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Die große Krise 2007/2009, Ursachen – Verlauf – Folgen/ Alle Berichte

von Klaus Braunwarth/Walter Eckhardt
Dezember 2016

Die große Krise 2007/2009, Ursachen – Verlauf – Folgen

Wochenendseminar der Marxistischen Arbeitsgruppe (MAG), Ulm, 3./4. September 2016

Die Krise der Jahre 2007-2009 ist an Umfang und Tiefe mit der Weltwirtschaftskrise seit 1928/29 durchaus vergleichbar: Rückgang der Gesamtwirtschaftsleistung und der Industrieproduktion in zahlreichen Industriestaaten, Schrumpfen des Welthandels, drohender Zusammenbruch des Weltfinanzsystems. Bis heute ist die Krise nicht wirklich überwunden. Die Verschuldung vieler Staaten und zahlreicher Banken bewegt sich immer noch über dem Vorkrisenniveau. Die fortdauernde Virulenz der Krise und die uneinheitlichen und widersprüchlichen Erklärungen und Deutungen waren der Marxistischen Arbeitsgruppe Ulm Anlass, mit den Referenten Jürgen Leibiger (Dresden) und Robert Schlosser (Bochum) und interessierten Menschen zu diskutieren.

Jürgen Leibiger gliederte seine Ausführungen in drei Hauptthemen: 1. Krisen im Kapitalismus, 2. Weltwirtschaftskrise 2007-2009 und 3. Wann kommt die nächste Krise? Dabei unterschied er zunächst vier Typen von Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen: zyklische Krisen, Strukturkrisen, Finanzkrisen (Banken, Börse, Staatsfinanzen) und große Krisen (Krisen des Regulationssystems). Die großen Krisen des Kapitalismus, 1873-1896, 1929-1933, 1973-1976 und die Weltwirtschaftskrise 2007-2009, seien jeweilige Katalysatoren der Evolution des Kapitalismus gewesen. Die Schwere der Krise 2007-2009 führte Leibiger auf das Zusammentreffen dreier Momente zurück: Eine zyklische Überakkumulationskrise, eine Finanzmarktkrise mit einer Überakkumulation von Geld und fiktivem Kapital und eine Krise des neoliberalen Regulierungsregimes.

Der Verlauf der Krise lässt sich Leibiger zufolge in fünf Phasen einteilen: Anfang 2007 gab es erste Anzeichen einer Überakkumulation im Realbereich. Mitte 2007-2008 erfolgte der „sichtbare“ Krisenausbruch („Subprime“-Krise) und die Krisenausbreitung. Ab September 2008 ließ sich dann eine virulente Weltwirtschaftskrise beobachten. Gegen Ende 2009/Anfang2010 lief die Rezession aus und eine lange Depression begann. Leibiger betonte die Rolle der Wirtschaftspolitik für den Verlauf der Krise: Die Bankenrettung ab 2007, eine expansive Geld- und Zinspolitik ab III/2008, die defizit-finanzierten Konjunkturprogramme ab IV/2008, die Rettung von Staatshaushalten ab 2010 und die Reformen im Finanzsystem. Anschließend erfolgte ein erneuter Umschwung, eine Politik der Austerität verbunden aber mit einer weiterhin expansiven Geldpolitik. Leibiger betonte, genaue Aussagen zum Zeitpunkt eines erneuten Krisenausbruchs seien nicht möglich. Sicher sei nur, dass er kommen werde. Zur Einschätzung der Situation könnten aber sinnvolle Fragen gestellt werden: Wo stehen wir im Krisenzyklus? Wie sind die unterschiedlichen ökonomischen Situationen in Deutschland, in Europa, in den USA und der übrigen Welt einzuschätzen? Wie könnte sich das Risikopotential in den nächsten Jahren entwickeln? Mit Hilfe verschiedener Indikatoren versuchte der Referent diese Fragestellungen zu klären. Vieles deutet, so Leibiger, auf das Erreichen des oberen Wendepunktes des aktuellen Zyklus und die Möglichkeit einer Situation ähnlich der von 2007 hin.

Robert Schlosser, seit vielen Jahren mit politökonomischen Fragen befasst, verwies in seinem Beitrag auf die grundlegende Wirkung des Wertgesetzes als Movens der Krise. Die Abweichung der Preise von den Werten (gemessen in der zur Herstellung der Waren nötigen Arbeitszeit) nimmt vor dem Ausbruch der Krise die Form der Übertreibungen im Preis der Waren auf besonders überhitzten Märkten an. Der besondere Markt für den Ausgang der Krise in den USA war der Immobilienmarkt, Teil der „Realwirtschaft“. Die steigenden Preise für Wohneigentum ermöglichten weitere Kreditaufnahme und die zunehmende Beleihung der Wohnimmobilien für Konsumausgaben steigerte die Nachfrage auch in anderen Branchen. Die Verbriefungen dieser Kredite waren dann die Basis für den sich aufblähenden Wertpapierhandel. Überproduktion und Überakkumulation wurden so verallgemeinert und zugleich verdeckt. In der Krise bewirken die Entwertungsprozesse die Korrektur der überhitzten Preise und ihre Angleichung an die Werte. Die von vielen behauptete Dominanz der Finanzmärkte über die Realwirtschaft blamiere sich vor der Abhängigkeit aller Arten von Spekulation von der Produktion von Wert und vor der Abhängigkeit aller Arten von Profit von der Produktion von Mehrwert.

In der lebhaften Diskussion wurden krisentheoretische Probleme (Krisenzyklus, Unterkonsumtions- vs. Überakkumulationstheorie), Fragen der historischen Entwicklung (Erfolg oder Misserfolg des New Deal in den USA, Gründe sozialer Absicherung lohnabhängiger Reproduktion in staatlicher oder privater Form) und das Spannungsverhältnis zwischen dem notwendigen Abwehrkampf gegen die Angriffe des Kapitals und sozialreformistischen Illusionen thematisiert.

Klaus Braunwarth und Walter Eckhardt

„Vom Kopf auf die Füße“

Ferienuniversität Kritische Psychologie, Berlin, 13.-17. September 2016

Seit 2010 organisieren Studierende und Lehrende regelmäßig eine „Ferienuniversität Kritische Psychologie“, die 2016 erstmals an der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialwesen in Berlin stattfand und an deren über 70 Veranstaltungen insgesamt etwa 700 Menschen aus dem Bundesgebiet und Österreich teilnahmen. Kritische Psychologie ist ein marxistischer Ansatz, der ab den 1970er Jahren wesentlich vom West-Berliner Arbeitskreis um Klaus Holzkamp (1927-1995) entwickelt wurde. In seinem Eröffnungsvortrag ging Morus Markard (Berlin) auf das Motto der diesjährigen Ferienuni ein. „Vom Kopf auf die Füße“ ist bekanntlich eine Anspielung auf Marx‘ Diktum, bei Hegel stehe die Dialektik auf dem Kopf, indem sie die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Denken erkläre, statt umgekehrt das gesellschaftliche Bewusstsein auf die Lebensbedingungen zurückzuführen. Markard erinnerte daran, dass die Sozialpsychologie von einem „fundamentalen Attributionsfehler“ spricht, wenn sie menschliches Handeln nicht den konkreten Umständen, sondern individuellen Eigenschaften zuschreibt. Indem die Mainstream-Psychologie allerdings ihrerseits von gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiere, erliege sie selbst einem solchen Irrtum.

Einen inhaltlichen Schwerpunkt bildeten Veranstaltungen zu Migration und Rassismus. Johanna Bröse und Josef Held (Tübingen) referierten über politische Aktionsformen von Flüchtlingen sowie über ein Forschungsprojekt zum Berufseinstieg von geflüchteten Jugendlichen. Maria Hummel und Elène Misbach (Berlin) argumentierten gegen die staatliche Ausnutzung des Ehrenamts in der Flüchtlingshilfe, die die Betroffenen in eine subalterne Position der „Dankbarkeit“ drängen könne. Silvia Schriefers und Anna Karcher (Berlin) unterzogen Traumakonzepte einer Kritik und diskutierten Schlussfolgerungen für die „Integration“ von Geflüchteten. Unter Rückgriff auf soziologische Arbeiten von Robert Miles, Stuart Hall und Etienne Balibar sowie anhand von Fallanalysen stellte Gesa Köbberling mögliche psychische Folgen erfahrener rassistischer Gewalt dar.

Anlässlich des Veranstaltungsorts, einer Hochschule für Soziale Arbeit, stand die Frage nach dem Verhältnis von Kritischer Psychologie und Sozialer Arbeit im Raum. Ulrike Eichinger, Professorin an der ASH, sprach darüber mit Konstanze Wetzel (Kärnten) und Karl-Heinz Braun (Magdeburg). Eine Teilnehmerin problematisierte eine mögliche Verhältnisbestimmung, nach der die Kritische Psychologie „Ärztin am Krankenbett der Sozialen Arbeit“ sei, woraufhin vom Podium aus betont wurde, dass andere Disziplinen eigenständige, irreduzible Ansätze zur Verfügung stellten.

Besonders interessant waren die internationalen Beiträge. Athanasios Marvakis (Thessaloniki) beschrieb anhand der jüngeren Geschichte Griechenlands den Neoliberalismus als sukzessive Durchsetzung einer bestimmten Lebensweise. Er warnte dementsprechend davor, Neoliberalismus auf die gegenwärtige Austeritätspolitik zu reduzieren. Francesco Colucci (Mailand) skizzierte die Rezeption der Kritischen Psychologie in Italien. In einer weiteren Veranstaltung stellte er ein Forschungsprojekt vor, das an jüdisch-palästinensischen Schulen in Israel durchgeführt worden war. Gemeinsam mit den Beschäftigten hatte man dort soziale Veränderungen durchgesetzt, um vordergründig psychologische Probleme, wie eine zunehmende Diagnostizierung des sogenannten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms oder Schulabstinenz, zu reduzieren. Mit Bezug auf Gramsci betonte Colucci, dass die Schule sowohl eine Institution der Befreiung (zunehmende Bildungsbeteiligung palästinensischer Kinder) als auch der Unterdrückung (Nichtbehandlung arabischer Literatur) ist.

Wolfgang Fritz Haug (Los Quemados/Esslingen) sprach in seinem Abschlussreferat unter anderem über den Subjektbegriff und die darin angelegte Subjekt-Objekt-Trennung, wie sie historisch aus der Philosophie in die Psychologie geraten seien. Die berühmte Problemstellung René Descartes‘, wonach nicht der Inhalt des Denkens, wohl aber die Tatsache des Denkens selbst ein sicherer Ausgangspunkt des Philosophierens sei, rekonstruierte er insbesondere aus den in Aufzeichnungen festgehaltenen Lebensumständen und biografischen Erlebnissen des Franzosen. Von da aus schlug Haug einen Bogen zu Holzkamps Buch „Sinnliche Erkenntnis“ von 1973 und zum Subjektbegriff in der Kritischen Psychologie, den er nur in seiner Alltagsbedeutung, aber nicht als theoretischen Grundbegriff für haltbar erachtet.

Die rege Beteiligung an der Ferienuniversität und die Breite der dort behandelten Themen zeigt insgesamt die Vitalität der Kritischen Psychologie und vor allem das Interesse unter Studierenden, die nach Alternativen zum Mainstream suchen, der an den Hochschulen gelehrt wird. Die nächste Ferienuniversität wird voraussichtlich 2018 stattfinden.

Michael Zander

Krise der EU – Zeit für einen linken Neustart

Konferenz der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Berlin, 23. September 2016

Auf Einladung der Bundestagsfraktion DIE LINKE diskutierten mehrere hundert TeilnehmerInnen aus linken Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Slowenien, Spanien und Portugal sowie WissenschaftlerInnen über notwendige politische Korrekturen und über Wege, wie ein linker „Neustart“ erreicht werden könne. In der Eröffnung benannten die MdBs Wolfgang Gehrcke (Leiter des Arbeitskreises Internationale Politik) und Andrej Hunko (Europapolitischer Sprecher) die Verständigung und Kommunikation über europapolitische Fragen zwischen den Parteien der Europäischen Linken (EL) als ein wichtiges Anliegen der Konferenz. Dem kommt angesichts unterschiedlicher strategischer Ausrichtung und Vielfältigkeit linker Parteien in Europa in der Tat große Bedeutung zu.

In vier Gesprächsrunden und einem Abschlusspodium wurde hauptsächlich auf die Bereiche Wirtschafts- und Außenpolitik sowie Demokratiefragen eingegangen, wobei auch Themen wie Gleichstellungs- oder Energiepolitik zur Sprache kamen.

Gregor Gysi konstatierte in seinem Eingangsreferat: Die EU „ist unsozial, undemokratisch, intransparent, bürokratisch und in einer tiefen Krise“. Er plädierte nicht für ihre Auflösung, sondern für eine Reform. Das Hauptverdienst der EU bestünde darin, dass sie zumindest unter ihren Mitgliedern den Frieden erhalten hätte. Mit der Bemerkung, dass er nicht zum „Pickelhaubenstaat“ zurück wolle, setzte er einen Kontrapunkt zur Debatte über eine Rückkehr zur nationalstaatlichen Souveränität. Den Euro kritisierte Gysi scharf, warnte jedoch vor einem Zurück zu nationalen Währungen. Er befürchte Spekulationen gegen einzelne Landeswährungen, was verheerende soziale und ökonomische Folgen hätte.

In der Debatte um nationalstaatliche Souveränität und die Währungsfrage charakterisierte der ehemalige Vizefinanzminister Italiens Stefano Fassina den Euro als einen „historischen Fehler“, der im Sinne der Erlangung einer demokratischen Perspektive überwunden werden müsse. Catarina Martins, die Vorsitzende des Bloco de Esquerda in Portugal, schilderte eindringlich die Zerwürfnisse, welche die EU-Austeritätspolitik in ihrem Land angerichtet hat. Sie warb für eine Strategie des Ungehorsams gegenüber Forderungen und Drohungen der EU und brachte Referenden, beispielsweise über den EU-Fiskalpakt, ins Spiel. „Jeder Staat sollte über sein Budget entscheiden können.“ Der Präsidentschaftskandidat des französischen Parti de Gauche, Jean-Luc Mélenchon, bezeichnete einen Ausstieg aus den EU-Verträgen als Plan A, da diese nur „soziale Not und Krieg“ hervorriefen und eine neoliberale Richtung vorschrieben. Als Plan B formulierte er die Möglichkeit, dass Frankreich aus der EU oder zumindest aus dem Euro austreten könnte: „Entweder wir verändern die EU, oder wir gehen raus. Die Souveränität der Völker ist das höchste Gut“. Im Gegensatz dazu nannte der Vorsitzende der Partei der Europäischen Linken sowie der KPF, Pierre Laurent, die Pläne A und B jedoch „schwer umsetzbar“. Zunächst einmal sollte die Linke sich darauf konzentrieren, bei Protesten wie gegen TTIP und CETA enger zusammenzuarbeiten und Bündnispartner zu gewinnen. In diesem Sinne argumentierte auch Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der LINKEN. Er vertrat die Meinung, dass die Eurofrage im gesamten linken Spektrum in hohem Maße spalten würde. Stattdessen käme es darauf an, einen Fokus auf europäische Kämpfe für eine andere Politik zu setzen. Für diese Kämpfe um eine andere europäische Politik sprach sich auch Axel Troost, Finanzpolitischer Sprecher der Linksfraktion, aus, wenngleich er Verständnis für Linke in anderen Länder äußerte, die sich „durch Deutschland an den Rand gedrängt“ fühlten und Debatten zum Euroaustritt führten. Dagegen plädierte Oskar Lafontaine klar für eine Rückkehr zu nationalen Währungen, damit Länder wie Spanien, Italien oder Frankreich die Möglichkeit hätten, sich mit einer schwächeren Währung gegen Deutschland zu behaupten.

Zur Einleitung des zentralen Abschlusspodiums nannte Sahra Wagenknecht den Euro „eine Fessel für eigenständige Politik“. Ein anderes europäisches Währungssystem sei „Teil der Zurückgewinnung von Demokratie“ und nur ein demokratisches und soziales Europa habe die Chance, „rechten Parteien und Bewegungen den Boden zu entziehen“. Sie sprach sich dafür aus, die Kompetenzen so zu verteilen, dass in den einzelnen Staaten die Richtung der Politik bestimmt werden könne. Eindringlich warnte Wagenknecht vor einer „abstrakten Verteidigung der EU“, welche den Rechten in die Hände spielen würde. Ähnlich argumentierte die Sprecherin für internationale Beziehungen der Linksfraktion Sevim Dagdelen: DIE LINKE solle sich nicht zur Retterin des „sinkenden Schiffes“ EU stilisieren, sondern eher „wo es möglich ist, Sand ins Getriebe streuen“. Tiny Kox von der Sozialistischen Partei der Niederlande und Vorsitzender der Linksfraktion im Europarat, formulierte es so: „Als Internationalisten sollten wir uns nicht als Verteidiger einer Union aufspielen, die wir nicht gegründet haben“. Er machte deutlich, dass Europa mehr ist als die EU, und plädierte für vielfältige Möglichkeiten der Kooperation: „Menschen für linke Politik begeistern“ sei das Ziel, und dabei sei das Format der Zusammenarbeit zweitrangig.

In vielen Redebeiträgen wurde bekräftigt, dass linke Parteien nicht die Kritik an der EU den Rechten überlassen dürften. Zudem bestand Einigkeit in der Kritik und Notwendigkeit der Änderung des EU-Vertragswerkes, welches Neoliberalismus und Militarisierung zementiert. Allerdings müssen für Vertragsänderungen sämtliche Mitgliedsstaaten zustimmen und linke Mehrheiten gibt es in den wenigsten Ländern. Peter Wahl, Vorstandsvorsitzender der Organisation „Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung“ (WEED) schlug einen „Bruch mit den Verträgen“ und eine Art „Koalition der Willigen“ vor. Auch Andreas Fisahn von der Universität Bielefeld oder der LINKE Europaabgeordnete Fabio De Masi sprachen sich für den Bruch von Regeln aus, mit denen alternative Politik unmöglich gemacht werde.

Bei der Konferenz kamen Übereinstimmungen in der Kritik, aber auch die ganze Bandbreite unterschiedlicher Auffassungen zur Krise der EU und den Möglichkeiten eines „Neustarts“ im Rahmen der europäischen Linken zum Ausdruck; sie wird sicherlich beim Kongress der EL vom 16.-18.12.2016 in Berlin eine Fortsetzung finden.

Judith Benda

Nach der Sozialpartnerschaft?

Streiktagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Frankfurt/Main, 30. September bis 2. Oktober 2016

Die Rosa Luxemburg Stiftung hat zum dritten Mal mit Unterstützung von ver.di, NGG, IG Metall und der GEW dazu eingeladen, den gegenwärtigen Stand gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen zu diskutieren. Diesmal unter dem Titel „Gemeinsam Gewinnen! Beteiligung organisieren, prekäre Beschäftigung überwinden, Durchsetzungsfähigkeit stärken. Erneuerung durch Streik III“, fanden sich vom 30.09. bis zum 02.10.2016 rund 700 Teilnehmende in den Gebäuden der Uni Frankfurt am Campus Bockenheim zusammen. Die Tagung war vor allem dazu angedacht, Akteure diverser Gewerkschaften zu vernetzen, Erfahrungen auszutauschen, vielfältige Themenbereiche zu diskutieren und – so eines der gesetzten Ziele – neue Strategien des Arbeitskampfes zu entwickeln. Hierbei blieben die GewerkschafterInnen nicht unter sich, denn ebenfalls bei der Tagung anwesend waren laut vergebenen Namensschildern sog. „StreikunterstützerInnen“, die z.B. aus der Wissenschaft kamen und bei den Podiumsdiskussionen teilnahmen oder selbst Themenblöcke anboten.

Neben den Podien und Referaten, fanden Arbeitsgruppen, Praxis- und Themenseminare sowie Branchentreffen statt. Die thematischen Schwerpunkte lagen vor allem bei der Prekarisierung der Arbeitswelt, der Individualisierung bzw. Vereinzelung von Belegschaften sowie dem Umgang mit Rassismus – insbesondere innerhalb der Gewerkschaften.

Bei allem Optimismus, der bereits dem Konferenztitel zu entnehmen ist, und dem sich zeitweilig in Standing Ovations, Gesangschören und Beklatschen konsensfähiger Standpunkte äußernden Tatendrang aller Anwesenden durchzogen dennoch Problemdiagnosen beinahe jede Diskussion. Dies betraf vor allem die fehlende Politisierung unter den Gewerkschaften, eine mangelnde Fähigkeit, ökonomischen Druck aufzubauen, sowie innergewerkschaftliche Konflikte, die eine Demokratisierung verhindern.

Beim ersten Block mit Themenseminaren (Freitag), ging es u.a. um die erste Betriebsbesetzung in Deutschland – Erwitte 1975. Die Frage nach dem Vortrag Dieter Braegs, wie es denn nun mit Betriebsbesetzungen in Deutschland gegenwärtig bestellt sei, führte zu einer grundsätzlichen Diskussion, bei der das Problem herausgestellt wurde, dass Gewerkschaften die Frage des Eigentums nicht mehr stellten und Enteignungen daher kein Thema mehr seien. Der Korporatismus der fordistischen Zeit habe die Gewerkschaften dermaßen in das sozialpartnerschaftliche Modell eingehegt, dass Eigentum an Produktionsmitteln nicht mehr problematisiert werde. Ver.di, so ein anderer Beitrag, sei nur an Umverteilung interessiert und nicht an der Änderung der „Spielregeln“. Bei Arbeitskämpfen werde kein Risiko mehr eingegangen – nach dem Motto „Wir führen nur Kämpfe, die wir auch gewinnen können“. Zudem seien die Gewerkschaften selbst „keine demokratischen Organisationen“, weshalb die Hoffnungen auf einen (linken) Richtungswechsel im Moment unerfüllt blieben. Solche Stimmen zum Stichwort „fehlende Politisierung“ verwiesen auf einen durchgehenden Diskussionsstrang der Tagung:, Wie denn nun Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften „politisiert“ werden könnten, worunter so Unterschiedliches gemeint war wie „Propagierung von Klassenkampf“, den Widerspruch von Kapital und Arbeit zu vermitteln oder den Weg einer stärkeren Konfliktorientierung einzuschlagen. Mathias Venema (Landesfachbereichsleiter Besondere Dienstleistungen, ver.di Hessen), machte darauf aufmerksam, dass gewerkschaftliche politische Bildungsarbeit in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden sei (hinsichtlich Wirtschaft, Klassenkampf, Rassismus, Tarifpolitik u.a.). Dass die Grenze der Politisierung von Gewerkschaften vom Gesetz gezogen wird und ein Großteil der (sozialdemokratischen) Gewerkschaftsführungen daran auch so schnell nichts ändern will (z.B. statusunabhängiges Streikrecht, Eigentumsfrage), führte bei Diskussionen während der Tagung oft in Sackgassen. Denn wenn Streiks das Ziel haben sollen, ökonomischen Druck auf die Kapitalseite auszuüben, im öffentlichen Dienst aber dazu führen können, dass Arbeitgeber Kosten sparen (wie es u.a. das Negativbeispiel des ErzieherInnenstreiks gezeigt hat), drängen sich Fragen alternativer Arbeitskampfmittel auf.

Uneins waren sich auch Bernd Riexinger und Michaela Rosenberger (Vorsitzende NGG) auf dem Podium bei der Frage nach Mitgliedergewinnung und Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE). Wenn Rosenberger angesichts der Politisierungsproblematik und sinkendem Organisierungsgrad fragte, was eine Gewerkschaft gegenwärtig braucht, so ist ihre Antwort darauf: mehr Mitglieder und ein höherer Organisationsgrad mit dem Ziel gewerkschaftlicher Selbstermächtigung ohne Stellvertreterpolitik. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen hülfen hierbei wenig weiter, da sie tendenziell der Selbstermächtigung und Organisierung entgegenwirken. Riexinger sieht in AVE dagegen ein effektives Mittel für Mitgliederzugewinn und argumentiert damit für eine Arbeitsteilung zwischen Linkspartei (für das „Politische“) und Gewerkschaften (für Tarife), womit er den Gewerkschaften implizit einen Platz zuweist, mit dem sich zumindest einige der Anwesenden nicht zufriedengeben wollten.

In den Streiks von 2015/2016 zeigten sich verschiedenen Berichten zufolge eine zunehmende Verhärtung der Strategie der privaten und öffentlichen Arbeitgeber sowie Macht- und Ansehensverluste der Gewerkschaften. Angesichts eines autoritärer werdenden neoliberalen Kurses gehe es grundsätzlich um eine Verhinderung weiterer Rückschritte und die Rückgewinnung „verlorenen Terrains“. Hier wurde eine Zunahme sozialer Auseinandersetzungen, möglicherweise auch eine Politisierung erwartet. Das Mitte 2015 verabschiedete Tarifeinheitsgesetz bezeichnete Wolfgang Däubler im Kontext dieser „Verhärtung“ als Beispiel für einen „alten Korporatismus“, der Minderheitsgewerkschaften das Recht auf einen Tarifvertrag nehme sowie Flächentarife aufzubrechen drohe. Ob die verschiedentlich geäußerte Ansicht, diese Trends würden zu einer Belebung der sozialen Kämpfe führen, realistisch ist, sei jedoch dahingestellt.

Im Gegensatz zur Streikkonferenz 2014 war das Thema Rechtspopulismus dieses Mal programmprägend. Die Tagung sollte hierbei ein klares Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus setzen, das medienwirksam während des Abschlussplenums vom Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ demonstriert werden konnte. Das Programm sah diesbezüglich ein Praxisseminar „StammtischkämpferInnen-Ausbildung“ und eine Arbeitsgruppe zum Thema „Spaltung Verhindern“ vor. Insgesamt fiel jedoch auf, dass überwiegend über MigrantInnen gesprochen wurde und weniger mit ihnen. Das mag auch daran liegen, so Rosenberger, dass sich die Organisierung z.B. im Gastronomiegewerbe schwierig gestaltet und aufgrund sprachlicher Differenzen wenig nachhaltige Strukturen geschaffen werden können.

Nach Aussage von Fanny Zeise und Florian Wilde (RLS) waren im Vergleich zur letzten Streikkonferenz 2014 bei der diesjährigen Tagung mehr Gewerkschaften, Bundesländer und Altersgruppen vertreten. Aus pragmatischer Sicht erfüllte die Konferenz sicherlich ihren Zweck; sie bot ein Forum für einen bundesweiten Erfahrungsaustausch sowie die Vernetzung (Bsp. Branchentreffen) zwischen linken Akteuren aus den Gewerkschaften. Dass es Raum für Kritik und kontroverse Debatten gab, ist hervorzugeben.

Walid Ibrahim

Marxismus, Kapitalismus und „Marburger Schule“

Kolloquium zum 75. Geburtstag von Frank Deppe, Philipps Universität Marburg, 8. Oktober 2016

Am 8. Oktober fand anlässlich des 75. Geburtstags von Frank Deppe1 in den Räumen der Marburger Universität ein gut besuchtes Kolloquium statt. Unter den Zuhörenden fanden sich nicht nur viele aus dem aktiven Umfeld der Marburger Schule2, sondern ebenso zahlreiche Studierende wie Weggefährten Deppes.

Zum Einstieg referierte Frank Deppe – das Thema seiner zehn Jahre zurückliegenden Abschiedsvorlesung noch einmal aufgreifend – zu „Stand und Perspektiven des Marxismus“. Deppe stellte fest, dass eine sich auf Marx berufende Kapitalismuskritik seit der 2008er-Krise wieder in Mode gekommen sei, was sich auch in den Feuilletons bemerkbar mache. Aber, so seine These, diese Tendenz konzentriere sich einerseits auf die Lesart der „Neuen Marx-Lektüre“, deren Marxismusverständnis am Kern des 1. Kapitels des „Kapitals“ ansetze und beim Fetisch-Kapitel ende. Andererseits sei ein Zugang zum Marxismus einflussreich, der nicht in erster Linie über die Ökonomie gehe, sondern über eine „Radikalität des Denkens“, also auf philosophischer Ebene verortet sei. Eine derartige Form der Marxaneignung habe enorm zugenommen und übe derzeit offensichtlich eine größere Faszinationskraft aus als die für die Marburger Tradition zentrale Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung. Demgegenüber betonte Deppe das Erfordernis, eine solche „Denkradikalität“ und die Analyse von Strukturen mit einer Untersuchung konkreter historischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen zu verbinden. Im Kontext der Perspektiven des Marxismus machte Deppe insbesondere auf die theoretischen Arbeiten David Harveys aufmerksam, der die Rolle der Stadt in die Analyse von Klassenauseinandersetzung einbeziehe und frage, ob der zentrale Konfliktort für Kämpfe und Veränderungen heute nicht mehr die Fabrik, sondern vielmehr der urbane Raum sei. Ebenso zu berücksichtigen seien – so Deppe – die Fragen der Produktivkraftentwicklung, wozu die Debatten um Industrie 4.0, Care-Berufe, Dienstleistungsbranchen und Wachstumskritik gehörten. Diese seien ebenso mit der Klassenanalyse zu verbinden wie die Untersuchung des Erstarkens von Nationalismus und der Neuen Rechten. In diesem Sinne verwies er auf Wolfgang Abendroth als „Gründungsvater“ der Marburger Schule, der stets versucht habe, im Sinne des klassischen Marxismus historisch konkrete Kräfteverhältnisse zu analysieren.

Herausgestellt wurde außerdem, dass Reflexionsprozesse aus dem vorläufigen Scheitern kapitalismuskritischer Massenbewegungen – wie Occupy und die Platzbewegungen – entstünden und Lernprozesse in Gang kämen. So gäbe es in der Bewegungslinken zunehmend die Argumentation, sich in Parteien organisieren zu müssen. Marxisten hätten dabei zu bedenken, dass sich die Massenbewegungen stets ihre eigenen Realitäten schüfen. In der anschließenden Debatte wurde ergänzend auf den im globalen Süden einflussreichen „Democratic Marxism“ aufmerksam gemacht und die Notwendigkeit einer neuen Klassenanalyse diskutiert.

Klaus Dörre (Jena) eröffnete den zweiten Block der Veranstaltung mit einem Input zum Thema „Autoritärer Kapitalismus und Krise“. Er machte u.a. darauf aufmerksam, dass die Biographien vieler heutiger islamistischer Terroristen in Frankreich Bezüge zu den Vorort-Riots 2005/2006 hätten. Wichtiges Motiv sei also nicht eine Religionszugehörigkeit, sondern die soziale Notlage junger Menschen. Der Staat wiederum begebe sich in einen Teufelskreis, weil seine Antwort auf die sozialen Unruhen nicht ein Mehr an Sozialstaat sei, sondern in einer Verstärkung von Repressionen und autoritären Strukturen bestünde, was wiederum weitere Unruhen provoziere. Rechtfertigungsgrundlage für die Verschärfungen liefere die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus, indem eine Umdeutung des eigentlich sozialen Diskurses in einen öffentlichen Diskurs über Sicherheitspolitik erfolge. Eine entscheidende Frage für die Linke sei demnach, wie man zu Klassenbündnissen kommen könne, die eine inklusive Solidarität formen. Ein Ansatzpunkt könnte eine angemessene neue Klassenanalyse bilden, auf deren Grundlage die systemimmanenten sozialen Ungleichheiten im gegenwärtigen Kapitalismus aufgedeckt werden können. Diskutiert wurde die These vom autoritären Kapitalismus im Hinblick auf die Frage, ob es sich dabei um einen Ausnahmezustand oder einen generellen Abbau von Demokratie handele. Dem folgte eine längere Debatte über das generelle Verständnis von Staat.

Im letzten Vortrag stellte Lothar Peter (Bremen) einen Vergleich der Marburger Schule (als „Linksaußen“) mit anderen Denkansätzen in der alten BRD vor. Behandelt wurden paradigmatische Theorien, wissenschaftliche Schulen und Einzelpersonen. Das breite Spektrum reichte von Luhmann, Popper und den Kritischen Rationalismus über Habermas, Helmut Schelsky, Ralf Dahrendorf, Ulrich Beck, die Freiburger Schule, die Kölner Schule der Soziologie, die geschichtswissenschaftliche Bielefelder Schule und die Frankfurter Schule bis zu feministischen Strömungen seit den 1970er Jahren, deren Fokussierung auf Patriachat und Geschlechterverhältnisse Peter als blinden Fleck der Marburger auswies. Gemeinsam sei ihnen allen, so Peter, dass sie im Gegensatz zur Marburger Schule keine grundlegenden systemkritischen Fragen stellten und keine realpolitisch durchsetzbare Systemalternative aufzeigten. Widerspruch gab es zu seiner These, dass die Frankfurter Schule nicht auf eine Gesellschaftsalternative ausgerichtet sei.

Patrick Ölkrug/Jonathan Schwarz

1 Vgl. Klaus Dörre/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit. Frank Deppe zum 75. Geburtstag, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10/2016, Hamburg.

2 Zum Terminus „Marburger Schule“ vgl. Lothar Peter, Marx an die Uni. Die Marburger Schule. Geschichte, Probleme, Akteure, Köln 2014.

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