Karin Fischer/Christian, Reiner/Cornelia Staritz (Hrsg.), Globale Güterketten. Weltweite Arbeitsteilung und ungleiche Entwicklung, Promedia Verlag, Wien 2010, 271 S., 24,90 Euro
Während sich mit Veröffentlichungen über den seit über 20 Jahren sogenannten Globalisierungsprozess in makroökonomischer und makropolitischer Perspektive mittlerweile Bibliotheken füllen lassen, sind Studien über das „Innenleben“ der sich immer weiter differenzierenden weltweiten Arbeitsteilung eher rar gesät. Auch von großen Teilen der Politikwissenschaft, der Soziologie, aber auch der „Internationalen Politischen Ökonomie“ sind die vielfältigen Ansätze, die unter dem Sammelbegriff „Güterkettenforschung“ bekannt geworden sind, keineswegs breit rezipiert worden. Nicht wenige der zahlreichen Autoren, die über „Imperialismus“ schreiben, wären gut beraten, sich in diese Literatur einzuarbeiten, anstatt darüber zu streiten, ob Lenin Recht oder Unrecht hatte bzw. ob alles von ihm Ausgeführte im Prinzip auch heute noch zutrifft. Umso verdienstvoller ist daher die Herausgabe des anzuzeigenden Sammelbandes, der in der deutschsprachigen Literatur, zumal in dieser Form und mit diesem kritischen Anspruch, fast singulär dasteht.
Die ersten vier Beiträge geben einen Überblick über die Entwicklung der Güterkettenforschung, die differierenden theoretischen Ansätze, die Probleme der empirischen Forschung (Einleitung der HerausgeberInnen und der Beitrag von J. Bair) sowie über produkt- und sektorenübergreifende Themen wie Wertschöpfungsketten und Arbeitsorganisation und die Auseinandersetzungen um die Regulation dieser globalen und komplexen Produktionsformen (J. Flecker; B. Ungericht). Weitere Beiträge beschäftigen sich exemplarisch mit bestimmten Produkten bzw. Waren, die nicht selten in einen weltweit organisierten Planungs-, Produktions- und Marketingprozess eingebunden sind („Weltmarkt-Textilien“, A. Komlosy; die „globalisierte Lachsindustrie“, K. Fischer; westafrikanische Kakaoproduktion, N. Fold; Sri Lankas Zimtsektor, Ch. Stephan/A. Stamm). Regionale Aspekte der Arbeitsteilung bezüglich eines Produkts sind Gegenstand weiterer Artikel (Asiatische Produktionsnetzwerke im globalen Sportartikelmarkt, W. Manzenreiter; die Elektronikindustrie in Mittel- und Osteuropa, L. Plank/C. Staritz; Wertschöpfungsketten in der Automobilindustrie, bes. Mittel- und Osteuropas, L. Lengauer/F. Wukovitsch; globale Warenketten in der Pharmaindustrie und der Aufstieg Indiens und Chinas, Ch. Zeller). Den Band beschließt ein Beitrag über globale Produktionsnetzwerke durch den Einzelhandel, der die sogenannte Supermarktrevolution sowohl in den Zentren wie auch mittlerweile in vielen peripheren und semiperipheren Ländern behandelt (E. Aufhauser/Ch. Reiner).
Die Vielfalt und Reichhaltigkeit der durch den Band vermittelten Einsichten kann nicht ansatzweise rekapituliert werden. Als ein allgemeines Moment in global organisierten Produktionsnetzwerken ist jedoch zu erkennen, dass von „Leitunternehmen“ aus (bei denen häufig Forschung & Entwicklung sowie das Marketing konzentriert bleiben) die einzelnen vielfältig aufgegliederten Produktionsschritte auf viele, manchmal weltweit verstreute Produktionsstandorte verteilt und von dieser Zentrale aus kontrolliert werden. Die räumliche und funktionelle Distribution der einzelnen Elemente der Wertschöpfung auf verschiedene Länder und Regionen führt zu der Frage, wie und warum die einzelnen Abschnitte der Wertschöpfung auf diese Weise auseinandergelegt und dann wieder zusammengefügt werden. Damit eng verbunden ist die Problematik, in welchem Verhältnis die jeweiligen Beiträge zur Wertschöpfung zu den jeweiligen Aneignungsverhältnissen stehen, und ob eventuell durch sog. „upgrading“ von Wertschöpfungsteilen auch Entwicklungseffekte auf die betreffende Region oder das Land, in dem dies stattfindet, ausgehen. Damit sind ebenso zentral die Fragen der Machtbeziehungen und der sogenannten Governance bzw. der Steuerung zwischen den einzelnen Produktionsabschnitten und deren Träger angesprochen.
Auf einen m.E. nicht ganz geklärten Widerspruch ist allerdings aufmerksam zu machen: einerseits heben die HerausgeberInnen die Vorzüge des neuen Güterkettenforschungsansatzes hervor, welcher „die traditionelle Staatszentriertheit in den Sozialwissenschaften zu überwinden“ (15) helfe, andererseits wird auf die Gefahr verwiesen, dass die „Verlagerung des Analysefokus weg vom Staat“ als „problematisch“ (16) anzusehen sei. Gelegentlich wird sogar betont, dass „die staatliche Regulierung von Ketten eine bedeutsame Rolle in der Sicherstellung der Lebensgrundlagen kleinbäuerlicher Haushalte spielen kann“ (20), so im Falle der Kakaoproduktion Ghanas.
Zwar wird in fast allen Beiträgen die Schwierigkeit der Beurteilung des „upgrading“ (Wertsteigerung bestimmter Produktions- und Verarbeitungsschritte in der globalen Produktion) und dessen häufige Ambivalenz diskutiert, die Brücke von diesen einzelwirtschaftlichen bzw. mikroökonomischen Befunden zur Frage eines „Aufwärtspfades“ oder einer Stagnation ganzer Länder oder Regionen wird indes eher selten problematisiert.
Insgesamt aber kann der sorgfältig edierte und ästhetisch ansprechende Band als sehr gelungen qualifiziert werden, da er nicht nur ein „facettenreiches Forschungsfeld“ für ein breiteres Publikum eröffnet (bislang waren überwiegend WirtschaftsgeographInnen und international orientierte Betriebswirtschaftler hier relativ unter sich), sondern auch deshalb, weil er in vielen Punkten zur „Weiterentwicklung der Güterkettenforschung“ und zur Rückbesinnung auf seine Ursprünge im kapitalismuskritischen Weltsystemansatz (Hopkins/Wallerstein haben den Begriff der globalen Güterketten 1977 erstmals in die Debatte gebracht) beiträgt.
Wer einen tieferen Blick in die Binnenstrukturen des neoliberalen Globalisierungsprozesses werfen und sich mit der einschlägigen aktuellen Forschung vertraut machen möchte, wird zu diesem Band greifen müssen, der wesentlich dazu beiträgt, die Zusammenhänge von weltweiter Arbeitsteilung und ungleicher Entwicklung besser zu verstehen.
Dieter Boris
Eine handlungsfähige Arbeiterklasse als Existenzbedingung des Kapitalismus
Hartmut Elsenhans, The Rise and Demise of the Capitalist World System, Leipziger Universitätsverlag 2011, 217 S., 22,00 Euro
Hartmut Elsenhans, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen in Leipzig, geht auch in diesem Punkt seine eigenen Wege: Zum 70. Geburtstag lässt er sich nicht, wie üblich, eine Festschrift schenken sondern legt selbst ein neues Buch vor, das er als Skizze (sketch) eines geplanten „opus magnum“ verstanden wissen will, in welchem dem Aufstieg und (möglichen) Niedergang des kapitalistischen Weltsystems als Teil eines langen historischen Prozesses nachgegangen werden soll. Der vorliegende Text stellt eine gedrängte Darstellung seiner theoretischen Kernaussagen dar, welche in vieler Hinsicht quer zu gängigen Interpretationen der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus stehen. Dabei grenzt er seine Argumente – wie Matthias Middel und Heidrun Zienecker es in ihrer Einleitung formulieren – explizit sowohl von Darstellungen bei Karl Marx als auch bei Max Weber ab.
Elsenhans spricht vom kapitalistischen Weltsystem nur deshalb, weil die Dynamik der nach wie vor bestehenden nicht-kapitalistischen Regionen heute stark von den kapitalistischen Ländern bestimmt werde, ohne dass es diesen aber gelingt, kapitalistische Strukturen weltweit durchzusetzen – er hält es sogar für möglich, dass nicht-kapitalistische Strukturen (womit er vor allem die Suche nach Renteneinkommen meint) das kapitalistische Zentrum beeinflussen.
Damit ist eines der beiden Hauptmerkmale des Kapitalismus angesprochen, die er im ersten und zweiten Kapitel entfaltet: „Das wesentliche Merkmal des Kapitalismus ist der Ersatz politischer Formen der Mehrproduktaneignung durch ökonomische Formen über den Wettbewerb in tendenziell vollkommenen Märkten auf der Grundlage der Nachfrage nach mit Hilfe von Produktionsmitteln produzierten Gütern, deren kosten-effiziente Anwendung Massenproduktion erfordert, also Massenkonsum.“ (29)1 Das zweite wichtige Merkmal des Kapitalismus ist also der Massenkonsum. Anders als Marx (und Weber) angenommen haben, stünde weder die Akkumulation von Kapital (Marx) noch eine neue Wirtschaftsethik (Weber), sondern die Massennachfrage an der Wiege des Kapitalismus. Erstmals in der menschlichen Geschichte hängt der Zugang zum Mehrprodukt nicht mehr von politischer Macht, sondern von wirtschaftlicher Effizienz ab – und erst die Massennachfrage eröffnet die Möglichkeiten zu deren Steigerung. Massennachfrage aber setzt Masseneinkommen und damit im Verteilungskampf erfolgreiche subalterne Klassen voraus. Elsenhans hält daher die Handlungsfähigkeit der arbeitenden Klassen – womit natürlich auch die Bauernschaft eingeschlossen ist – für die eigentliche Triebkraft des Kapitalismus: Sie zwingt die Produzenten zur kontinuierlichen Verbesserung der Produktionsmethoden; die Schwächung der Arbeiterbewegung dagegen, d.h. die Niederlage der ‚Arbeit’ im Verteilungskampf, führt zum Niedergang – wie nicht zuletzt die aktuelle Krise deutlich macht.
So weit erscheint die Darstellung zwar pointiert, aber nicht so weit von der Marx’schen Darstellung der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise entfernt wie behauptet – denn auch Marx zufolge wird die Dynamik des Kapitalismus angetrieben durch den Wettbewerb zwischen den Einzelkapitalen. Und die wichtige Rolle, die die Arbeitskämpfe, die Durchsetzung der „politischen Ökonomie der Arbeiterklasse“ (Inauguraladresse) in Marx’ „Kapital“ spielen, machen deutlich, dass auch Marx der Arbeiterklasse eine wichtige Rolle bei der Entfaltung des Kapitalismus einräumte.
Schwerer nachvollziehbar erscheint vor diesem Hintergrund der vor allem im dritten Kapitel diskutierte historische Übergang zum Kapitalismus, der Elsenhans zufolge ein „historischer Zufall“ (im Sinne von Glücksfall) gewesen sei (50). Denn nicht-kapitalistische Produktionsweisen beinhalteten immer „strukturelle Blockaden“ (ebd.), die einen Übergang zum Kapitalismus (also den Ersatz von politischen Renten durch Profit) eher unwahrscheinlich gemacht hatten. Es ist m.E. vor allem dieses dritte Kapitel, das die meisten Fragen aufwirft, wobei einzuräumen ist, dass Elsenhans – wie u.a. seine ausführliche Literaturliste am Ende des Buches zeigt – ein ausgezeichneter Kenner der einschlägigen Literatur ist. Die summarische Behandlung aller nicht-kapitalistischen Produktionsweisen lässt die Unterschiede zwischen ihnen verschwimmen – selbst das Kriterium der politischen Form der Mehrproduktaneignung muss für eine realhistorische Analyse differenziert werden, wie z.B. der Unterschied zwischen dem europäischen Feudalismus und der asiatischen Produktionsweise in China deutlich macht: Die Macht der chinesischen gentry basierte ursprünglich zumindest teilweise auf produktiven Funktionen.2
Wie der „zufällige“ Übergang zum Kapitalismus zustande kam, behandelt Elsenhans im vierten Kapitel. Da er explizit die im Marxismus übliche Ableitung der Herausbildung des Kapitalismus aus der ursprünglichen Akkumulation ablehnt (ihm ist übrigens Recht zu geben, wenn er diesen Ansatz nicht nur bei Marx, sondern in anderer Form auch bei Max Weber erkennt), muss er andere Triebkräfte identifizieren. Da der Kapitalismus weniger aus der Produktion von Luxusgütern (diese beherrschten vorkapitalistische Produzenten oft besser) als aus der Herstellung standardisierter Massenprodukte entstanden ist, ist eine ausreichende kaufkräftige Nachfrage die Voraussetzung. Diese konnte aber nur auf der Grundlage der landwirtschaftlichen Produktion entstehen. Elsenhans zufolge war es die Stärkung kleinbäuerlicher Produktion – also eine bestimmte Form von „empowerment of labour“ (78) – welche an der Wiege des Kapitalismus stand. Nun wird heute kaum noch bestritten, dass die erfolgreiche nachholende kapitalistische Entwicklung in vielen Ländern Asiens vor dem Hintergrund von Agrarreformen und der Stärkung des bäuerlichen Besitzes erfolgte. Ob das aber auch für die historische Entstehung des Kapitalismus – zuerst in England – zutrifft, wäre empirisch nachzuweisen. Um das seriös zu diskutieren, fehlen dem Rezensenten die notwendigen Kenntnisse – immerhin soll hier darauf verwiesen werden, dass der auch von Elsenhans rezipierte Robert Brenner in einer Debatte in den 1970er und 80er Jahren gegen prominente Kritiker m.E. schlüssig dargestellt hat, dass der Durchbruch zum Agrarkapitalismus als Vorstufe zum industriellen Kapitalismus in England nur vor dem Hintergrund der relativen Schwäche der Bauern und der relativen Stärke der Grundherren zu erklären war. Der gleichen Darstellung zufolge war die Blockade agrarkapitalistischer Tendenzen in Frankreich gerade der relativen Stärke der Bauern geschuldet, die ihr Kleineigentum und damit die Subsistenzwirtschaft erfolgreich gegen den zersplitterten und schwachen Adel verteidigen konnten. Auch wenn bäuerliches Kleineigentum demnach nicht per se entwicklungshemmend war, erscheint doch der historische Durchbruch zum Kapitalismus in England mit der Dominanz agrarischen Großgrundbesitzes verbunden gewesen zu sein.
Das fünfte und sechste Kapitel befassen sich mit der Expansion des Kapitalismus in nicht-kapitalistische Räume, d.h. mit seinem imperialistischen Charakter. Diese Expansion, so Elsenhans, war und ist weder eine notwendige Bedingung für dessen Entstehung und Existenz noch fördert sie die – vom Autor als fortschrittlich betrachtete – Ausbreitung des Kapitalismus in der Peripherie. Sie führt im Gegenteil zur Zerstörung kapitalistischer Ansätze und zur Verankerung von Rentenökonomien. „Kapitalismus ist expansionistisch aber nicht ansteckend.“ Die Stabilität nicht-kapitalistischer Strukturen in der Peripherie (und dazu gehören Rentenökonomien) werde dann sogar zu einer Gefahr für den Kapitalismus der Zentren, wenn sie die Entwicklung von Gegenmacht (countervailing powers) behindert, welche die notwendige Nachfrage sichern könnte: „Ich sehe die Gefahr, dass die Welt ertränkt wird in einem immer weiter wachsenden produktiven Potenzial, welches niemand durch zusätzliche Marktnachfrage lenken kann.“ (109) Unter diesem Gesichtspunkt sieht er die gegenwärtige Form der Globalisierung mit ihrem Wettlauf um Senkung der Lohnkosten und billige Arbeit als Gefahr: „Die Kaufkraft insgesamt geht zurück.“ (114) Diese Tendenz zur Unterkonsumtion – die u.a. auch die gegenwärtige Tendenz zur Finanzialisierung auf Kosten von Realinvestitionen begründet – wird bestärkt durch Entwicklungen im politischen Raum, in dem Organisationen der Mittelklassen (NGO) immer mehr das kulturelle Klima bestimmen, auf Kosten der traditionellen Arbeiterorganisationen des Westens und autonomer Organisationen der Zivilgesellschaft des Südens. Jene, die vor allem unter der Aushöhlung der Kaufkraft leiden, haben faktisch kaum mehr organisatorische Macht. Damit fehlt dem Kapitalismus ein zentrales Korrektiv, welches seinen spontanen Tendenzen zur Vermachtung und zur Begrenzung des Wettbewerbs entgegenwirken könnte.
Elsenhans hat eine theoretisch sehr dichte und die traditionelle Interpretation des Kapitalismus herausfordernde Arbeit vorgelegt. Seine Analysen sind – so scheint es dem Rezensenten – stark von den gegenwärtigen Widersprüchen bei der Entwicklung des Kapitalismus in der Peripherie geprägt. Ob sein Ansatz letzten Endes auch darüber hinaus tragfähig ist, wird die von ihm angestrebte ausführliche Darstellung zeigen. Die lange Literaturliste am Ende des Buches (fast 90 Seiten) zeigt, dass er einiges an empirischem Material im Köcher hat. Seine Behauptung, dass es der Widerstand und die Stärke der Arbeit waren und sind und nicht die Akkumulation von Kapital (Marx) bzw. die Entstehung einer neuen Klasse/Wirtschaftsgesinnung (Weber), die die Dynamik des Kapitalismus (demnach ein völlig unzutreffender Begriff) prägen, hat auch für die aktuelle Situation weitreichende Folgerungen: Auch wenn es entwicklungspolitisch heute weitgehend Konsens ist, dass eine ausgeglichene Einkommensverteilung und starke Organisationen der subalternen Klassen entwicklungsfördernd sind, so wird doch andererseits betont, dass Schumpeterscher Unternehmergeist und die Entstehung eines starken ‚Privatsektors’ die wichtigsten Triebkräfte kapitalistischer Entwicklung seien. Die laufenden Untersuchungen, sei es der Weltbank, sei es der Bertelsmann-Stiftung und anderer, die das Wirtschaftsklima in den armen Ländern messen wollen, ignorieren entweder die organisatorische Stellung der subalternen Klassen völlig oder betrachten Arbeiterrechte sogar als Belastung. Elsenhans setzt dagegen: Die „Beziehung ist nicht: Kapitalismus erzeugte die Arbeiterbewegung; sondern der Widerstand der arbeitenden Klassen erzeugte Kapitalismus und wirkt weiter unter günstigen Bedingungen…“ (83)
Jörg Goldberg
Wallersteins
Weltsystemtheorie
Lutz Zündorf, Zur Aktualität von Immanuel Wallerstein. Einleitung in sein Werk, VS-Verlag, Wiesbaden 2010, 171 S., 19,95 Euro
Immanuel Wallerstein gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten ProtagonistInnen der Weltsystem-theorie. Wenn man sich mit seinem Ansatz vertraut machen wollte, so ist man bislang darauf angewiesen gewesen, dessen umfangreiches Oeuvre durchzuarbeiten. Der Lüneburger Wirtschafts- und Betriebssoziologe Lutz Zündorf, der im Jahr 2008 schon eine bemerkenswerte Studie über das „Weltsystem des Erdöls“ veröffentlichte,1 hat nun eine informative und systematische Einführung geschrieben, die alle wesentlichen Bestandteile der wissenschaftlichen Konzeption von Wallerstein thematisiert.
Ausgangspunkt der Auseinandersetzung des Autors mit dem Werk Wallersteins ist eine knappe informative werkgeschichtliche Biografie. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf denjenigen Theorie- und Forschungslinien, die das Denken von Wallerstein am nachhaltigsten beeinflusst haben. Der Verfasser verdeutlicht hier, dass Wallerstein seine Weltsystemperspektive aus einer kritischen Rezeption mehrerer und durchaus sehr unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Ansätze gewonnen hat. Es wird in diesem ersten Kapitel dabei nicht zuletzt aufgezeigt, dass Wallerstein – obwohl er dezidiert Systemanalyse betreibt – von kaum einer anderen Theorierichtung weniger beeinflusst worden ist, als der von Talcott Parsons und Niklas Luhmann vertretenen modernen Systemtheorie.
Im zweiten Kapitel interpretiert und veranschaulicht Zündorf erneut knapp aber verständlich das Werk Wallersteins als Komplex eines Forschungsprogramms mit wissenschaftstheoretischen Prämissen, Erkenntnis leitenden Begrifflichkeiten und methodologischen Regeln. Durch das Aufzeigen und die Verdeutlichung der von Wallerstein zum Teil explizit ausgesprochenen, teilweise jedoch auch unausgesprochenen seinem Werk zu Grunde liegenden wesentlichen Annahmen sowie durch die Erläuterung des Verweisungssystems der Begriffe und der methodologischen Regeln wird die genauere Erschließung des komplexen Werks erheblich erleichtert.
Den größten Raum nimmt das anschließende dritte Kapitel ein, in dem der Autor die bislang erschienenen ersten drei und annähernd 1500 Seiten umfassenden Bände des auf mindestens vier Bände angelegten Hauptwerks von Wallerstein über „Das moderne Weltsystem“ vorstellt. Diese Vorstellung ist notwendigerweise sehr stark komprimiert. Indem Zündorf jedoch zahlreiche sorgfältig ausgewählte und aussagekräftige Zitate anführt, ist sie authentisch und durchaus angemessen detailliert. Da der Autor weite Strecken der Darstellung Wallersteins offensichtlich eher als eine historische Abhandlung denn als eine eigentliche soziologische Analyse ansieht, lässt er Wallerstein selbst vor allem dort zu Wort kommen, wo dieser die Hauptlinien der historischen Entwicklungen und die Grundzüge seiner Argumentation zusammenfasst oder verdichtet. Bei den analytischen und explikativen Ausführungen Wallersteins stellt der Autor entweder explizit den Bezug zu dessen allgemeinen begrifflich-theoretischen Rahmen her, oder dieser Bezug und die Gesamtheit des Forschungsprogramms werden zumindest erkennbar. In den bisher veröffentlichten drei Bänden stellt Wallerstein das moderne Weltsystem nur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Allerdings ist Wallerstein bei seiner Analyse mit mehreren kleineren Publikationen schon bis zur Gegenwart vorgedrungen. Auf Grundlage dieser kleineren Publikationen versucht Zündorf einen Ausblick auf die neueren Entwicklungen in der Konzeption Wallersteins bis in die Gegenwart. Dies ist allerdings kein Versuch einer Fortschreibung des Werkes von Wallerstein – vielmehr handelt es sich um eine unvollständige Skizze einiger bis in die Gegenwart reichender wichtiger Trends und Zyklen. Aber auch schon diese unvollständige Skizze ist anregend, verdeutlicht sie doch die Aktualität sowie die Potenziale einer weiteren Aktualisierung des Weltsystemansatzes von Wallerstein.
Dieses Ansinnen setzt der Autor im zweiten Teil des vierten Kapitels weiter fort. Zunächst formuliert Zündorf jedoch eine eher generelle als detailorientierte Kritik an der Weltsystemanalyse Wallersteins, indem er ihre seiner Meinung nach bestehenden Mängel der eurozentristischen Perspektive, des ökonomischen Reduktionismus, ihres theoretischen Eklektizismus sowie einiger begrifflichen Unklarheiten thematisiert. Im Anschluss an diese kritischen Einwände erläutert Zündorf die Aktualität und Bedeutung der Weltsystemanalyse an Hand von vier Problemlagen: dem hegemonialen Niedergang der USA, dem Aufstieg der VR China von der Außenarena in das Zentrum der Weltwirtschaft, der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise und dem damit zusammenhängenden Problem der Zukunft des kapitalistischen Weltsystems. Anders als Wallerstein präsentiert der Autor hier auch einige Zeitreihen mit quantitativen Angaben, durch die er diese Wandlungsprozesse empirisch etwas zu erhärten und als Hypothesen wenigstens ansatzweise zu überprüfen versucht. Hier wird also nicht nur die Aktualität des Werkes von Wallerstein aufgezeigt, es wird vielmehr zugleich eine, wenn auch natürlich sehr kursorische, Aktualisierung seines Werkes durchgeführt.
Im abschließenden fünften Kapitel formuliert der Autor eine kurze zusammenfassende und kritisch abwägende Beurteilung des Gesamtwerkes von Wallerstein.
Zündorf arbeitet nicht nur die Innovationskraft der Weltsystem-Analyse von Wallerstein heraus, sondern er liefert auch eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von Wallerstein, die aktuellsten Debatten eingeschlossen. Sein Buch ist somit mehr als eine Einführung.
Andreas Diers
Folgen der Krise
Stefan Schmalz/Matthias Ebenau, Auf dem Sprung – Brasilien, Indien und China. Zur gesellschaftlichen Transformation in der Krise, hrsg. u. mit einem Vorwort von Mario Candeias, Dietz-Verlag, Berlin 2011, 208 S., 19,90 Euro
Spätestens seit der weltweiten Krise 2008ff. wurden Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft sichtbar, die sich schon seit den letzten drei Jahrzehnten angebahnt hatten. Zugleich wurden tiefe Risse und Glaubwürdigkeitslücken im System des neoliberalen Denkens und der von ihm angeleiteten Politiken offenkundig.
Die beiden Verfasser führen die Diskussionsstränge zu beiden Problemkreisen zusammen und fragen danach, welche Rolle dem „globalen Süden“ und dabei „insbesondere den Akteuren Brasilien, Indien und China bei der Gestaltung einer möglichen Weltordnung nach dem Neoliberalismus“ (21) zukommen könnte.
In einem theoretischen Einleitungskapitel werden strukturelle Aspekte des Neoliberalismus und die durch ihn bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen vor allem in der Peripherie sowie die Frage thematisiert, in welcher Weise die Krise neue Konfigurationen hervorgebracht hat, die „Machtverschiebungen im Weltsystem“ sowie eine „Restrukturierung des globalen Regulierungsgefüges“ zur Folge haben. Dann werden nach einem vergleichenden Analyseraster die drei Fälle diskutiert, um in einem zusammenfassenden Schlusskapitel zu resümieren, dass „die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. in Brasilien und China eine Abkehr vom Neoliberalismus begünstigt hat, wobei in China deutliche Strukturprobleme für einen Wechsel existieren. In Indien besteht hingegen eine weitgehende neoliberale Kontinuität. Zugleich haben alle drei Staaten durch die Krise spürbar an Macht gewonnen und konnten in den internationalen Institutionen einige Reformen durchsetzen, die jedoch mittelfristig deren Macht – insbesondere Chinas – nicht hinlänglich reflektieren.“(23)
Die jeweils ca. 40 Seiten umfassenden Kapitel über Brasilien, Indien und China sind ähnlich aufgebaut, enthalten viele wichtige Informationen und analysieren insbesondere die Entwicklungsprozesse vor, während und nach der Krise scharfsinnig, wobei Übereinstimmungen und Unterschiede deutlich herausgearbeitet werden. Dennoch haben sich einige kleine Fehler bzw. Unstimmigkeiten eingeschlichen: Die erste freie Präsidentschaftswahl in Brasilien (nach der Militärdiktatur) fand Ende 1989, nicht 1990 (41) statt; die Losung „Diretas Já“ aus den Jahren 1983/84 bedeutete nicht schlicht „Rechte jetzt“ (52), sondern die Forderung nach direkten Präsidentschaftswahlen! Die Zahlenangaben über den Umfang des brasilianischen Konjunkturpakets (PAC) schwanken zwischen 290 Mrd. US-Dollar (63) und 338 Mrd. US-Dollar, welche „über die Hälfte der PAC-Mittel“ (70) ausmachen sollen; im Übrigen erschwert der ständige Wechsel der vielen Zahlenangaben zwischen Landeswährung und US-Dollar die Orientierung des Lesers.
Der Verfasser des Indienkapitels nimmt – nach dem Hinweis auf die gewachsene Verletzlichkeit der indischen Wirtschaft – eine „Überwindung der Krise“ (113) wahr, aber nicht einmal ein Jahr nach Redaktionsschluss vermeldet die Wirtschaftspresse, dass „die indische Wirtschaft … immer tiefer in den Krisenstrudel gerät“ (FAZ v. 14.12.2011).
Dass das Wachstum von „riesigen Slums“ in vielen Ländern der Peripherie und Semiperipherie „zum zentralen sozialstrukturellen Kennzeichen der neoliberalen Wende“ (28) erklärt werden kann, ist m.E. zu bezweifeln, da diese Entwicklung schon spätestens seit den 1960er Jahren in beträchtlichem Ausmaß in vielen Metropolen der „Dritten Welt“ zu konstatieren war (z.B. Mexiko-Stadt, Sao Paulo, Lima, Lagos, Kairo, Bombay, Kalkutta etc.)
Wenn man nach der Lektüre des Buches noch mal auf das umfangreiche „vergleichende Raster“ (38) zurückschaut, wird man schnell feststellen, dass dieses ein großdimensioniertes Forschungsprogramm beinhaltet, welches natürlich nur partiell eingelöst werden konnte. Überdies fällt auf, dass mit Begriffen wie „Fordismus“ „Neoliberalismus“ (trotz expliziter Reflexion, 25ff.) gelegentlich recht großzügig umgegangen wird. Denn angesichts der Vielzahl der staatlichen Kontrollen über den Finanz- und Bankensektor sowie den Außenwirtschaftsbereich im Falle Chinas lässt sich diese Konstellation wohl kaum als „neoliberal“ qualifizieren, was einerseits von den Autoren auch eingeräumt wird (166), sie aber andererseits nicht davon abhält, ein Schaubild mit der Überschrift „Aufstieg und Fall des Neoliberalismus in Brasilien, Indien und China“ (168) zu präsentieren.
Ungeachtet dieser marginalen Anmerkungen muss nochmals unterstrichen werden, dass die Verfasser eine innovative, zumindest im deutschsprachigen Bereich noch nicht vorhandene und zugleich hervorragende Studie über die Auswirkungen der letzten Weltwirtschaftskrise auf wichtige Länder der Semiperipherie vorgelegt haben. Ihre zentrale These, dass im Falle Brasiliens und Chinas die Krise aller Voraussicht nach zu einem Wandel des Akkumulationsregimes (in Richtung auf stärkere Binnenorientierung, mehr sozialen Ausgleich und teilweise auch ökologischere Wirtschaftsformen, v.a. im Falle Chinas) beigetragen hat und dass diese Länder (ebenso wie Indien) ihr ökonomisches und politisches Gewicht in der Weltwirtschaft nach der Krise deutlich erhöht haben, wird in dem zusammenfassenden und theoretischen Schlusskapitel noch einmal plausibel dargelegt.
Dieter Boris
Krisen und Geldkapital
Heinz-Dieter Haustein, Zeitenwechsel. Der aufhaltsame Aufstieg des Geldkapitals in der Geschichte, LIT Verlag, Wien/Berlin 2012, 158 S., 19,90 Euro.
Die Zahl der Publikationen, die sich mit dem in den Medien häufig einseitig als „Finanzkrise“ bezeichneten Wirtschafts- und Gesellschaftsphänomen der Gegenwart beschäftigen, ist beträchtlich. Was unterscheidet Heinz-Dieter Hausteins Buch hinsichtlich Beschreibung, Einordnung und Deutung der augenblicklichen Krise von anderen Publikationen zum gleichen Thema?
Vielleicht ist es das: Haustein stimmt nicht ein in den Chor derjenigen, die die 2008 einsetzende Krise als ein hinsichtlich der Triebkräfte und Komplexität erstmaliges Phänomen, ein selbst für den Kapitalismus unerhörtes Ereignis behandeln. Er nutzt sein Wissen um ökonomische Zusammenhänge und seine Kenntnisse von den Innovationsverläufen der vergangenen zwei Jahrhunderte vielmehr zu einer auf dem historischen Vergleich beruhenden Analyse der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise. Die Krisengeschichte des Kapitalismus ist lang. Seit 1825 gab es im 19. Jahrhundert acht Wirtschaftskrisen, im 20. Jahrhundert waren es insgesamt 16, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends bereits zwei.
Nach Haustein ist die Krise, die 2008 begann, die vierte große multinationale Wirtschaftskrise des Kapitalismus nach denen von 1757-1859, 1873-1896 sowie 1929-1940. Sie, die übrigens ausnahmslos ihren Anfang in den USA nahmen, begannen mit dem Absturz des Geldkapitals. „Wachsende geographische Ausdehnung, steigender Umfang der Kapitalvernichtung, Rückschlag auf die Produktion, den Handel und die Arbeitsplätze“ (64) sind weitere Merkmale. Jede Krise führte zur Veränderung der Machtrelation von Kapital und Arbeit sowie zwischen dem Großkapital und der jeweiligen Regierung. Die Wirkungsebenen dieser Krisen waren die ökonomische Basis, das Finanzkapital, das Realkapital, der Staatshaushalt, die Rohstoff- und Energieversorgung, die Technologien sowie die sozialen Verhältnisse. Die Krisen hatten Auswirkungen auf Kultur, Wissenschaft und Bildung sowie auf die politischen Kräfteverhältnisse in den von der Krise betroffenen Staaten. Sie führten zur Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Kolonien bzw. den Ländern der Dritten Welt (64). Für den Verlauf der Krisen ist charakteristisch, dass sie in Produktion, Handel und Finanzen unterschiedlich intensiv, zeitweise auch gegenläufig verliefen. Mitten im Abschwung konnte es zu einem Zwischenhoch kommen, wie etwa 1931 in den USA.
Die gegenwärtige Krise ist nach Auffassung Hausteins die erste globale.
Zu den Unterschieden in der Behandlung einzelner Krisen gehören die Befürwortung oder Ablehnung des Protektionismus, die Richtung der ausgeübten inflationären oder deflationären Geldpolitik, Art und Grad der Staatshilfe, die Stärke des Einflusses international koordinierter Maßnahmen sowie der Zusammenhang des Krisenverlaufs mit Kriegen und Bürgerkriegen bzw. mit deren Vorbereitung. Die Krise von 1929 war die einzige, bei der gleichzeitig in der Sowjetunion ein funktionierendes ökonomisches Gegenmodell existierte. Im Unterschied zu 2008 kam es 1929 erst zum Börsenkrach, dann zum realwirtschaftlichen Einbruch und danach zur Bankenkrise. Die Krise von 2008 begann mit Bankinsolvenzen, der eine Krise der Realwirtschaft folgte, bevor die Börsenkurse fielen.
Das Fazit von Hausteins historischem Vergleich kann man vielleicht so formulieren: Die augenblickliche Krise ist weit weniger unverwechselbar als angenommen, in ihrer spezifischen Faktorenkombination und in ihrem Ablauf allerdings auch kein Serienprodukt.
Im Ablauf der aktuellen Krise erkennt Haustein bisher zwei Phasen: die erste dauerte von 2007 bis September 2008, die zweite bis Juni 2009. Eine dritte Phase charakterisiert er nicht, hielt sie bei Fertigstellung des Manuskripts wahrscheinlich für noch nicht abgeschlossen. Wie Haustein einleitend bemerkt, hat er die Arbeit an seiner Publikation im Oktober 2008, als die jüngste Weltwirtschaftskrise sich in der Pleite von Lehman Brothers manifestierte, begonnen und sein Manuskript „seitdem laufend ergänzt“ (7). Hinsichtlich der besseren Unterscheidung zwischen bereits in die Analyse einbezogenen Ereignissen und jenen, die nicht mehr berücksichtigt werden konnten, wäre es m.E. angebracht gewesen, dem Leser das Datum des Redaktionsschlusses mitzuteilen.
Von den insgesamt elf Kapiteln des Buches befassen sich sieben mit der gegenwärtigen Krise, eines mit Bankgeschäften und Börsenspekulationen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, zwei mit der Krise von 1929 einschließlich ihrer Vorgeschichte und von Roosevelts New Deal.
Das abschließende Kapitel in Hausteins Buch trägt die Überschrift „Was kommt danach?“ Auch dieses Kapitel zeichnet sich wie schon die vorangegangen durch Informationsdichte und Solidität aus.
Ausgangspunkt für Haustein, der die Krisentheorien von Marx über Schumpeter bis Keynes Revue passieren lässt, ist seine Erkenntnis, dass es „bisher keine schlüssige Theorie und schon gar kein ökonomisch-mathematisches Modell der Ursachen und des Ablaufs der Krisen gibt“ (65). Es habe sich gezeigt, dass die realen wirtschaftlichen Prozesse dem Idealbild mathematischer Modelle nicht entsprechen. „Kein Ökonom sagte jemals mit mathematischen Modellen die großen Jahrhundertkrisen voraus.“ (65) Für Prognosen bezüglich Zeitpunkt und Stärke kommender Krisen seien die Wirtschaftkreisläufe in ihrer Verflechtung und sozialen Einbettung zu unterschiedlich und führten zu nicht im Voraus kalkulierbaren „Störungen in den Knotenpunkten“.
Noch am ehesten meint Haustein Voraussagen auf der Grundlage der von „langen Wellen“, d.h. der etwa 60 Jahre andauernden, auf Basisinnovationen beruhenden technologischen Zyklen vornehmen zu können, wie sie zuerst Kondratjew beschrieben hat. Die jetzige Krise siedelt Haustein zwischen 5. Kondratjewzyklus, der auf Telekommunikation und Informationstechnologien beruht und dem 6. Kondratjew an, der durch Umwelttechnik, Solarenergie und Biotechnologie geprägt sein wird. Bis zur durch den 6. Kondratjew bewirkten Aufschwungphase würde aber noch geraume Zeit vergehen. Dem Vorziehen des Zyklus als Krisenbekämpfungsstrategie in Form eines „Green New Deal“ steht Haustein allerdings sehr skeptisch gegenüber. Nur 2,2% aller Patente entfielen gegenwärtig auf Umwelttechnologien. Für ihn aber noch wichtiger: Umweltfreundliche Technologien könnten die wissenschaftlich-technische Basis einer Lange Welle nur bilden, wenn damit zugleich die Krise der Arbeitsgesellschaft überwunden wird. Langfristige Strategien, um aus der Krise herauszukommen, seien erst dann durchsetzbar, „wenn sich das Kräfteverhältnis der sozialen Klassen und Gruppen zugunsten der Arbeit verändert.“ (148).
In Darstellung und Beweisführung breitet Haustein in diesem Buch über die gegenwärtige Krise und ihr Verhältnis zu den vorangegangenen sein enzyklopädisches Wissen aus. Dank eines ausführlichen Sachwortregisters kann der Leser davon uneingeschränkt profitieren. Seine inhaltliche Argumentation unterlegt Haustein mit einer Vielzahl von statistischen Angaben – dem Leser so auch die Möglichkeit der Überprüfung der Auffassungen des Autors bietend. Insgesamt gesehen handelt es sich bei der vorliegenden Publikation um einen ebenso gehaltvollen wie anregenden Beitrag zur Krisenanalyse, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.
Jörg Roesler
Sozialismus und Arbeiterbewegung
Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2011, 216 S., 10 Euro
„Überall, wo sich die Arbeitenden bewegen, ist Arbeiterbewegung“ – so beschreibt der Autor sein Verständnis von Arbeiterbewegung. Was er darbietet, ist eine hochinteressante, von großer Sachkenntnis, von tiefen Einblicken und originellen Einsichten zeugende Interpretation der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung von ihren Ursprüngen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Das in der verdienstvollen Reihe theorie.org erschienene Buch ist als Kontrast zu der in der Arbeiterbewegung selbst entstandenen, lange Zeit vorherrschenden, auf Politik und Organisation konzentrierten Historiografie angelegt.
Bei Hoffrogge nehmen die elementaren, mehr oder weniger spontanen Aktionen und basisdemokratischen Organisationsformen breiten Raum ein, darunter die Maschinenstürmerei, die Streiks, die Tarn- und Ersatzorganisationen zu Zeiten des Sozialistengesetzes, die Aktionsformen der Frauenbewegung wie auch Absplitterungen von der Sozialdemokratie, so die „Jungen“, die „Lokalisten“ oder anarchistische Gruppierungen. Gleichwohl warnt er vor einer „Romantisierung des Spontanen“. Er distanziert sich auch von der vor allem von Karl Heinz Roth verabsolutierten These von einer der politischen Bewegung schroff gegenüberstehenden „anderen Arbeiterbewegung“ und hebt demgegenüber die Wechselbeziehungen verschiedener Bewegungsformen hervor. Ihn interessieren die Milieus, die Geschlechterverhältnisse und die Arbeiterkultur – exemplarisch hierfür der Exkurs „Alkohol und Sozialismus“. Aber er räumt Theorien und Strategien wie auch Persönlichkeiten gleichfalls den ihnen gebührenden Platz ein; für das 20. Jahrhundert werden diese auch bei ihm zum zentralen Bezugspunkt. Unerklärlich allerdings, wieso in dieser so viele Facetten der Bewegung aufgreifenden Geschichte die sozialistische Jugendbewegung, der Antimilitarismus und damit die Rolle Karl Liebknecht ausgeklammert sind. An einigen Stellen erscheint mir der produktive analytische Ansatz vom Autor zu weit getrieben – so wenn er solche für die deutsche Arbeiterbewegung gravierenden Ereignisse wie die Gründung der I. Internationale, die Pariser Kommune oder die Reichsgründung nicht dort behandelt, wo sie chronologisch hingehören und das weitere Geschehen wesentlich beeinflusst haben. Auch ist die Bewegung in Österreich zu früh ausgeblendet worden und fehlt bereits bei der Darstellung der Revolution von 1848/49. Auch hätten manche Ergebnisse der DDR-Historiografie mehr Beachtung verdient. Dies nur am Rande, weil dieser Publikation weitere Auflagen zu wünschen sind, in denen dies korrigiert werden könnte.
Hoffrogge bietet äußerst anregende Analysen solcher Streitpunkte und Konfliktzonen wie Reform und Revolution, sozialökonomische Bedingtheit und revolutionärer Wille, Staat und Autonomie, Vorhutpartei und Basisbewegung, parlamentarischer und außerparlamentarischer Kampf, Partei und Gewerkschaft, Zentralisation und Dezentralisation, Theorie und Praxis. Während die Geschichtsschreibung der DDR meist rasch dabei war, in diesen Auseinandersetzungen die Abweichungen von der richtigen Linie zu diagnostizieren, stellt der Autor Anlässe, Motive und Argumentationen bestimmter Strömungen und Positionen dar, wägt kritisch deren Realitätsgehalt ab und sucht nach jenen Ursachen, die letztlich zur Selbstblockade der so mächtig erscheinenden deutschen Sozialdemokratie geführt haben. Da mit vergleichbaren Problemen die Linke auch heute noch ringt, zeichnet diese historische Rückschau ein hohes Maß an Aktualität aus. Für einen Historiker (Jg. 1980), der noch seine Promotion vorbereitet, eine reife Leistung.
Günter Benser
Der Fall Erwin Eckert
Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.), Protestantismus und Antifaschismus vor 1933. Der Fall des Pfarrers Erwin Eckert in Quellen und Dokumenten. Mit Originalbeiträgen von Wolfgang Abendroth, Karl Barth, Rudolf Bultmann u.a., Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2011, 527 S., 24,90 Euro
Erwin Eckert (1893-1972) war einer der wenigen deutschen evangelischen Pfarrer, die sich öffentlich zum Arbeiter-Sozialismus und theoretisch zum Marxismus bekannten. Geboren wurde er als Sohn eines Lehrers in Mannheim, Theologie studierte er in Heidelberg, Göttingen und Basel. 1912 trat er in die Sozialdemokratische Partei ein, 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Aus dem Krieg kam er 1918 „völlig vernichtet und zerschlagen“ zurück. „Ich war vor allem im Innersten bedrückt, daß ich das alles nicht habe machen müssen, sondern mitgemacht habe.“ Die Kräfte zur Erneuerung Deutschlands sah er „im Sozialismus und im Evangelischen Christentum der Freiheit, Wahrheit und Arbeit“. 1922 wurde Eckert Pfarrer in Meersburg am Bodensee, 1927 kehrte er nach Mannheim zurück und wurde Gemeindepfarrer an der Trinitatiskirche. Er war ein mitreißender Redner und vertrat seine antimilitaristischen, antifaschistischen und sozialistischen Positionen mit Entschiedenheit und großer Wirkung. Sein offen bekundeter Anspruch, sich aus einer christlichen Motivation heraus für die Lebensinteressen der Arbeiter einzusetzen, fand unter religiös gebundenen Arbeitern große Resonanz.
Die ersten Gruppen religiöser Sozialisten entstanden 1905/06 in der Schweiz. In Deutschland bildete sich ein erster Bund religiöser Sozialisten 1919 in Berlin, parallel dazu entstanden organisierte Gruppen in Baden und Thüringen. Aus ihnen entwickelte sich 1924-1926 der Bund Religiöser Sozialisten Deutschlands mit Neben- und Vorfeldorganisationen. Sein Mitbegründer Eckert amtierte von 1926 bis 1931 als geschäftsführender Bundesvorsitzender. Als Herausgeber und Autor prägte er dessen Zeitung „Der religiöse Sozialist“, das „Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes“. In der Broschüre „Was wollen die religiösen Sozialisten?“ formulierte Eckert 1927 die Mehrheitsmeinung des Bundes als Programm.
Geschichte, Theologie und Wirkung des Bundes sind nicht Gegenstand des Buches. Balzer dokumentiert den sog. Badischen Kirchenkonflikt für die Jahre 1930/31, in dem es dem deutschnationalen Kirchenvorstand der Vereinigten Evangelisch-protestantischen Landeskirche Baden darum ging, sich dem NSDAP-Flügel der Landeskirche als Bündnispartner für die 1932 anstehenden Kirchenwahlen zu empfehlen und zu diesem Zweck dem Bund und dessen Lokomotive Eckert die politische Agitation gegen die Faschisten zu verbieten. Dieser Konflikt mit dem kämpferischen Antifaschisten ist ein Musterbeispiel für den Weg der deutschen evangelischen Kirchenführungen ins „Dritte Reich“. Denn der Bund Religiöser Sozialisten Deutschland war die einzige organisierte Kraft, die sich innerhalb des deutschen Protestantismus dem erstarkenden Faschismus, der unter der Flagge eines „positiven Christentums“ in evangelischen Kirchen und Kirchenleitungen Fuß faßte, dessen Pfarrer Gottesdienste für SA und Stahlhelm zelebrierten, wirksam entgegenstellte. Der Gegensatz stellte sich im Badischen Kirchenkonflikt auch personell dar: Bei allen kirchenamtlichen Prozessen gegen Eckert vertrat Otto Friedrich die badische Kirchenleitung als Ankläger. Friedrich warb nicht nur um die NSDAP- und SA-Pfarrer als Bundesgenossen, er entpuppte sich 1933 auch sehr rasch als Parteigänger der Nazis.
Der Bund Religiöser Sozialisten Deutschlands verstand sich als politische Gegenbewegung gegen die rechtskonservativen, deutschnationalen Kirchenführungen. Wem die badische Landeskirche jener Zeit im Vergleich mit den erzkonservativen evangelischen Kirchenleitungen in Preußen oder Mecklenburg als ein Hort des Liberalismus erschien, fühlte sich vielleicht an die demokratischen Traditionen Badens 1848/49 erinnert. Tatsächlich aber war der Bund auch in Südwestdeutschland eine zwar starke und bei Kirchenwahlen nicht zu vernachlässigende Minderheit in der Kirche. Und die Erfahrungen seiner Mitglieder mit der deutschnationalen Kirchenführung unter dem Landesbischof Nikolaus Wurth ließen alle Illusionen über deren Liberalismus wie Seifenblasen platzen. Bei den Reichspräsidentenwahlen 1925 untersagte die badische Kirchenführung allen Pfarrern, öffentlich gegen Hindenburgs Kandidatur oder gar für einen anderen Kandidaten einzutreten, während sie den Mißbrauch der Kanzeln für die Wahl Hindenburgs forcierte. Ein Jahr später beim Volksentscheid über die Fürstenenteignung verbot der Kirchenpräsident seinen Geistlichen, für die Enteignung einzutreten und erklärte das Eigentumsrecht der Fürsten für heilig. Eckert ließ sich in beiden Fällen nicht das öffentliche Wort verbieten. So war es kein Wunder, daß das Wirken des sozialistischen Pfarrers von seiner Kirchenleitung mit Argwohn und Disziplinarverfahren verfolgt wurde.
Die Tatsache, daß der geschäftsführende Bundesvorsitzende evangelischer Pfarrer war, sollte nicht zu Fehlschlüssen verleiten: Der Bund war weder eine protestantische Vereinigung noch ein Pfarrerbund. Er entstand aus zwei selbständigen Strängen, einmal der bürgerlichen christlichen Friedensbewegung im Ersten Weltkrieg, zweitens aus christlichen Sozialdemokraten. Eckert, seit 1912 Mitglied, zählte in Südwestdeutschland zu den erfolgreichsten Rednern der SPD. Er gehörte zu ihrem linken Flügel und war seit Anfang 1930 Sprecher der linken Opposition (Klassenkampfgruppe) in Baden. Mit der Politik seiner Partei geriet er in scharfen Konflikt, als diese entgegen ihren Wahlversprechen für den Panzerkreuzerbau eintrat, sobald sie wieder an der Regierung war.
Pfarrer wie Erwin Eckert gehörten zu den Initiatoren und führenden Köpfen des Bundes. Doch ihre optische Überrepräsentanz darf nicht übersehen lassen, daß der Bund überwiegend eine Laienbewegung war und die Pfarrer unter den Funktionsträgern eine Minderheit darstellten. Unter den Laien machten Arbeiter die Mehrheit aus. Vor seinem Verbot 1933 gab es elf Landesverbände mit rund 25.000 Mitgliedern. Alle Funktionsträger arbeiteten ehrenamtlich. Da Pfarrer leichter als Arbeiter über ihre Zeit und auch materiell über bessere Voraussetzungen verfügten, konnten sie leichter Funktionen übernehmen. Die badische Kirchenleitung wollte aber nicht tatenlos zusehen, wie der ihr verhaßte Eckert auf der Basis seiner Mannheimer Pfarrstelle den Bund und seine Zeitschriften leitete.
Neben den elf Landesverbänden gab es eine Arbeitsgemeinschaft katholischer Sozialisten und eine Arbeitsgemeinschaft jüdischer Sozialisten. Der Bund praktizierte gegenüber den Juden nicht die antisemitische Politik großer Teile der evangelischen Kirchen. Neben den Arbeitsgemeinschaften gab es noch eine Bruderschaft sozialistischer Theologen, die von den 16.000 evangelischen Pfarrern der Weimarer Republik knapp 200 in ihren Reihen vereinte, die aber keineswegs auch alle dem Bund angehörten.
Der Bund Religiöser Sozialisten Deutschlands war vor 1933 die einzige innerkirchliche Kraft, welche die NSDAP und die Deutschen Christen politisch und theologisch bekämpfte. So wandte sie sich anläßlich der Reichstagswahlen 1924 öffentlich gegen deren Vorläufer: „Schwarz-weiß-rot heißt: für den Rassenhaß, für die Judenhetze, für die Beseitigung des jüdischen Geistes im Christentum sein, heißt, das alte Testament abschaffen, also gegen die Bibel, für Zerstörung des Christentums sein, im Zeichen des Hakenkreuzes.“ Seit 1930 wurde der Kampf gegen den Faschismus zum Hauptthema der Presse des Bundes. Auf dem Kongreß des Bundes 1930 hatte Aurel von Jüchen, ausgehend von den Erfahrungen in Italien, den Faschismus analysiert und geradezu prophetisch vor ihm gewarnt. Während die evangelischen Kirchenleitungen, auch in Baden, den Deutschen Christen alle Tore weit öffneten, bildeten die Mitglieder des Bundes innerhalb der Kirchen die vorderste Abwehrfront. Gemeinsam mit Manfred Weißbecker hat Friedrich-Martin Balzer 2002 die Analysen und Berichte von Erwin Eckert und Emil Fuchs über die letzten Jahre der Weimarer Republik herausgegeben. Sie verdeutlichen, mit welcher Klarsicht und Entschiedenheit diese beiden Vorstandsmitglieder des Bundes den Kampf gegen den Faschismus führten.1
Am 17. Dezember 1930 sprach Erwin Eckert auf einer von der Ortsgruppe der SPD in Neustadt einberufenen öffentlichen Versammlung zum Thema „Die große Lüge des Nationalsozialismus“. Die Versammlung endete in einer von der SA provozierten Saalschlacht. Während die SPD-Ortsgruppe Neustadt die Versammlung, besser geschützt und erneut mit Eckert als Redner, wiederholen wollte, erließ der Evangelische Oberkirchenrat ein Redeverbot für den Pfarrer. Und als Eckert sich dem Verbot nicht beugen wollte, enthob ihn die Kirchenleitung am 3. Februar 1931 kurzerhand seines Dienstes. Die deutschnationale Kirchenleitung unterstützte damit die terroristischen Drohungen der SA und des Stahlhelms, die nach Neustadt angekündigt hatten, öffentliche Reden Eckerts gegen den Faschismus nicht mehr zulassen zu wollen.
Doch der Oberkirchenrat hatte die Rechnung ohne sein Kirchenvolk gemacht. In Baden unterzeichneten rund 100.000 Kirchenmitglieder mit Namen und Adresse eine Protesterklärung, die Eckerts Wiedereinsetzung forderte. Die ungewöhnlich starke Protestwelle in ganz Deutschland und die große Publizität zwangen die badische Kirchenführung, die Suspendierung Eckerts wieder aufzuheben, allerdings mit diskriminierenden Auflagen, an die Eckert sich nicht halten wollte.
Im Oktober 1931 schloß die badische SPD-Führung Eckert aus, weil sie dessen Kritik an ihrer arbeiterfeindlichen Politik in der Weltwirtschaftskrise nicht mehr hinnehmen wollte. Einen Tag nach seinem Ausschluß trat Eckert der KPD bei und gleichzeitig aus dem sozialreformistisch dominierten Bund religiöser Sozialisten aus. Eckert Schritt erregte großes Aufsehen, erstens weil der nach wie vor aktive Pfarrer sich öffentlich zum Marxismus bekannte und zweitens weil die KPD ihn ohne Einschränkungen als Mitglied aufnahm. Schließlich hatte die KPD sektiererisch die ihr am nächsten stehenden linken Sozialdemokraten als schlimmste Feinde beschrieben und den religiösen Sozialismus als „besonders gefährliche reaktionäre Strömung“ bekämpft. Noch 1928 hatte die „Rote Fahne“ geschrieben: „Eine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei ist unvereinbar mit der bei den religiösen Sozialisten.“ (15.9.1928) Im Oktober 1931 dagegen nahm die KPD Erwin Eckert ohne Bedingungen auf. So tolerant war die badische Landeskirche nicht. Wie in den 1890er Jahren im Falle einer SPD-Mitgliedschaft hielt sie nunmehr eine KPD-Mitgliedschaft per se für unvereinbar mit den Dienstpflichten eines Pfarrers. Sie entließ Eckert am 11. Dezember 1931 endgültig aus dem Kirchendienst. Dieser trat daraufhin aus der Kirche aus.
Als Eckert 1974 starb, übernahm Friedrich-Martin Balzer den Nachlaß. Seither forscht er zu Eckert und hat in den über vier Jahrzehnten mehrere Bücher veröffentlicht, die dem mutigen Antifaschisten ein literarisches Denkmal setzen. Die neue Dokumentation enthält außer 66 Beiträgen Eckerts aus den Jahren 1930 und 1931 zum Badischen Kirchenkonflikt, meist in „Der religiöse Sozialist“ veröffentlicht, im vollen Wortlaut die ergangenen kirchlichen bzw. kirchengerichtlichen Urteile sowie zeitgenössische solidarische Stimmen zur Amtsenthebung, zu den gerichtlichen Verfahren und zur endgültigen Dienstentlassung. Der Band bietet daher über die Geschichte des antifaschistischen Kampfes von Eckert hinaus instruktive Einblicke in den Weg einer evangelischen Landeskirche in den Faschismus – und auch in die heute noch weithin unbekannte kirchliche Gerichtsbarkeit.
Als Nachfolger auf der Mannheimer Kanzel Eckerts setzte die Kirchenleitung entgegen dem Gewohnheitsrecht nicht wieder einen Pfarrer des Bundes religiöser Sozialisten ein, sondern ein Mitglied der NSDAP (Friedrich Kölli). Bei den Kirchenwahlen 1932 errangen die „evangelischen Nationalsozialisten“ mit den Deutschnationalen (Positive) eine Zweidrittelmehrheit und schufen als Kirchenleitung „das protestantische Harzburg“ (Heinz Kappes). Diese Badische Kirchenregierung forderte am 12. April 1933, zwei Monate vor dem Verbot der SPD, alle Pfarrer, die dieser Partei angehörten, auf, eine Erklärung abzugeben, daß sie aus dieser Partei ausgetreten seien und weder mittelbar noch unmittelbar marxistische Forderungen und Ziele förderten.
In der Kirchengeschichtsschreibung gilt die Badische Landeskirche für die Jahre 1933-1945 als „intakte“ Landeskirche. Intakt hieß, sie verabschiedete eine neue Verfassung und führte das Führerprinzip ein, die Ämter von Prälat und Kirchenpräsident wurden mit dem des Landesbischofs vereinigt. Zum Landesbischof ernannte der Evangelische Oberkirchenrat D. Julius Kühlewein, der als ehemaliges Mitglied der Kirchenregierung an allen kirchlichen Dienstgerichtsverfahren gegen Eckert mitgewirkt hatte. Stellvertretender Landesbischof wurde Karl Ludwig Bender, der 1933 der NSDAP beitrat. Unter den 27 Pfarrern und Theologen der 1933 neugewählten Synode waren 17 Deutsche Christen. Kirchenwahlen waren nach 1933 abgeschafft. „Intakt“ hieß, von den 750 erfaßten badischen Geistlichen im Jahre 1935 gehörten 127 der NSDAP an, davon 56 schon vor 1933; 17 Geistliche waren fördernde Mitglieder der SS, 96 waren in der SA. Schon vorher hatten 25 Pfarrer einem Freikorps oder einer Grenzschutzformation angehört.
„Intakt sein“ hieß: Erwin Eckart war am 1. März 1933 verhaftet worden, er saß wegen Vorbereitung zum Hochverrat Jahre im Nazizuchthaus und stand danach unter Polizeiaufsicht. Der Bund religiöser Sozialisten wurde 1933 verboten. Nach dem Krieg war Eckert von 1945 bis 1950 Vorsitzender der KPD Badens, 1946 Vizepräsident der Verfassunggebenden Versammlung Badens und Landtagsabgeordneter. Die Kommunalwahlen für den Posten des Mannheimer Oberbürgermeisters bezeugten Eckerts große Popularität (37,5%). Signifikant für die Kontinuitäten der badischen Landeskirche wie der Justiz der BRD sind zwei Sachverhalte: Die alliierte Besatzungsverwaltung unterstützte 1946 den Antrag an die badischen Landeskirche, Eckerts Dienstentlassung aufzuheben und ihn regulär als Pfarrer wieder einzustellen. Der Oberkirchenrat reagierte nicht einmal. Und die Bundesrepublik verurteilte ihn noch einmal für dasselbe Delikt wie die Nazis, für seinen Kampf für den Frieden und gegen die Wiederaufrüstung.
Eines läßt aber aufhorchen: Der gegenwärtige badische Landesbischof Dr. Ulrich Fischer hat für das Buch ein bemerkenswertes Geleitwort geschrieben: Er würdigt Eckert als „einen der bedeutendsten Pfarrer der badischen Landeskirche im 20. Jahrhundert“, als einen politisch denkenden und handelnden Pfarrer, der „aus der sozialen und befreienden Botschaft des Christentums heraus neue Maßstäbe in der Kirche zu setzen suchte, indem er die Benachteiligten der Gesellschaft ansprach, um mit ihnen und für sie ein Stück mehr Gerechtigkeit (...) zu schaffen“. Das Handeln der badischen Kirchenleitung gegen Eckert allerdings als Irritation und Überreaktion verstehen zu wollen, geht an der Sache so vorbei, wie die halbherzige Erklärung der Badischen Kirchenleitung zur Rehabilitation von 1999, die ebenfalls auf Unverhältnismäßigkeit abhob. Juristisch wurde Eckert bis heute nicht rehabilitiert.
Werner Röhr
Humanismus als Erbe
Uwe Jakomeit/Christoph Jünke/ Andreas Zolper, Begegnungen mit Leo Kofler, PapyRossa Verlag, Köln 2011, 208 S., 14,90 Euro
„Das Erbe des alten bürgerlichen Humanismus hat nicht das heutige Bürgertum, sondern der wissenschaftliche Sozialismus und seine politische Verkörperung, die sozialistische Bewegung, angetreten. Wir unterstreichen diese Behauptung gegen die stalinistischen Verfälscher der sozialistischen Lehre …“ So stand es im Juli 1951 in einem Aufsatz von Leo Kofler in der inzwischen längst vergessenen Kölner Zeitschrift „Aufklärung“, die ihm nach seiner Übersiedlung in den Westen Deutschlands frühe Möglichkeiten zum Publizieren gab. Formuliert war damit das Leitmotiv der theoretischen und der pädagogischen Tätigkeit eines sozialistischen Intellektuellen, der gedanklich zu eigenwillig war, als dass er im akademischen Milieu, dem bürgerlichen wie dem linken, in Deutschland-Ost wie in Deutschland-West, einen gesicherten Platz hätte finden können. Christoph Jünke hat in seinem Buch „Sozialistisches Strandgut“ (Hamburg 2007) Leben und Werk von Leo Kofler detailliert beschrieben; die hier vorzustellende Publikation bringt eine höchst anregende Sammlung von Texten, die über persönliche und politische Erfahrungen mit Leo Kofler berichten, als Autoren sind unter anderen Peter Ruben, Ernest Mandel, Heinz Brakemeier, Werner Seppmann und Oskar Negt zu finden, Briefe und Dokumente von Wolfgang Abendroth, Jakob Moneta, Robert Steigerwald, Johannes Agnoli ergänzen das Bild. In Erinnerung kommt damit nicht nur die Titelperson des Buches, sondern auch eine historische linke Szene, in der Leo Kofler sich bewegte, belehrend und anregend, provozierend und Konflikte hervorrufend, stets dazu bereit, sich Opportunitäten zu verweigern.
Leo Kofler (Jahrgang 1907), ostgalizisch-jüdischer Herkunft, war politisch sozialisiert im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit, austromarxistische Theorie und Max Adlers Verlangen nach einem „Neuen Menschen“ haben ihn zeitlebens geprägt. Seine ersten wissenschaftlichen Werke, noch im Schweizer Exil begonnen, boten die Grundlage für eine Professur an der Universität Halle; 1950 musste er die DDR verlassen, die Phase eines „offenen Marxismus“ war dort vorüber. In die damalige westdeutsche Universitätslandschaft (in der Wolfgang Abendroth wie ein einsamer roter Rabe dastand) passte Leo Kofler als „traditioneller“ Marxist, der gegen stalinistische Dogmatisierungen anging, den Antikommunismus jedoch ablehnte, nicht hinein; randständig publizierte er nun in linkssozialistischen Blättern und ging seiner Leidenschaft nach – der „Volks- und Arbeiterbildung“, in Jugendgruppen, beim SDS und in Seminaren der Erwachsenenbildung. „Verborgene Einflüsse“ in großem Umfang schreibt Klaus Vack für die 1950er und 1960er Jahre dem „freien Lehrer“ Leo Kofler zu, auf junge Menschen in linken Organisationen, wo ansonsten das ideelle Erbe der Arbeiterbewegung und auch der bürgerlichen Aufklärung nur selten hervorgeholt wurde. Sehr effektiv hatte der deutsche Faschismus solche Überlieferungen unterdrückt und verdrängt.
Unentwegt und mit viel didaktischem Geschick hat Leo Kofler daran gearbeitet, diesen Bruch zu heilen, wo immer den diversen Herren des Diskurses eine Möglichkeit nonkonformer politischer Bildung abzuringen oder auch abzulisten war.
Der Wandel in der westdeutschen politischen Kultur, wie er mit der Chiffre „1968“ angedeutet ist, eröffnete für Leo Kofler neue publizistische Chancen, er erweiterte das thematische Spektrum seiner Veröffentlichungen, aber dem linken Mainstream dieser Zeit stand er fremd oder kritisch gegenüber. Die Verhaltensweisen der antiautoritären Studenten schienen ihm nicht frei von Irrationalismen, die „Frankfurter Schule“ enthielt seiner Auffassung nach „nihilistische“ Beimischungen. Hinzu kam hier seine ungebrochene Sympathie für Theorieansätze von Georg Lukács. Mit seinem geschichtsphilosophischen Vertrauen in die Überzeugungskraft eines „realen Humanismus“ und in die erzieherischen Fähigkeiten einer „progressiven Elite“ stand Leo Kofler quer zu den Diskurslinien, die für die „68er Linke“ bestimmend waren; andererseits war seine Kritik an „strukturstalinistischer“ Bürokratie nicht kompatibel mit der Organisationswelt alt- oder neokommunistischer Parteien. So blieb er denn ein anregender, theoretische Traditionen vermittelnder und zugleich weiter entfaltender Einzelgänger, in gewisser Weise immer „Austromarxist“ und „Max Adler-Nachfolger“. Die Ruhr-Universität Bochum erwies ihm Respekt, indem sie ihn mit einer Vertretungsprofessur betraute und ihn so endlich doch akademisch lehren ließ. Aus der DDR, die ihn einst verstoßen hatte, nahmen Wissenschaftler wieder Kontakt zu ihm auf. In seinen letzten Lebensjahren (er ist 1995 gestorben) setzte Leo Kofler Hoffnungen in den Gorbatschow-Kurs, in eine Erneuerung des sowjetischen Kommunismus. Die historisch-empirische Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse war nicht seine Sache; es mindert nicht die Hochachtung vor seinem Lebenswerk, wenn man ihn als marxistischen Idealisten begreift.
Eine kleine Korrektur noch zu dem Text von Jakob Moneta in dem hier besprochenen Sammelband: Dass Wilhelm Alff, Herausgeber der Zeitschrift „Aufklärung“, später „nach rechts abgedriftet“ sei, trifft nicht zu. Und eine Empfehlung: Lesenswertes findet sich auf www.leo-kofler.de.
Arno Klönne
Arbeitskämpfe in Patagonien
Oswaldo Bayer, Aufstand in Patagonien, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2010, 423 S., 28,00 Euro
In deutscher Übersetzung von Boris Schöppner liegt nun als autorisierte und stark gekürzte Version der vierbändigen Originalausgabe von „La Patagonia rebelde“ des argentinischen Historikers und Schriftstellers Osvaldo Bayer „Aufstand in Patagonien“ vor. Der Roman rekonstruiert die blutig niedergeworfenen Landarbeiterstreiks der Jahre 1920 und 1921im argentinischen Teil Patagoniens. Anschaulich werden wir in die ärmliche und niederdrückende Lebenswelt der überwiegend chilenischen Landarbeiter (Gauchos) geführt. Ihr entrechtetes Leben kontrastiert mit dem der wenigen Großgrundbesitzer, die – zuletzt mit allen Mitteln – versuchen, Forderungen der streikenden Landarbeiter für einen Mindestlohn, die Zulassung gewerkschaftlicher Organisation und verbesserte „Bedingungen bezüglich Essen und Hygiene an den Orten, die von den Arbeitern benutzt werden“, (56) abzuwehren.
Der im Grunde gewerkschaftliche Kampf ist opferreich und kostet in der Folge etwa 1.500 Landarbeitern das Leben. – Mit den Millionen von Europäern, die nach Argentinien einwanderten, hielt auch die Ideenwelt der europäischen Arbeiterbewegung Einzug. Den Kern der Einwanderung bildeten Italiener und Spanier, die auch die „Ideologie jener Länder und jener Zeit (…): den Anarchismus“ (8) mitbrachten. Diese Vorstellungen bildeten den politischen Hintergrund der gewerkschaftlichen Landarbeiterstreiks.
Die militärische Niederwerfung der Landarbeiterstreiks war vom ersten 1916 aus geheimen und allgemeinen Wahlen hervorgegangenen „liberalen“ Präsidenten zu verantworten. „Ironie des Schicksals“: Der populäre Hipolito Yrigoyen war Vertreter eines „zaghaften Reformismus“ (27), der erst wenige Wochen vor dem Massaker an Arbeitern in Patagonien die Todesstrafe abschaffte (137 u. 141).
Organisatorischer und politischer Kopf der Streikbewegung war Antonio Soto, dessen direkter (militär-)politischer Kontrahent der Regierungsvertreter und Oberstleutnant Varela ist. Im ersten Streik – der „liberalen“ politischen Linie Yrigoyens folgend – war dieser noch zu vernünftigen Kompromissen bereit, der jedoch in der folgenden Streikbewegung mit standrechtlichen Erschießungen und brutaler Härte gegen Streikende vorging. Bayer versucht, diese Paradoxie begreifbar zu machen: Hier der sich positiv auf die Arbeitermassen beziehende Yrigoyen und dort der Regierungschef, der noch härter als jede konservative Vorgängerregierung gegen Streikende vorgeht.
Das vorliegende Buch entreißt die damaligen Vorgänge und Personen dem Vergessen und hebt diese ins politische Bewusstsein. Hier soll stellvertretend die dem Streikführer Antonio Soto Unterschlupf gewährende proletarische Frau Dona Maxima Lista erwähnt werden, die, obwohl sie eher Anarchistin war, der Ansicht war, „dass es die Russische Revolution und Lenin zu unterstützen galt. Trotz ideologischer Differenzen gewährte sie den Verfolgten Unterstützung.“ (Fußnote 22 – S. 83)
Auch der deutsche Anarchist Karl Gustav Wilckens wäre zu nennen, dessen tödliches Attentat auf den verhassten Oberst Varela ihm 1923 in Polizeigewahrsam selbst das Leben kostete (vgl. Bilddokumente S. 296f.).
Die Hauptleistung des Historikers Bayer ist es, die tödliche Repression gegen die Landarbeiter in Patagonien überhaupt erst einer öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht zu haben. Dieses „Trauma“ der argentinischen (Land-)Arbeiterbewegung hat Nachwirkungen bis heute: Die argentinischen Truppen „sollten nicht die kleinste Wurzel des Arbeitertriebs auf patagonischem Boden übriglassen“ (145). Ist es vermessen, in den argentinischen Ereignissen eine weltpolitische Dimension und Blutspur der Reaktion zu sehen, die ihren Ausgangspunkt z.B. in der Ermordung hunderter Revolutionäre in Deutschland 1918/Anfang 1919 hatte?
Thomas Ewald-Wehner
Lenin, Stalin und der Terror
Richard Buchner, Terror und Ideologie. Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus und Stalinismus (1905 bis 1937/1941), Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2011, 546 S., 44 Euro
Dieses Buch liegt quer – in mehrerer Hinsicht. Den traditionellen Kommunisten wird es zu viel Schatten auf die Sowjetunion werfen. Antikommunisten wird die Anerkennung der humanen Ziele des Marxismus und die Berechtigung von Kapitalismuskritik aufstoßen. Marxisten wird der Bezug auf die Totalitarismustheorie stören. Akademische Historiker dürften sich an den ungenügenden Belegen und den moralischen Impetus reiben, während der historisch-politisch Interessierte mit durchschnittlichen Sprachkenntnissen die Berücksichtigung neuester russischer Studien zu schätzen weiß. Kulturpessimisten schließlich werden an dem offensichtlich nicht vorhandenen Lektorat Indizien für den Niedergang des deutschen Verlagswesens entdecken.
Der Autor, promovierter Zeithistoriker, Ex-Lehrbeauftragter am Berliner Otto-Suhr-Institut, jahrzehntelanger Studienrat und heute ehrenamtlich in der Gedenkstätten- und Zeitzeugenarbeit aktiv, beginnt sein Buch mit der Biografie Stalins. Es folgen als Kernstücke die Kapitel „Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus“ und „Die Eskalation des Terrors im Stalinismus“. Ein weiterer Abschnitt widmet sich der „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und seinen Folgen“. Schließlich resümiert Buchner seine Erkenntnisse im namentlich an Hannah Arendt angelehnten, de facto aber Carl Joachim Friedrichs und Zbigniew Brzezinskis Thesen fortschreibenden Abschnitt „Zwölf Elemente totaler Herrschaft – aus der Sicht einer Analyse des Stalinismus“.
Als Schwerpunkt seiner Argumentation könnte man zweierlei herausstreichen: Zum einen geht es ihm um eine Entmystifizierung der Person und Rolle Lenins. Zum anderen ist ihm daran gelegen, das wahre Ausmaß des stalinistischen Terrors ins Bewusstsein zu rufen, um auf diese Weise den Opfern ein würdiges Gedenken zu bereiten, welches nicht die Singularität des Holocaust in Zweifel zieht, wie der Autor nicht müde wird zu wiederholen. So gelte es aus deutscher Sicht als erstes der NS-Opfer und an zweiter Stelle der Stalinismus-Opfer zu gedenken (482).
Die Bild Lenins wird mit dem ehemaligen sowjetischen Generaloberst und späteren – durchaus umstrittenen – Historiker Dimitrij Wolkogonow gezeichnet. Demzufolge sei Lenin nicht der geniale Revolutionär gewesen, sondern Putschist, der seine bzw. die Ziele der Bolschewiki mit verbrecherischer Härte durchsetzte. Buchner beschreibt Lenin als Schreibtischmörder (261), der eigenhändig Mordlisten unterschrieben hat und im September 1918 die Einrichtung von Konzentrationslagern anordnete, sowie den Leninismus als Prä-Stalinismus (257). Diese Revision des Lenin-Bildes, die eine „positive Würdigung … nicht mehr – selbst wenn man dem jungen Lenins Bewunderung nicht versagt“ (258) – möglich macht, gehe vor allem auf eine Vielzahl von neuen Archivfunden seit 1990 zurück: „Wie negativ, in Wahrheit desaströs diese Bilanz des Leninismus durch den heutigen internationalen Forschungsstand ausfällt, wenn man sich dem neuen Beweismaterial aus den Geheimarchiven nicht verweigert, war auch für mich selbst (trotz einiger Insider-Kenntnis über das Alltagsleben in der UdSSR), nach jahrelanger wissenschaftlicher Recherche teilweise erstaunlich,“ schreibt Buchner.
Er stößt damit in ein ähnliches Horn wie die 2010 aus dem Nachlass herausgegebene Leninbiografie des bekannten DDR-Historikers und langjährigen Gulag-Häftlings Wolfgang Ruge.
Das wahre Ausmaß der stalinistischen Verbrechen ist jenseits abstrakter Zahlen immer noch nicht wirklich präsent, was auch daran liegt, dass die geschichtliche Forschung mit der Öffnung der Archive im Zuge der Implosion des sowjetischen Reiches im Fluss ist und viele Ergebnisse nur zeitverzögert ins Deutsche übertragen werden. So gelten, auch diesen Aspekt greift Buchner auf, die Jahre 1937/38 zwar als Jahre des Großen Terrors. Doch überwiegend werden damit gemeinhin lediglich die Schauprozesse gegen die alte bolschewistische Garde verknüpft. Der Große Terror war jedoch vielmehr ein Großer Terror, weil er sich z.B. in Gestalt des Befehls 00447, auch Kulakenoperation genannt, gegen einfache sowjetische Bürger richtete. Allein aufgrund dieses Befehls wurden 350.000 bis 445.000 Menschen erschossen. Zusammengenommen mit den sogenannten Nationalitätenoperationen (vor allem gegen Polen) wurden in diesen beiden Jahren bis zu 700.000 Menschen ermordet. Alle Zahlenangaben, betont Buchner, sind dabei mit Vorsicht zu genießen, denn eindeutige Angaben lassen sich im Nachhinein nicht mehr machen.
Über die verheerende Kollektivierung der Landwirtschaft ab 1932 weiß Buchner mit Bezug auf Churchill zu berichten, dass dieses Jahr die schwerste Zeit in Stalins Lebens gewesen sein soll – schwieriger selbst noch als das Jahr 1941. Dieser soll im Gespräch mit Churchill sogar eine ungefähre Zahl der Opfer infolge der gewaltsamen Kollektivierung genannt haben: Zehn Millionen (287) sollen demzufolge den Tod gefunden haben. Bis 1991 habe sich die sowjetische Landwirtschaft nicht von diesem Schrecken erholen können (281).
1941 – das Jahr des Überfalls der Wehrmacht Hitlers auf die UdSSR: Buchner beschönigt keineswegs den Charakter des deutschen Vernichtungskriegs und die unzähligen Opfer, die die Sowjetunion durch diesen zu beklagen hatte. Er argumentiert indes, dass die Politik Stalins das zunächst schnelle Vordringen der deutschen Truppen ermöglicht habe. Denn 1937/38 „säuberte“ Stalin auch innerhalb der Roten Armee. Sein Motiv dabei war, nach den Machtfaktoren Partei und Geheimpolizei nunmehr auch die Armee unter seine Kontrolle zu bringen. Stalin habe mit diesen Massenmorden de facto sogar die Existenz der Sowjetunion aufs Spiel gesetzt (382). Der Verfasser führt neben dem Motiv Machtsicherung- und -ausbau noch ein zweites an: Stalins „mörderischer Antisemitismus“, ja gar „eliminatorischer Antisemitismus“. (ebd.) Insbesondere die Charakterisierung des Stalinschen Antisemitismus als eliminatorisch muss aber widersprochen werden. Wenngleich Stalin insbesondere in seinen späten Jahren antisemitisch Einstellungen offenbarte, so ist diese Beschreibung, die durch Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ geprägt ist, irreführend und hat den Ruch des Relativierenden. Nicht nur an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob der wiederholende Verweis auf die Singularität der Naziverbrechen, nur ein Lippenbekenntnis ist.
Höchst zweifelhaft ist des Weiteren, ob man die bekannte Warnung vor Hitlers Kriegsabsichten (Wer Hitler wählt, wählt den Krieg) auf Stalin übertragen kann (377). Zwar ist es richtig, auf die gemeinsame Zerschlagung und Besetzung Polens etc. durch die Sowjetunion und Deutschland hinzuweisen. Doch berücksichtigt der Autor zu wenig, dass die politische Führung der Sowjetunion sich seit ihrer Gründung quasi als belagerter Festung wahrnahm – bedroht durch imperialistische Interventionen, weißen konterrevolutionären Terror und später durch das faschistische Deutschland. Dieser Hinweis soll nicht die Politik Stalins rechtfertigen, sondern nur den Hintergrund andeuten, vor dem sich das Handeln Stalins vollzog.
Man könnte an Buchners Argumentation im Detail noch vielerlei kritisieren. Das Resümee an dieser Stelle ist, dass das etwas sperrige, unstrukturierte und eigenwillig gelayoutete Werk durch die Präsentation vieler neuer, gerade auch russischsprachiger Publikationen, einen guten Überblick über die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte gibt, zur Korrektur herkömmlicher Sichtweisen beiträgt, aber auch zu Widerspruch herausfordert.
Guido Speckmann
Meinungsmacht als Form der Diktatur
Albrecht Müller, Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denke abgewöhnen wollen, Droemer, München 2009, 493 S., 9,99 Euro
Wer wissen will, „wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen“, so der Untertitel des Buches, kommt in der Tat um Müllers Werk nicht herum. Und die Lektüre lohnt sich! Ein Riesenberg von Fakten wartet auf den Leser. Ob dieser allerdings das Vielerlei für sich selbst gedanklich sortieren und argumentativ verarbeiten kann, ist im Interesse des Buchautors nur zu hoffen. „Mit der Lektüre dieses Buches“, schreibt Müller, „wird Sie vermutlich nicht nur Zorn über den Missbrauch Ihres Vertrauens erfassen. Sie werden beim Lesen auch mehr und mehr spüren, dass es Lust bereitet, sich nichts vormachen zu lassen, selbst zu denken und seinen Gedanken wieder eine Stimme zu geben. Sie werden spüren, dass es gut tut, wieder zweifeln zu lernen.“ (16) So ist es!
Allein schon der Orientierung wegen wäre für die nächste Auflage dieses Buches ein Sach- und Personenregister zu wünschen. Und nicht nur das – auch die angesprochene Neuauflage ist angesichts der hohen politischen Relevanz des Themas ein Gebot der Stunde. Auf dem bundesdeutschen Büchermarkt sucht man ein ähnliches Werk, vor allem in dieser Güte, vergebens.
Müller ist in seinen Werturteilen nicht zimperlich: „Meinungsmacht“ ist „die eleganteste Form der Diktatur“ (128) oder das, „was wir täglich hören und sehen und was uns als demokratisch gesonnene Staatsbürger häufig das Leben so schwer macht, sind in Wahrheit Mythen, Legenden und Lügen. Sie bestimmen in weitem Maß die öffentliche Debatte und damit auch die politischen Entscheidungen“. (11). Pure Polemik? Mitnichten! Müller liefert Beweise gleich serienweise.
Eine vertrackte Situation: Die Stärken des Buches (viel vereinzelte Empirie) sind gleichzeitig seine Schwächen (Empirie hängt theoretisch in der Luft, ohne begründete Systemlogik). Jahrelang war Müller an den Schalthebeln der Staatsmacht, konzipierte als Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt diverser Bonner Regierungen von Brandt bis Schmidt, politische Kampagnen der ganz großen Art (Ostverträge und NATO-Raketenbeschluss), diente sozialdemokratischen Spitzenpolitikern als Redenschreiber, prägte die Wahlkämpfe der SPD in den 1970er und 80er Jahren. Sein Job in dieser Zeit: „Die Wege der Meinungsmache“ zu „beobachten“ und „Strategien“ der „Meinungsbeeinflussung“ zu „entwickeln.“ (9)
Wenn man so will, ist der Autor verführerisch „überqualifiziert“, um distanziert und analytisch souverän das Thema abzuarbeiten. Überraschend ist, dass Müller an keiner Stelle den nahe liegenden Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus benutzt, obwohl er für die SMK-Theorie Stein für Stein den empirischen Unterbau liefert. So darf es als Ironie der linken Gesellschaftsanalyse gelten, dass ein überzeugter und bekennender Linkskeynesianer, wie Müller es ist, mit seinen Studien den Vorwurf der selbst ernannten „nichtrevisionistischen Linken“ gegenüber der SMK-Theorie der marxistisch-leninistischen Parteien (so in den 1980er/90er Jahren), diese reduzierten das komplexe Geflecht zwischen Politik und Ökonomie in den hoch entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften auf eine simple „Agenten“ bzw. „Verschwörungs“-Theorie – gewiss unbeabsichtigt – als haltlos widerlegt.
Albrecht Müller, ein Praktiker mit beeindruckender Lebenserfahrung, lässt die Leser, aus dem Nähkästchen plaudernd, hinter die so genannten Kulissen der bürgerlichen Herrschaftssicherung schauen (nicht nur im Abschnitt „Über Personalentscheidungen bestimmt die Meinungsmache“, 357ff.). Müller, langjähriges SPD-Mitglied, bedauert zutiefst: „Die SPD ist über weite Strecken fremdbestimmt“ (353); und illustriert mit konkreten Beispielen: „Viele Personalentscheidungen der SPD sind schon seit langem medial bestimmt“ (358).
Keine Frage, wer am ganz großen Rad der „Meinungsmache“ drehen möchte, hat mit dem vorliegenden Buch eine Art Gebrauchsanleitung („To-do-Liste“). Doch, was kann der gemeine Leser damit anfangen! Müller ist Täter und Opfer in einer Person. Etwas kokett schreibt er in seiner Vorbemerkung: „Ich bin also persönlich geprägt und beruflich vorbelastet.“ (9).
Dass Müller auch aus seiner Haut schlüpfen kann, beweist er seit mehreren Jahren täglich mit seinem beliebten und vorbildlichen Internetprojekt „NachDenkSeiten.de“: So wäre es für die demokratischen Kräfte bedeutsam zu wissen, welche einschlägigen Erfahrungen Müller damit gesammelt hat, geht es doch bei seinem Internet-Engagement gerade darum, der offiziellen Meinungsmache aufklärerisch entgegen zu wirken.
Müllers ökonomische Ausführungen im Buch (und auf seiner Website) sind vorwiegend linkssozialdemokratischer Natur, im Buch verpackt in Kapiteln wie „Meinungsmache prägt wirtschaftliche Entscheidungen“ (77-82) oder „Meinungsmache bereitet Kriege vor“ (82-89). Den Neoliberalismus als undemokratische und unsoziale Herrschaftsideologie zu entlarven, ist sein oberstes Anliegen. „Die neoliberale Bewegung hinterlässt eine Spur der Verwüstung und der Plünderung“ (183).
Im wichtigen, leider viel zu kurzen 10. Kapitel „Die Methoden der Meinungsmache“ gibt Müller den Hinweis: „Die gängigste Methode ist die Wiederholung.“ (129) Leider außerhalb dieses Zusammenhangs klärt er auf: „Das TINA-Prinzip (There Is No Alternative – HL.) beherrscht weite Bereiche unserer Politik und hat sich in viele Köpfe eingefressen“ (59).
Erst gegen Ende des vielseitigen Werkes kommt mit dem Kapitel 22 „David gegen Goliath“ Spannung auf. Hier beschäftigt sich Müller mit der demokratischen Gegenbewegung und feuert die Leser im Stil der 68er Studentenbewegung geradezu enthusiastisch an: „Schafft ein, zwei, viele Gegenöffentlichkeiten!“ (424-437). Gut, und wie? Dumm nur, dass das Buch gerade hier am Ende ist. Gern hätte man von einem so kompetenten Polit- und Medienprofi noch erfahren, welche konkreten Wege er vorschlägt: Den Artikel 20 des Grundgesetzes zitierend schlussfolgert er abwinkend: „Also sind wir auf uns selbst gestellt. Die Möglichkeit zum Widerstand liegt unter Umständen genau da, wo die Herrschenden ansetzen, um die Mehrheit der von ihnen Drangsalierten auf ihre Seite zu ziehen: Im Versuch, Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Meinungsbildung, im Aufbau einer Gegenöffentlichkeit.“ (28)
Keine Frage, Albrecht Müller setzt auf die Strategie der (autonomen) „Gegenöffentlichkeit“ und plädiert nicht dafür, dass die Fortschrittskräfte, vorrangig oder gar ausschließlich im Rahmen der etablierten Strukturen eine „Aufklärungsarbeit“ betreiben sollten. – Ist diese Grundsatzfrage einmal geklärt (man muss die Lösungswege ja nicht alternativ sehen), fängt die demokratische Bewegung genau an diesem Punkt die eigentliche Arbeit an – noch schweigt sie sich aus. Die Diskussion kann beginnen ... Auch in „Z.“!
Horst Löffler
Postmoderner Marxismus?
Thomas Metscher, Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 2010 (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 60), 493 S., 49,80 Euro
Der vorliegende Band darf gewiss als gesellschaftstheoretisch-philosophische summa theoretica des Autors verstanden werden, auch wenn dieser im Vorwort ausdrücklich von einem „Entwurf von Gedanken“ spricht (15). In diese Studie haben viele Kategorien und Gedanken Eingang gefunden, die bereits in vorangegangenen Publikationen entwickelt wurden und hier nun im Zusammenhang präsentiert werden.
Das Vorwort weist ausdrücklich darauf hin, dass das Buch von der Textorganisation her so angelegt ist, dass es auch abschnittsweise gelesen oder als Referenztext für Detailfragen genutzt werden kann (und wohl auch ausdrücklich soll). Diesem Anspruch trägt eine recht strenge Gliederung mit einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis Rechnung. Dass es dabei zu Wiederholungen kommen muss, ist wohl unumgänglich. Diejenigen, die den gesamten Text lesen, werden sich dennoch das eine oder andere Mal darüber ärgern.
Argumentativer Kern des Bandes ist der zweite Teil (Der Logos im Wirklichen. Zu einer Ontologie des gesellschaftlichen Bewusstseins). Teil I stellt vorab noch einmal das Konzept eines „integrativen Marxismus“ vor, der dritte Teil besteht aus einem thesenhaften Umriss einer Ästhetik- und Kulturtheorie. Die drei Teile bilden zwar einen argumentativen Zusammenhang, sind aber auch unabhängig voneinander mit Gewinn zu lesen. Allerdings enthalten der erste und der letzte Teil im Wesentlichen Erörterungen, die schon aus vorangegangenen Veröffentlichungen bekannt sind, bieten folglich wenig Neues.
Metscher wählt den Begriff „Logos“ mit Bedacht – ist dieser doch umfassender als z.B. ‚Geist’, ‚Bewusstsein’, ‚Denken’ oder ‚Ideologie’ und umgreift alle ideellen Aktivitäten und Potentiale des Menschen. Gewonnen wird der Begriff im direkten Rückgriff auf die Kategorie der „gegenständlichen Tätigkeit“, wie Marx sie in den Thesen ad Feuerbach vorstellt. Unabhängig von historischen und kulturellen Grenzen und Unterscheidungen ist diese gegenständliche Tätigkeit eine onto-anthropologische Konstante aller theoretischen und praktischen Aktivitäten des Gattungswesens Mensch und weist über den Arbeitsbegriff deutlich hinaus. Das menschliche Weltverhältnis wird auf allen Ebenen von gegenständlicher Tätigkeit geformt, gleichzeitig formt und verändert die Gattung ihre Welt. Aus der „materiellen Verfasstheit der menschlichen Individuen, die, um zu überleben, gezwungen sind, ihre Lebensmittel selbst zu produzieren“ (168) folgt sowohl die „Einheit der Vernunft“ (ebd.) als auch ihre Universalität. Die Strukturen der sinnlich gegenständlichen Tätigkeit fundieren auch die Strukturen menschlicher Wahrnehmung, Erkenntnis, Weltbilder, Vernunft. Diese Strukturen fasst Metscher unter dem Begriff des ‚elementaren Logos’ (129). Dieser ist als das Fundament des gesamten Kosmos an höchst unterschiedlichen, disparaten, widersprüchlichen, vielschichtigen Bewusstseinsformen zu sehen. ‚Einheit der Vernunft’ ist ein Strukturbegriff. Metscher betont, dass der Universalitätsanspruch nicht im Widerspruch zur Pluralität der Weltanschauungs- und Bewusstseinsformen steht und spricht von der „Einheit in der Differenz“ (169).
Der Logos tritt als gesellschaftliches Bewusstsein in unterschiedlichen Formen auf. Diese lassen sich im Wesentlichen als Wissensformen charakterisieren. Diese wiederum werden in zwei große Gruppen differenziert, den „symbolischen Logos“ (278ff.), dem Religion, Mythos und Kunst zugeordnet werden, und den „begrifflichen Logos“ (288ff.). Letzterem gehören Wissenschaft und Philosophie zu.
„Erste Wirklichkeit des Logos“ (172) ist die Sprache. Metscher leitet auch die Sprache aus der gegenständlichen Tätigkeit ab und besteht auf einem grundsätzlichen Weltverhältnis der Sprache. „In der Sprache ist erfahrene Wirklichkeit als erkannte und gedeutete präsent.“ (197) Sprache ist die unverzichtbare Voraussetzung für die Aneignung von Wirklichkeit. Diese „wird erst durch die epistemisch-sprachliche Erschließung zum Für-sich menschlicher Welt“ (208).
Der sprachlich-begriffliche Logos ist das zentrale Medium der Erkenntnis von Welt und der Entstehung von Weltbildern, die jeder Sprache implizit sind. Allerdings beharrt Metscher darauf, dass nicht allein der wissenschaftliche Weg erkenntnis- und wahrheitsfähig ist. Er stellt dem begrifflichen Logos den ästhetischen Logos an die Seite und schreibt diesem eine „gleichrangige Reichweite der epistemischen Welterschließung“ zu (287).
Alle Objektivationen menschlicher Tätigkeit (sei diese nun sinnlich-praktisch oder geistig-theoretisch) bilden eine dialektische Einheit im gemeinsamen Gefüge von Naturwirklichkeit und gesellschaftlicher Wirklichkeit und unterliegen historischem Wandel. Alle Phänomene menschlicher Welt sind als „werdend-gewordene“ (115, 163) zu denken – einschließlich des Menschen selbst.
Folglich ist der Verstehensprozess unabschließbar, auch Wahrheit ist historisch aufgefasst. Ein Marxismus, der „zukunftsfähig“ (24) sein will, muss nicht nur vorurteilsfrei wirklichkeitsadäquate Erkenntnisse und Ergebnisse integrieren, sondern auch bereit sein, bereits gewonnene Einsichten zu hinterfragen und darauf hin zu überprüfen, ob sie der sich ändernden Wirklichkeit noch angemessen sind. In diesem Zusammenhang fordert Metscher ausdrücklich auch die Entwicklung einer „Kultur des innermarxistischen Disputs“ (25).
Es gelingt dem Autor mit einiger methodischer Konsequenz ein Entwurf, der das Festhalten an der Einheit der Vernunft in globalem Maßstab erlaubt. Auch die Ableitung der spezifizierten Logoskategorien kann überzeugen. Allerdings folgt aus der Argumentation ein Problem, das im Text nicht benannt wird und auch keine implizite Lösung findet, nämlich die Frage, wie Ideologie von Wissen oder Wahrheit zu unterscheiden ist. Jedes Wissen, egal welcher Art und Herkunft, hat den elementaren Logos als Basis und erscheint in der Form von Symbol oder Begriff. Die Darstellung erfolgt in Zeichen. Metscher macht nicht den Fehler, Ideologie auf ‚falsches Bewusstsein’ zu reduzieren oder universale Wahrheitsansprüche für einzelne Weltanschauungen zu beanspruchen. Sein Ideologiebegriff ist weiter gefasst, allerdings nicht so weit, dass kurzerhand alles zu Ideologie erklärt würde. Ob und wie dieser Begriff abgrenzbar ist, wie Distinktionskriterien aussehen könnten, lässt der vorliegende Band offen.
Bemerkenswert ist, dass der Autor – zweifellos ohne eigene Absicht – in der Konsequenz seiner Überlegungen in etwa dort ankommt, wo z.B. J.F. Lyotard ebenfalls angelangt ist. Zwar geht Metscher von einer anderen Basis aus (gegenständliche Tätigkeit und nicht die Sprache als Erstes), die Parallelen in der Argumentation sind aber schwer zu übersehen. Aus Metschers Entwurf lässt sich kein hierarchisierbares System an Erkenntnis- oder Wissensformen gewinnen, dafür aber die Begründung für ein gleichberechtigtes Nebeneinander unterschiedlicher Theorien und Weltanschauungen (oder, um es mit Lyotard zu sagen: ‚Diskursarten’). Auch die Funktion des Ästhetischen hat Berührungspunkte mit der Ästhetik Lyotards. Auch wenn Relativismus und die viel gescholtene postmoderne Beliebigkeit sicher nicht intendiert sind – argumentativ, abgeleitet aus Metschers Grundlegung, lassen sich schwerlich die Grenzen gewinnen, die eine fundierte Unterscheidung erlauben.
Metscher versucht, dem selbst gestellten Anspruch an einen integrativen Marxismus gerecht zu werden, was man besonders im Sprachkapitel sehen kann. Nicht nur die besondere Bedeutung, die der Sprache in Metschers Entwurf zukommt, sondern auch die Tatsache, dass er quasi versucht, Wittgenstein vom Kopf auf die Füße zu stellen, macht dies deutlich. Auch die Exkurse (besonders zu Habermas und Sandkühler) belegen das Bemühen, Wissen auch im nicht-marxistischen Theorieuniversum zu gewinnen und nutzbar zu machen.
Leider verfährt der Autor auch im vorliegenden Band mit der sogenannten Postmoderne nicht den selbst formulierten Ansprüchen gemäß. Pauschal wird postmodernes Denken als „ideologische Formation“ (376ff.) abgetan und einmal mehr dem Irrationalismus zugeordnet. Warum postmodernes Denken immer noch als epochenprägend wahrgenommen wird, obwohl „der Besenwagen der Postmoderne explodiert ist“ (Matthias Deutschmann), bleibt unklar.
Es muss hier festgestellt werden, dass dieses pauschale Urteil wohl auf mangelnde Kenntnisse zurückgeht. Weder im Text noch in der Bibliographie finden grundlegende Texte postmoderner Vordenker (z.B. Derrida, Lyotard) Erwähnung. Das pauschale Urteil des Autors entstammt folglich eher einem ‚Lesen über’, nicht einer fundierten Textkenntnis. Eine intensive Auseinandersetzung mit einigen Entwürfen postmoderner Theoretiker könnte durchaus zu interessanten Erweiterungen im Rahmen eines „Integrativen Marxismus“ führen.
Für Metscher ist theoretische Auseinandersetzung nie Selbstzweck sondern zielt auf Veränderung der Lebenspraxis und Lebenswirklichkeit. Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Individuen sich frei, selbstbestimmt und gleichberechtigt entfalten können. Diesem Ziel sollen Wissenschaft und Künste sich verpflichtet fühlen. Die erkenntnistheoretische Gleichstellung des Ästhetischen mit dem wissenschaftlichen Logos kann wohl nur als regulative Idee aufgefasst werden. Auch wenn den Künsten zweifellos Wahrheitsfähigkeit zukommt, so ist doch eine qualitative Unterscheidung der Erkenntnismodi nicht zu leugnen. Daran ändert auch die Unterscheidung „zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit“ (474) (= wissenschaftlicher und ästhetischer Wahrheit) nichts. Die Befreiung des Menschen kann sicherlich nicht aus den Künsten hervorgehen, auch wenn es historische Beispiele gibt, wo die Künste in der vordersten Linie des historischen Prozesses standen.
Logos und Wirklichkeit leistet für die aktuelle Diskussion einen herausragenden Beitrag. Der Autor zeigt, wie auf der Grundlage der Marxschen Methode und unter konsequenter Anwendung der Kernkategorien (Tätigkeit, Historizität, Dialektik) eine Theorie gewonnen werden kann, die prägnant genug ist, die Gegenwart in ihren wesentlichen Bewusstseinsformen zu analysieren, gleichzeitig aber auch offen genug, um ohne teleologische Spitzfindigkeiten zukunftsfähig zu sein. Aufbauend auf dem von Metscher vorgelegten Entwurf sollte es möglich sein, auch die vom Autor nicht ausgearbeiteten Punkte (besonders ein zeitgemäßer Wahrheitsbegriff) sowie die nicht oder nur in Ansätzen bearbeiteten Themenkomplexe (z.B. eine entwickelte materialistische Sprachphilosophie sowie eine Theorie der Vergesellschaftung von Bewusstsein im Zeitalter von Google und Facebook) in den Blick zu nehmen. Dabei könnte es sich lohnen, auch mal bei Autoren nachzuschlagen, die sonst nicht im Lektürekanon vertreten sind (Derrida, Lyotard und Virilio z.B.).
Edgar Radewald
1 Übersetzungen durch den Rezensenten.
2 Ich stütze mich hier auf die m.E. immer noch lesenswerte Darstellung der sowjetischen Debatten um die asiatische Produktionsweise bei Reinhart Kössler (1982)
1 Lutz Zündorf, Das Weltsystem des Erdöls. Entstehungszusammenhang, Funktionsweise, Wandlungstendenzen, Wiesbaden 2008.
1 Erwin Eckert/Emil Fuchs: Blick in den Abgrund. Das Ende der Weimarer Republik im Spiegel zeitgenössischer Berichte und Interpretationen, hrsg. von Friedrich-Martin Balzer und Manfred Weißbecker. Mit Nachbetrachtungen von Georg Fülberth. Reinhard Kühnl, Gert Meyer, Kurt Pätzold und Wolfgang Ruge, Bonn 2002