Marxistische Debatten in China
Ein Bericht über internationale Tagungen in China, Mai/Juni 2016
Im Folgenden soll ein Überblick über vier internationale Konferenzen gegeben werden, die im Mai/Juni 2016 an renommierten wissenschaftlichen Einrichtungen der Volksrepublik China stattgefunden haben: der Fudan Universität in Shanghai, der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS), der Renmin Universität von China (RUC) und dem Zentralen Sammlungs- und Übersetzungsbüro (CCTB), Peking. Teilgenommen haben 13 internationale Wissenschaftler aus 8 Ländern (Australien, Brasilien, Kanada, Frankreich, Italien, Südkorea, UK und USA) und mehr als 40 chinesische Forscher von 13 wissenschaftlichen Einrichtungen Chinas. Hier kann nur ein kleiner Teil der vorgelegten Papiere erwähnt werden.
Die Symposien waren Teil eines Kooperationsvorhabens zwischen dem Marx Collegium der York Universität (Toronto/Kanada) unter dem Vorsitz von Marcello Musto (York Universität) und der Schule für Philosophie der Fudan Universität. Den erwähnten Konferenzen waren zwei Veranstaltungen vorangegangen (Fudan Universität, Juli 2010/Linkes Forum New York, März 2011), die einen intellektuellen Verständigungsprozess auf dem Gebiet von Philosophie, politischer Wissenschaft und Soziologie zwischen führenden chinesischen und westlichen Forschern in Gang setzten sollten.
Die vom Zentrum für zeitgenössischen Marxismus in fremden Ländern der Fudan Universität veranstaltete Tagung (25.4.16) unter dem Vorsitz von Musto (York-Universität) und Zhang Shaungli (Fudan Universität) befasste sich mit dem Thema „Dialoge über Marx: China und der Westen“. Die 33 vorgestellten Beiträge lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Staat und Politische Ökonomie, wobei erstere Gramscianische, Hegelianische und Marx’sche Staatsauffassungen einerseits und Neo-Marxistische Konzeptionen andererseits behandelten.
Die Eingangsbemerkungen von Musto betonten die Bedeutung des Symposiums vor dem Hintergrund der im Zuge der aktuellen Marx-Renaissance veränderten globalen Marx-Rezeption. Diese Renaissance erkläre sich einmal durch die Finanzkrise von 2008, die die Grundlagen des Kapitalismus erschüttert haben, und zum anderen durch paradigmatische Veränderungen in den chinesischen akademischen Auffassungen. Unter den Vorzeichen „Zurück zu Marx“ und „Offenheit für den Westlichen Marxismus“ wurden in China seit 1980 dogmatische Positionen zurückgewiesen. In diesem Kontext und im Zuge von Fragestellungen, die mit der Integration Chinas in die globalen Märkte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auftauchten, werden heute marxistische Diskussionen auf innovative Weise neu bewertet. Musto zufolge ist dafür ein ernsthafter Dialog zwischen westlichen und chinesischen Marx-Forschern unerlässlich.
Was das Staatsthema betrifft so stand das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Mittelpunkt zahlreicher Beiträge der chinesischen Wissenschaftler. Diese Tatsache ist sicher nicht nur wissenschaftlichem Interesse geschuldet, sondern reflektiert auch aktuelle Probleme des modernen China, auch wenn die gegenwärtige Situation nicht explizit angesprochen wurde. Thema der Wissenschaftler aus dem Westen war Marx’ Staatskritik und die Vision einer post-kapitalistischen Gesellschaft. Dies zeigt in mancher Hinsicht, dass für die Intellektuellen des Westens andere Probleme im Vordergrund stehen: Die radikale Linke des Westens setzt sich immer noch mit den Nachwirkungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion auseinander und ringt um das ideologische Verständnis der hegemonialen neoliberalen Staaten.
Wang Fengcai (Fudan Universität) befasste sich mit den offensichtlichen Widersprüchen in Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft. Der rote Faden, der von Gramsci untersuchte, scheinbar unzusammenhängende Themenfelder verbindet, sei das historische und theoretische Staatsverständnis. Als Beispiel einer historischen Interpretation von Gramscis Staatskonzept untersuchte Yang Haifeng (Peking Universität) dessen Überlegungen zum Aufstieg des westlichen Fordismus. In Aufnahme von Gramscis historischem Konzept diskutierte er in seinem Beitrag Schlussfolgerungen für heutige revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft.
Verschiedene Beiträge zum Komplex von Staat und Zivilgesellschaft bezogen sich auf das Verhältnis zwischen Marx und Hegel. Beispiele dafür sind die Beiträge von Wang Xingfu (Fudan Universität) und Domenico Losurdo (Urbino Universität). Ersterer meinte, dass Marx die ethische Dimension von Hegels Staatstheorie vernachlässigt habe und plädierte für eine Rückkehr zu Hegel, um die Vision einer zukünftigen Gesellschaft zu konstruieren. Losurdo verwies auf eine offensichtliche logische Lücke bei Marx und Engels: Diese hätten einerseits die Bedeutung des Staates bei der Sicherung der individuellen Grundrechte hervorgehoben, andererseits aber dessen Absterben nach dem Ende des Kapitalismus vorhergesagt. Er nannte dies einen „theoretischen Rückfall“ in liberale Traditionen, für die der Staat eine Abstraktion sei. Dagegen betrachteten andere Forscher wie Wu Xiaoming (Fudan Universität) Marx’ Einsicht in die Schwächen von Hegels System als grundlegenden Schritt hin zu einer materialistischen Konzeption sozio-politischer Theorien. Mehrere Forscher bezogen sich auf den sogenannten Reduktionismus in Marx’ Staatstheorie, was – so Shaungli Zhang – zur Abwesenheit marxististischer Perspektiven in der chinesischen politisch-philosophischen Diskussion geführt habe. Indem es die grundlegenden Verdienste von Marx’ Staatstheorie anerkannte, welche die komplexen Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft und die Rolle des Staates im Kontext moderner Klassenherrschaft erfasst habe, leistet Zhangs Papier einen Beitrag, um den besagten Reduktionismus zu überwinden. Er tat dies, indem er Marx’ frühe Schriften von der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bis zur Deutschen Ideologie neu interpretierte. Terell Carver (Bristol Universität) kehrte die deterministische Interpretation des Zusammenhang zwischen ökonomischer Basis und politischem Überbau ins Gegenteil um, indem er Marx’ „Achtzehnten Brumaire“ einer erneuten Lektüre unterzog: Hier zeige sich Marx nicht als Determinist, sondern als „erstrangiger Theoretiker der Kontingenz“. Carver zufolge habe sich Marx vor allem für die Staatsmacht interessiert. Seine Analyse der französischen Zweiten Republik, die das Durcheinander im Funktionieren des Staates und die komplexen Interaktionen der Klassen offengelegt habe, mache deutlich, dass diese Erscheinungen seinem Klassenbegriff strukturell inhärent sind.
Die Frage, inwieweit Marx dazu beitragen kann, die Rolle des Nationalstaats zu verstehen wurde von mehreren Forschern behandelt. Qi Tao (Fudan Universität) kritisierte Marx, der das Konzept des Nationalstaats unterschätzt habe. Allerdings sei dies im historischen Kontext, in dem Marx seine Staatsanalyse verfasst habe, verständlich gewesen. Ähnlich wie Carver meinte Qi, dass das deterministische Verständnis der Beziehungen zwischen ökonomischer Basis und politischem Überbau, ihm zufolge eine Fehlinterpretation von Marx‘ Standpunkt, überwunden werden müsse; dadurch würde das Verständnis der Entwicklung der Nationalstaaten im 20. Jahrhundert als Folge von historischen Kontingenzen erleichtert.
Die Beiträge der westlichen Referenten befassten sich stark mit Marx’ Sicht auf die Rolle des Staates (bzw. dessen Fehlen) in der post-kapitalistischen Gesellschaft. Peter Hudis (Oakland Universität) skizzierte Marx’ Vision der post-kapitalistischen Gesellschaft und kontrastierte diese mit der Realität des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert. Hudis zufolge waren die Begriffe Sozialismus und Kommunismus für Marx Synonyme. Für ihn sei Freiheit die Essenz des Menschen, die es nur in einer Gesellschaft ohne Entfremdung geben könne; die Abschaffung des Privateigentums sei lediglich eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung zur Beseitigung von Entfremdung. Robert Ware (Carlton Universität) befasste sich mit Marx’ Typologisierung der zwei Phasen des Kommunismus in der „Kritik des Gothaer Programms“ und hob diese von Lenins Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus ab. Michael Löwy (CNRS, Paris) ging noch weiter und versuchte zu zeigen, wie Marx’ Arbeiten als theoretische Grundlage zur Skizzierung einer ökosozialistischen Zukunft dienen könnten.
Größer waren die Gemeinsamkeiten zwischen den chinesischen und westlichen Wissenschaftlern im Bereich Politische Ökonomie. Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ war Thema unterschiedlicher Einschätzungen. So nahm Tom Rockmore (Peking Universität) Pikettys Analyse u.a. als positiven Beleg für die empirische Ungültigkeit von Marx’ tendenziellem Fall der Profitrate. Wei Xiaoping (CASS) dagegen kritisierte Piketty, weil dieser Kapital und Reichtum gleichgesetzt und außerdem die Quelle der Renditen nicht entschlüsselt habe. Seongjin Jeong (Gyeongsang Universität) untersuchte die ungelösten Widersprüche von Arbeitszeit-Berechnungen in den frühen Phasen des Kommunismus, welche erst im reifen Kommunismus überwunden werden könnten; dann könnten Arbeitszeit-Berechnungen aufgegeben werden. Zhang Yibing (Nanjing Universität) schlug vor, einige der grundlegenden Marx’schen politökonomischen Kategorien im Kontext der Digitalisierung zu modernisieren. Durch Berücksichtigung von Konzepten wie dem Erkenntnis-Kapitalismus (Wissensökonomie) und der Libidinal Ökonomie (Ausbeutung nicht-ökonomischer Faktoren zum Zweck der Mehrwerterzeugung) könne man eine „Neue Politische Ökonomie“ konstituieren.
Die Tagung der CASS (4.5.2016) wurde von der Zeitschrift „International Critical Thought“ organisiert und von der Akademischen Abteilung für Marxismus der CASS unterstützt. Thema waren „Neue Tendenzen in der Marx-Forschung“. Die Mehrheit der zehn Beiträge befasste sich mit der Politischen Ökonomie der Gegenwart, insbesondere nach der Finanzkrise von 2008. Einige bemerkenswerte Papiere behandelten aber auch theoretische und historische Aspekte sozialistischer Revolutionen auf kritische Art und Weise.
Der Beitrag von Yu Bin (CASS) versuchte zu erklären, warum der Dollar nach der Finanzkrise von 2008 erstarkte. Ausgehend von der Annahme, dass die Finanzkrise den grundlegenden Widerspruch zwischen der Zahlungsmittelfunktion (Kreditgeld) und der Funktion des Wertmaßstabs des Geldes offengelegt habe meint Yu, dass vor dem Hintergrund seiner Weltgeldrolle große Summen von Kreditgeld zurück in den Dollar flossen, um Krisenwirkungen abzuwehren. Wadi’h Halabi (KP der USA) schlug die Rückkehr zu einer auf Sachwerten beruhenden Währung vor und plädierte für eine Geld- und Fiskalunion zwischen den bestehenden sozialistischen Staaten. Hou Weimin (CASS) argumentierte, dass neo-liberale Marktmechanismen nicht in der Lage seien, die Ursachen von Überkapazitäten zu beseitigen; diese seien vor allem unfaire Verteilungsverhältnisse, unausgeglichene Investitionen in den Sektoren und ein globales Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Die Verdrängung von öffentlichem Eigentum und staatlichen wirtschaftspolitischen Strategien in China und deren Ersatz durch Marktmechanismen werde verderbliche Folgen haben. Ricardo Antunes (Campinas Universität) befasste sich mit der Frage der Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert. Er wandte sich gegen die Ansicht, Proletariat und Arbeiterklasse seien Synonyme, die zunehmende Immaterialität der Arbeitsprozesse würde die Arbeitswerttheorie obsolet werden lassen. Zur Arbeiterklasse gehöre „jeder (mit Ausnahme von Kapitalmanagern), der seine/ihre Arbeitskraft als Ware gegen Lohn verkaufe“, und zwar unabhängig von der Gegenständlichkeit dieser Ware.
Die von der School of Marxism geförderte Konferenz an der RUC hatte den Titel „Marxismus des 21. Jahrhunderts – Neue Perspektiven“. Die 18 vorgelegten Papiere deckten eine große Themenvielfalt ab, von der Neuinterpretation Marx’scher Texte und dem erneuten Durchdenken des Marxismus der Gegenwart bis hin zu ökologischen Fragen.
Hao Lixin (RUC) sprach über Möglichkeiten und Herausforderungen für den Marxismus im modernen China. Diese erforderten die Entwicklung neuer Konzepte, welche in der Lage sind, sowohl die aktuellen ökonomischen Veränderungen als auch die ökologischen Probleme in Rechnung zu stellen, die sich mit wachsender Dringlichkeit stellen. Hao zufolge müsste die Weiterentwicklung der Theorie das Verhältnis und die Koordination der großen Wirtschaftssektoren, die Herausbildung einer grünen Ökonomie, die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt und die Förderung von Innovationen erfassen. Zhang Yunfei (RUC) fügte diesem komplexen Szenario eine weitere Dimension hinzu, indem er auf das Problem des sozialen Ausgleichs und die fragile Lebenslage der Armen sowohl in ökonomischer wie in ökologischer Hinsicht hinwies. Er forderte eine „Ökologie für die Armen“, in der soziale und ökologische Gerechtigkeit ausbalanziert werden müssten.
Ein weiteres der auf der Konferenz behandelten Themen befasste sich mit dem Begriff des Klassenkampfes. Victor Wallis (Berklee College für Musik, Geschäftsführer der Zeitschrift „Sozialismus und Demokratie“) verglich Klassenherrschaft als übergreifende Kategorie mit anderen Formen von Unterdrückung (Rasse, Gender, etc.). Klassenunterdrückung sei der gemeinsame Nenner, der alle Mitglieder unterdrückter Gruppen einigen könne. Domenico Losurdo verwies auf drei nebeneinander bestehende Züge des Klassenkampfes: Den Kampf gegen die Lohnsklaverei, gegen das Patriarchat und gegen den (Neo)Kolonialismus. Sich auf den Fall des zeitgenössischen China beziehend kritisierte er den westlichen Marxismus, der die anhaltende Bedeutung anti-kolonialer Kämpfe vernachlässigt habe.
Ein kleiner workshop an der CCTB (9.5.2016) beschloss diese Konferenzserie. Victor Wallis beschäftigte sich in seinem Papier mit der Frage des kleineren Übels im Kontext politischer Entscheidungen seit den Zeiten von Marx bis heute; Gilbert Achcar (SOAS) verfolgte die politische Entwicklung von Marx und Engels vom Kosmopolitismus hin zum Internationalismus und ihr Verständnis des Nationalstaats. Zwischen dem Kampf für nationale Befreiung und dem sozialistischen Internationalismus gäbe es keinen Widerspruch. Babak Amini (London School of Economics) beschäftigte sich mit der Geschichte der Verbreitung und der Rezeption des „Kapital“ in den USA und Großbritannien in den 150 Jahren seit seinem Erscheinen.
Die Protokolle der Konferenzen an der Fudan Universität und an der RUC sollen 2017 veröffentlicht werden. Nach dem großen Erfolg der von Marcello Musto herausgegebenen chinesischen Übersetzung der „Grundrisse“ hat der renommierte China Renmin University Press Verlag jetzt unter dem Titel „Marx heute“ andere von Musto herausgegebene Arbeiten in chinesischer Übersetzung veröffentlicht. Dies zeigt die anhaltende Bedeutung von Marx und die weltweite Wirkung seiner Ideen. In Zeiten, in denen sich die Krisen des Kapitalismus auf globaler Ebene manifestieren, ist eine Zusammenarbeit und ein intellektueller Austausch unter Marxisten absolut notwendig. Dabei ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus des vergangenen 20. Jahrhunderts unabdingbar.
Babak Amini
„Alter Summit“ 2016
Treffen von Gewerkschaftslinken und Bewegungsaktiven, 25./26. November 2016, Brüssel
Eine europaweite Bewegung gegen die EU-Austeritätspolitik ist nach wie vor nicht in Sicht. Uneinigkeit über die Hauptstoßrichtung prägt nach wie vor die europäische Linke, wie deren unterschiedlichen, auf Reform, „Neugründung“, Bruch oder Austritt abzielenden europapolitischen Konzeptionen bezeugen.
Der Zusammenschluss Alter Summit verfolgt seit 2013 über solche Differenzen hinweg das Ziel, kritische Gewerkschaftsorganisationen und -Mitglieder sowie NGOs in einem gemeinsamen Protest zu verknüpfen. (Vgl. http://www.altersummit.eu/?lang=de) Die Initiative war bei dem großen Alternativengipfel der europäischen sozialen Bewegungen in Athen (Juni 2013) entstanden. Vor mehreren tausend Teilnehmenden aus ganz Europa sprachen damals mehrere Gewerkschafter – aus der Bundesrepublik z.B. Hans-Jürgen Urban (IG Metall) –, Vertreter von attac und vielen anderen Bewegunen sowie der seinerzeitige griechische Oppositionsführer Alexis Tsipras. Seitdem wird Alter Summit von einer Gruppe um Felipe Van Keirsbilck koordiniert, dem Generalsekretär der Centrale nationale des employés (CNE) in Belgien, die zum durchaus links stehenden christlichen Gewerkschaftsbund gehört.
In der Einladung zu der Brüsseler „Rights4all Now“-Konferenz hieß es: „Europa – das sind wir! Unser Programm, um unsere Rechte wiederzuerlangen“. Unter den mehr als 150 Frauen und Männer aus über 15 Ländern und mit unterschiedlichem Hintergrund waren Vertreter aus spanischen und französischen Gewerkschaften, viele Belgier, Aktivisten aus NGOs und viele andere mehr. Die Zahl der deutschen Teilnehmenden blieb sehr übersichtlich. Die Konferenz wurde mit Unterstützung von attac und der Rosa Luxemburg Stiftung simultan in mehreren Sprachen gedolmetscht.
Das Ergebnis der Konferenz war nicht in jeder Hinsicht erfolgreich. Die Fokussierung auf ein gemeinsames Aktionsprogramm gelang nur in Ansätzen. Vom Verlauf her konnten im Eingangsplenum europapolitische Themen ins Zentrum gestellt werden: Durch Analysen der disparaten ökonomischen Gewichte in der EU (Jean-Christophe Defraigne, University Saint-Louis Brussels) und mit einem Beitrag von Daniel Albarracin, Podemos-Mitglied von der Linksfraktion im Europäischen Parlament, über strategische Optionen zur Reaktion auf die EU-Krise. (Alle Beiträge sind auf der Internetseite des Alter Summit nachzulesen: http://www.altersummit.eu/mobilisation/article/conference-rights4all-now-25-26?lang=en)
Für die deutsche Initiative „Europa neu begründen“ sprach Klaus Pickshaus (ehem. Bereichsleiter beim Vorstand der IG Metall). Hauptziel dieser Initiative sei es gewesen, für eine europäische soziale Bürgerbewegung zu plädieren, die gegen die desaströse Krisenpolitik und für einen radikalen Politik- und Pfadwechsel antritt. Ein erster Schritt auf diesem Weg sollte die Ablehnung des Fiskalpakts in seiner gegenwärtigen Form und eine Neuverhandlung des fiskalpolitischen Rahmens sein. (vgl. www.europa-neu-begruenden.de)
Pickshaus betonte u.a., dass die Hauptverantwortung der deutschen Regierung für die Austeritätspolitik auf europäischer Ebene auch in den Debatten der Alternativbewegung eine zentrale Rolle spiele und eine Herausforderung für die deutsche Linke bleibe.
Als Erfolg vermerkte er, dass auf dem letzten Gewerkschaftstag der IG Metall ein Initiativantrag „„Europa neu begründen“ – aktueller denn je“ einstimmig angenommen wurde, in dem es heißt: „Die IG Metall setzt sich in einem breiten Bündnis für ein sozialeres und gerechteres Europa ein. Alle interessierten gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen in Deutschland und Europa sind eingeladen, sich in diesem Bündnis mit Ideen zu beteiligen. Eine Diskussion über die bestmögliche politische Zuspitzung für die Erreichung unserer Ziele im Sinne der europäischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und ihrer Gewerkschaften muss jetzt beginnen.“ Einen ähnlichen Beschluss fasste der Verdi-Bundeskongress. Allerdings sind die praktischen Auswirkungen dieser Beschlüsse gering. Auch aus der europäischen Gewerkschaftsbewegung seien bisher keine wirksamen Impulse für eine breite Anti-Austeritätsbewegung sichtbar geworden.
Pickshaus charakterisierte die Initiative „Europa-neu-begründen“ als einen Vorstoß aus dem gewerkschaftlichen bzw. gewerkschaftsnahen links-pluralistischen Spektrum, mit dem in gegenhegemonialer Absicht eine „pro-europäische Europa-Kritik“ formuliert werden sollte. Es sei um die Bündelung von Aufmerksamkeit und die Fokussierung auf strategische Überlegungen gegangen. Allerdings sei die Wirkung der Aufrufe paradox gewesen: sie wirkten eher als Beitrag zur internen Verständigung der EU-kritischen Linken denn als nach außen gerichtetes Medium der gesellschaftlichen Diskursverschiebung. (Dokumentation dazu unter: http://www.europa-neu-begruenden.de/debatte/)
Zu den Grundelementen einer linken EU-Kritik gehören nach Pickshaus die Zurückweisung der Austeritätspolitik sowie die Forderung nach „Investitionen in gesellschaftliche Bedarfsfelder“. Als gemeinsame Essentials linker EU-Kritik nannte er:
- Die Nationalstaaten sind nicht nur Schlüsselakteure der EU, sondern auch unverzichtbare Adressaten gegenhegemonialer Initiativen;
- der deutschen Regierung kommt aufgrund ihrer Rolle als „reluctant hegemon“ eine Schlüsselrolle zu;
- Ziel linker Kritik kann/darf nicht die Vision eines Nationalstaaten-Europa sein;
- das eklatante Demokratiedefizit der EU ist unverzichtbarer Ansatzpunkt linker Kritik.
Seine Schlußfolgerung: „Eine europaweite Bewegung benötigt eine Einigung auf mobilisierungsfähige gemeinsame Kernforderungen, wie dies im Widerstand gegen die Wasser-Initiative und gegen TTIP und CETA gelang.“
Da der Ablauf der Tagung mehr dem Format der Sozialforen folgte, bei denen über alle Themen der Ökologie, der Digitalisierung, der Migrantion und vieles mehr debattiert werden kann, fehlte es an einer Zuspitzung, die für die Einigung auf entsprechende Kernforderungen notwendig gewesen wäre.
Die Alter Summit-Initiatoren versuchen nun im Nachgang eine Fokussierung zu erreichen. In einer Abschlusserklärung heißt es: „Wir haben festgestellt, wie unterschiedlich unsere Kämpfe sind: ihre Ebenen, Kampfformen und die Beteiligten … Es ist unsere Aufgabe, diese Vielfalt zu nutzen: wir müssen uns ergänzen, aber auch unsere Widersprüche zu Nutzen machen; das ist schwierig, aber gleichzeitig eine Chance – es gilt, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.“ Kern der Botschaft des Alter Summit sollte sein: Soziale Rechte müssen für alle gelten. Ausgehend von dieser Botschaft sollten in einem zweiten Schritt präzise gemeinsame Forderungen ausformuliert werden: Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn, Bekämpfung von Privatisierungen, Kampf gegen Sozialdumping, gleiche Behandlung von Zuwanderern/Einheimischen, Bildung und Gesundheitswesen dürfen nicht den Marktmechanismen unterworfen werden. Es wird festgehalten: Die Kampagnen gegen TTIP, TiSA, CETA und die Klimabewegung sind eine Basis für eine breite und einende Koalition, es gilt, ihre politische Botschaft zu erweitern und zu vertiefen. (http://www.altersummit.eu/alter-sommet/article/europa-das-sind-wir-unser-programm?lang=en)
Eine Resolution der Initiative „Europa neu begründen“ ergänzt diese Aufgabenstellung mit dem Ziel, konkret auf die Auseinandersetzung mit der EU-Kommission insbesondere in Vorbereitung eines „European Pillar of Social Rights“ einzugehen. Anliegen dieser Resolution war es auch, mit der Alter Summit-Initiative anschlussfähig an die Impulse des Europäischen Gewerkschaftsbundes zu werden. Die Resolution fand die Zustimmung der Alter Summit-Initiatoren. Sie war allerdings nicht Gegenstand der strategischen Debatten auf dem Brüsseler Treffen. Dies hätte ihre Relevanz stärken können. Für das Jahr 2017 sind weitere Initiativen von Alter Summit in Vorbereitung. Da die EU-Krise sich zuspitzen wird, werden Anforderungen an eine europaweite Widerstandsbewegung noch zunehmen. Die deutschen Gewerkschaften stehen da vor einer großen Herausforderung.
Johannes Altenfeld
Ein Diskursprojekt wird zum Selbstläufer
Gesprächskreis „Jour fixe“ am Leipziger Standort der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen ins dritte Jahr gestartet
1991 hat eine Gruppe Leipziger Wissenschaftler um den Philosophen Helmut Seidel und die Historiker Walter Markov, Manfred Kossok und Gustav Seeber die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen (RLS) gegründet. Seither hat sie sich als linker, der Partei DIE LINKE nahestehender Verein profiliert. Zu ihren Hauptzwecken zählen Mehrung und Verbreitung gesellschaftspolitischen Wissens, Pflege demokratisch-sozialistischer Ideen und humanistischer Ideale sowie organisierte Kommunikation, die soziale Gruppen und Generationen miteinander verbindet. An thematischen Schwerpunkten interessierte Mitglieder treffen sich dazu in Arbeitskreisen. Seit Januar 2015 werden übergreifende Fragen von Politik, Ökonomie, Kultur und Wissenschaft auch in einem neuen Format debattiert. „Jour fixe“, einen unkonventionellen Gesprächskreis, nannten die Gründer Klaus Kinner und Manfred Neuhaus ihr Projekt. Die beiden Leipziger Historiker vom Jahrgang 1946 haben sich über die sächsischen Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht. Kinner als Experte der Kommunismus- und Linkssozialismus-Geschichte, Neuhaus als langjähriger Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Beide dachten anfangs an eine eher „familiäre“ Zusammenkunft von Gesinnungsfreunden, insbesondere auch von früheren akademischen Weggefährten, die mit dem Austausch von Gedanken, Ideen, Standpunkten am „Puls der Zeit“ bleiben und auch der sozialen Vereinsamung im Ruhestand entgehen wollten. So reichte die Bibliothek der Leipziger Dependance der RLS Sachsen völlig aus, als am 22. Januar 2015 rund 20 Teilnehmer die Premiere von Jour fixe begingen. Den aktuellen politischen Anlässen entsprechend − national: Pegida/Legida, international: Überfall auf Charlie Hebdo − standen die Themen „Orient und Okzident“ sowie Houellbecqs „Die Unterwerfung“ auf der Tagesordnung. Diese Mixtur von fachwissenschaftlicher Diskussionsgrundlage und kulturell-literarischem Pendant blieb fortan das Grundmuster von Jour fixe. Offensichtlich hatten die Gründungsväter damit den Nerv vieler Interessierter über den ursprünglich vermuteten Zirkel hinaus getroffen. Rasch wuchs der Zulauf, auch aus nichtakademischen Kreisen. Bei etlichen Themen platzte die Bibliothek aus ihren Nähten. So bei den Debatten über Pikettys Kapitallehre, moderne Revolutionstheorien, Xenophobie, Flüchtlingsbewegung, Biedenkopfs Tagebücher, Linke Gewalt, Macht der Affekte in der Politik oder gesellschaftliche Transformationskonzepte der Linken. Mit 63 Gästen zum Thema Kalifat und Kampf um die Vorherrschaft am Golf schrieb sich der 13. Treff im März 2016 als bisheriger Publikumsrenner in die noch jungen Jour-fixe-Annalen ein.
Worin liegen nun Ursachen und Gründe für die Erfolgsgeschichte von Jour fixe? Als aktiver Mitgestalter von Anfang an möchte ich die Grundkonzeption als Türöffner der zum Selbstläufer gewordenen Veranstaltungen bezeichnen: sich gemeinsam einen „Vers machen“ zu wollen über aktuelle, allgemein bewegende Ereignisse in Brennpunkten der nahen und fernen Welt und ihre mediale Reflexion in Kunst und Literatur. Hintergründe, Ursachen und Folgen aus politiktheoretischer, philosophischer und geistig-kultureller Sicht zu erkennen und Konsequenzen für demokratisches linkes Denken und Handeln zu begreifen. Solche Ansprüche zu meistern, braucht es kundige „Vordenker“. Mit ausgewiesenen Referenten, zumeist früheren akademischen Größen der Leipziger Universität und Berliner Kollegen von der dortigen Rosa-Luxemburg-Stiftung, konnte diese Voraussetzung erfüllt werden. Stellvertretend für alle Themenprofis seien die Philosophen Volker Caysa, Michael Brie, Steffen Dietzsch, Wladislaw Hedeler, Holger Politt, Monika Runge, die verstorbene Historikerin Helga Schultz, deren Berufskollegen Jonas Beyer, Hartmut Kästner, Volker Külow, Matthias Middell, die Literaturwissenschaftler Willi Beitz, Adelheid Latchinian, Klaus Pezold, Klaus Schumann, der Kunsthistoriker Thomas Topfstedt, die Musikwissenschaftler Werner Wolf und Anselm Hartinger, der Arabist und Mediävist Gerhard Hoffmann, der Wirtschaftsjournalist Helge-Heinz Heinker genannt. Ihre Erkenntnisse und Diskussionsanstöße vermittelten sie aber nicht ex cathedra. Im Geiste des bekannten Diktums Rosa Luxemburgs „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden sich zu äußern“ pflegen die Teilnehmer einen parteipolitisch unabhängigen, konstruktiv-kritischen Gedankenaustausch, der einen verantwortungsbewussten und gemeinsinnigen Umgang mit neuen, kühnen, auch problematischen und Widerspruch heischenden Meinungen einschließt. Diese Debattenkultur, die Bevormundung, Rechthaberei, angemaßte Deutungshoheit oder Dogmenreiterei ausgrenzt, sagt vor allem den jüngeren Semestern zu, die noch in Unterzahl sind. Kinner, Neuhaus und ihre Altersgenossen freuen sich über jeden jugendlichen Neuankömmling, der die „Fahne“ linker, humanistischer, solidarischer Gesinnung und Gesittung in die Zukunft trägt. Inzwischen ist der Gesprächskreis in sein drittes Jahr gestartet. Die 21. Auflage im Januar 2017 stand im Zeichen der Richard-Wagner-Festtage 2017 in Leipzig. Das wiederum volle Haus nährt die Erwartung, dass die Geschichte von Jour fixe noch um etliche Kapitel bereichert wird.
Wulf Skaun
Staatstheorie für Linke: Prozess Gingold ./. „Verfassungsschutz“
Verwaltungsgericht Wiesbaden, 12. Januar 2017
Zum 45ten Mal jährt sich in diesem Jahr der so genannte Radikalenerlass. Nach einem Ministerpräsidentenerlass vom 28. Januar 1972 wurden unter der Federführung des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt die Weichen gestellt für eine Überprüfung von Bewerbern/innen beziehungsweise Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. In über 3,5 Millionen Fällen wurden Bundesbürger/innen überprüft, ob sie „die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“. Der Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ hatte alle Hände voll zu tun mit der Regelanfrage der öffentlichen Dienstherren. Bundesweit sprechen die Zahlen von bis zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Die „Schere im Kopf“ und Angst vor beruflichen Nachteilen lähmten in vielen Bereichen die öffentliche Debatte.
Alles längst vergangene und vergessene Geschichte? Mitte Januar fand in Wiesbaden ein Prozess vor dem Landesverwaltungsgericht statt, in dem dieses dunkle Kapitel seine Gegenwärtigkeit offenbarte – ähnlich wie die aktuellen, wenn auch durch Solidaritätsbewegungen bzw. Klage zurückgewiesenen Berufsverbotsfälle Michael Csaszkosy (Baden-Württemberg) oder Kerem Schamberger (Uni München). Silvia Gingold, die bekannte von Berufsverbot betroffene Lehrerin, klagte gegen den hessischen „Verfassungsschutz“. Zum einen sollte das Gericht feststellen, dass ihre bis heute anhaltende Beobachtung durch den Geheimdienst und die Speicherung ihrer Daten von Anfang an rechtswidrig waren. Dieser Antrag wurde zurückgewiesen. Ein zweiter Antrag von Silvia Gingold sollte ab sofort eine weitere Beobachtung unterbinden. Denn es ist bekannt, dass das geheimdienstliche Auge weiter hinter der (seinerzeit nach einem Jahr Berufsverbot zwar wieder eingestellten, jedoch nicht verbeamteten) pensionierten Lehrerin her spioniert, sei es, wenn sie auf einer DGB-Kundgebung spricht, sei es bei einer Lesung aus dem Buch ihres Vaters oder bei einer Veranstaltung im Rahmen der VVN. Die Akte über Silvia Gingold – von 131 Seiten durfte der „Verfassungsschutz“ 102 Seiten oder fast 80 Prozent aus Gründen des „Quellenschutzes“ schwärzen bzw. entfernen – ließ trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen Hinweise auf Kontrolle des E-Mail-Verkehrs, Spitzelwesen in linken Organisationen, Überwachung von Gewerkschaftsveranstaltungen (bei der Akte fand sich die Videoaufnahme einer Marburger DGB-Veranstaltung) u.ä. Observationen erkennen. Der „Verfassungsschutz“ erklärte demgegenüber, Gingold werde nicht persönlich überwacht, sondern die „Erkenntnisse“ seien nur „Beifang“ im Zuge der Überwachung von „Gruppen oder Personen, die als extremistisch eingestuft“ würden – also z.B. des DGB (vgl. FAZ v. 13. Januar 2017). Das Begehren nach sofortiger Einstellung der Überwachungspraxis wurde an das Verwaltungsgericht in Kassel rückverwiesen; Gingold hatte dort bereits 2013 auf Akteneinsicht und Löschung ihrer Daten sowie Einstellung der Bespitzelung geklagt. Die Erwartung der Klägerin, dass das Gericht „meinem durch die Verfassung geschützten Recht auf Meinungsfreiheit Geltung verschafft“, wurde mithin enttäuscht und die Gelegenheit für eine erneute öffentliche Auseinandersetzung eröffnet. Silvia Gingold wird weiter für dieses Recht und für ihre Rehabilitierung kämpfen. So tun es auch zahlreiche andere von Berufsverbot Betroffenen – gegenwärtig wird in zahlreichen Städten der Bundesrepublik eine sehr sehenswerte Wanderausstellung „Vergessene Geschichte – Berufsverbote – Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland“ u.a. mit Unterstützung von GEW, Ver.di, IGM und DGB gezeigt. In diesen Kontext gehört auch ein im hessischen Landtag eingebrachter Antrag1 der Fraktion DIE LINKE (die beim Wiesbadener Prozess durch ihren Fraktionsvorsitzenden als Prozessbeobachter und Überbringer solidarischer Grüße neben etwa hundert weiteren Freunden vertreten war), der vom Landtag u.a. die Feststellung verlangt,
- „dass der sogenannte Radikalenerlass in Hessen faktisch aufgehoben wird,
- dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen,
- dass die Umsetzung des sogenannten Radikalenerlasses ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Hessens darstellt und das Geschehene ausdrücklich bedauert wird,
- dass die von hessischen Maßnahmen betroffenen Personen durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit vielfältiges Leid erleben mussten,
- - dass er den Betroffenen Respekt und Anerkennung ausspricht und sich darüber hinaus bei denen bedankt, die sich z.B. in Initiativen gegen Radikalenerlass und Berufsverbote mit großem Engagement für demokratische Prinzipien eingesetzt haben.“
Dem Antrag, der zudem verlangt, die Möglichkeit der „politischen, gesellschaftlichen und materiellen Rehabilitierung“ der Betroffenen zu prüfen, stimmte im Hessischen Landtag die SPD zu; mit den Stimmen von Grünen, CDU und FDP wurde er in die „zuständigen Ausschüsse“ verwiesen. Während die Grünen im Hessischen Landtag sich mit der CDU gegen die Entschließung aussprachen, stimmten sie in der Marburger Stadtverordneten-Versammlung zusammen mit der SPD einem Antrag der Fraktion Die LINKE zu, in dem die Rehabilitierung der vom Berufsverbot Betroffenen verlangt und die Landesregierung aufgefordert wird, „den ‚Radikalenerlass’ förmlich aufzuheben und die Betroffenen öffentlich zu rehabilitieren.“ Das düstere Kapitel bundesrepublikanischer Geschichte kann also noch nicht zugeschlagen werden.
Renate Bastian
1 Hess. Landtag, Drs. 19/4409 v. 17.1.2017. Der Antrag ist vergleichbar der Initiative im Niedersächsischen Landtag. Sh. Cornelia Booß-Ziegling, Zur Thematisierung der Berufsverbote im Niedersächsischen Landtag, in: Z 101 (März 2015), S. 154-161.