Berichte

Ideologie und Marxismu

Universität Trier, 26. November 2011

von Daniel Bratanović
März 2012

Auf der Grundlage gesellschaftlicher Verkehrsformen und – präziser – unter den Bedingungen der Klassengesellschaft ist Ideologie als Mittel zur Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen stets allgegenwärtig. Eine neoliberale ideologische Formierung vermochte in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich die allgemeinen Krisenerscheinungen, die dem Kapitalismus eignen, wirkungsvoll zu verschleiern, indem sie individualisiert und die Unbilden und Unzulänglichkeiten des Alltags als das Versagen Einzelner rein subjektiv verinnerlicht wurden. Ideologische Herrschaftsvermittlung als Rechtfertigung des Elends ist jedoch kein Gegenstand, dessen theoretische Durchdringung erst in neuester Zeit anhob. Die Beschäftigung mit dem Problem „Ideologie“ ist so alt wie die Geschichte europäischen Denkens selbst. Von Ideologietheorie im engeren Sinne lässt sich allerdings erst für das Zeitalter der frühbürgerlichen Revolutionen sprechen, namentlich bei Francis Bacon und dessen Idolenlehre. Für Bacon galten die Idolen, Trugbilder, als Fesseln falschen Denkens, als Hindernisse im Fortschritt des Wissens. Dieses Paradigma, von Holbach zum Priestertrug, also der Annahme einer Verschwörung der Herrschenden, fort­entwickelt, bestimmte durchgängig den Charakter der radikalen Aufklärung. Die darin enthaltene Vereinseitigung, die weder die notwendige Selbsttäuschung noch den verborgenen Wahrheitsgehalt von Ideologien (Kurt Lenk) in den Blick nimmt, wurde erst im Ideologiebegriff von Marx und Engels aufgehoben und die entsprechenden Momente in ein dialektisches Verhältnis zueinander gesetzt.

Das Verhältnis von Marxismus und Ideologie und die Konturen einer marxistischen Ideologietheorie und -kritik waren das Thema einer im November 2011 an der Universität Trier ausgetragenen Tagung unter dem Titel „Marxismus und Ideologie“, zu der die Jenny-Marx-Gesellschaft für politische Bildung e.V., die Marx-Engels-Stiftung und der AStA der Universität Trier eingeladen hatten. Rund 30, meist studentische Teilnehmer lauschten und diskutierten die durchweg instruktiven Beiträge der vier Referenten.[1]

Werner Seppmann (Gelsenkirchen) führte eingangs in die Grundlagen eines materialistischen, von Marx und Engels ausgehenden Ideologiebegriffs ein und erinnerte daran, dass die fundamentalen ideologietheoretischen und ideologiekritischen Bestimmungen, die beide in der Deutschen Ideologie vorgenommen haben, keineswegs im Spätwerk zurückgenommen worden seien, wie dies Kritiker behaupteten. Jedoch habe eine erstarrte und verkrustete, eben einseitige, in Lehrbüchern popularisierte Rezeption jenes bekannten Diktums, wonach das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, eine Eindeutigkeit unterstellt, die ihm im Werkkontext gar nicht zukomme, aber dadurch eine verkürzte ökonomistische Schlagseite evoziere. Indessen stünden gesellschaftliches Sein und Denken nicht in einem hierarchischen Verhältnis, weshalb das Denken nicht monokausal aus den gesellschaftlichen Strukturen abgeleitet werden könne. Die Einsicht, dass die Subjekte abhängig sind von den Verhältnissen, die sie selbst hervorgebracht haben und tagtäglich reproduzieren, dies aber nicht erkennen, verweise auf eine Subjekt-Objekt-Dialektik, die die richtige Verortung des Ideologischen ermögliche. Jedes noch so verzerrte Bewusstsein habe praktische Implikationen; Ideologien seien nur dann auch wirkmächtig, wenn sie an eine vorhandene Alltagspraxis, an alltägliche Vorstellungswelten anknüpfen könnten. Ideologie werde nicht nur empfangen, sondern stets auch gelebt. Demgegenüber spreche aus dem ideologietheoretischen Ansatz aus dem Umfeld der Zeitschrift Das Argument, der seinerseits auf Louis Althusser rekurriere, ein verkürztes Herangehen, das in die frühe Priestertrugkonzeption zurückzufallen drohe, wenn dort das Ideologische als ein System der „Intervention von oben“ behauptet werde, gleichsam als Infiltrationsvorgang: lediglich ein von außen eindringendes, von der Gesellschaft ausgelagertes Institutionengefüge, das Ideologie produziere.

Zu zeigen. dass aber eine angemessene Erfassung des Ideologischen nur dann gelingen kann, wenn eine Verknüpfung und Rückführung auf die zentrale und elementare Kategorie gesellschaftlichen Seins, nämlich die Arbeit, erfolgt, war das Anliegen von Claudius Vellay (Paris). Die entscheidende Referenz in diesem Kontext ist Georg Lukács' Spätwerk Die Ontologie des gesellschaftlichen Seins, von der, worauf Vellay verwies, der Lukács-Kenner Erich Hahn konstatierte, dass jedwede wissenschaftliche Auseinandersetzung zum Thema Ideologie nicht ohne Verweis auf Geschichte und Klassenbewußtsein auskomme, aber so gut wie nie auf die Ontologie Bezug nehme. Dabei habe Lukács gerade dort den Fehler, den er seiner Frühschrift selbstkritisch attestierte, gewissermaßen „von oben“, also direkt von den luftigen Höhen des Ideologischen ausgegangen zu sein, zu korrigieren versucht. Nicht zuletzt deshalb sei die Ontologie als organische Ergänzung und Erweiterung von Geschichte und Klassenbewußtsein zu betrachten.

In seiner Beschäftigung mit der Frage, was nach der Neuen Marx-Lektüre komme, machte Georg Fülberth (Marburg) darauf aufmerksam, dass die veränderten Zeitumstände und eine sich stets verändernde Physiognomie des Kapitalismus auch neue Rezeptionsweisen des Marxschen Kapitals mit sich brächten, mithin eine verwandelte ideelle Reflexion einer Schrift unter den Bedingungen eines verwandelten gesellschaftlichen Seins. Die Neue Marx-Lektüre, die sich vornehmlich mit der Wertformanalyse befasse, müsse sich die Frage gefallen lassen, wozu ein von der Empirie gereinigtes Kapital-Verständnis überhaupt tauge. Einer „neuesten“ Kapital-Lektüre unterbreitete Fülberth den Vorschlag, das Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation nicht als eine gelungene Erzählung vergangener Ereignisse, nicht als einmaligen Vorgang zu lesen, sondern als Typus eines immerwährenden, sich stets neu reproduzierenden Prozesses der Umwandlung nichtkapitalistischen Eigentums in kapitalistisches, als „Akkumulation durch Enteignung“ (David Harvey). Fernerhin sei im Angesicht der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, die ihren Ausgangspunkt im Platzen der Immobilienblase hatte, der Abschnitt über das zinstragende Kapital im dritten Band des Kapital von gehörigem Interesse.

Im letzten Beitrag der Tagung kam es Peter Bescherer (Jena) darauf an, nachzuweisen, dass Marx in seiner Beurteilung des Lumpenproletariats als konterrevolutionär seinerseits eine verengt ideologische und moralisierende Elle anlege und damit dem hegemonialen Moraldiskurs mehr entgegenkomme als ihn zu kritisieren. Eine bei Marx vorzufindende „Purifizierung des Klassenbegriffs“ nehme das Proletariat von der bürgerlichen Moralisierung aus, wohingegen die ablehnende Bewertung des Lumpenproletariats als unproduktiv, leistungsunwillig, kriminell und korrupt sich mit der bürgerlichen Moral überschneide und zudem idealistische Züge annehme, da die Trennung von Proletariat und Lumpenproletariat eher einer Idee denn tatsächlichen sozialen Kämpfen folge. Demgegenüber schlug Bescherer vor, die jüngsten Riots in den Pariser Banlieus und in London als Teil einer Gegenbewegung ernst zunehmen und sich in diesem Zusammenhang vom pejorativen Topos Lumpenproletariat zu verabschieden.

Daniel Bratanović

XVII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz der „jungen Welt“

Berlin, 14. Januar 2012

Höhepunkt der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz war die abendliche Podiumsdiskussion mit dem Titel „Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt die Linke?“ Thesen präsentierten zur von Arnold Schölzel (jW) moderierten Diskussion Heinz Bierbaum, stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE, die Publizistin und Ex-Grüne Jutta Ditfurth, der Politikwissenschaftler und Autor Georg Fülberth sowie der Schriftsteller Dietmar Dath.

Inhaltlich ging es um eine Reflexion von Programm, Politik und Zustand der Linkspartei vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen und dem offensichtlichen Widerspruch, dass die derzeitigen Krisen der Linken keinen Stimmenzuwachs bringen. Stattdessen hat die Linkspartei mit Stimmenverlusten, inneren Querelen und permanenten Attacken der politischen Gegner und Medien zu kämpfen.

Im Mittelpunkt stand die Frage, ob sich die Linkspartei nicht eigentlich auf einem Weg der Anpassung befindet und ihr programmatischer Antikapitalismus nichts außer Rhetorik ist. Gefragt wurde auch nach den berühmten „Haltelinien“ für linke Politik in der Auseinandersetzung mit dem politischen Geg­ner. Ist politische Anpassung – wie es die Grünen vorgemacht haben – ein typisches „Schicksal linker Organisationen“ (Arnold Schölzel)? Differenzen in der Bewertung des neuen Parteiprogramms der LINKEN ergaben sich insbesondere bei zwei Fragen: Ist der analytische Teil des Programms tatsächlich der realen Entwicklung des Kapitalismus angemessen und vor allem, ob es sich nicht um ein reformistisches Programm handele.

Heinz Bierbaum bestritt, dass das neue Programm reformistisch sei. Dagegen hob er hervor, dass das Programm die Eigentumsfrage und die Demokratiefrage behandelt, also wichtige Fragen für die Linke angesichts der gegenwärtigen Krise. Das Problem sei daher eher die Frage, welche Art von Reformpolitik gemacht werde. Daraus folge sicher nicht die Überwindung des Kapitalismus, aber doch, ob es gelänge, Antworten auf aktuelle Probleme zu finden. Gerade vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise sei das Hauptproblem die Frage nach der richtigen Strategie, nicht nur für die Linkspartei, sondern für die gesamte linke Bewegung. Außerdem schenke die LINKE den derzeitigen sozialen Bewegungen, die im Zuge der Krise, von wachsendem Unmut und Empörung über die Herrschenden entstanden sind, zu wenig Beachtung. Die Linkspartei sei in diesem Bereich zu wenig präsent und auch viel zu wenig mobilisierungsfähig.

Georg Fülberth stellte drei Aspekte in den Mittelpunkt: die Eigentumsfrage, die Gefährdung der informationellen Selbstbestimmung und das Programm der Linken. Er kritisierte, dass im Programm die Fragen der Ökologie oder des Feminismus nicht wirklich mit der Eigentumsfrage verknüpft würden. Praktisch werde die Eigentumsfrage derzeit nicht von der Linken, sondern von den Herrschenden gestellt. Diese schreckten auch nicht davor zurück, ihre Ziele mit zunehmender Gewalt durchzusetzen und gleichzeitig die Freiheiten der Einzelnen immer weiter zu beschneiden. Reformismus sei zwar eindeutig „Reparaturbetrieb“ im Kapitalismus, aber durchaus berechtigt, wenn z.B. dadurch das reale Leben der Menschen tatsächlich verbessert werde. Die auch in der Linken anzutreffende Vorstellung, dass der Kapitalismus reformierbar sei, sei zwar falsch (denn er ist höchsten aufhebbar) – man dürfe z.B. nicht dem Glauben verfallen, dass der Kapitalismus und die Regierungen aufgrund der Krise plötzlich zur Einsicht kämen, grundlegende Reformen, die tatsächlich den Kapitalismus in die Schranken weisen würden, einzuführen, wie es z.B. die plötzliche häufig zu vernehmende Zustimmung von europäischen Regierungen zu einer „Finanzmarkttransaktionssteuer“ suggeriere – dennoch handele es sich nicht um ein reformistisches Parteiprogramm. Die Gefahr im Falle der LINKEN bestehe momentan eher in einer weiteren nutzlosen Beschäftigung der Partei mit sich selbst. Dagegen sei beispielsweise viel entscheidender, dass sich die LINKE die Frage stelle, welches Potenzial es gegenwärtig überhaupt für linke Vorstellungen in der Gesellschaft gibt, an welchem Ort und unter welchen Bedingungen diese von der Gesellschaft aufgegriffen werden? Ist überhaupt die Zeit reif für eine linke Debatte und linke Entwicklung? Eine wichtige Frage für die weitere Strategie (denn auch der Kampf um die Strategie muss geführt werden).

Jutta Ditfurth konnte keine großen Risse im System und keine bedeutende Legitimationskrise erkennen. Sie kritisierte insgesamt die Illusion vieler linker Organisationen – speziell der Linkspartei – über die Möglichkeit, den Kapitalismus zu zähmen, was sich so auch im Programm ausdrücke. Hauptlinie des Programms sei die Vorstellung, dass der Kapitalismus reformierbar sei. Für die Linken in der LINKEN gäbe es dagegen ein paar beruhigende Bonbons. Unterschätzt würde die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus. „Reform“ ist, so Ditfurth, zu einem Begriff verkommen, der seinen ehemals progressiven Inhalt längst verloren hat. Der Reformismus habe zur Folge nur eine Wiederkehr vielfältiger Formen des Kapitalismus – Reformismus wirke stabilisierend. Ökologie und Patriarchat seien Teil der sozialen Frage, nicht nebensächlich. Die Linkspartei müsse sich außerdem die Frage nach ihrem Umgang mit den sozialen Bewegungen gefallen lassen. Die Reaktion linksreformistischer Kräfte auf Bewegungen wie Attac, Occupy, Anti-Atom oder die Piratenpartei vollziehe sich in Art eines Paternalismus, was falsch sei, auch wenn es sich eindeutig um Bewegungen des „Mittelstands“ handele. Der „Dreiklang“ von theoretischer Arbeit – Aktion – Organisation sei sehr wichtig. Kritik der herrschenden Zustände müsse als Prozess, nicht als Belehrung verstanden werden. Und da die Kämpfe vielfältig sind, so müsse es auch die Organisation sein. Verbindlichkeiten seien zwar wichtig, jedoch nicht in Gestalt reformistischer Parteien. Das Problem sei nicht die Frage nach fehlenden Alternativen, sondern wie die kapitalistische Herrschaft gebrochen werden könne.

Dietmar Dath warnte davor, der hier und da aufkommenden bürgerlichen Kapitalismuskritik auf den Leim zu gehen. Sie gäbe keinen Anlass zu irgendeiner Hoffnung für die Linke. Die herrschende Politik lasse keine progressive Gegenwehr erkennen, eher werde die Krise genutzt, weiterhin zugunsten des Kapitals umzuverteilen. Eher sei eine weitere Brutalisierung und Barbarisierung des Kapitalismus zu erwarten. Es bestehe die reale Gefahr einer (bereits deutlich zu erkennenden) Rückkehr zur unmittelbaren gewaltförmigen Herrschaft, einer Tendenz zum „Informationsfeudalismus“. Aus Sicht von Dath ist es in dieser Situation für die Linke insgesamt wichtig, über das Verhältnis von Programm, Strategie und Taktik nachzudenken. Die Strategiefragen müssten im Vordergrund stehen, ebenso die Frage nach der Organisation. Eine Strategie, die ausschließlich auf parlamentarische Arbeit und „Regierungsfähigkeit“ setzt, könne nur zu dem führen, was die Linke aus der Geschichte der Sozialdemokratie kennt. Die Forderungen der Linken müssten daher aus der Gesellschaft kommen. Das hieße: Stören, wo es nur geht, und die „Verratsschwellen“ linker Politik nicht überschreiten.

Die Diskussion fand nur auf dem Podium statt und nicht mit dem Publikum; eine breite und offene Diskussion war offenbar nicht vorgesehen. Die Frage, wo denn der Unterschied zwischen linker Reformpolitik und Reformismus liegt, blieb offen. Sicherlich allen Diskutanten bekannte Konzepte wie „Radikaler Reformismus“ oder „Radikale Realpolitik“ kamen – trotz der Hinweise auf Rosa Luxemburg – nicht deutlich genug zur Sprache. Wichtige Fragen wie die Widersprüche, die in der Parteiform als solcher liegen, aber auch innerparteilicher Demokratie, wurden nicht behandelt.

Florian Flörsheimer

[1] Es ist geplant, die Vorträge der Tagung in diesem und dem folgenden Heft von „Z“ zu veröffentlichen. Im vorliegenden Heft ist nachzulesen: Georg. Fülberth, Was kommt nach der neuen „Kapital“-Lektüre?, S. 136ff. (Anm. d. Red.)

Downloads