22 Jahren (vgl. Dervis/Condon 1994, 123ff). Aber warum sollte es – anders als Sahra Wagenknecht und Stephan Krüger meinen – nicht Sinn machen, sich unter postkapitalistischem Blickwinkel mit dem NÖS-Programm und der NÖS-Praxis und natürlich auch mit dem Scheitern des NÖS zu beschäftigen – eine zielgerichtete Befragung der historischen Abläufe vorausgesetzt?

Dabei können die analysierenden Rückblicke der an der Konzipierung der Reformen bzw. Realisierung der Reformprozesse führend Beteiligten, aus denen bereits zitiert wurde, natürlich nur eine Quelle sein. Wie sieht es mit der bisher unternommenen Aufarbeitung der Reformprozesse der 1960er Jahre durch die Wissenschaft aus?

Obwohl das NÖS die Wirtschaftsgeschichte der DDR in den 1960er Jahren prägte, ist es nach 1990 vergleichsweise selten Gegenstand wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Neben einem bereits 1990 erschienenen schmalen Band von mir (Roesler 1990) ist hier vor allem die 1999 erschienene sehr umfangreiche Arbeit von André Steiner zu nennen (Steiner 1999). Auch André Steiner schreibt, dass den Wirtschaftseinheiten – in der Praxis eher den Branchenzusammenschlüssen von Betrieben (VVB) als den einzelnen Betrieben (VEB) – mehr Eigenverantwortung für ihr Wirtschaften zugedacht wurde. „Das bedeutete, dass sie mehr als bis dahin über die von ihnen erwirtschafteten Mittel verfügen konnten.“ (Steiner 1999, 550) Steiner weist jedoch mit Nachdruck auf die Grenzen dieser Selbständigkeit hin: „So wurde beispielsweise das 'Fondsprinzip' nie aufgegeben, was zur Folge hatte, dass die Wirtschaftseinheiten durch Rationalisierung freiwerdende Lohnmittel nicht ohne weiteres für Investitionen oder Investitionsmittel für Löhne verwenden durften. Die Planung wurde zwar dekonzentriert, von Details befreit und sollte stärker perspektivisch orientiert werden.“ Aber, so betont Steiner: „Die grundsätzlichen Aufgaben und diese wesentlichen Verteilungsproportionen bestimmten die zentralen Instanzen, letztlich das SED-Politbüro.“ (Steiner 1999, 551)

Volkswirtschaftliche Strukturentscheidungen wurden also weiterhin „vornehmlich zentral“ getroffen. Auf betrieblicher (bzw. VVB-)Ebene erlangten dagegen nach Steiner „finanzwirtschaftlich orientierte Lenkungsinstrumente“ auf Kosten der planwirtschaftlichen „einen deutlich höheren Stellenwert“ (Steiner 1999, 551). Nach allem, was Steiner im seinem die Untersuchung der Wirtschaftsreform in der DDR abschließenden Kapitel über „Grenzen und Ergebnisse“ der Wirtschaftsreform schreibt, um wieviel nüchterner er auch die Reformanstrengungen beurteilt, seine Aussagen widersprechen grundsätzlich nicht den Einschätzungen von Krömke und Berger über die Bedeutung marktwirtschaftlicher Lenkungsmethoden in der Ideologie und in der Praxis des NÖS.

Wenn das NÖS in Theorie und Praxis also auch bei kritischer Einschätzung deutlich marktwirtschaftliche Prägungen verzeichnete, warum konnte es dann nicht dauerhaft in der DDR-Wirtschaft installiert werden?

Die Beantwortung dieser Frage ist insofern gerade aus postkapitalistischer Sicht von Interesse, als natürlich auch die von Krüger und Wagenknecht entwickelten Modelle einer sozialistischen Marktwirtschaft, sollte ihre Verwirklichung erst einmal in Angriff genommen werden können, bei aller unter dem Gesichtspunkten der Transformationstheorie „richtigen“ wirtschaftsorganisatorischen Ausgestaltung gegen ein Scheitern nicht von vorn als immun gedacht werden können. Es ist also nicht müßig zu fragen: Welchen Existenzgefahren könnten die in eine alternative sozialistische Marktwirtschaft eingebundenen Mitarbeitergesellschaften Wagenknechtscher bzw. Krügerscher Vorstellung ausgesetzt sein? Und wie ist diesen Gefahren zu begegnen?

Im folgenden Abschnitt wird versucht, aus der Analyse des Scheiterns des NÖS dafür nützliche Hinweise zu liefern.

3. Gründe für das Scheitern der DDR-Wirtschaftsreform der 1960er Jahre

Sahra Wagenknecht plädiert in ihrem Buch „Reichtum ohne Gier“ für eine postkapitalistische Wirtschaftsordnung, in der die heutzutage überwiegend extern gelenkten Kapitalgesellschaften in Mitarbeitergesellschaften umgewandelt sind. Es gehe darum „einer Wirtschaft näher zu kommen, in der tatsächlich Talent und Leistung belohnt werden“ und wo „Freiheit, Eigeninitiative, Wettbewerb, leistungsgerechte Bezahlung, Schutz des selbst erarbeiteten Eigentums“ vorherrschen Diese Möglichkeiten hätten in der „alten Planwirtschaft“ gefehlt (Wagenknecht 2016, 20, 22f,113 ff).

Gilt dieses Urteil auch für die Zeit des NÖS? Die DDR-Wirtschaftsreform ist keineswegs allein auf Staatseigentum fixiert gewesen. Zeitgleich mit dem ÖSS wurde auf dem VII. Parteitag der SED zur Charakterisierung des von Ulbricht weiter entwickelten gesellschaftspolitischen Konzepts die Losung von der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ ausgegeben. Damit verabschiedete sich die SED von der bis dahin verfolgten Strategie, Privateigentum an den Produktionsmitteln Schritt für Schritt vollständig in Staatseigentum umzuwandeln. Abweichend vom sowjetischen Modell wurde von Ulbricht ab 1966 endgültig darauf verzichtet, den bürgerlichen Mittelstand zu liquidieren. Ulbricht begründete diesen Schritt folgendermaßen: „In diesen Betrieben ist eine erfahrene Leitung und sind qualifizierte Arbeiter und Ingenieure da. Es ist für uns rentabler, wenn wir in diesen Betrieben noch ein Gebäude anbauen oder moderne Maschinen dort hineingeben, als wen wir neue (Staats-)Betriebe bauen.“ (Zit. in: Kaiser 1997, 415)

Die sogenannten „Betriebe mit staatlicher Beteiligung“ (BSB), auch als halbstaatliche Betriebe bezeichnet – Joint Venture von staatlicher und privater Beteiligung; wenn man so will – konnten ihre Produktionsentscheidungen im Detail selbständig treffen. Sie waren allein über eine Rahmenplanung in die Volkswirtschaft integriert. Ihnen war in der DDR eine dauerhafte Perspektive zugestanden. Viele Mittelstandsunternehmen konnten während des NÖS mit Hilfe aufgenommener staatlicher Beteiligung umfangreiche Rationalisierungs- und Modernisierungsmaßnahmen durchführen, zu denen sie aus eigener Kraft nicht in der Lage gewesen wären. Die Historikerin Monika Kaiser nimmt an, „dass Ulbricht mit Blick auf die Bundesrepublik so den Nachweis erbringen wollte, dass die Mittelschichten im Sozialismus eine sichere und bessere Perspektive haben als unter den im Kapitalismus wirkenden Bedingungen des 'Wolfsgesetzes'„ (Kaiser 1997, 412).

Die Zahl der Betriebe mit staatlicher Beteiligung belief sich 1970 in der DDR auf 6.500, die der privaten auf 1.200. Die BSB hatten 1970 353.000 Beschäftigte, in den reinen Privatunternehmen arbeiteten 73.000 Arbeiter und Angestellte (Statistisches Jahrbuch 1971,103). Der Anteil der Betriebe mit staatlicher Beteiligung am Nettoprodukt der Industrie lag 1970, dem letzten Reformjahr, bei 11,4 Prozent, der der reinen Privatbetriebe bei 5,7 Prozent, für den Binnenhandel beliefen sich die entsprechenden Anteile auf 7,1 bzw. 5,6 Prozent (Statistisches Jahrbuch 1971, 39,103).

Es müsste für die Postkapitalismusforschung eigentlich von Interesse sein, die Funktionsweise der BSB und der Privatbetriebe unter dem NÖS zu analysieren! Manche Anregungen für die weitere konkrete Ausgestaltung der propagierten sozialistischen Marktwirtschaft mit pluralistischen Eigentumsformen könnten m. E. gewonnen werden, wenn man das konkrete Funktionieren dieser von Menschen mit Ideen, Power und Geschäftssinn geleiteten Betriebe näher untersucht.

Beim Sturz Ulbrichts 1971 und dem damit verbundenen Abbruch der Wirtschaftsreform wurde von den Gegnern des bisherigen SED-Chefs im Politbüro ausdrücklich kritisiert, dass Ulbricht mit der Förderung der BSB „privatkapitalistischen Elementen“ eine Zukunft in der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ versprochen habe (Kaiser 1997, 413).

Am Fehlen von Eigentumspluralismus, wie man aus Sahra Wagenknechts Ausführungen zur „alten Planwirtschaft“ schlussfolgern kann, dürfte das NÖS also kaum gescheitert sein. Das tritt m. E. ebenso wenig auf den von Stephan Krüger erhobenen Vorwurf zu, die „seinerzeitigen kommunistischen Staaten“ wären „aus revolutionärer Ungeduld diktatorisch-zwangsartig“ vorgegangen, was er generell für die gescheiterten osteuropäischen Reformen – im Unterschied zu der chinesischen seit Deng Xiaoping – unterstellt (Krüger 2016, 351ff, 447).

Prinzipiell war für das NÖS ein überhastetes, nicht erst versuchsweise ausprobiertes Voranschreiten bei der Verwirklichung der Wirtschaftsreform nicht üblich. „Die Illusion, ein solches weit reichendes Projekt in 1000 Tagen bewältigen können“, schrieb Ulbrichts früherer Wirtschaftsberater Wolfgang Berger 1992 auf die in jenem Jahr in der Sowjetunion eingeleiteten rigorosen Reformverfahren von Jegor Gaidar (vgl. Ryschkow 2013, 133) anspielend, „war in der DDR 1963 bereits überwunden“ (Berger 1992, 31). Das NÖS wurde in Etappen eingeführt, deren Abfolge nicht „mit dem Kalender in der Hand“ bestimmt wurde, ganz anders übrigens als das 1990 seitens der Bundesregierung in einen engen Zeitrahmen gepresste Programm für die Ablösung der ostdeutschen Plan- durch die Marktwirtschaft bundesdeutscher Prägung (vgl. Paqué 2009, 41). Im Unterschied zu Helmut Kohl und Theo Waigel 1990 war dem die Transformation des Wirtschaftssystems in der DDR in der ersten Hälfte der 1960er Jahre planenden Ulbricht und seinen Reformern, wie Berger betont, bewusst, dass es „beim NÖS gewissermaßen um einen Eingriff, um eine Operation am lebendigen, aktiv handelnden Organismus ‚Volkswirtschaft’ ging. ... Es handelte sich also nicht um eine Art ‚Generalreparatur’ an einem zeitweilig stillgelegten Maschinensystem, das nach deren erfolgreichen Ende wieder in Gang gesetzt wird“ (Berger 1995, 34).

Wenn das NÖS aber nicht am fehlenden Eigentumspluralismus und auch nicht am überstürzten bzw. gewaltsamen Vorgehen bei der Durchsetzung der Reformen gescheitert ist, worauf ist dann die Aufgabe der Reformanstrengungen nach sechs Jahren zurückzuführen?

Die Historiker haben dazu einige Antworten geliefert. Auf zwei häufiger vorgetragene sei hier zunächst einmal eingegangen.

Die erste Antwort besagt, dass die sowjetische Führungsmacht gegen die DDR-Wirtschaftsreform gewesen sei, auf deren Beendigung gedrängt, ihre eigenen Anhänger innerhalb der SED-Führung – hier geht es vor allem um Erich Honecker – gegen das NÖS mobilisiert und Ulbricht und seine Reformer entmachtet habe. Diese rein machtpolitische Interpretation der Beendigung des NÖS erfreut sich insofern einer gewissen Beliebtheit unter den Ostdeutschen, als sie die „Schuld“ für das Ende der als „Lichtfleck in der dunklen DDR-Geschichte“ gesehenen Reformperiode der sowjetischen Führung – als Initiator – zuschiebt.

Die Historiker sind jedoch bei ihren diesbezüglichen Recherchen zu einen etwas anderen Ergebnis gekommen. Danach hat Leonid Breschnew, der sowjetische Parteiführer, bei aller Abneigung gegen Wirtschaftsreformen in der DDR – wie im eigenen Land auch – als ihn Erich Honecker in einem Vieraugengespräch in Moskau Ende Juli 1970 drängte, Ulbricht wegen seiner Wirtschafts- und seiner Westpolitik ablösen zu lassen, das Haupt der Anti-Reformer in der DDR wissen lassen, dass Ulbricht Verdienste habe, die man „nicht einfach beiseite schieben könne.“ Im Übrigen sei Moskau stark genug. Es werde Ulbricht „nicht möglich sein, an uns vorbei zu regieren.“ Sorgen bereitete Breschnew eher, dass die unterschiedlichen Auffassungen in der SED-Führung über die Reformpolitik Ulbrichts im Westen bekannt würden und dass dann die Bundesregierung versuchen könnte, die Instabilität in der SED-Führung für ihre politischen Zwecke auszunutzen (Zit. in: Kaiser 1997, 380f).

Honecker, erst einmal mit seinen Wünschen abgeblitzt, arbeitete in den Folgemonaten daran, eine Mehrheit im Politbüro der SED für die Absetzung Ulbrichts und die Rücknahme der Wirtschaftsreform zu gewinnen. Dabei spielte ihm Ulbrichts Wirtschaftspolitik in der ÖSS-Phase, die zunehmend zu Spannungen in der Ressourcennutzung und dadurch auch in den Beziehungen zwischen den Betrieben und der Zentrale sowie zu Unzufriedenheit in den Betriebskollektiven führte, in die Hand.

Honecker verstand es, die spürbaren Zeichen der Unzufriedenheit unter den „Werktätigen“ für seine Ziele zu nutzen. Nach einigen Monaten von Gesprächen von Politbüromitglied zu Politbüromitglied gelang es Honecker Ende Januar 1971, ein Hilfeersuchen an die KPdSU-Führung zwecks Ablösung Ulbrichts vorzulegen, das die Unterschrift von dreizehn der insgesamt zwanzig Politbüromitglieder und -kandidaten trug. Das Schreiben signalisierte Breschnew, dass es Honecker gelungen war, eine deutliche Mehrheit der SED-Führung auf seine Seite zu ziehen. Erst jetzt gab Breschnew Honeckers Drängen nach, wissend, dass es nunmehr bei der Ablösung Ulbrichts nicht zu einer Spaltung der politischen Führung der DDR in zwei Lager kommen würde (Kaiser 1997, 434ff).

Die Recherchen von Monika Kaiser lassen keinen Zweifel daran, dass die Ablösung Ulbrichts und die darauf folgende Beendigung des NÖS vornehmlich das Ergebnis von Aktivitäten innerhalb der DDR-Führung und Resultat hausgemachter Probleme war. Was oberflächlich betrachtet allein als ein Kampf um die Macht zwischen zwei Politikern und deren Anhängern erscheint, wurde offensichtlich durch Widersprüche zwischen den bei der Verwirklichung des ÖSS eingeleiteten unterschiedlichen Reformmaßnahmen hervorgerufen, die sich nicht nur in Friktionen zwischen Betrieben und der wirtschaftlichen Kommandozentrale um ihre jeweiligen Rechte in der Führung der Wirtschaft niederschlugen, sondern auch in sozialen Spannungen zwischen den Arbeitenden und den Regierenden. Das scheint Stephan Krüger Recht zu geben, der auf „Implementierunsprobleme des ÖSS“ hinweist, auf „Unausgewogenheiten und Friktionen, die sich aus einer ungleichen Schrittfolge bei der Einführung neuer Systeme ergaben“ (Krüger 2016, 320).

Aber warum wurden derartige die Wirtschaftsreform gefährdende „Implementierungprobleme“, die es zweifellos auch in den ersten Jahren der Durchführung der Wirtschaftsreform gegeben hat, erst im ÖSS relevant, in der dritten Phase des NÖS und nicht schon beim Bruch mit den Regeln der zentralistisch-administrativen Planwirtschaft zu Beginn der Wirtschaftsreform, also in den Jahren 1964 bis 1966/67?

Um darauf eine Antwort zu finden, müssen wir uns jenen Problemen, die 1970 auch die bis dahin Schwankenden unter den Politbüromitgliedern bewogen, sich den Reformgegnern um Honecker anzuschließen (noch) konkreter zuwenden. In der dritten Etappe des NÖS erhielt die in der 1963 verfassten „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ geforderte beschleunigte Modernisierung der Wirtschaftsstrukturen erstmals Priorität. War in den ersten Reformjahren vor allem auf die Modernisierung der Leitungsstrukturen im Sinne der Nutzung marktwirtschaftlicher Anreize Wert gelegt worden, so ging es nunmehr vorrangig um die Durchsetzung modernster Industriezweigstrukturen. Unter der ausgegebenen Aufgabenstellung, von der kontinuierlichen Verfolgung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zur Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution überzugehen, sollten die damals bereits erkennbaren Ansätze dessen, was wir heute als digitale Revolution bezeichnen, besonders gefördert werden. Es galt technologisch rasch aufzuholen. Im Mittelpunkt standen dabei die Industriezweige Elektrotechnik, Elektronik und wissenschaftlicher Gerätebau. Ausgewählte Projekte aus diesen Zweigen wie z. B. die Herstellung mikroelektronischer Steuerungen im VEB Numerik Karl-Marx-Stadt wurden exklusiv mit Investitionsmitteln bedacht. Vorhaben dieser Art wurden ab 1968 unmittelbar, „strukturkonkret“ gefördert. Die jährliche Produktion des VEB Numerik stieg zwischen 1964 und 1970 von 2 Steuerungen auf 422 an, von denen – dem internationalen Trend folgend – der größte Teil an Werkzeugmaschinenhersteller wie dem Fritz-Heckert-Werk in Karl-Marx-Stadt, dem späteren Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinats und einem der größten Exporteure von Werkzeugmaschinen geliefert wurde. Auf einem Spezialgebiet des Einsatzes numerischer Werkzeugmaschinen, der Herstellung flexibler Fertigungssysteme, gelang es der DDR bis 1970 tatsächlich, mit der Inbetriebnahme der rechnergesteuerten Maschinensysteme „Prisma 22 und „Rota F“ die in der Bundesrepublik hergestellten Erzeugnisse gleicher Provenienz im Niveau zu erreichen und sogar zu übertreffen. (Roesler 1993, 266) Die mit Investitionen bevorzugt versorgten Betriebe sollten auf die übrige Produktionszweige ausstrahlen und helfen, die Modernisierung der DDR-Industrie insgesamt zu beschleunigen.

Die die ausgewählten Betriebe besonders fördernde „strukturkonkrete Planung“ verlangte die Bereitstellung umfangreicherer als im Plan ursprünglich vorgesehener Investitionsmittel, die nun entweder von anderen Betrieben, denen sie entsprechend den Reformvorgaben über die „Eigenerwirtschaftung der Mittel“ eigentlich zustanden, abgezogen werden mussten, oder die sich die DDR im Ausland mit Schuldenmachen besorgte. Die UdSSR, traditionell der wichtigste Handelspartner der DDR, hatte bereits 1964, seit der Ablösung von Chruschtschow durch Breschnew, begonnen, ihre Mitte der 50er Jahre eingeleitete großzügige Wirtschaftskooperation mit der DDR zurückzufahren. Bei der Abstimmung des „Perspektivplanes bis 1970“ (Zeitdauer 1964-1970) mit der sowjetischen Seite erfuhr der damalige Leiter der Staatlichen Plankommission der DDR, Erich Apel, dass die besten Jahre der Zusammenarbeit zwischen beiden Volkswirtschaften passé waren. Zwischen den Planungsorganen beider Länder ergaben sich immer wieder Abstimmungsprobleme. In ihrem Kern bestanden diese darin, dass die DDR im Interesse ihrer beschleunigten technologischen Entwicklung für den Import von Rohstoffen, Zulieferungen und Maschinen aus der Sowjetunion bestimmte Änderungen zu erreichen wünschte, die der wichtigste wirtschaftliche Vertragspartner der DDR nicht im von der DDR gewünschten Umfang zu liefern bereit war bzw. nicht liefern konnte. Ulbrichts Wirtschaftsberater Wolfgang Berger hat es zumindest für möglich gehalten, dass der spektakuläre Selbstmord Erich Apels Ende 1965, den dieser im Gebäude der Staatlichen Plankommission in seinem Dienstzimmer beging, eine Verzweifelungstat und auf die ungünstige Entwicklung der DDR-sowjetischen Beziehungen zurückzuführen war (Berger 1992, 33).

Für Ulbricht rückte angesichts der sowjetischen Zurückhaltung bei der Lieferung bestimmter Sortimente von Jahr zu Jahr die Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Industriestaaten Westeuropas, vor allem zur Bundesrepublik, stärker ins Blickfeld. Mit Bonn strebte Ulbricht nunmehr eine Verbesserung der politischen und vor allem wirtschaftlichen Beziehungen an. Bei einem Treffen mit dem stellvertretenden sowjetischen Regierungschef im Juni 1970 bat Ulbricht um Verständnis für die Fortsetzung seiner gegenüber dem Westen eingeschlagenen Politik und gab gegenüber Tichonow dabei etwas zu Protokoll, was man durchaus als einen wirtschaftlichen Offenbarungseid bezeichnen könnte: „Wir machen Schulden bei den Kapitalisten bis an die Grenze des Möglichen, damit wir einigermaßen durchkommen. Ein Teil der Produkte aus den neuen Werken muss deshalb dorthin exportiert werden, wo wir die Maschinen gekauft und Schulden gemacht haben. ... Wir machen einen Sprung nach vorn, wir wissen, dass der Plan dadurch gestört wird. Gen. Schürer (der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, J. R.) kann das wirklich nicht alles bilanzieren. Im Interesse der Strukturpolitik war es aber notwendig so zu handeln“ (Zit. in: Steiner 1999, 522).

Die Ende der 1960er Jahre von Ulbricht betriebene Wirtschaftspolitik war also außerordentlich ambivalent. Deren Folgen für den normalen Wirtschaftsbetrieb beschreibt eine zeitnahe, auf der Auswertung interner Berichte basierende Analyse anschaulich so: „Im Januar 1970 gelang es der Mehrzahl der Betriebe und Kombinate nicht, ihre Planziele zu erreichen. Ausschlaggebende Wirtschaftszweige wiesen beträchtliche Planrückstände auf. Trotz hoher Leistungen der Bergarbeiter und der Werktätigen in der Energiewirtschaft, weit über das Normale hinaus, traten in der Versorgung mit Brennstoffen und Elektroenergie erhebliche Störungen auf. Produktionseinschränkungen waren unvermeidlich. ... Fehlende Energie, Brennstoffe, Materialien und Zulieferungen, bedingt auch durch nicht vorhandene Reserven, waren selbst durch die größten Anstrengungen der Arbeiter nicht zu ersetzen.“ (Naumann/Trümpler 1970, 19)

Gegenüber Tichonow hatte Ulbricht die Auswirkungen der Ressourcenverknappung auf die Arbeiterschaft noch nicht einmal erwähnt. Um „entscheidende Voraussetzungen für die allseitige Planerfüllung zu schaffen“ war den Betriebsbelegschaften empfohlen worden, „organisierte Sonderschichten vor allem an Sonnabenden und Sonntagen durchzuführen“... Sonderschichten bestimmten seit April 1970 das Leben Hunderttausender Arbeiter, hieß es in der bereits zitierten Anlyse (Naumann/Trümpler 1970, 19, 22).

Derartige, wie es hieß „Rhytmusstörungen“ in der DDR-Volkswirtschaft führten also dazu, dass die Betriebe wegen ausbleibender Zulieferungen ihren Betriebsplan trotz Sonderschichten immer häufiger nicht erfüllen konnten. Das zog dann – entsprechend der Bedeutung, den die „ökonomische Hebel“ mit der Wirtschaftsreform erhalten hatten – nach sich, dass Prämien an die Belegschaftsangehörigen der betroffenen Betriebe nicht ausgezahlt werden durften. Die am schwersten zu ertragene Lohneinbuße war der Verlust der Jahresendprämie, des 13. Monatsgehalts. Ihr Ausbleiben rief besonders dann Ärger hervor, wenn die Arbeiter und Angestellten sich das ganze Jahr über engagiert hatten, um den Betriebsplan zu erfüllen. Das Vertrauen in die Ulbrichtsche Wirtschaftspolitik und die Wirtschaftsreform überhaupt schwand bei der Mehrzahl der Werktätigen.

Angesichts der ausgelösten Turbulenzen auf wirtschaftlichem und sozialen Gebiet fragt man sich: Wäre diese Entwicklung nicht doch – durch größere Bescheidenheit in den Zielsetzungen der „strukturkonkreten Planung“ etwa – zu vermeiden gewesen? Claus Krömke hat sich dazu 1996 rückblickend eindeutig geäußert: „Meine Meinung … ist, dass die Linie der Modernisierung der DDR in Richtung auf die neuesten Technologien, auch solcher die vielleicht noch in den Anfängen steckten, vom Standpunkt der Teilhabe am weltweite Wettbewerb einfach eine Notwendigkeit war. … Sie konnte aber kein Ausweg aus den Entwicklungsproblemen der DDR sein, weil diese neuen Strukturen nicht organisch auf einer bereits vorhandenen Basis wachsen konnten. Sie konnten nicht aus den Überschüssen einer bis dahin florierenden Wirtschaft geschaffen werden“ (Krömke 1996, 25).

Mit anderen Worten, die DDR verfügte nicht über genügende Ressourcen, um im gleichen Zeitraum das Reformziel der Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz in der gesamten Volkswirtschaft durch Nutzung marktwirtschaftlicher Steuerungselemente in der Gestalt der „Eigenerwirtschaftung der Mittel“ durch Betriebe und VVB zu verfolgen und gleichzeitig in ausgewählten Zweigen die notwendige technische Modernisierung mittels umfangreicher Investitionen voranzutreiben. Ob das Problem mit der von DDR-Seite, insbesondere von Seiten Erich Apels, favorisierten engen Kooperation mit der sowjetischen Wirtschaft, besonders mit den technologisch am weiteten entwickelte Betrieben des militärisch-industriellen Komplexes, möglich gewesen wäre, muss dahin gestellt bleiben. Das gleiche gilt für die – von sowjetischer Seite mit Misstrauen betrachtete – versuchte engere Wirtschaftskooperation mit dem Westen, wie sie Ulbricht nunmehr anstreben zu müssen glaubte. Die Geschichte der von den USA vorgegebenen Cocom-Embargobestimmungen, denen sich die Unternehmen der Bundesrepublik, wenn oftmals auch widerwilllig, beugten, lässt auch am Erfolg dieser Strategie zweifeln (Beil 2010, 25ff).

4. Zwei Schlussfolgerungen für die postkapitalistische Transformation

Das Schicksal des NÖS weist darauf hin, dass das Scheitern der Reformversuche im Realsozialismus nicht unbedingt, auf keinen Fall allein, auf eine zu zögerliche bzw. nicht durchgehaltene Integration der Marktbeziehungen in die Wirtschaftslenkung zurückzuführen ist, wie das offensichtlich Stephan Krüger annimmt. Er begründet die (teilweise) Zurücknahme der „mit den Reformen der 1960er Jahre eingeführten Dezentralisierungsmaßnahmen in der DDR anfangs der 1970er Jahre“ folgendermaßen: „Entscheidend war … subjektives Fehlverhalten der Betriebsleiter, des Bankpersonals etc., die nicht quasi über Nacht unternehmerisches Verhalten praktizieren konnten, hinzu kamen Unausgewogenheiten und Friktionen, die sich aus einer ungleichmäßigen Schrittfolge bei der Einführung des neuen Systems ergaben.“ (Krüger 2016, 320)

Was Krüger an Problemen beschreibt ist sicher während der gesamten Reformzeit spürbar gewesen, aber doch nicht erst in den letzten, sondern auch schon in den ersten Reformjahren. Die frühen NÖS-Jahre waren jedoch Jahre, die sich durch höhere Wachstumsraten in der Wirtschaft – im Vergleich zur Situation zu Beginn der 1960er Jahre – und durch eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards auszeichneten. Erst die Ressourcenanspannung der ÖSS-Zeit, als sich die DDR von ihrem Potenzial her als zu klein erwies, um den gewachsenen Anforderungen zu entsprechen, die sich aus dem gleichzeitigen Bemühungen ergaben, den Markt stärker in das Wirtschaften einzubeziehen und auf wissenschaftlich-technischem Gebiet international konkurrenzfähiger zu werden, führten dazu, dass sich aus Furcht vor drohenden Instabilitäten über den harten Kern der Reformgegner hinaus ein wachsender Teil der politischen Elite von der Wirtschaftsreform abwandte und die Arbeiter und Angestellten, die „Werktätigen“, kein Interesse mehr zeigten, die Reform, von der sie nun nicht mehr profitierten, zu verteidigen – sofern eine neue Führung verbesserte Lebensbedingungen versprach, was Honecker von Anfang an und mit Nachdruck unter dem Slogan „Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik“ tat (Malycha/Winters 2009, 214f).

Berücksichtigt man auch diese – materiellen – Gründe für das Scheitern des NÖS, dann ergeben sich daraus zwei wichtige Hinweise, die m. E. bei der Konzipierung der postkapitalistischen Transformation mehr Beachtung als bisher finden sollten.

Erstens spielt die Größe des wirtschaftlichen Potenzials des Landes eine wichtigere Rolle als von den Transformationstheoretikern gemeinhin angenommen. Reicht dieses Potenzial nicht aus, um den materiellen Anforderungen zu entsprechen, dann genügen eine richtige Reformstrategie und die aus ihr abgeleiteten Reformmaßnahmen nicht, reicht selbst ein den Reformbedingungen angepasstes subjektives Verhalten von Betriebsleitern, Bankpersonal und von Wirtschaftslenkern in der Zentrale nicht aus, um den Erfolg der Transformation zu garantieren. Als aktuelles Beispiel dafür mag der Hinweis auf die von Syriza eingeleiteten und bald gescheiterten griechischen Reformen genügen (vgl. Tsipras 2015, 7).

Die unter den mit der Ausarbeitung von Transformationsszenarien befassten Linken in Europa diskutierte Frage, ob man die als notwendig erachtete Gesellschaftsreform besser nach dem Austritt aus der Europäischen Union einleiten solle oder versuchten sollte, die postkapitalistische Transformation im EU-Rahmen durchzusetzen, kann aus Sicht des NÖS-Beispiels nur dahin gehend beantwortet werden, dass man sich als linke Kraft in einem europäischen Land – ungeachtet der attraktiv gewordenen Reorientierung auf den Nationalstaat und trotz aller die EU charakterisierenden Konstruktionsfehler und Defizite – für die Beibehaltung und Festigung der Europäischen Union engagieren sollte, wenn einem an realistischen Ausgangsbedingungen für eine postkapitalistische Transformation als erfolgversprechende Alternative zum gegenwärtigen Kapitalismus gelegen ist.

Eine zweite aus dem Abbruch der Wirtschaftsreform in der DDR Ende der 60er Jahre zu ziehende Schlussfolgerung betrifft den Zusammenhang von Fortschritten auf wirtschaftsorgansatorischem Gebiet und im Bereich des Lebensstandards. In der ersten und zweiten Etappe des NÖS waren beide Entwicklungen noch miteinander verknüpft. Es gelang der von Beginn des NÖS an existierenden, gegen die Wirtschaftsreform – genauer: gegen die damit verbundene „Gedankenrevolution“ – sich unter Honecker zusammenfindende Opposition innerhalb der SED-Führung nicht, mit ihren Anti-NÖS-Parolen die Werktätigen zu mobilisieren oder wenigstens zu neutralisieren. Der von den Anti-Reformkräften auf der 14. Tagung des ZK der SED im Dezember 1965 unternommene Versuch, das NÖS zu stoppen, weil die Reform ihrer Meinung nach ideologische Gegenkräfte – vor allem unter Künstlern und Schriftstellern – begünstige und auf diese Weise die politische Stabilität des sozialistischen Gesellschaftssystem in der DDR gefährde, scheiterte damals auch wegen der Zufriedenheit der Mehrheit der Bevölkerung mit der Reform und der an ihren weiteren Verlauf geknüpften Erwartungen bezüglich einer sukzessiven Verbesserung des Lebensstandards (Roesler 2010, 196ff).

Es war zweifellos ein Fehler im Denken von Ulbricht und dem der anderen Reformbefürworter, angesichts der Herausforderungen im ökonomischen Wettbewerb unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu meinen, dass man – zumindest zeitweise – bei der Bevölkerung dafür Verständnis wecken könne, dass Verbesserungen im Warenangebot, die bisher die Wirtschaftsreform begleitet hatten, zeitweise ausgesetzt oder auch rückgängig gemacht werden könnten, dass „die Werktätigen“ als Konsumenten angesichts der strahlenden Zukunft, die ihnen im Jahre 1970 für 1980 und später versprochen wurde, auf Einschränkungen in ihrer Wahlfreiheit der Konsumtionsmittel und den Umfang ihres Verbrauchs verständnisvoll reagieren würden.

Ulbrichts Reformversuch scheiterte nicht an zu wenig Mut, die Wirtschaft im großen Maßstabe dezentral zu leiten, die Regelung von Angebot und Nachfrage in beträchtlichem Maße durch Freigabe der Preise dem Markt zu überlassen, vielmehr daran, dass die DDR, weitgehend auf sich gestellt, nicht über genügend Ressourcen verfügte, um den materiellen Anforderungen, die die Errichtung einer modernen postkapitalistischen Wirtschaft an sie stellte, gerecht zu werden.

Literatur

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Berger, Wolfgang (1992): Zum Untergang der DDR. In: Weißenseer Blätter, H.5 (30-40). Berlin.

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Kaiser, Monika (1997): Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972. Berlin.

Krömke, Claus (1996): Das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ und die Wandlungen des Günter Mittag. Hefte zur ddr-geschichte 37. Berlin.

Krüger, Stephan (2016). Wirtschaftspolitik und Sozialismus. Vom politökonomischen Minimalkonsens zur Überwindung des Kapitalismus. Kritik der Politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse, Bd. 3. Hamburg.

Malycha, Andreas/Winters, Peter Jochen (2009): Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei. Bonn.

Naumann, Gerhard/Trümpler, Eckhard (1970): Von Ulbricht zu Honecker. 1970 – ein Krisenjahr der DDR, Berlin.

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Roesler, Jörg (1990): Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963-1970 in der DDR. Berlin.

Roesler, Jörg (1993): Einholen wollen und Aufholen müssen. In: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien (265-284). Berlin.

Roesler, Jörg (2010): Zwischenfall unterwegs oder Vorbote vom Ende? Erich Apels Tod und das Schicksal des NÖS. In: Nakath, Detlef (Hrsg.): DDR-Geschichte – Bilder und Zerrbilder (186-208). Berlin.

Ryschkow, Nikolai (2013): Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs. Berlin.

Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik (1971). Berlin.

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Tsipras (2015): Austerität ist eine Sackgasse. In: neues deutschland v. 6.8.2015.

Ulbricht, Walter (1969): Zum Ökonomischen System des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 2, Berlin.

Wagenknecht, Sahra (2016): Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Frankfurt/New York.