Am 18. August 2016 verstarb Kurt Pätzold, zweifellos einer der produktivsten und bedeutendsten Historiker der DDR. Die von materialistisch-dialektischem Denken geleitete Schar der Geschichtsschreiber erlitt herben Verlust. Sie verlor einen beharrlichen Weggenossen im Bestreben, möglichst Nutzbringendes und Ersprießliches zu leisten, Anerkennenswertes zu schaffen, nach Verhältnissen zu streben, in denen Gerechtigkeit und friedliches Miteinander dominieren können. Sein Tod riss eine große Lücke auch in die heutige deutsche Geschichtswissenschaft, selbst wenn er seit 1990 nicht mehr der offiziell an Universitäten und Instituten organisierten Zunft angehören durfte. Jedoch: Ihn zur Kenntnis zu nehmen und ihn als einen der führenden Köpfe in der „zweiten Wissenschaftskultur“ Deutschlands (Walter Schmidt) zu akzeptieren, daran führt kein Weg vorbei. Nachrufe bezeugen dies eindrucksvoll.[1]
Seit seinem Geschichtsstudium an der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität befasste Kurt Pätzold sich mit dem verhängnisvollen Wirken jener Kräfte, die sich im 20. Jahrhundert dem historischen Fortschritt in den Weg stellten, indem sie die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu revidieren trachteten, den parlamentarisch-demokratisch verfassten Weimarer Staat zerstörten und eine massenmörderische Diktatur errichteten. Sein Blick galt dem Weg, den die deutschen Faschisten – sich selbst als „Nationalsozialisten“ tarnend – im Bunde mit großbürgerlichen und militärischen Eliten in den Zweiten Weltkrieg gegangen sind. Seine Sicht auf die Wurzeln der braunen Barbarei erwuchs stets aus einer komplexen Kenntnis von Strukturen und Entwicklungssträngen der kapitalistischen Gesellschaft. So konnten ihn jene Vorwürfe einer „ökonomistischen“ Deutung des Faschismus nicht treffen, die seit eh und je gesellschaftskritischen, erst recht marxistischen Historikern gemacht worden sind, wider besseres Wissen auch immer noch erhoben werden. Jeder unvoreingenommene Blick in seine biographischen Arbeiten über Adolf Hitler, Rudolf Heß, Julius Streicher, Hans Frank, Alfred Jodl oder Arthur Seyss-Inquart genügt, ebenso die Kenntnis des von ihm gemeinsam mit anderen herausgegebenen Bandes „Biographien zur deutschen Geschichte“ oder auch die gemeinsam mit dem Autor dieses Beitrages verfassten Publikationen zur Geschichte der NSDAP.
Unter den Faschismusforschern der DDR gehörte Kurt Pätzold zu den wenigen, die sich intensiv mit der nationalsozialistischen Ideologie und insbesondere mit der rassistisch-antisemitischen Judenverfolgung befassten. Mehrere Publikationen bezeugen das Geschick, tief in das Geschehene einzudringen, es in nahezu literarischem Stil darzustellen und die Vielgestaltigkeit von Ursachen-Bündeln zu verdeutlichen. Zum Thema Antisemitismus veröffentlichte er 1975 erste Ergebnisse seiner Forschungen in dem auch heute noch lesenswerten Band„Faschismus – Rassenwahn – Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935)“. Dem folgte 1988 ein gemeinsam mit Irene Runge erarbeitetes Buch über die Pogromnacht im November 1938.Danach publizierte er in den 90er Jahren – teils gemeinsam mit Erika Schwarz erarbeitet – die Bände „Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942“, „Tagesordnung Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942“ und „Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof. Franz Novak, der Transportoffizier Adolf Eichmanns“.
Wie viele andere Wissenschaftler der DDR verlor auch Kurt Pätzold nach der „Wende“ von 1989/90 seine Anstellung an einer deutschen Universität. Eine abenteuerliche, in sich widersprüchliche und wohl doch bewusst gewählte Begründung sollte ihn und mehr noch sein Geschichtsverständnis, seine Sicht auf den absoluten Tiefpunkt deutscher Geschichte treffen. Das mag sein hartes, aber doch eindeutiges und treffendes Urteil erklären: Was von manchen als Prozess einer „Erneuerung“ ostdeutscher Hochschulen betrieben und beschrieben wurde, sei auch eine „Geschichte von Ignoranz, Fälschung und Heuchelei.“ Es misslang indessen, was versucht worden war: Er verstummte nicht. Im Gegenteil. Noch deutlicher als zuvor, noch intensiver und umfangreicher trat er in Erscheinung, das Instrumentarium kritisch-dialektischer Analyse glänzend beherrschend. Ihm ging es dabei immer auch um eine kritisch-kreative Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR, mit seiner eigenen Biografie, dabei turmhoch über allerlei Rechtfertigungsprodukten oder Verdammungsschriften stehend, was vor allem sein Buch „Die Geschichte kennt kein Pardon“ (2008) belegt. Den guten Traditionen deutscher Historiker folgend bewegte er sich nun erst recht in seiner Zeit, diese nicht allein kontemplativ betrachtend, sondern zugleich mit dem Ziel verknüpfend, sie bewegen, sie verändern zu wollen. Eine andere Welt als die kapitalistisch geprägte anstreben, eine menschlichere Form gesellschaftlichen Zusammenlebens gewinnen wollen – dies könnte als innere Triebkraft seines Strebens und Wirkens verstanden werden.
Mit den Mitteln des Historikers, eines parteilichen wohl, nicht eines parteiischen, bezog Kurt Pätzold vor allem Position gegen einen im neuen Zeitgeschehen dominierenden Geist, der hauptsächlich von einem „Koste-es-was-es-wolle“-Denken und unerbittlichem Willen zu Profitmaximierung geprägt erscheint, demzufolge auch von nur notdürftig verbrämter sozialer Kälte, von zunehmendem Demokratie-Abbau, von eiferndem Überwachungswahn und sogar – besonders abscheulich – von teils geduldetem, teils gefördertem rechtsextremen Ungeist und schamloser Rechtfertigung neuerlichen Kriegstreibens.
Kalkül und Wahn
Kurt Pätzold konnte noch kurz vor seinem Tod das gedruckte Ergebnis seiner Beschäftigung mit den Ursachen und Plänen, die zum 22. Juni 1941geführt hatten, in den Händen halten. Erst jetzt erschienen die beiden Bände, die sich mit der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 befassen. In allen Texten spiegeln sich seine in den letzten Jahren intensiv betriebene Bemühung um eine erneuerte marxistische Faschismustheorie[2], in der vor allem Zusammenhänge von wirtschaftspolitischem Kalkül und ideologischem Wahn der „nationalsozialistischen“ Führung sowie die Frage nach dem Denken und Verhalten der Volksmassen einen zentralen Platz einnehmen. Dafür Quellen und Dokumente – bekannte ebenso wie bislang ungenutzte oder gering beachtete – zu erschließen, betrachtete er als eine wesentliche Voraussetzung für eine materialistisch-dialektische Analyse und Wertung jenes Geschehens, das in den geschichtspolitischen Kämpfen unserer Zeit nach wie vor zu den bevorzugten Themen gehört. Ohne eine solche Grundlage ließen sich, so sein Credo, keine dem historischen Fortschritt dienende Schlussfolgerungen ziehen.
Keinen Zweifel lässt Pätzold aufkommen an der Tatsache, dass das, was am 22. Juni 1941 begann, ein imperialistischer Eroberungs- und Vernichtungskrieg gewesen ist, in dem es um Land und Öl, um Bodenschätze und Arbeitssklaven sowie um die Ausrottung des „jüdischen Bolschewismus“ ging, von den Nazis verklärt als ein präventiv notwendiger „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“. In einer Zeit, in der das deutsch-russische Verhältnis erneut einen Tiefpunkt erreicht hat und vor allem in den großen Medien russophobe Tendenzen breiten Raum einnehmen[3], leistet Kurt Pätzold mit dem Buch zum faschistischen Überfall auf die UdSSR einen wichtigen Beitrag zu historischer Aufklärung. Der mag als Warnung gelesen werden, schreibt er am Ende seines Vorwortes: „Denn die missbräuchliche Mobilisierung von Völkern gegen ihre eigenen Interessen gehört nicht der Vergangenheit an. Geändert und ungeheuer vermehrt hat sich aber das Instrumentarium, das dafür eingesetzt wird. Joseph Goebbels lebt in vielerlei Gestalt weiter, wenn auch nicht in Braun und mit einer Hakenkreuzbinde am Arm.“ (13)[4]
Den Vf. interessiert jedoch nicht allein das manipulierende Handeln, das Tun und Lassen der Herrschenden, ihn bewegt darüber hinaus, weshalb der „Betrug“ an den Volksmassen so vollkommen gelang und wie sich das jubelnde oder schweigende Volk in einen Krieg führen ließ, in dem es „nur verlieren konnte: das eigene Leben, Verwandte und Freunde, Hab und Gut und gemeinsam das Ansehen, das seine Vorfahren als Nation sich einst erwarb.“ (12 f.) Seine Antwort auf die Frage nach der Selbstverschuldung der Massen lautet eindeutig: Es trafen des „Führers“ Versprechen und Prophezeiungen mit den Wünschen der Mehrheit der Deutschen zusammen. Dies habe diese wehrlos und unfähig gemacht, „zu dem Gehörten oder Gelesenen eine kritische Distanz herzustellen. Sie wollten den Krieg nicht verlieren und glaubten Anfang 1942 noch, wenn ihnen der Gedanke an solches Ende überhaupt schon kam, dass sich das vermeiden lasse.“ (101 f.)
Das „Überfall“-Buch enthält auf rund 100 Seiten viel Material, das u.a. auch die erheblichen Probleme der sowjetischen Führung in ihrer Einschätzung der deutschen Politik beleuchtet und über Stalins Verhalten in dieser Zeit ein vernichtendes Urteil fällt. Insgesamt gilt die Aufmerksamkeit des Vf. weniger den militärhistorischen Aspekten von Kriegsvorbereitung und -führung als vielmehr den unterschiedlichen und durchaus nicht einhellig-zustimmenden Reaktionen der deutschen Bevölkerung, soweit diese Eingang in die umfangreichen Berichten des Sicherheitsdienstes der SS fanden und aus anderen Quellen erschließbar sind. Der Vf. ist sich der Begrenztheit aller Aussagen der Stimmungs-Beobachter bewusst, hüteten sich doch vor allem die anders Denkenden vor den Ohren der Spitzel. Zudem spielte das Eigeninteresse der Berichtenden eine der Wahrheit mitunter nicht dienende Rolle. Anhand der SD-Berichte vermag der Autor dennoch so manchen Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit, Versprechen und Illusionen, Vorgegebenem und Gewünschten aufzuhellen. Deutlich wird, wie viele Deutsche auf ein rasches Kriegsende hofften und wie angesichts des Scheiterns der Wehrmacht vor Moskau sich die Fragen nach Fehlern in der Einschätzung des „Koloss auf tönernen Füßen“ häuften. In den 63 Dokumenten finden sich auch aufschlussreiche Auszüge aus Tagebüchern, Feldpostbriefen und Memoiren. Lesenswert ist insbesondere jenes anrührende Kapitel, das sich mit den Briefen des an der Ostfront kämpfenden Gefreiten T. an seine Liebste befasst. (103-118)
Auch in den beiden Basiswissen-Bänden 1933/39 und 1939/45[5] dominiert die Sicht auf das Denken und Verhalten einer Mehrheit der Deutschen; ersterer enthält dazu sogar ein eigenes Kapitel: „Das Regime und die Massen“. Diesem Thema hatte sich Pätzold seit langer Zeit zugewandt und erste Überlegungen dazu bereits 1980 auf einer Tagung in Jena vorgestellt. Er benannte als entscheidende Faktoren für das Zustandekommen des Masseneinflusses der NSDAP die direkten und indirekten Auswirkungen des Furcht erregenden faschistischen Terrors, die Rolle der in Deutschland weit verbreiteten nationalistisch-rassistischen Ideologie sowie die spürbare Wirksamkeit innen- und außenpolitischer Erfolge des Regimes. In der Diskussion erweiterte sich der Blick hin zur Rolle der NSDAP und ihres umfassenden Organisationengefüges.[6] Da war, wie Richard Dehmel zu den ersten Veröffentlichungen des jungen Dichters Johannes R. Becher bemerkt hatte, zwar viel Rauch, jedoch noch kein Feuer.[7] Doch – um im Bilde zu bleiben – an den jüngst erschienenen Publikationen Pätzolds lassen sich Ausweitung und Vertiefung seines Wissens und seiner Erkenntnisse zu dem brennend aktuellen „Forschungsproblem“ erkennen.
Pätzold wählt einen völlig anderen Ansatz als jene Autoren, die – sich von der so genannten Täterforschung[8]abwendend – im Begriff der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ den Kern aller Probleme entdecken wollen. Ihm missfiel, dass damit wiederum – wie mit dem Wort „Nationalsozialismus“ – sehr schlicht eine Selbstbezeichnung übernommen wird. Statt von einer Volksgemeinschaft zu reden, spricht er von der „Gefolgschaft“ und verwendet damit einen in sein Konzept passenden und zugleich präziseren Begriff. Deutlich ist sein Unbehagen zu erkennen, wenn lediglich Hitlers Zustimmungsgemeinschaft gemeint ist und letztlich vom Fortbestehen der Klassengesellschaft in Hitler-Deutschland geschwiegen werden soll.[9]Ihn bewegten viele Fragen zu Entstehung, Entwicklung und Wirksamkeit der Hitlerschen Anhängerscharen, die er als wichtigen Bestandteil seiner Sicht auf die Geschichte des deutschen Faschismus, des so genannten Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges betrachtete.[10]
Pätzold wusste um die Kompliziertheit des Themas, um die schwierige und eigentlich unzureichende Quellenlage sowie um die vielfältig vorhandenen Pauschalurteile. So wählte er entsprechende Stilmittel, mitunter eine Art von Frage- und Antwortspiel. Aus Fakten und Behauptungen suchte er, gleichsam den Leser in der Logik seiner Gedankengänge mitnehmend, nach möglichst sinnvollen Aussagen und der Realität nahekommenden Schlussfolgerungen. Stets hinterfragt er die Interessen der Herrschenden und deren Orientierungsziele, aber er sucht auch nach den Ursachen und Folgen des Denkens der Beherrschten. Dass manche seiner Urteile sehr hart ausfallen, liegt an der Realität, nicht – wie vermutet werden könnte – am Enttäuschtsein eines konsequenten Antifaschisten. Zugleich verrät seineargumentative Darstellungsweise die Erfahrungen eines Hochschullehrers und begabten Redners. Geschickt sieht sich das Chronologische den eher systematisch gegliederten Teilen seiner Texte zu- bzw. auch untergeordnet. Vor allem die acht Kapitel des Bandes über die 30er Jahre tragen Züge eigenständiger, mitunter auch essayistisch anmutender Abhandlungen.[11]
Friedensjahre oder Vorkriegszeit?
Als Untertitel des ersten Bandes wählt P. das Wort: „Vorkrieg“. Dies soll als Programm verstanden werden und richtet sich gegen jene, die da meinen, es seien hauptsächlich schöne Friedensjahre, sichere Zeiten usw. gewesen. Nach Pätzolds Verständnis sind sie jedoch die Jahre, „in denen die Masse des deutschen Volkes tatsächlich, wenn auch nicht schuldlos und nicht ohne eigenes Zutun, betrogen wurde und sich für Ziele einnehmen ließ, von denen sie sich besser und zum eigenen Nutzen abgewendet hätte. Es sind Jahre, in denen sie für Handlungen konditioniert und trainiert wurde, die bis zu den dann massenhaft verübten Verbrechen an anderen Völkern reichten.“ (9) Selbst die unerhörte Mordaktion vom 30. Juni 1934 habe keine Welle des Abscheus zur Folge gehabt. Stillhalten sei durch Einschüchterung und Terror bewirkt worden, ebenso durch eine alle Zweifel erstickende, dreiste und verlogene Propaganda. In der Stabilisierungsphase der faschistischen Diktatur sei alles zugleich ein Ausdruck des großen Vertrauens gewesen, das die Massen den großen und kleinen Unternehmern, den bürgerlichen Parteien, den Kirchen und den Militärs entgegengebracht hätten, ohne deren erhebliche Dienstbarkeit für das Regime zu erkennen. Zum Verhalten der Bevölkerungsmehrheit in Deutschland heißt es drastisch: „Mit der Anpassung unter Druck oder aus eigenem Entschluss vollzog sich in weiten Teilen des Volkes [...] ein moralischer Verfall. Resignation, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit verbreiteten sich, wenn nötig mit dem Argument gerechtfertigt, man könne gegen dieses Regime und seine Macht ohnehin nichts ausrichten.“ (50 f.)
Zugleich macht Pätzold deutlich, dass der 1. September 1939 keine unabwendbare Folge des 30. Januar 1933 gewesen ist. Erwähnt werden konzeptionelle Bemühungen von Widerständlern sowie die auf internationaler Ebene vorhandenen Möglichkeiten, Kriege durch eine Politik der kollektiven Sicherheit zu vermeiden. Sein Blick richtet sich auf die Interessen der beteiligten Mächte und das internationale Kräfteverhältnis, kurz: auf jene Hintergründe, die zum Zweiten Weltkrieg führten. Er nimmt diese ebenso als Beispiel für alle Verhältnisse, die generell kriegerische Lösungen von Machtkämpfen und Krisen ermöglichen. Dem diente auch der bereits 2015 im PapyRossa Verlag erschienene Band zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges.[12]
Der hier vorzustellende Band „Deutschland 1939-45“ schließt direkt an den über die 30er Jahre an, hält sich jedoch stärker an den Verlauf des Geschehens.[13] In seiner guten alltagsgeschichtlichen Darstellung verliert Pätzold auch hier all jene Fragen nicht aus dem Auge, die das Denken und Verhalten der Massen betreffen. Dem Leser wird gezeigt, wie sich unterschiedliche, ja auch gegensätzlich wirkende Faktoren des gesellschaftlichen Lebens miteinander verwoben. Er erfährt, welch große Rolle wirtschaftliche und soziale Probleme für die Stimmungen großer Teile der Deutschen spielten. Ihm werden ebenso die schlimmen Auswirkungen jener Propaganda vor Augen geführt, in der ständig vom Friedenswillen des „Führers“ gefaselt, Schreckbilder einer Bedrohung durch andere Völker gemalt, deren Schuld am Kriege beteuert, von notwendiger „Vergeltung“ und „Wunder“ verheißenden Waffen geredet sowie von einem zu erwartenden Sieg der grundsätzlich überlegenen germanischen Rasse geschwätzt wurde. Hinsichtlich der den Deutschen verheimlichten Massenmorde an den europäischen Juden urteilt Pätzold: „Wie viel oder wie wenig die Deutschen von den Verbrechen immer hörten oder lasen, sie wussten oder ahnten doch so viel, dass sie alle wünschten, nicht zu teilen, was den Juden geschah.“ (68)
Pätzold untersucht zudem jene Wandlungen, die sich in den Stimmungen der Massen vollzogen, als die militärischen Erfolge ausblieben und sich in ihrer materiellen Versorgung erhebliche Verschlechterungen einstellten. Als von der Verbreitung einer unbedingten Siegeszuversicht zur Forderung „Durchhalten“ übergegangen wurde, schwanden im Verlauf des Krieges die Hoffnungen und nahmen Zweifel zu. Am Beispiel Görings wird gezeigt, wie das Ansehen des Regimes mehr und mehr verloren ging. Pätzold vertritt auch die These, dass sich bereits vor dem 8. Mai 1945 das Hitler-Bild vieler „Volksgenossen“ in das eines Mannes zu verwandeln begonnen“ habe, der für die Zustände Verantwortung trug, in die sie geraten waren. (106)
Für die Zeit des Kriegsbeginns stellt der Vf. fest, sie sei in besonderem Grade eine Herausforderung für alle Nazigegner gewesen. Für ihn handelte es sich bei einer ganzen Reihe damals verfasster politischer Erklärungen um Dokumente, die Wünschbares, aber nicht Reales enthielten. In ihnen sieht er einen „Tiefpunkt sozialpolitischer Diagnose“. (19) Im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944, über dessen Wirkung auf die Deutschen sich kein gesichertes Urteil gewinnen lasse, wird von den unüberwindlich scheinenden Gegensätzen aller Hitler-Gegner gesprochen. Dies habe den Nazis erleichtert, die Verschwörer schlicht als Landesverräter zu bezeichnen und auch über 1945 hinaus jahrzehntelange Debatten ausgelöst, wie das Attentat zu bewerten sei. Gern hätte man mehr aus Pätzolds Feder zu Einschätzungen von Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Gegnern der NSDAP über „die Deutschen“ gelesen, auch über die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in den größeren Widerstandsgruppen oder auch im Nationalkomitee Freies Deutschland gab. Allerdings verweist er im Kapitel „Besiegt und befreit“ auf die Schwierigkeit, der sich die Minderheit von Antifaschisten und Hitlergegnern ausgesetzt sah, als sie nach dem Mai 1945 vor der Frage stand, „in welchen Dosen sie der Masse die Wahrheiten [über deren Dienstbarkeit für Faschismus und Krieg, M.W.] nahe bringen sollte und konnte, ohne sich von ihr noch stärker zu isolieren, als sie es anfänglich ohnehin war.“ (113)
Beide Bände enden mit ausführlichen Nachworten, die sich knapp mit dem bislang erreichten Forschungsstand, ausführlich indessen mit den vorhandenen Quellen sowie mit der in beiden deutschen Staaten veröffentlichten Literatur befassen. Sein Anliegen u.a.: Dem heutigen Zeitgeist entgegenzuwirken, der von den Ergebnissen ostdeutscher und marxistischer Historiker kaum Notiz nimmt, und jene in der DDR erbrachte Leistungen, seien sie dokumentarischer oder wissenschaftlicher Art, wieder in Erinnerung zu rufen.
Man mag bedauern, dass Kurt Pätzold es nicht vergönnt gewesen ist, eine große Gesamtdarstellung zur Geschichte des deutschen Faschismus und vor allem zu der Rolle der Deutschen in den Zeiten des braunen Regimes und des Zweiten Weltkrieges zu verfassen. Den Ausgangspunkt boten zwei umfassende Bände, der eine zur Geschichte der NSDAP und der andere über Adolf Hitler.[14]Sie galt es zu vervollständigen und weiterzuführen, zumeist im Zusammenhang mit unterschiedlichen Anlässen wie Jahrestagen oder aktuellen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen. Unter anderen Verhältnissen, etwa bei einer normalen Integration in den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb und in die materiell gesicherte Wissenschaftsorganisation, auch bei normaler und nicht ausschließlich politisch motivierter Kritik in der Historikerzunft, wäre noch viel und sicher auch Großartiges zu erwarten gewesen. Dennoch: Mit Kurt Pätzolds Hinterlassenschaft liegt Wertvolles und die deutsche Geschichtswissenschaft Bereicherndes vor.
[1] Walter Schmidt für Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. ; Mario Keßler für die Zeitschrift „Sozialismus“, H. 10/2016, mit einer ausführlichen Übersicht zu Pätzolds Publikationen; Ulrich Schneider für die VVN-BdA. Die drei folgenden Absätze beruhen auf meinem Nachruf: Gegen den Zeitgeist. Zum Tode des marxistischen Historikers und Faschismusforschers Kurt Pätzold. In: Neues Deutschland“, 22.08.2016, S. 15.
[2] Kurt Pätzold: Faschismus-Diagnosen, verlag am park in der editionost, Berlin 2015
[3] Siehe dazu u.a. Stefan Bollinger: Über deutsche Hysterie und ihre Ursachen - „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“, Berlin 2016; Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Wien 2016, 303 S.; Manfred Weißbecker: Der Feind im Osten. Der wiedererwachte Hass auf den „Iwan“ hat in Deutschland eine lange Tradition. Besonders menschenverachtend war das Russlandbild zur Zeit des Faschismus. In: junge Welt, 20.04.2015, S. 12. f.; ders., Russophobie als ideologische Waffe. Gedanken anlässlich des deutschen Überfalls auf die UdSSR vor 75 Jahren. In: junge Welt, 08.07.2016, S. 12 f.
[4] Kurt Pätzold: Der Überfall. Der 22. Juni 1941: Ursachen, Pläne und Folgen, edition ost im Verlag Das neue Berlin 2016, 254 S., 14,99 Euro.
[5] Kurt Pätzold: Deutschland 1933-39. Vorkrieg, (Basiswissen Politik, Geschichte, Ökonomie) PapyRossa Verlag, Köln 2016, 153 S., 9,90 Euro; ders.: Deutschland 1939-45. Krieg, (Basiswissen Politik, Geschichte, Ökonomie) PapyRossa Verlag, Köln 2016, 142 S., 9,90 Euro.
[6] Kurt Pätzold: Die faschistische Manipulation des deutschen Volkes. Zu einem Forschungsproblem In: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte, H. 45/1981, S. 22-50. Siehe auch Manfred Weißbecker: Das Jenaer Faschismus-Kolloquium. Eine Dokumentation (1971-1990). In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. 2/2007, S. 77-102.
[7] Siehe Jens-FietjeDwars: Johannes R. Becher. Triumph und Verfall. Eine Biographie, Berlin 2003.
[8] Zu dieser siehe u.a. die Publikationen von Christopher Browning: Ganz normale Männer Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1996; Ulrich Herbert: Best. Biografische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 1996; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Michael Mallmann und Gerhard Paul (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2004: Harald Welzer: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a.M. 2007.
[9] Zur Kritik des Volksgemeinschafts-Begriffs siehe u.a. Peter Schyga : Über die Volksgemeinschaft der Deutschen. Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiografischer Gegenwartsmoden. Baden-Baden 2015.
[10] Siehe Kurt Pätzold: Zweierlei Blindheit. Unterschiede der geschichtswissenschaftlichen Debatte über das Verhalten der deutschen Bevölkerung zwischen 1933 und 1945. Über die Rolle der Volksmassen im Faschismus (junge Welt 20.08.2016, S. 12 f.); ders. Mitläufer und Täter. Nach 1933 entschloss sich nur eine Minderheit der Deutschen zum Widerstand, der Großteil der Bevölkerung fügte sich in die neuen Verhältnisse ein. Über die Rolle der Volksmassen im Faschismus (junge Welt 22.08.2016, S. 12 f.).
[11] Das Inhaltsverzeichnis weist aus: 1. „Siegheil“, 2. Der faschistische Staat wird errichtet, 3. Das Regime und die Massen, 4. „Volk ans Gewehr“, 5. „Die Juden sind unser Unglück“, 6. Zum Gipfel von Macht und Ansehen, 7. Zwei Stufen zum Kriege, 8. „Danzig ist nicht das Objekt“.
[12] Kurt Pätzold: Zweiter Weltkrieg (= Basiswissen. Politik, Geschichte, Ökonomie), Köln 2015.
[13] Das Inhaltsverzeichnis weist aus: 1. Polen – die leichte Beute, 2. Der komische Krieg, 3. „Frankreich im Sturm überrannt“, 4. „Es bleibt nur noch ein Feind“, 5. Wie zum Endsieg?, 6. In Napoleons Spur, 7. Raub, Ausbeutung und Mord, 8. Stalingrad, 9. Alltag im totalen Krieg, 10. Der D-Day, 11. „... bis alles in Scherben fällt“, 12. Besiegt und befreit.
[14] Beide gemeinsam mit dem Autor dieses Beitrages verfasst: „Hitler. Eine politische Biographie“, Leipzig 1995, und „Hakenkreuz und Totenkopf. Die Partei des Verbrechens“, Berlin 1981, fortgesetzt als „Geschichte der NSDAP 1920-1945“, Köln 1999.