Marx als Prophet
Christian Lotz, Karl Marx: Das Maschinenfragment. Herausgegeben von Carolin Amlinger und Christian Baron. Hamburg 2014, LAIKA-Verlag, 144 S., 9,90 Euro
Die Digitalisierung der Wirtschaft, die Durchdringung aller Ebenen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses durch moderne Informations- und Kommunikationstechnologien hat Debatten befeuert, die sich von dieser Entwicklung eine Überwindung des Kapitalismus erhoffen. Die Namen Paul Mason und Jeremy Rifkin stehen aktuell für diese Tendenzen (vgl. Christian Fuchs und Werner Goldschmid in Z 107 bzw. in diesem Heft). Im Marxismus ist diese Debatte nicht neu – schon Autoren wie Rudolf Hilferding hatten sich von der durch den Kapitalismus vorangetriebenen „Vergesellschaftung der Produktion“ (100) wenn nicht das Absterben des Kapitalismus so doch eine Erleichterung seiner Überwindung erwartet. In dem Maße, wie die Technikentwicklung in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, erinnern sich Marxisten vor allem an jene Aussagen, in denen sich Marx mit der Entwicklung der Maschinerie auseinandersetzt. Dabei steht eine Passage aus den Marxschen ‚Grundrissen‘, oft als „Maschinenfragment“ bezeichnet, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Schon Roman Rosdolsky hatte dieses als „eine der kühnsten Visionen des menschlichen Geistes“ bezeichnet.1 Im vorliegenden Bändchen wird dieser Text, ergänzt durch weitere Auszüge aus den ‚Grundrissen‘ und dem ersten und dritten Band des ‚Kapital‘, abgedruckt. Eingeleitet wird es durch einen Aufsatz von Christian Lotz, der den bezeichnenden Titel „Kommunismus des Kapitals?“ trägt (7). Auch wenn Lotz gleich am Anfang anmerkt, die im ‚Maschinenfragment‘ enthaltene Diagnose des Kapitalismus sei von Marx „nicht im prophetischen Sinne“ gemeint (7), so behauptet er doch später: „Heute sind wir im Zuge der Digitalisierung und Computerisierung in der Realität bei Marx angekommen – was Marx aufgrund seiner philosophisch bestechenden Analyse des Kapitalismus nur voraussagen konnte. Wissen, Information und Kommunikation sind die dem Kapital angemessensten Existenzformen.“ (24) Bekanntlich haben Marx und Engels zwar öfter „Voraussagen“ gemacht, mussten deren Nichteintreffen aber später selbst konstatieren. Es ist legitim und anregend, die neuesten Entwicklungen im Lichte dieses Textes zu diskutieren – zu unterstellen, Marx habe diese „vorausgesagt“, ist irreführend.
Christian Lotz stellt das ‚Maschinenfragment‘ in den Kontext der Digitalisierung (heute oft als Virtualisierung beschrieben). „Eine perfekte Übereinstimmung (zwischen lebendiger Arbeit und Verwertungsprozess, JG) findet dann statt, wenn der Verwertungsprozess nicht nur möglichst viele Schranken überwindet, …, sondern eine materielle Existenz findet, die ihm angemessen ist: immateriell, fließend, schnell – digital eben.“ (27) Tatsächlich zeigt Marx aber in dem „Fixes Kapital und Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft“ überschriebenen Abschnitt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft mit der gewaltigen Zunahme des fixen Kapitals gegenüber der lebendigen Arbeit (also einem sehr materiellen Aspekt) verbunden ist. Dies ist ein Gedanke, den er im ‚Kapital‘ (anders als Rosdolsky meint) im Kontext des tendenziellen Falls der Profitrate aufnimmt – nicht als technisch bestimmte ‚kommunistische‘ Tendenz im Kapitalismus, sondern als Moment zunehmender Krisenhaftigkeit. Natürlich kann man diesen Text heute anders lesen – man sollte aber die ursprünglichen Bezüge zumindest erwähnen.
Nun kann man der Einleitung von Lotz nicht vorwerfen – wie möglicherweise Mason und Rifkin – dass er die Überwindung des Kapitalismus als technische Tendenz beschreibt. Er referiert diese Positionen, stellt aber die Widersprüchlichkeit der Technikentwicklung in den Vordergrund, die nur durch aktives Handeln überwunden werden könne: „Man wird sehen, ob diese Spannung ein emanzipatorischer oder destruktiver Prozess ist. Beides ist möglich – und genau deshalb lohnt es sich, für die emanzipatorischen Tendenzen politisch zu kämpfen.“ (47) Allerdings meint er doch, dass die Vergesellschaftungstendenzen im Kapitalismus bessere Voraussetzungen für dessen Überwindung schaffen. Die vier ausgewählten Passagen aus den ‚Grundrissen‘ und aus dem ‚Kapital“ sollen unterschiedliche, dem Kapitalismus immanente „Befreiungsmöglichkeiten“ andeuten: „die Befreiung durch Wissen ..., die Befreiung durch das Aktien- und Kreditsystem sowie die Befreiung durch die Entwicklung der Produktivkräfte.“ (34)
Die im Band abgedruckten Marx-Passagen wurden so ausgewählt, dass sie die Interpretation von Lotz stützen. Dabei wird – wie schon oben angedeutet – nicht angesprochen, dass für Marx (und Engels) der kapitalistische Vergesellschaftungsprozess notwendigerweise und vor allem mit einer Zunahme von Krisenhaftigkeit verbunden ist. Dass die Ausblendung dieses für Marx zentralen Aspekts kein bloßes Versehen des Autors ist macht vor allem der Abschnitt über das Kreditwesen aus dem dritten Band des ‚Kapital‘ deutlich (97-104). Der Autor will belegen, dass Marx das Aktien- und Kreditwesen als „Befreiungsmöglichkeit“ gesehen habe. Das entsprechende 27. Kapitel wird abgedruckt, merkwürdigerweise aber ohne die letzte Seite. Dort heißt es u.a.: „Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts … Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.“ (MEW 25, 457). Warum wird ausgerechnet diese kurze Passus weggelassen? Die ‚kommunistischen‘ Tendenzen des Kapitals drücken sich Marx zufolge in zunehmenden Krisen aus, welche – so die Hoffnung der ‚Klassiker‘ – den Klassenkampf antreiben würden. Auch übersieht der Autor, dass Marx die Annahme, „die kapitalistischen Aktienunternehmungen“ seien „als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten“ (104) später revidiert hat, wie in der französischen Ausgabe des ersten Bandes des ‚Kapital‘ nachzulesen ist.2
Diese Beispiele zeigen, wie problematisch es ist, einzelne Marx-Passagen aus unterschiedlichen Werken abzudrucken, ohne dass der jeweilige Kontext deutlich wird. Die Auswahl der Textstellen spiegelt unweigerlich die Interpretation desjenigen wider, der die Auswahl tätigt. Die Interpretation von Marx-Texten ist eine notwendige und legitime Angelegenheit; der Einleitungsaufsatz von Lotz ist anregend und lohnend. Man sollte aber nicht vorgeben, als stütze man sich auf Originalquellen, während man tatsächlich nur eine notwendigerweise tendenziöse Auswahl trifft. Diese sollte man dem kritischen Leser überlassen.
Jörg Goldberg
Emanzipationstheoretisches Denken
Jan Hoff, Befreiung heute. Emanzipationstheoretisches Denken und historische Hintergründe, VSA Verlag, Hamburg 2016, 390 Seiten, 39,80 Euro
Ausgehend von der aktuellen Transformationsdebatte und der Diskussion darüber, ob gesellschaftliche Veränderung heute „mehr sein muss als eine Denksportaufgabe“1, gewinnen theoriegeschichtliche Überlegungen an politischer Relevanz: Man kann nicht losgehen, ohne Weg und Ziel zu kennen und man sollte wissen, woher man kommt und wohin man geht. Der Weg entsteht dabei nicht erst „im Gehen“, wie mitunter behauptet wird2, sondern man wählt ihn, weil er zum Ziel führt. Gibt es dafür mehrere Wege, so bedarf es, damit man sich nicht verläuft, einer Orientierung. Diese bestand für linke Bewegungen bislang in der Marxschen Theorie und deren Weiterentwicklung. Inzwischen ist das an Marx orientierte Denken aber an einem Punkte angelangt, wo seine orthodoxe Auslegung immer weniger Anklang findet, dafür aber einst ausgegrenzte „häretische Strömungen“ auf ein immer größeres Interesse stoßen.
Dieser aktuellen Problematik widmete sich der Sozialwissenschaftler Jan Hoff, indem er in seinem Buch umfassend darlegt, welche theoretischen Ansätze, Positionen und Strömungen es gegenwärtig gibt, die geeignet wären, den politischen Aktivitäten zur Überwindung des Kapitalismus als ideelle Orientierung zu dienen. Der wichtigste Denker auf diesem Gebiet ist, so Hoff, natürlich „immer noch Marx“. Mithin dreht sich das Buch zu großen Teilen um die Marxsche Theorie, um deren Inhalt und Auslegung, um unterschiedliche Interpretationen derselben. Dabei ist der Verfasser um Vollständigkeit bemüht. Dies ist zu würdigen, fordert dem Leser aber einiges ab, da hierzu eine kaum zu übersehende Anzahl von Autoren unterschiedlichster Provenienz und rund 1.000 Einzelquellen herangezogen werden. Die einzige Richtung, welcher er jeglichen Masseneinfluss und jeglichen produktiven Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus und zur künftigen Gesellschaftsgestaltung abspricht, ist der orthodoxe Marxismus-Leninismus (52). Dieser dient ihm jedoch als Referenzfolie, um die emanzipatorischen Positionen, die insgesamt durchaus ein „heterogenes Feld“ bilden, vorzustellen, sie anhand repräsentativer Äußerungen zu referieren und vorsichtig zu werten.
Die wichtigste Strömung dieser Art, mit der sich schon Marx auseinandergesetzt hat und die bis heute im linken Spektrum eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, ist der Anarchismus. Hoff analysiert frühe, klassische (Proudhon, Bakunin, Kropotkin, Most u.a.) und aktuelle (Agnoli, Graeber u.a.) anarchistische Positionen und benennt deren Hauptmerkmale, so z.B. die Überzeugung, dass „die Emanzipation im Alltagsleben der Menschen beginnen“ müsse. Der Autor geht hier aber sehr weit, wenn er z.B. Michail A. Bakunin als „wertvolle Inspirationsquelle“ für emanzipatorisches Denken beinahe ohne Einschränkung neben Marx stellt (51) und dem Anthropologen David Graeber3 einen sehr großen Einfluss im gegenwärtigen kapitalismuskritischen Diskurs zumisst (213ff.). Er zeigt aber auch, z.B. anhand der „Occupy-Bewegung“ der Jahre 2010/12, dass diese sich als anarchistische Aktion zwar gegen die Herrschaft der Finanzoligarchie wendete, wenn auch zum Teil mit fragwürdigen Argumenten, die Hoff als „Dämonologie“ und „Theorieersatz“ auffasst (174), letztlich aber nicht konsequent „antikapitalistisch“ agiert habe. Theoretisch blieb sie dem Kapitalismus verhaftet. Politischer Einfluss und Wissenschaftlichkeit differieren gerade beim Anarchismus stärker als oftmals zugegeben. Eine andere theoretische Richtung, die von Hoff analysiert wird, ist der postmarxistische Kommunismus (Badiou, Žižek u.a.), der teils im Leninismus, teils im Maoismus wurzelt. Eine dritte Strömung wird durch den aus den 1968er Jahren stammenden und bis heute aktiven Communisation-Ansatz verkörpert. Hoff stuft diese Richtung als libertär- und linkskommunistische Strömung ein. Es folgen der auf einen „Marktsozialismus“ abstellende Assoziationismus sowie der Postoperaismus, letzterer als eine postfordistische Strömung, die vor allem von Hardt und Negri inspiriert wurde. Hoff erläutert ihre Grundideen und Besonderheiten, die sie von anderen Ansätzen abheben. Daneben etablierte sich das internationale Theorieprojekt Open Marxism, das immer wieder mit originellen und neuen Interpretationen der Marxschen Theorie aufwartet. Als Denkströmung auch in Deutschland verbreitet ist die an Ernst Blochs „konkrete Utopie“ anknüpfende Philosophie der Praxis (Müller u.a.). Besonderes Augenmerk verdient aber vor allem die Neue Marx-Lektüre (Heinrich u.a.) als eine sowohl im akademischen Milieu verankerte Richtung als auch in zahlreichen Laien-Zirkeln vertretene Auseinandersetzungsform mit Marx‘ ökonomischer Theorie (311ff.). Hoff schließt sich in vielen Aussagen vor allem dieser Lesart an und betont, dass sie sich insbesondere vor dem Hintergrund des „historischen Scheiterns bisheriger Emanzipationsprojekte“ als „produktiv“ erwiesen habe (336).
All diese Ansätze und geistigen Strömungen, so heterogen sie im Einzelnen auch sein mögen, verstehen sich als „individualistisch“, „antiautoritär“ und „sozialistisch“. Ihre Gemeinsamkeit liegt in ihrem Selbstverständnis als „emanzipatorische“ Bewegungen und in ihrer Abgrenzung gegenüber dem traditionellen Marxismus bzw. dem Marxismus-Leninismus. Das große Verdienst des Autors besteht darin, diese Strömungen sorgfältig analysiert und klassifiziert sowie auf ihre historischen Wurzeln und Beziehungen untereinander abgeklopft, referiert und bewertet zu haben. Er bezieht dabei zumeist eine nüchterne, beinahe „objektivistische“ Haltung. Erst spät geht er dazu über, dem Leser seinen „eigenen Standpunkt“ (344) dazulegen. Dieser lässt sich wohl am besten mit dem Begriff „freiheitlicher Sozialismus“ umreißen. Dabei denkt er „die individuelle Autonomie des Einzelnen“, die im Anarchismus überbetont wird, und „die kollektive Selbstbestimmung der assoziierten Produzenten“ in einem „engen Zusammenhang“, womit er an das Marxsche Emanzipationskonzept anschließt (345f.). Dabei muss jedoch betont werden, dass Marx das Individuum und dessen Selbstbestimmung niemals gegen die Gesellschaft „ausgespielt“ hat, sondern vielmehr immer deren Zusammengehörigkeit betont, diese zugleich aber als eine vielfach vermittelte begriff. Dieser Gedanke ist im traditionellen Marxismus, der ganz auf das Kollektiv und den Staat gesetzt hat, auf der Strecke geblieben. Die Distanz der hier entwickelten Position gegenüber dem traditionellen Marxismus kommt aber auch in der Zurückweisung jeglicher historischen Entwicklungslogik als „Notwendigkeit“ und sich zwangsläufig vollziehender „historischer Gesetzmäßigkeit“ zum Ausdruck. Ferner in der Ablehnung der Annahme, ein „klassenmäßig definiertes Kollektivsubjekt“ würde die sozialistische Transformation als „historische Mission“ im Interesse der gesamten Menschheit vollziehen (348). Ergänzt wird dieses Vorgehen durch eine Krisenauffassung, die nicht in jeder Wirtschaftskrise eine existenzielle oder sogar „finale Krise des Kapitalismus“ (Manfred Sohn) erblickt, sondern die im Gegensatz dazu die große Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit des Kapitalismus in Rechnung stellt.
Die vorliegende Studie wurde vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel als Habilitationsschrift anerkannt. Das sollte der Leser wissen, bevor er sich auf die mitunter etwas anstrengende, insgesamt aber lohnende Lektüre des opulenten Werkes einlässt. Leider fehlt dem Werk ein Personenregister, um es auch als Nachschlagewerk nutzen zu können. Dafür aber wird der Leser mit einem umfänglichen Literaturverzeichnis belohnt, wie es dies heute nur noch in akademischen Graduierungsarbeiten gibt.
Ulrich Busch
Die Entstehung der Klasse
Jürgen Kocka, Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse. Unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2015 (= Ge-schichte der Arbeit und der Arbeiter-bewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 3), 509 Seiten, 68 Euro.
Mit „Arbeiterleben und Arbeiterkultur“ präsentiert Jürgen Kocka eine Arbeit, an der er, mit großen Unterbrechungen, rund 40 Jahre gesessen hat. Bemerkenswerter Weise als Einzelband einer Reihe, die um eben diese Zeit von dem mittlerweile verstorbenen Gerhard A. Ritter namens der Friedrich-Ebert-Stiftung konzipiert wurde und die trotz der vier Jahrzehnte Existenz noch beachtliche Lücken aufweist, insofern die Bände 3, 4, 6, 7, 8 und 13 noch ihrer Vollendung harren. Es sollte das Gegenstück gegen den großen Wurf der DDR-Historiographie mit deren achtbändiger „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ werden, die Mitte der 1960er-Jahre erschien.1 Die bisherigen Autoren des sozialdemokratischen Gegenentwurfs sind Peter Hübner, Christoph Kleßmann, Michael Schneider, Gerhard A. Ritter, Heinrich August Winkler und mit jetzt drei, demnächst wohl vier Bänden Jürgen Kocka.
Gibt es die Arbeiterbewegung noch oder nicht mehr? Welches Gewicht hat oder hatte sie im 19., im 20. oder gar im 21. Jahrhundert einzubringen? Kocka schreibt schon in der Einleitung, dass ihn eine derartige Fragestellung „im nächsten Band“ der Reihe beschäftigen wird. Hier und heute geht es um die „Sozialgeschichte der Arbeiter vor allem im zweiten Drittel und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts“. Diese Zeit brachte eine Arbeiterbewegung „in der organisatorischen Grundform hervor, wie sie dann für das nächste Jahrhundert Bestand haben sollte, nämlich gegliedert in Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften, mit einem starken sozialdemokratisch-sozialistischen Kern, aber auch mit einem damals noch starken liberalen Flügel und einem sich langsam entwickelnden christlichen, vor allem katholischen Zweig“.
Das erste Kapitel hat Kocka mit „Arbeit“ überschrieben. Den Prozess der Bildung der arbeitenden Klasse sieht er „in den großen sozialökonomischen Veränderungen jener Zeit des sich durchsetzenden Kapitalismus und der industriellen Revolution“. Dem zweiten Kapitel hat er die Überschrift „Armut und der Beginn ihrer Überwindung“ gegeben, die er mit den 1860er-Jahren ansetzt. In Kapitel 3 beschäftigt er sich mit Lebensläufen und den Familienverhältnissen der verschiedenen Arbeiterkategorien. Es findet seine Fortsetzung in der Darstellung der Wanderarbeit („Struktur aus Bewegung: Die Muster der Mobilität“). In den beiden abschließenden Kapiteln behandelt Kocka die Arbeiterkultur „zwischen Volkskultur, Berufskulturen und bürgerlichem Einfluss“ sowie den Platz, den Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft und der Politik einnehmen.
Der Veranschaulichung dienen 15 Abbildungen, darunter das legendäre Gemälde „Arbeiter vor dem Stadtrat“ von Johann Peter Hasenclever. Acht Tabellen, beispielsweise über die Einnahmen und Ausgaben einer Arbeiterfamilie in Braunschweig 1877, sind den passenden Kapiteln zugeordnet. Ein umfangreiches Personen- sowie ein Orts- und Sachregister erschließen das Buch.
Die wilhelminische Politik, der bürgerliche Staat und die Linke konnten schon in der Geburtsstunde des kleindeutschen Reiches keine Freunde werden: „Des Hochverrats angeklagt, hatten die sozialdemokratischen Führer August Bebel und Wilhelm Liebknecht eine Festungshaft anzutreten, als das Deutsche Reich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses aus der Taufe gehoben wurde.“ Die SPD geriet in einen „fundamental-oppositionellen Gegensatz“ zum herrschenden Staat, die Rede von „Reichsfeinden“ und vaterlandslosen Gesellen“ wurde, „so falsch sie auch war“, im „Bürgertum populär“.
In dem von Kocka abgeschrittenen Zeitraum gewann die Lohnarbeit „deutlich an Verbreitung und Gewicht, aber meist noch nicht in reiner Form“, von der wir uns gegenwärtig ja wieder verabschieden. Jedenfalls bestand 1875 in Deutschland, so heißt es in den zusammenfassenden Schlussbemerkungen, „eine Arbeiterklasse in einem viel höheren Ausmaß und in viel deutlicherer Ausprägung als 1830 oder 1840“.
Und die Zeichen standen auf demokratischem Engagement: Die „sozialdemokratische Arbeiterbewegung“ gehörte „zu den Gründern und Verteidigern, nicht aber zu den Feinden und Totengräbern der ersten deutschen Republik“, heißt es im Vorgriff auf Weimar. Dass SPD und freie Gewerkschaften in den 1930er-Jahren den Schulterschluss mit den links von ihr stehenden Kräften verschmähten, aber sie auch ihrerseits nicht von der KPD gesucht wurde, thematisiert Kocka nicht. 1875 sei „nicht ausgemacht“ gewesen, „wie sich die Geschichte weiter entwickeln würde“. Die einheitliche Partei, auf die sich später einmal Sozialdemokraten und Kommunisten in der frühen DDR berufen sollten, brach im August 1914 und den folgenden Monaten und Jahren auseinander. Dazu hätte Kocka auch unter dem Gesichtspunkt der soziologischen Veränderungen der Arbeiterschaft, der politischen Diskussionen und der Auseinandersetzungen über die Programmatik einiges sagen können – vielleicht im angekündigten 4. Band?
Der Autor beruft sich auf Werner Conze, Georg Eckert und Gerhard A. Ritter, aber auch Jürgen Kuczynski und Eric Hobsbawm, die allerdings über einen Kamm zu scheren recht problematisch ist. Dass „Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte besondere Bedeutung in der ideologischen West-Ost-Auseinandersetzung des Kalten Kriegs“ besaß, da gibt man ihm schon eher recht. „Immer wieder“ werde von einem „Ende der Arbeitergeschichte“ gesprochen, doch nennt er derartige Einschätzungen, sich nicht zuletzt auf Marcel von der Linden (IISG) stützend, „maßlos übertrieben“. Übertrieben hoch erscheint mit 68 Euro auch der Preis, der einer weiten Verbreitung des Werks entgegenstehen wird.
Matthias Dohmen
Arbeiterleben zwischen Wien und Moskau
Karl Steinhardt, Lebenserinnerungen eines Wiener Arbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Manfred Mugrauer, Verlag der Alfred Klahr Gesellschaft, Wien 2015, 320 Seiten, 20,00 Euro
In nahezu keiner wissenschaftlichen Darstellung der Komintern-Geschichte fehlen Auftritt und Rede des gerade in Moskau angekommenen österreichischen Arbeiters Karl Steinhardt am 3. März 1919. Sie werden durchgehend als letztendlich ausschlaggebend für den Stimmungsumschwung interpretiert, der zur sofortigen Gründung der Kommunistischen Internationale führte, nachdem tags zuvor ein diesbezüglicher Antrag auf Grund deutscher Bedenken zurückgezogen worden war. Steinhardt hat nach 1945 mehrfach in der Parteipresse der KPÖ über diese Episode berichtet und auf „wiederholtes Drängen“ 1950 seine Erinnerungen niedergeschrieben. Kleine Auszüge aus dem Manuskript erschienen über die Jahre, aber erst jetzt liegt es vollständig in gedruckter Form vor.
In seinem mehr als 87-jährigen Leben hat Steinhardt (1875-1963) zahlreiche Stationen mit geradezu geschichtlicher Bedeutung durchlaufen: Er war Teilnehmer an der ersten Maidemonstration der Wiener Arbeiter (1890), Mitbegründer der KPÖ (3.11.1918) und er trat bei der Proklamation der Republik (12.11.1918) prominent in Erscheinung. Er nahm als Delegierter der KPÖ nach dem Gründungskongress noch an zwei weiteren KI-Kongressen teil und traf dabei jeweils mit Lenin zusammen. Nach der Befreiung vom Faschismus spielte er 1945/46 als Vizebürgermeister und Stadtrat für das Wohlfahrtswesen in Wien erneut eine wichtige politische Rolle. Und die Zeit dazwischen? Die KPÖ war vor allem in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre eine weitgehend bedeutungslose und innerlich zerrissene Partei, die zwischen Rechtsopportunismus und linkem Sektierertum hin und her taumelte. Nach seiner Rückkehr aus Moskau hätte Steinhardt seinen Führungsanspruch nur unter Einsatz fraktioneller Mittel durchsetzen können. Doch das entsprach nicht seinem Politikverständnis. In seinen „Lebenserinnerungen“ geht er auf die inhaltlichen Positionen der verschiedenen Fraktionen nicht ein, sondern begnügt sich mit dem Hinweis, dass er auf Grund der fortgeschrittenen Auseinandersetzungen lieber als „einfacher Zellenkassierer“ für die Partei tätig war.
Steinhardt enthält sich weitgehend einer Einschätzung der programmatischen und politischen Entwicklung der KPÖ und der KPD (in der er zeitweilig aktiv war) sowie der jeweiligen Generallinie der Komintern. Wie es bereits der von ihm gewählte Titel ausdrückt, war es sein Anliegen, nicht die Memoiren eines kommunistischen Politikers und Funktionärs zu schreiben, sondern ein Arbeiterleben aufzuzeichnen. Und dieser Bericht ist vor allem, was die Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg betrifft, nicht nur von sozialgeschichtlichem Interesse, sondern hat auch seinen literarischen Reiz.
Dem Text vorangestellt ist eine ausführliche biografische Skizze des Historikers Manfred Mugrauer, die nicht nur Lücken der Autobiografie mit gesicherten Daten füllt, sondern auch den zum besseren Verständnis notwendigen politischen und historischen Rahmen der Ersten Republik skizziert.
Karl Unger
Die jugoslawische Frage
Jože Pirjevec, Tito. Die Biografie. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, Verlag Antje Kunstmann, München 2016, 720 Seiten, 39,95 Euro.
Die Bundeszentrale für politische Bildung gibt regelmäßig unter Lizenz anderer Verlage von ihr für Wert befundene Bücher zu Themen der Zeit heraus. Das Gros dieser Literatur spiegelt ziemlich gut den allgemeinen Stand der bürgerlichen Weltanschauung wider. Selten einmal finden sich darunter Eigenproduktionen. Eine davon beschäftigt sich ganz aktuell mit dem Zerfall von Staaten. Darin nun steht an prominenter Stelle zum Beispiel dies: „Haben gescheiterte Staaten nicht das Problem, dass sie nie Staaten waren? Die UdSSR, die Tschechoslowakei und Jugoslawien sind deswegen gescheitert. Ihre künstlichen Grenzen, die auf dem politischen Reißbrett entstanden waren, entsprachen nicht den historischen, sozialen, kulturellen oder ökonomischen Bedingungen.“1 Es ist anzunehmen, dass diese Aussage repräsentativ für die politischen Wissenschaften der BRD sein soll. Daraufhin dürfte dann wenig verwundern, warum die zeitgenössische Politik streng imperialistisch und geschichtlich bewusst ahnungslos agiert. Denn sofern es in der Geschichte der neuesten Zeit überhaupt Staaten gegeben hat, die sich auf historische, soziale, kulturelle und ökonomische Gemeinsamkeiten berufen konnten, dann u.a. gerade die drei genannten. Die Staatsgründungen Sowjetrusslands, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens waren Ergebnisse des Ersten Weltkrieges und haben Bestrebungen institutionalisiert, die lange vorher bereits artikuliert wurden. Von „künstlichen Grenzen“ konnte hier kaum die Rede sein, freilich aber davon, dass der staatliche Zusammenhalt vom Grad der späteren sozialistischen Verfasstheit abhing.
Neben den beiden Weltkriegen gab es im 20. Jahrhundert zwei weitere existentielle Katastrophen: die Selbstabschaffung des Sozialismus in der Sowjetunion mit der Folge des Staatskollapses und die mutwillige Zerstörung Jugoslawiens. Beide Aspekte werden den Fortgang der internationalen Beziehungen auf Jahrzehnte hin negativ beeinflussen.2 Denn seither fehlen den imperialistischen Großmächten zwei wirkungsvolle Gegenspieler und Korrektive, um dem herkömmlichen bürgerlichen Reißbrettspiel unter der Hegemonie des Weltkapitals Paroli zu bieten. Diese Tatsache muss als umso schwerwiegender bewertet werden, weil die UdSSR und Jugoslawien die einzigen beiden Länder der Welt waren, die sich aus eigener Kraft vom Faschismus befreit haben, weshalb sich ihre Abwesenheit noch einmal bitter rächen könnte, wenn der Trend zur Bildung einer reaktionären Festung Europa anhält.
Der wesentliche Gesichtspunkt der Biographie des slowenischen Historikers Jože Pirjevec über den Partisanen, Revolutionär und Staatspräsidenten Jugoslawiens Josip Broz Tito (1892-1980) liegt augenfällig darin, dass der jugoslawischen Gesamtstaatlichkeit absolute Priorität eingeräumt wird. Immer wieder (z.B. 390/91, 394, 459 und öfter) verweist Pirjevec darauf, dass Tito Zeit seines Lebens Garant der jugoslawischen Einheit war und u.a. deshalb als dessen größter Fehler von heute aus gesehen die ausbleibende Nachfolgeregelung betrachtet werden muss (vgl. 578-581). Auf Titos Begräbnis gaben sich Könige und Emire, Margaret Thatcher und Leonid I. Breschnew, die Vertreter Chinas, weitere Staatsoberhäupter und Armeegeneräle die Ehre und wussten wohl, dass nach Tito unruhige Zeiten anbrechen würden (584).
Pirjevec folgt akribisch den Zäsuren der europäischen Zeitgeschichte und beschreibt detailliert Titos Aufstieg zur führenden Persönlichkeit der jugoslawischen Kommunisten in der Zeit der Zwischenkriegsmonarchie, in der sogar das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale 1925 der Auffassung war, dass eine Aufteilung Jugoslawiens die Revolution befördern könnte (21). Unter den schwierigsten politischen und ökonomischen Umständen hatte Tito mit dem Partisanenkampf gegen das Deutsche Reich seit 1941 eine Volksbewegung für ein einiges sozialistisches Jugoslawien angeführt und war damit bei allen inneren und äußeren Widersprüchlichkeiten der jugoslawischen Politik insgesamt erfolgreich. Immerhin musste sich die Partisanenbewegung gegen die deutschen Besatzer, das kroatische Ustascha-Regime, gegen flankierende Angriffe seiner Nachbarstaaten, serbische „Tschetniks“ (die mal auf Seiten der Londoner Exilregierung und mal auf Seiten der Deutschen standen) und die Anwandlungen alliierter Machtavancen durchsetzen.
Der sowjetisch-jugoslawische Gegensatz von 1948 bis 1955 rührte vor allem daher, dass die jugoslawische Widerstandsbewegung eine eigene Massenbasis und Machtstruktur entwickelt hatte, die sich nicht bedingungslos der Stalinschen Politik unterwerfen wollte (vgl. 215). Den Ausschluss der jugoslawischen KP aus dem Kominform im Juni 1948 interpretiert Pirjevec als politische Fehlleistung Stalins, da die sowjetische Führungsriege damit gerechnet hatte, dass Tito danach einknicken und wieder auf den Kurs der Blockpolitik zurückkehren würde. Weil sich Tito und die Kommunisten aber laut Pirjevec auf eine starke Armee, verlässliche Polizeikräfte und nicht zuletzt die Mehrheit der Bevölkerung stützen konnten (247), verfehlte Stalin sein Ziel und trieb Jugoslawien in ein politisches Vakuum zwischen Ost und West. Aus dieser Lage resultierten auch die in den 1950er Jahren auftretenden Schwankungen der jugoslawischen Außenpolitik mit ihrer temporären Hinwendung nach Westen, deren merkwürdigster Ausdruck der Abschluss des sogenannten „Balkanpaktes“ 1954 mit den NATO-Staaten Griechenland und Türkei war (285), der zwar noch ratifiziert wurde, aber aufgrund der sowjetisch-jugoslawischen Wiederannäherung nach 1955 keine Wirkung entfaltete.
Zu den unstrittigen Leistungen Titos und der kommunistischen Partei Jugoslawiens gehören in jedem Fall die Blockfreienbewegung und die Idee der Selbstverwaltung der Produktionsmittel durch die Werktätigen. Die Organisation der Nichtpaktgebundenen, initiiert auf der Konferenz von Bandung 1955 und etabliert nach 1960 in ständigem Arbeitskontakt mit Indien, Ägypten, mehreren afrikanischen Ländern, Indonesien sowie später auch China erreichte in den 1970er Jahren in den Gremien der UNO ihren größten Einfluss, wobei das internationale Renommee Jugoslawiens bei den Entwicklungsländern ständig stieg. Auf innenpolitischem Terrain wollte man die Position der Partei innerhalb der Arbeiterklasse durch Selbstverwaltungsorgane stärken, die von Pirjevec als „zukunftsweisend“ beschrieben werden (300).3 Allerdings konnten im Verlauf der Jahrzehnte die inhärenten Widersprüche zwischen demokratischem Zentralismus und Arbeiterselbstverwaltung nicht gelöst werden. In der gegenwärtigen Phase der weltweiten Agonie ist ein Nachdenken über Blockfreiheit, kollektive Sicherheit und autonome Wirtschaftsführung allerdings dringender denn je, denn Klimawandel, Kriegsphilosophie und Perspektivlosigkeit sollten auch die jugoslawische Erfahrung wieder zu einem Gegenstand alternativer Anstrengungen werden lassen.
Pirjevec‘s fundamentales Werk ist weit mehr als eine Biographie. Es ist gleichzeitig ein Kompendium jugoslawischer Geschichte von 1918 bis 1980. Neben Titos Leben und Wirken wird seinen engsten Weggefährten Milovan Dilas, Edvard Kardelj, Koča Popović, Alexander Ranković und Vladimir Dedijer breiter Raum gewidmet, wobei Dedijers Aufzeichnungen über Tito eine wesentliche Primärquelle für Pirjevec darstellen und die Auseinandersetzung mit Kardeljs Verfassungsentwürfen (insbesondere des letzten von 1974, vgl. 504) für das Verständnis der jugoslawischen Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist. Im Gegensatz dazu erscheint der Exkurs „Tito und die Frauen“ (531-555) entbehrlich. Auffällig ist zudem, dass Pirjevec in seiner Analyse ab etwa 1970 (vgl. 450ff) die Perspektive wechselt, vom jugoslawischen Prinzip nach und nach abgeht und die Teilrepubliken nach dem post-festum-Verdikt als tendenziell eigenständig auffasst, obwohl der gesamtjugoslawische Charakter bis zu den Bürgerkriegen in den 1990er Jahren seine Bindungskraft behielt.
Deshalb ist zu bedauern, dass die Jahre nach Titos Tod (als Versagen vor dessen Vermächtnis) nicht mehr behandelt werden. Sie hätten zu Tage gefördert, dass der jugoslawische Niedergang von außen induziert war durch eine Kreditpolitik der Weltfinanzinstitutionen, die wirtschaftliche Krisen beförderte und die erst danach den innerjugoslawischen Separatismus anheizte. Inzwischen existieren auf dem jugoslawischen Territorium sieben völkerrechtlich eigenständige Subjekte, die mehr oder weniger lebensfähig sind bzw. den Status eines Protektorats aufweisen. Ob sie ihr Heil wirklich in der Anbindung an eine Europäische Union finden, die mit ihrer Politik den Sezessionen eher entgegenkommt als sie zu verhindern, dürfte sehr fraglich sein.4 Tito hatte völlig recht, als er im November 1965 sagte: „Und wenn uns nicht klar wird, dass es der Sozialismus ist, der Jugoslawien vereint, dann kann Jugoslawien kein anderer Faktor vereinen. Und wenn ich sage Sozialismus, denke ich an gesellschaftlichen Fortschritt auf der Grundlage des Sozialismus.“ (413)
Detlef Kannapin
„Totgesagte leben länger“
Rainer Holze/Birgid Leske (Hrsg.), Festschrift 25 Jahre Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1991 – 2016. Texte – Dokumente – Bilder zur Vereinsgeschichte, edition bodoni, Buskow bei Neuruppin 2016, 116 S., 9,00 Euro
Die von Rainer Holze und Birgid Leske herausgegebene Festschrift erinnert an den vor einem Vierteljahrhundert nach Abwicklung des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung (vormals IML beim ZK der SED) geführten „Überlebenskampf“ zur Erhaltung der reichen Bestände des Archivs und der Institutsbibliothek. Jürgen Stroech beschreibt die Anstrengungen, die von den Mitarbeitern unternommen wurden, um die Fachbibliothek – zu deren Schätzen ein Teil der wiederaufgefundenen persönlichen Bibliothek von Marx und Engels sowie Materialien aus früheren während der NS-Diktatur beschlagnahmten Arbeiterbibliotheken gehörten – und die umfangreichen Bestände des Zentralen Parteiarchivs als unersetzbares deutsches Kulturgut zu erhalten. Annelies Laschitza berichtet über das am 5./6. März 1991 vom Institut zum 120. Geburtstag von Rosa Luxemburg organisierte Symposium, auf dem ein kritischer Blick auf den Zustand der Rosa-Luxemburg-Forschung und -Edition sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik gerichtet wurde. Sie würdigt, dass Teilnehmer aus sieben Ländern Unterstützung zusagten, Archiv und Bibliothek in ihren Beständen zu erhalten und ihre weitere Nutzung für Wissenschaft und Bildung zu gewährleisten.
Dokumente aus der Frühphase des Förderkreises, darunter von Narihiko Ito (Tokio), Vorsitzender der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft, und Henryk Skrzypczak, erster Vorsitzender des Förderkreises, ergänzen und erhellen auf lebendige Weise das damalige historische Geschehen. Die Beiträge machen nachvollziehbar, wie notwendig die Gründung des Förderkreises am 6. März 1991 werden sollte.
Die Festschrift vermittelt neben der Rückschau Einsichten, wie der Verein unter keineswegs günstigen Bedingungen mit seinen ehrenamtlichen Aktivitäten, Publikationen in den halbjährlich erscheinenden „Mitteilungen“1 und vielfältigen Veranstaltungen wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Geschichte der Arbeit und der Arbeiterbewegung nicht aus der wissenschaftlichen Landschaft verdrängt werden konnte. Anhand der von Günter Benser zusammengestellten Chronik der Jahre 1991 bis 2016 wird das konkretisiert. Rainer Holze und Kurt Metschlies beschäftigen sich mit Reaktionen in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf die Publikations- und Öffentlichkeitsarbeit des Förderkreises. Vorgestellt werden Veröffentlichungen über den Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932, zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus 1945 und die Festschrift zum 80. Geburtstag von Günter Benser über Basisdemokratie und Arbeiterbewegung. Sie verweisen anhand von Rezensionen und Annotationen in Fachzeitschriften, Zeitungen und wissenschaftlichen nationalen sowie internationalen Internetportalen auf die Resonanz, die die Publikationen des Vereins gefunden haben.
Mitglieder und Wegbegleiter unterschiedlicher Generationen des Förderkreises (u.a. Theodor Bergmann, Gerhard Engel, Jörg Wollenberg, André Leisewitz) heben ebenso wie Andreas Diers, Alexander Amberger, Stefan Heinz und Bernd Hüttner als Vertreter der jüngeren Generation hervor, dass der Verein an der Nahtstelle zwischen Quellenbasis und historischer Forschung unverzichtbar geworden ist. Rainer Zilkenat nimmt dies als Anregung seitens des Vorstands für die Zukunft des Förderkreises als „Brücke“ zwischen den Generationen auf.
Erwin Lewin
Marxistische Debatten über die koloniale Welt
Felix Wemheuer (Hg.), Marx und der globale Süden, Köln, PapyRossa Verlag, 2016, 326 S., 19,90 Euro
Hauptintention des Sammelbandes ist es, „theoretische Debatten zum Marxismus aus und über den globalen Süden mit empirischen Analysen geschichtlicher und aktueller Entwicklungen aus unterschiedlichen Disziplinen zu verbinden“(8), wie der Herausgeber (Sinologe und Professor für Moderne China Studien in Köln) in seiner informativen Einleitung formuliert. In dieser wirft er u.a. Schlaglichter auf das wechselvolle Verhältnis von Marx/Marxismus und dem sog. „globalen Süden“, wie heute die ehemals koloniale und halbkoloniale Welt, die von den europäischen Zentren beherrscht wurde, „zeitgemäß“ genannt werden muss (um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, den „Altvorderen“ anzugehören). Sein Abriss der Geschichte des Marxismus in Asien, Lateinamerika und – weniger – Afrika beginnt mit der Rezeption und Wirkung der Russischen Revolution von 1917. Seit den Debatten der KI (1919) stand politisch das Verhältnis von internationalen und nationalen Elementen der jeweiligen Handlungsbedingungen linker Kräfte vor Ort sowie analytisch das Verhältnis von allgemeinen Kategorien der Kapitalismusanalyse und Kategorien für besondere nationale Verhältnisse im Vordergrund der zahllosen Debatten.
Es folgt ein brillanter Überblicksartikel von Kevin B. Anderson („Marx an den Rändern“), der eine geraffte Zusammenfassung seines gleichnamigen Buchs von 2010 darstellt und worin er die den einzelnen Schaffensperioden von Marx zuzuordnenden Aussagen über die außereuropäische Welt analysiert. Dabei wird deutlich, dass – je später seine Äußerungen –umso stärker von Marx multilineare historische Entwicklungen, vor allem jenseits von Westeuropa (Russland, Asien etc.) akzentuiert werden. Gleichzeitig tritt ein „abstrakter Universalismus“ zugunsten von „Besonderheiten“ wie Nationalität/Ethnizität ebenso in den Hintergrund wie nun, umgekehrt, auch Probleme indigenen Widerstands gegen den europäischen Kolonialismus/Kapitalis-mus und mögliche Bündnisse dieser unterdrückten Völker mit der Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder thematisiert werden.
Es folgen ein Interview mit Vivek Chibber (Soziologe u. Mitherausgeber des „Socialist Register“) sowie ein Artikel von ihm über die sog „postkoloniale Theorie“, wobei beide sich kritisch mit – wie er meint – anti-aufklärerischen und tendenziell irrationalen Implikationen mancher postkolonialer Theorievarianten (z.B. „Subaltern Studies“) beschäftigen. Insbesondere idealistische Vorstellungen von der europäischen Bourgeoisie im 18. und 19. Jahrhundert, eine Ablehnung der universellen, weltweiten Zwangsmechanismen des Kapitals sowie die These, dass die verschiedenen Teile subalterner Klassen sich nicht dagegen zusammentun können, sind wichtige Kritikpunkte gegenüber dieser Version post-kolonialer Theoriebildung. Deren hohe Akzeptanz (die sich u.a in beträchtlichen Fördermitteln, Ausbau von Studiengängen etc. niederschlägt), vor allem in der angelsächsischen Universitätswelt seit mehr als 20 Jahren, bringt Chibber mit ihren theoretischen und praktisch-politischen Implikationen( Distanz zur Kapitalismus- und Imperialismuskritik) in Verbindung.
Der lange, sehr reichhaltige (aber etwas unübersichtliche) Beitrag von M. Zeuske (Historiker an der Universität zu Köln) ist schon im Titel stark befrachtet. „Karl Marx, Sklaverei, Formationstheorie, ursprüngliche Akkumulation und Global South. Eine globalhistorische Skizze.“ Darin bringt er u.a. die Verbreitung der neuzeitlichen Sklaverei im „atlantischen Raum“ mit der Entstehung des modernen Kapitalismus in Verbindung und weist darauf hin dass jene keineswegs als „anormales Relikt“ (wie bei Marx und Engels gelegentlich zu lesen) bezeichnet werden könne; vielmehr sei unter bestimmten Bedingungen solche unfreie Arbeit durchaus mit Kapitalismus vereinbar. Marx habe ihr nur für die Entstehungsphase des Kapitalismus eine gewisse Bedeutung zugewiesen, deren Fortdauer – unter verdeckten Formen – aber für den einmal in Gang gesetzten Kapitalismus unterschätzt.
D. Mayer (Historiker in Wien/Amster-dam) möchte untersuchen, wie Marx in Lateinamerika rezipiert und auf die lateinamerikanische Realität bezogen wurde. Auch hier galt es zwischen den theoretischen Gegenpolen von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Produktion und deren ganz unterschiedlicher Umsetzung in sehr besonderen Realitäten zu differenzieren bzw. theoretisch sowie praktisch-politisch zu vermitteln. Anhand von entsprechenden Diskussionen in den 1920er Jahren – im Kontext der Tätigkeit der KI in Lateinamerika – sowie den Debatten der 1960er Jahre versucht er dieses Spannungsverhältnis an verschiedenen Diskussionskomplexen (Feudalismus-Kapitalismusdebatte, Produktionsweisendiskussion, Fragen der Bündnispolitik und der Rolle der einheimischen Bourgeoisie auf der Basis einer angemessenen Sozialstruktur- und Klassenanalyse etc.) zu exemplifizieren. Er unterstreicht, dass aus Lateinamerika durchaus eigenständige marxistische Denkansätze hervorgegangen sind und keineswegs nur eine Adaptation von „europäischen Theorien“ stattfand.
In seinem Beitrag über die Bourgeoisie im „globalen Süden“ knüpft J. Goldberg an seine 2015 erschienene Studie („Die Emanzipation des Südens“, Rezension in Z 102) an, skizziert die entwicklungstheoretische Diskussion darüber in den letzten Jahrzehnten und unterstreicht, dass die in vielen Ländern des Südens agierende Bourgeoisie stark staatsverbunden ist und einige als notwendig angesehene Merkmale (wie z.B. vollständiges Privateigentum an Produktionsmitteln , Konkurrenz, strikte Trennung von Staat und Gesellschaft etc.) nicht aufweist, gleichwohl aber eine dynamische Rolle im Akkumulationsprozess und im Klassenkampf gegen die Produzenten spielen kann. An diese sicher für viele Länder Asiens und Afrikas zutreffenden These bzw. Einsicht schließt sich allerdings die Frage an, wie dort bzw. über welche Mechanismen die in den entwickelten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften zentralen Staatsfunktionen im Einzelnen in den Ländern des Südens ausgeübt werden.
In dem originellen Artikel von F. Wemheuer wird erläutert, wie der Klassenstatus in der VR China von 1949 bis 1980 offiziell festgelegt wurde; dieser war zentral für den Zugang zu oder Ausschluss von Partei, Armee, höhere Bildung etc. Neben der Familienherkunft bestimmte sich der Klassenstatus nach der individuellen Klassensituation, die sich aber im Laufe der Zeit ändern konnte. Die komplexe und wechselvolle Geschichte der VR Chinas in dieser Periode, in der häufig nach zufälligen und/oder informellen Kriterien klassifiziert wurde, lokale Kader Machtmissbrauch bei der Festlegung des Klassenstatus trieben oder andere Akteure die Klassenpolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen suchten, war durch solche Art von „Klassenkampf“ in der Mao-Ära gekennzeichnet, eines Klassenkampfs, der „vor allem in Form der … Regelung des Zugangs und Ausschlusses durch das Statussystem“ (239) bestimmt wurde.
Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit dem „Marxismus in China nach Mao“, verfasst von J. G. Mahoney (Politikwissenschaftler an der „East China Normal University). Mit dem Hinweis auf die politische und ökonomische Öffnung Chinas (vor allem gegenüber den USA) seit Beginn der 70er Jahre (also Jahre vor Maos Tod 1976) u.a. relativiert er die These vom klaren Bruch zwischen der Ära Maos und der nachfolgenden von Deng. Im Übrigen versucht er „den chinesischen Marxismus“ in seinen gegenwärtigen drei oder vier Hauptströmungen zu beschreiben und diese in die chinesische Geschichte – bis zum 17. Jahrhundert zurückgehend – einzuordnen. Er kommt zu einem paradox anmutenden Ergebnis, insofern er einerseits von einer „starken Präsenz“ des Marxismus im heutigen China spricht, die aber eine „beinahe gespenstische“ Form annehme; zudem sei „das Potenzial für sein Wiederaufleben weiterhin stark“ (275), auch wenn viele Fragen der aktuellen Entwicklung (z.B. die Rolle des Klassenkampfs, die Bedeutung der weiteren ökonomischen Liberalisierung etc.) noch völlig ungeklärt und alles andere als konsensual seien.
Ch. Strempell (Ethnologe an der Universität Heidelberg) analysiert Aspekte der „ursprünglichen Akkumulation“ in Indien nach 1990, d.h. der Phase, in der mit der Liberalisierung, Privatisierung und Öffnung nach außen die Abkehr vom bisher herrschenden staatlich-gemischtwirtschaftlichem Modell eingeleitet wurde. Dabei legt er Harvey’s Konzept der „Politik der Enteignung“ zugrunde. Diese trifft auf eine Generation von ländlicher und städtischer Unterklasse, die sich von der Situation in den 50er bis 80er Jahren insofern deutlich unterscheidet, als sich gerade durch die Verwobenheit von Klassen-, Kasten- und ethnischen Zugehörigkeiten die innere Differenzierung dieses Segments klar in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt hat. Am Beispiel der neuesten Entwicklung von Rourkela, der vormaligen Modellstadt rund um das frühere staatliche Stahlunternehmen, und den umliegende Kleinstädten und Dörfern wird dieser Befund empirisch belegt.
Den Band beschließt der Beitrag von R. Kößler (Soziologe/Politologe an der Universität Freiburg), der den Titel „Lohnnexus, Prekariat, globale Arbeiterklasse und soziale Kämpfe“ trägt. Die gegenwärtigen Prozesse der massiven internationalen Produktionsverlagerungen, der mikroelektronischen Revolution, der Deregulierung und der Dynamik der Finanzmärkte haben nicht nur neue regionale Machtverschiebungen hervorgebracht, sondern auch neue Arbeits- und Klassenverhältnisse in den alten Industrieländern und den „Schwellenländern“ geschaffen. Kößler verweist darauf, dass damit eine Schwächung der traditionellen Arbeiterbewegungen in den klassischen Industrieländern sowie eine noch stärkere Heterogenisierung der abhängig Beschäftigten (als zuvor) in Entwicklungs- und Schwellenländern eingetreten sei; wobei hier Gruppierungen und Entgegensetzungen spätestens seit den 80er Jahren hinzugetreten sind, die sich – neben dem Kapital-Arbeit - Antagonismus – mit Konflikten in den Geschlechterverhältnissen, zwischen Menschen unterschiedlicher Ethnien sowie solche über ökologische Grundfragen verbinden. Da die Begriffe der „Multitude“ oder des „Multiversums“ zwar der Vielgestaltigkeit der subalternen Klassen Ausdruck verleihen, sie aber eher deskriptiv, nicht analytisch vertieft zu erfassen vermögen, will Kößler dieses Manko durch eine neue kritische Lektüre der Marxschen Klassenanalysen sowie durch Rekurs auf die Konzepte der verschiedenartigen Subsumption unter das Kapital angehen; diese neuen Erscheinungen, aber auch „Hergebrachtes in ein neues Licht“ (323) zu rücken, ist sein Anliegen. Ob die – sehr spezielle – Entwicklung der Protestbewegungen in Südafrika als empirischer Hintergrund für eine neue, verallgemeinerbare analytische Sichtweise der neuen weltweiten Konstellationen glücklich gewählt war, und ob am Ende sich mehr als der Verweis auf die gewachsene Bedeutung von Marginalisierten, informell Arbeitenden und Prekären – unter den neuen Kapital- und Machtverhältnissen – bereits wirklich weiter hilft bzw. die diesen Erscheinungen „zugrundeliegenden Strukturen“ (323) ansatzweise klarer zu Tage gefördert wurden, müssen die LeserInnen entscheiden.1
Alles in allem ein sehr anregender, vielfältiger und zur vertieften Diskussion stimulierender Band, der allerdings in einer Zeit erscheint, in der theoretische Neuansätze, ja Provokationen auf nicht sehr große Resonanz zu stoßen scheinen.
Dieter Boris
Krisenperspektiven für
Europa
Étienne Balibar, Europa: Krise und Ende? Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2016, 276 S., 24,90 Euro
Es ist sicherlich nur ein Zufall, dass das Jahr 1973, als die Bühnenfassung der heute legendären Rocky-Horror-Show in London Premiere feierte, zugleich das Jahr des Beitritts der Briten zur Europäischen Union war. Doch während das Pärchen Brad und Janet in dem auch nach 43 Jahren noch erfolgreichen Musical am Ende außerirdischer Exzesse, Verführungen und Intrigen stets glücklich davonkommt, bereiten die EU und Großbritannien heute ihre Scheidung vor. Europa steckt in der Krise. Für den französischen Philosophen Étienne Balibar Anlass einige seiner Texte der letzten Jahre zu einem Buch zusammen zu fassen und „für Europa eine tragfähige Perspektive der Neugründung“ (21) zu suchen. Und so ungewiss diese Zukunft derzeit auch ist, so wahr ist zweifellos Balibars Grundannahme, dass sie „in jedem Fall aber von unserer wechselseitigen Abhängigkeit bestimmt sein wird“ (13).
Die einzelnen Texte sind als intellektuelle Interventionen zwischen dem Beginn der Eurokrise 2010 und dem Herbst 2015 entstanden. Sie verbinden fünf Themenkomplexe, anhand derer Balibar die neue Qualität europäischer Krisenprozesse „als ein Problem für die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten“ (11) diskutiert. Erstens, die Folgen des autoritär-technokratischen EU-Konstitutionalismus, wie er sich insbesondere gegenüber der griechischen (Syriza-)Regierung gezeigt hat. Zweitens, die Zusammenhänge zwischen solchen Erscheinungen, die unter dem Stichwort ‚Krise der Repräsentation‘ diskutiert werden und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa. Drittens, die Zusammenhänge zwischen Staatenwettbewerb als Modus der EU-Integration und der tendenziellen Schwächung der nationalstaatlich verfassten Sozialstaaten. Viertens, die sich überlagernden Entwicklungen eines wiedererstarkten innereuropäischen Nationalismus auf der einen und eines wachsenden Fremdenhasses auf der anderer Seite. Fünftens, der geopolitische Funktionswandel Europas und die sich im Schatten der Flüchtlingsbewegungen vollziehende Formierung von ‚Europa-als-Grenze‘.
Die Gegenwart der EU analysiert Balibar als Periode, in der die Demokratie – verstanden als eine „Gesamtheit von Praktiken, Institutionen und historischen Bedingungen“ (241) – in der Defensive ist. Reale (ökonomische) Mächte haben sich ein ganzes Stück weit demokratischer Kontrollen entzogen. Zudem werden deren institutionellen und normativen Grundlagen durch die neoliberale Hegemonie weiter unterminiert. Gleichzeitig entstehen vielerorts neue Bewegungen, die mit innovativen Formen der Gegenwehr ihre Unzufriedenheit mit den Folgen dieser Entwicklung ausdrücken und die neue Felder gesellschaftlicher Kämpfe und solidarischer Praxen schaffen (241). An verschiedenen Stellen seiner Ausführungen ist Balibar bemüht, die möglichen Lehren aus der griechischen Erfahrung sehr gründlich zu ziehen – als deprimierende Erfahrung einerseits, weil eine faktische Entmachtung des Demos stattfand, und als Ermutigung andererseits, weil es trotz Niederlage gelang, die Erfordernis einer Alternative in Europa aufzuzeigen (28).
Die neoliberalen Technokraten, die die EU-Politik heute dominieren, schüren demgegenüber das Bild, dass den EU-Befürwortern, die auf die Einhaltung vermeintlich gemeinsamer Regeln achten, die eigentlichen Anti-Europäer gegenüberstünden, die diese Regeln brechen wollten (248). Der tatsächliche Souveränitätskonflikt bestehe Balibar zufolge heute aber nicht zwischen der EU-Ebene und der nationalstaatlichen Ebene – auch wenn zahlreiche Konflikte auf dieses anschauliche Schema reduziert werden. So könne keine Nation alleine wieder eine tatsächliche Souveränität des Volkes gegenüber dem globalen Finanzmarkt herstellen, der ihnen inzwischen als „Quasi-Souverän“ (246) gegenüber tritt. Nur ein demokratisches Bündnis miteinander koalierender Nationen wäre dazu in der Lage.
Tatsächlich erlebt Europa zurzeit aber eine Renaissance nationaler Souveränismen bis hin zu populistischen Nationalismen. Balibar warnt eindringlich davor, die mit dem wachsenden Einfluss dieser Tendenzen verbundene Infragestellung des ‚Projekts Europa‘ und die gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse, die daraus resultieren können, zu unterschätzen – oder auch nur darauf zu hoffen, dass die herrschenden Eliten einen ‚Plan B‘ haben. Letzteres ist offenbar – siehe Brexit – nicht der Fall. Der offenkundig gewordenen Unfähigkeit der herrschenden Klasse für Europa ein neues hegemoniales Projekt zu entwerfen, steht für den Autor die Unfähigkeit der Linken gegenüber, „das Problem eines anderen Europas überhaupt erst im europäischen Maßstab als solches aufzuwerfen, d.h. über die Grenzen hinweg“ (31). In kritischer Auseinandersetzung mit Positionen anderer europäischer Intellektueller wie Jürgen Habermas, arbeitet er heraus, dass Initiativen, die auf die Stärkung der parlamentarischen Vertretung der Bevölkerung zielen, zwar nicht falsch, jedoch unzureichend sind. Denn die aktuellen Praxen und Abläufe in der EU sind „doch gerade darauf hin angelegt worden, die Demokratie auszuschließen“ (156). Es bräuchte vielmehr einen richtiggehenden ‚Sprung‘, um die Demokratie wieder in den Aufbau Europas einzubringen.
Potenziale einer Gegenbewegung zur voranschreitenden Ent-Demokratisie-rung, also für eine „Umkehrung der Umkehrung“ (242), sieht er in der Rückbindung demokratischer Prozesse an das Partizipation ermöglichende Lokale, wie sie etwa bei der spanischen Bewegung der Indignados (zuletzt auch der NuitDebout in Frankreich) entwickelt und kultiviert wurden. Denn die (föderale) Demokratie auf (supranationaler) EU-Ebene, ebenso wie die nationale Demokratie können nur dann wieder gestärkt werden, wenn sich die Demokratie auf beiden Ebenen substanziell wechselseitig ergänzt bzw. zu einem „kombinierten Wachstum der Handlungsfähigkeit“ (243) führt – statt zu wechselseitiger Blockade und Sinnentleerung. Letztlich hänge die Legitimität eines politischen Europas davon ab, ob seine konkrete Verfasstheit von den Menschen als etwas wahrgenommen wird, was die tradierten Formen demokratischen Regierens derartig ergänzt, dass es ihnen überlegen bzw. als fortschrittlich erscheint.
Balibars Buch ist ein wahrer Steinbruch kluger Gedanken zur Zukunft eines demokratischen und von sozialer Teilhabe geprägten solidarischen Europas. Satzlängen über sechs und mehr Zeilen machen es mitunter schwer, den Gedankengängen des Autors zu folgen. Wer sich aber darauf einlässt, kann einen bedeutenden europäischen Philosophen sozusagen beim Denken begleiten und wird belohnt mit anregenden Analysen der europäischen Widerspruchsverhältnisse, die ein besseres Verständnis der komplexen Realitäten eröffnen. Verdienstvoll an der Übersetzung durch Frieder Otto Wolf sind nicht nur die sprachliche Versiertheit und die begrifflichen Ergänzungen sowie erläuternde Fußnoten, die das Verständnis des Textes erleichtern. Es verdient eine besondere Würdigung, dass die deutsche Fassung bereits ein knappes Vierteljahr nach der französischen Originalausgabe erschienen ist – essentiell für die Wirksamkeit einer politischen Philosophie, die in aktuelle Prozesse eingreifen bzw. zum Eingreifen ermutigen will.
Jörg Reitzig
Transformationsdebatte
Joachim Bischoff/Klaus Steinitz, Götterdämmerung des Kapitalismus, Eine Flugschrift, VSA: Verlag, Hamburg 2016, 166 S., 12,80 Euro
Der Kapitalismus steckt in einer Dauerkrise, gerät „mehr und mehr aus den Fugen: eine Gesellschaft ohne Ausgleichungsprozesse, Sicherheit und Solidarität, von Zynismus zerfressen und ständig von platzenden Vermögensblasen bedroht, zusammengehalten von grenzenloser Konsumlust am Rande der ökologischen Möglichkeiten – das kann nicht gut gehen“, schreiben Joachim Bischoff und Klaus Steinitz. Sie fragen: Was kommt danach? Wer sind die Akteure, die den Kapitalismus in eine humanere Gesellschaft transformieren? Und was ist ihre Agenda? Sie greifen damit in ihrer „Flugschrift“ Fragen auf, die gegenwärtig heftig diskutiert werden (vgl. die Beiträge von Frank Deppe, Jürgen Reusch, Jörg Goldberg, Christina Kaindl, Michael Zander, Dieter Kramer, Werner Goldschmidt und Christian Fuchs in Z. 107, S. 30-114). Die Ideen der Linken können gegensätzlicher nicht sein: Zentrale staatliche Steuerung oder Marktsozialismus? Ein kleinbürgerlicher Sozialismus, der das Kolossale auf das Gemäßigte stutzt und sich mit der Liquidierung der Monopole begnügt? Ein „Aktienmarktsozialismus“, der alle am Eigentum beteiligt? Sozialismus aus dem Computer, der weder des Staates noch des Marktes bedarf? Die selbstorganisierte, freiwillige Produktion gleichberechtigter Konsumenten, die ohne Ware, Preis, Geld und Profit auskommt und die Bedürfnisse unmittelbar befriedigt – quasi eine Selbstversorgung urgemeinschaftlicher Art auf höherer Ebene?
Bischoff und Steinitz setzen sich mit Arbeiten von Wolfgang Streeck, Paul Mason, Karl Polanyi, Klaus Dörre, Axel Honneth und anderen auseinander. Am realistischsten erscheint ihnen eine postkapitalistische Alternative, die Plan- und Marktregulierung miteinander verbindet und einen Eigentumspluralismus zulässt, der auch privates Eigentum an den Produktionsmitteln einschließt. Starke genossenschaftliche und öffentliche Sektoren prägten die Volkswirtschaft. Die Demokratie würde umfassend gewahrt. Der Markt, seine Kategorien und Mechanismen würden genutzt.
Im ersten Teil ihrer „Flugschrift“ widmen sich die Autoren der Analyse der „systemischen Krise“ des Kapitalismus. Sie äußere sich in Funktionsstörungen: Das Wirtschaftswachstum lässt nach, die soziale Ungleichheit nimmt zu, die finanzielle Instabilität wird größer, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Schulden steigen, ein Sparwahn erfasst Politiker, Klima- und Umweltkrisen gefährden die Erde. Korruption, Wirtschaftskriminalität und Lobbyismus sind auf dem Vormarsch. Der Übergang zu einer wünschenswerten, beschleunigten Akkumulation werde von einer „riskanten Dreierkonstellation bedroht: von Schuldenständen, die zu hoch sind, einem Produktivitätswachstum, das zu niedrig ist, und einem geld- und kreditpolitischen Handlungsspielraum, der zu eng ist“. Es stelle sich die Frage, ob der Kapitalismus an der Zuspitzung seiner Widersprüche zugrunde geht oder sein Anpassungspotenzial noch einmal mobilisieren kann. Wenn nicht – und vieles spreche dafür, dass er die Kraft zur Erneuerung mehr und mehr einbüße – gäbe es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: „Entweder er endet in einem chronischen Niedergang und Chaos, oder es gelingt, ihn in eine nichtkapitalistische, lebens- und zukunftsfähige alternative Gesellschafts- und Produktionsweise zu transformieren.“ Bischoff und Steinitz fragen, ob nach dem Scheitern und der Diskreditierung des Realsozialismus die sozialistische Transformation eine Alternative sein kann. Sie geben darauf eine positive Antwort, die jedoch daran geknüpft ist, dass eine Erneuerung der sozialistischen Theorie gelingt sowie die strukturellen Fehlentwicklungen des gescheiterten Staatssozialismus durch eine neue Sozialismuskonzeption vermieden werden. Dabei rückten auch neue Probleme in das Zentrum sozialistischer Transformationsüberlegungen, wie die Umweltkrise, die Globalisierung, die Finanzialisierung, die Digitalisierung und zunehmende Vernetzung der Unternehmen und Verbraucher per Internet und anderen Netzwerken (Industrie 4.0.).
Einer von vielen Vorzügen des Buches: Indem die Autoren die Gründe für den Untergang des realen Sozialismus systematisieren – historische, äußere, strukturelle, genetische und subjektive –, zeigen sie, wie eine sozialistische Alternative nicht sein kann. Abschied zu nehmen ist von „sakralen“ Teilen der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie: der führenden Rolle und Unfehlbarkeit der Partei, ihres Politbüros und Generalsekretärs, der historischen Mission der Arbeiterklasse, die den Kapitalismus gesetzmäßig stürze, vom Glauben, die Verstaatlichung des Eigentums an den Produktionsmitteln sei die höchste und beste Form des sozialistischen Eigentums. Eine überdimensionierte zentrale Planung, die viel zu detailliert in wirtschaftliche Entscheidungen eingriff, müsse vermieden werden. Demokratie- und Freiheitsdefizite dürften nicht zugelassen, Emanzipation und Selbstbestimmung nicht behindert werden. Die Ergebnisse einer sozialistischen Entwicklung müssten stets neu gesichert werden: durch eine kluge Politik, die enge Verbindung mit dem Volk, die Verhinderung des Personenkults und der Korruption unter den Eliten.
Bischoff und Steinitz erläutern im zweiten Teil ihrer Schrift, worauf es auf dem Weg zu einer alternativen, demokratischen sozialistischen Gesellschaft ankomme. Sie stützen sich dabei auf die Ergebnisse der Transformationsforschung, die in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihrem Umkreis von Rolf Reißig, Dieter Klein, Michael Brie, Mario Candeias und anderen Autoren vorgelegt wurden.
Sie fordern die Eigentumsstruktur umzugestalten, die Herrschaft der Konzerne, Großbanken und Finanzinvestoren zu brechen, sozial-ökologische Maßstäbe zu sichern sowie eine demokratische Teilnahme der Belegschaften an den Entscheidungen im Unternehmen zu ermöglichen. Die gesellschaftliche Steuerung/Planung sei sinnvoll mit der Regulierung durch den Markt zu verbinden. Die Beschäftigten und das Management in Unternehmen, die sich im gesellschaftlichen Eigentum befinden, müssten wirkungsvoll für eine bedarfsgerechte, innovative und effektive Produktion motiviert werden. Auch eine auf Gleichberechtigung, gegenseitigem Vorteil und Solidarität beruhende internationale Arbeitsteilung sei notwendig. Die anzustrebenden Veränderungen sind komplex. Einzelschritte könnten nicht im Detail treffsicher vorausgesagt werden. Mit Recht aber heben Bischoff und Steinitz die Bedeutung der subjektiven Faktoren für eine erfolgreiche Transformation hervor: Der „Herstellung einer funktionierenden, lebendigen, die Partizipation der Menschen an politischen Entscheidungen fördernden Demokratie mit einer starken Basisbeteiligung (kommt) eine herausragende Rolle zu. Dazu gehörten wirksame Kontrollrechte, Möglichkeiten für offene Diskussionen und die Äußerung von Kritik, ohne persönliche Nachteile zu erfahren, sowie stabile, arbeitsfähige Basisinstitutionen (Demokratie von unten).“ Gerade in Lateinamerika zeige sich in neuerer Zeit, „dass politische Fehler, eine Schwächung der demokratischen Basis der linken bzw. Mitte-Links-Regierungen und politisches Machtstreben sowie charakterliche Schwächen führender Persönlichkeiten zu einer Destabilisierung und zu einem Rückgang ihrer Vertrauensbasis in der Bevölkerung sowie zu einer Stärkung konservativer, reaktionärer Kräfte geführt haben.“
Die Autoren sind für eine Transformation im Kapitalismus, halten aber die darüber hinausgehende sozialistische Transformation für eine der größten Herausforderungen der Linken. Ihr Buch ist lesenswert und anregend – ein wichtiger Beitrag zur anhaltenden Diskussion über Probleme der Zukunft.
Klaus Müller
„Soziologie soll Menschheit vor Märkten retten“
Michael Burawoy, Public sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit, hrsg. von Brigitte Aulenbacher und Klaus Dörre mit einem Nachwort von Hans-Jürgen Urban, Weinheim und Basel 2015, Verlag Beltz Juventa, 258 Seiten, 19,95 Euro
Es ist schon erstaunlich: Ein am Marxismus orientierter Soziologe, der in Großbritannien geboren wurde und in Kalifornien lehrte, ist jahrelang Präsident der Internationalen Soziologenvereinigung ISA, und hierzulande wird er auch in der linken Szene nur am Rande wahrgenommen. Es ist das Verdienst von Brigitte Aulenbacher und Klaus Dörre, dies zu ändern. Dabei helfen könnte die von beiden herausgegebene Publikation von Michael Burawoy „Public Sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit“. Unterstützt werden die beiden durch ein Nachwort von Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und habilitierter Privatdozent an der Uni Jena, der den Ertrag einer „öffentlichen Soziologie“ für die Gewerkschaftsforschung und -praxis beleuchtet.
Auf dem dritten Welttreffen der Internationalen Soziologenvereinigung im Juli 2016 in Wien mit über 4000 Teilnehmenden präsentierte Michael Burawoy sein politisches Verständnis von Soziologie. In einem Interview mit dem österreichischen Radio betont er deren aktuelle Bedeutung, „weil wir in einer Welt leben, in der die Märkte Amok laufen. … Soziologie ist heute sehr notwendig, um die Menschheit von den Märkten zu retten.“1
Das Buch ist ein Sammelband unterschiedlicher Beiträge von Burawoy, die erstmals umfassend das Konzept und die Anwendungsfelder einer öffentlichen Soziologie für deutsche Leser in einer hervorragenden Übersetzung aus dem Englischen darstellen. Sowohl die Einleitung von Brigitte Aulenbacher und Klaus Dörre als auch das Nachwort von Hans-Jürgen Urban geben einen sehr guten Überblick zu den theoretischen Ansätzen Burawoys und den Anregungen für die hiesige Forschung und Diskussion. Für den deutschsprachigen Raum hatte die Zeitschrift „Soziale Welt“ im Jahr 2005 erstmals ein Plädoyer Burawoys für eine öffentliche Soziologie – quasi als ein „Gründungstext“ – veröffentlicht, der in dem vorliegenden Band als Kapitel 2 aufgenommen wurde.
In dem zur Zeit viel beachteten autobiogaphisch-soziologischen Buch von Didier Eribon „Rückkehr nach Reims“ (2016) heißt es am Schluss: „Als ich meiner Mutter erklärte, dass man mir eine Stelle angeboten hatte, fragte sie ganz gerührt: ‚Und was für ein Professor wirst du, Philosophie?’ ‚Eher Soziologie.’ ‚Soziologie?’, erwiderte sie, ‚hat das was mit der Gesellschaft zu tun?’“ Die aus dem Arbeitermilieu stammende Mutter von Eribon stellte die zentrale Frage. Burawoy würde sie sehr dezidiert beantworten. Für ihn bedeutet öffentliche Soziologie vor allem Abschied vom Elfenbeinturm: Rückholung der Gesellschaft in die Soziologie und Rückkehr der Soziologie in die Gesellschaft. In dem erwähnten Radio-Interview präzisiert er seine Parteinahme für die sozialen Bewegungen: „Die sozialen Bewegungen können die Soziologie verändern, umgekehrt kann die Soziologie ein Instrument sein, das den sozialen Bewegungen hilft.“ In den zurückliegenden Jahrzehnten hat er dies bereits in verschiedenen Teilen der Welt unter Beweis gestellt: Bei Rassismus-Studien in Sambia schon in den 1960er Jahren wie bei späteren Feldstudien z.B. in Südafrika, in den USA, in Ungarn und im postsozialistischen Russland.
Burawoy plädiert für einen Wissenschaftspluralismus: Neben der öffentlichen Soziologie haben auch die angewandte Soziologie als Auftragsforschung, die professionelle Soziologie mit erprobten Methoden und die kritische Soziologie als Reflexionswissenschaft ihren berechtigten Platz (72 ff.). Burawoy unterstreicht die Wechselbeziehungen: „Öffentliche Soziologie kann nicht wirklich in nachhaltiger Weise beginnen, wenn sie nicht von der kritischen Soziologie angetrieben und von einer professionellen Soziologie geerdet wird.“ (126) Damit wird deutlich, dass es keinesfalls um eine Preisgabe wissenschaftlicher Standards oder gar um eine Unterordnung der Disziplin unter soziale Bewegungen oder politische Akteure geht.
Burawoy sieht „den Marxismus als eine lebendige Tradition, der Erneuerung und Wiederaufbau gut tun, da ja auch die Welt, die sie beschreibt und die sie zu transformieren sucht, sich wandelt“ (146). Er versteht Soziologie als globale Kapitalismusanalyse und als Vermarktlichungskritik. Im Anschluss an Karl Polanyi („The Great Transformation“) wird der Analysefokus auf die Vermarktlichung gerichtet. Durch die Kommodifizierung von Arbeit, Geld und Natur ergeben sich unterschiedliche Vermarktlichungswellen, die zerstörerische Folgen für die Gesellschaft haben und jeweils auch soziale und politische Gegenbewegungen hervorrufen. (117 ff.) Entscheidender Bezugspunkt für die öffentliche Soziologie ist die gegenwärtige Vermarktlichungsdynamik, die jetzt auch Wissen als neue fiktive Ware einbezieht.
Im Kapitel 3 zeigt Burawoy, wie die wettbewerbsgetriebene Landnahme der Hochschulen und Universitäten die Wissenschaft vor neue Herausforderungen stellt. Hierzu noch einmal sein Radio-Interview: „Universitäten werden zunehmend privatisiert, sie müssen sich wie Unternehmen verhalten und Geld verdienen – das tun sie auf unterschiedlich problematische Weise: indem sie etwa Gebühren verlangen von Studenten oder Kosten reduzieren, indem sie die Mitarbeiter schlecht bezahlen. Die Ökonomen sind im Grunde dafür verantwortlich, jene Ideologie zur Verfügung zu stellen, die dabei ist, ihre eigenen Universitäten zu zerstören.“ In einem Beitrag von Burawoy im „Global Labour Journal“ (Making Public Sociology: Its Pittfalls and its Possibilities, Issue 1, 2011: 4), der leider – und sicherlich zur Beschränkung des Umfangs – nicht in diesen Band aufgenommen wurde, sagt er: „Der Neoliberalismus hat, nachdem er die Offensive gegen die Arbeitswelt geführt hat, sich nun der Universität zugewandt. Die Frage, die wir nun stellen müssen, lautet, ob dies nicht den Akademikern neue Verteidigungschancen und eine innovative Zusammenarbeit mit den Kräften der Arbeit eröffnet. Die Gleichzeitigkeit der Krise der Arbeit und der Universität könnte einen fruchtbaren Boden für eine neue öffentliche Soziologie bereiten.“ (Übers., KP.) Hier könnten sich also neue Bündnischancen andeuten.
Was hat das alles mit der hiesigen Realität zu tun? Hans-Jürgen Urban macht in seinem „vorausschauenden Nachwort“ zu dem Band darauf aufmerksam, dass die Verwandlung von Wissen in eine handelbare Ware zunehmend auch die Arbeitswelt prägt. Die aktuelle Debatte um Digitalisierung und Industrie 4.0 belege dies. Vieles spräche dafür, „dass der Zugriff der digitalen Arbeit auf die lebendige Arbeitskraft ein umfassender sein dürfte, der die Arbeits- und Lebenswelt gleichermaßen strukturieren dürfte“. (239) Urban sieht darin ganz im Sinne Burawoys eine gemeinsame Herausforderung für Gewerkschaften wie für eine kapitalismuskritische Sozialforschung, um Schutzwälle zu errichten und neue Kooperationsachsen auszuloten.
Eine produktive Perspektive für eine „öffentliche Gewerkschaftssoziologie“ erkennt Urban in der Jenaer Gewerkschaftsforschung, die in den letzten Jahren mit dem „Machtressourcenansatz“ Chancen einer Revitalisierung der Gewerkschaften ausgelotet hat. Eine solche „öffentliche Gewerkschaftssoziologie“ könnte „ihre Themen aus den realen Problemen der Gewerkschaftsbewegung“ gewinnen, „ihre Forschungsfragen öffentlich“ definieren, präsentieren und diskutieren. Dies trüge zu einer „organischen“ Kooperation mit den Gewerkschaften bei und müsse zugleich keine Gefahr für wissenschaftliche Standards fürchten. (233) Urban schlägt nach der gelungenen Erforschung der Bedingungen der Generierung und Aktivierung gewerkschaftlicher Machtressourcen als künftiges Forschungsfeld vor, der „Verknüpfung der Machtressourcenforschung mit den Themen sozialer Konflikte und politischer Verhandlung“ ein größeres Gewicht zu verleihen. (235) Als ein kleiner Schritt in diese Richtung könnte der von Jenaer WissenschaftlerInnen erstellte „Streikmonitor“ gewertet werden, der eine kontinuierliche Streikforschung ankündigt und in Z veröffentlicht wird.2
Die Gewerkschaften könnten nach Meinung von Urban von einer kapitalismuskritischen öffentlichen Soziologie profitieren: Sie erhalten Hinweise auf Konflikte und Anforderungen, „die sich noch im Stadium der Latenz befinden. Ein offenes Ohr für solche Frühwarnungen kann den gewerkschaftlichen Strategieprozess frühzeitig beleben, noch bevor die Sensoren der gewerkschaftsinternen Wahrnehmung anschlagen.“ (242)
Und für die hiesige Soziologenzunft könnte ein Ertrag darin bestehen, sich vor Provinzialismus in der Sozialwissenschaft zu schützen und die Signale des dritten Weltkongresses der internationalen Soziologenvereinigung in diesem Jahr ernst zu nehmen. Das besprochene Buch hilft dabei ungemein. Schnelle LeserInnen könnten Vorwort und Nachwort studieren und insofern schon einen ersten Eindruck erhalten. Die Lektüre des gesamten Buches lohnt sich allemal.
Klaus Pickshaus
Digitale Offensive in der Arbeitswelt
Lothar Schröder und Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Gute Arbeit. Digitale Arbeitswelt – Trends und Herausforderungen. Bund Verlag, Frankfurt am Main 2016, 410 Seiten, 39,90 Euro
Er ist fast schon zum Fetisch geworden, der Begriff „Arbeit 4.0“. Gemeint ist meist nichts Genaues, sondern allgemein die Umwälzung, die mit der Digitalisierung in der Arbeitswelt erwartet wird. Einerseits werden Katastrophenszenarien gemalt, wonach demnächst die Hälfte bis zwei Drittel aller Arbeitsplätze vernichtet werden würden. Anderseits wird eine lichte Zukunft versprochen, in der intelligente Roboter alle ungesunden und beschwerlichen Tätigkeiten übernehmen, die Arbeitsprozesse selber steuern und die Menschen entspannt zuschauen dürfen. Über das, was Digitalisierung und Internet in der Arbeitswelt tatsächlich bewirken, welche Prozesse sich abspielen, an welchen Techniken gearbeitet wird und welche Folgen sie haben können, herrscht weithin Unkenntnis. Der vorliegende Band hätte das Zeug dazu, dem abzuhelfen.
Dabei haben die Herausgeber die Latte hoch gelegt: „Digitale Arbeitswelt – Trends und Herausforderungen“ verlangt nicht weniger als eine analytische Bestandsaufnahme, die Bewertung der erkennbaren Entwicklungen, die Bestimmung möglicher Einflussfelder und strategischer Optionen. Dass das Ganze von einem gewerkschaftlichen Standpunkt aus erörtert wird, zeigt die Liste der 49 Autoren. Sie enthält, neben Wissenschaftlern und Politikern, zahlreiche hochrangige Funktionäre (darunter zwei Vorsitzende) und wissenschaftliche Mitarbeiter von Gewerkschaften.
Das Buch ist in sieben Kapitel plus Statistikteil gegliedert, in denen die wichtigsten Aspekte des Themas behandelt werden. Für einen Einstieg in die Problematik ist Teil eins (Digitalisierung – eine Sondierung des Terrains) besonders wertvoll. Hans-Jürgen Urban schildert den aktuellen Stand der Technik und die bislang erkennbaren Trends. Lothar Schröder bietet einen Blick zurück und nach vorn auf die Digitalisierung der Arbeitswelt. Das Fazit der beiden kenntnisreich und überzeugend formulierten Texte lautet, auch wenn es abgedroschen klingt: Es kommt auf die Kräfteverhältnisse der Akteure an. Im Übrigen gehe es „nicht nur um die Zukunft der Arbeit, die digitale Durchdringung sozialer Beziehungen wird die Gesellschaft insgesamt verändern“ (41). Macht und Entschlossenheit der Gegenseite sind groß, aber allmächtig ist sie nicht.
In Teil zwei (Risiken und Herausforderungen – gewerkschaftliche Positionen) umreißen Frank Bsirske (ver.di), Jörg Hofmann und Constanze Kurz (IG Metall) sowie Annelie Buntenbach (DGB) die Positionen ihrer Organisationen. Dabei wird deutlich, dass die Digitalisierung in der Arbeitswelt längst nicht nur „Industrie 4.0“ umfasst; die Prozesse im Dienstleistungsbereich sind nicht weniger tiefgreifend, zum Teil schon weiter fortgeschritten. Hier wäre es schön gewesen, auch Positionen aus anderen DGB-Gewerkschaften kennenzulernen.
Im Teil drei (Politische Positionen) kommen Günter Oettinger (CDU/EU-Kommissar), Andrea Nahles (SPD/ Bundesministerin), Simone Peter und Beate Müller-Gemmeke (Grüne) sowie Bernd Riexinger (Linke) zu Wort. Die weiteren Kapitel können hier aus Platzgründen nur referiert werden: Trends digitaler Arbeit, Digitalisierung und Arbeitsgestaltung, Digitale Arbeit und Sozialpolitik, Qualifizierungspolitik 4.0. Die dort versammelten Beiträge bieten Fakten, Analysen und Argumente zu allen wichtigen Facetten des Themas Digitalisierung und Internet in der Arbeitswelt. – ohne die Leser mit ausufernden Detailschilderungen zu überfordern. Der Bogen reicht vom Crowdsourcing über den Arbeitsschutz bis zu neuartigen Gesundheitsproblemen. Der Blick auf die internationalen Prozesse fehlt ebenso wenig wie Schilderungen von Auseinandersetzungen im Betrieb.
Sehr wertvoll ist der umfangreiche und gut aufbereitete Statistikteil. Dort wird umfangreiches Material zur Entwicklung der Arbeitsbedingungen und -verhältnisse, zu Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und psychischen Belastungen sowie zur Tätigkeit der Aufsichtsbehörden gesammelt und mit guten Kommentaren und Übersichten präsentiert. Die zuvor in Worten geschilderten Veränderungen werden hier mit Zahlen untermauert.
Die Lektüre der verschiedenen Beiträge verhilft den Lesern zu einer fundierten und differenzierten Betrachtung der Prozesse. Verlässliche Aussagen dazu, welche Folgen Digitalisierung und Internet auf die Arbeitsplätze haben werden, sind derzeit nicht möglich. Was nicht heißt, dass es keine geben wird und dass sie nicht tiefgreifend sein werden. Die „digitale Revolution“ steht erst am Anfang, die Dynamik ist nicht aufzuhalten. Aber in welchen Bahnen sie verläuft, welche Interessen sich durchsetzen werden, ist noch nicht ausgemacht.
Was sich schon jetzt beobachten lässt, ist eine Aushöhlung und Untergrabung sozialer Sicherungsstandards in der Arbeitswelt. Mit der flächendeckenden Ausbreitung mobiler Endgeräte droht die arbeitsfreie Zeit verloren zu gehen. Mit Crowdworking und Crowdsourcing breiten sich ungeschützte Formen der Heimarbeit aus. Der ständige Zwang, sich neue technische Kenntnisse anzueignen und neue Zusammenhänge zu beherrschen, erhöht den psychischen Druck. Und nicht zuletzt erreichen die Kontrollmöglichkeiten über die Belegschaft völlig neue Dimensionen: Nicht nur der Weg der einzelnen Erzeugnisse während des Produktionsprozesses kann in Echtzeit erfasst werden, sondern auch das Verhalten, der Aufenthaltsort, sogar Leistungs- und Stimmungsschwankungen der einzelnen Beschäftigten werden durchsichtig, sind es zum Teil schon. Und das nicht nur in der Industrie, sondern prinzipiell in allen Wirtschaftsbereichen.
Die derzeitigen Möglichkeiten der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung werden von den Autoren des Buches nicht beschönigt. Eine „Reformagenda 4.0“ wäre zwar dringend nötig, ist einstweilen aber nur zu erahnen. Allerdings werden auch Beispiele gezeigt, wo Belegschaften sich erfolgreich gegen digitale Zumutungen zur Wehr gesetzt haben (Deutsche Telekom, Charité).
Zum Schluss sei noch angemerkt, dass das Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch handwerklich höchsten Anforderungen genügt: großzügiges und lesefreundliches Layout, übersichtliche Tabellen, schöne Schrift, gutes Papier, kaum Schreibfehler und eine ausgezeichnete Buchbindearbeit. So etwas ist heute leider zur Ausnahme geworden, weshalb es hier besonders gelobt sei.
Gert Hautsch
Linke Mehrheit. Linke Mehrheit?
Albrecht von Lucke, Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, DroemerKnaur Verlag, München 2015, 232 Seiten, 18 Euro.; tom strohschneider, linke mehrheit? Über rot-rot-grün, politische bündnisse und hegemonie, VSA-Verlag, Hamburg 2014, 94 Seiten, 9,80 Euro.
Noch ein knappes Jahr bis zur Bundestagswahl. Es droht eine weitere Merkel-Kanzlerschaft. Die Spekulationen über das Projekt Rot-Rot-Grün nehmen in dem Maß zu wie dessen Chancen abnehmen. Soweit hier die bekannten drei Parteien gemeint sind, ist zumindest eines sicher: Auf Rot-Rot-Grün sind sie schlecht vorbereitet, mal wieder. Albrecht von Lucke und Tom Strohschneider haben zwei umfangreichere Abhandlungen zum Thema vorgelegt, die – gerade weil sie nicht auf Tagesaktualität angelegt sind – Aufmerksamkeit verdienen. Lucke, Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, argumentiert aus linker sozialdemokratischer Sicht in der Tradition Willy Brandts. Er warnt vor der Gefahr „einer schwarzen Kanzlerin ohne echte Alternative – und das möglicherweise auf lange Zeit“ (8). Das sei maßgeblich dem „Versagen einer Linken“ zuzuschreiben, „die zu einer eigenen Regierungsverantwortung nicht willens“ sei (ebd.). Tom Strohschneider, Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, behandelt das Thema aus linker Innensicht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die „Dringlichkeit radikaler Veränderungen“ und die Notwendigkeit radikaler Reformpolitik (9). Zu fragen ist demnach, wie die „gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse“ in Richtung auf eine linke Alternative zu verschieben wären (11). Von dieser „Herausforderung“, so der Autor, handele „dieses kleine Büchlein“.
Lucke arbeitet sich intensiv ab an den parteipolitischen Konstellationen zwischen SPD, Grünen und Linkspartei. Auf 232 Seiten geht es in immer neuen Varianten darum: Wer errichtet welche Blockaden für Rot-Rot-Grün? Wer müsste welche Hindernisse aus dem Weg räumen, wer muss wie und womit auf die anderen zugehen? Auch bei Strohschneider kommen die Positionen der drei Parteien naturgemäß häufig ins Blickfeld. Das ist aber nicht der entscheidende Aspekt. Wichtiger ist sein Einwand, in „der öffentlichen Diskussion“ sei der Begriff einer linken Mehrheit „meist auf eine parteipolitische Kategorie der Bündnisfähigkeit geschrumpft“ (80). Der aktuelle Medienhype bestätigt das anschaulich. Und insofern verfolgt er auf den nur 94 Seiten seiner „Flugschrift“ einen sehr viel breiteren Ansatz als Lucke, der über den Tellerrand der drei Parteien kaum hinausschaut.
Parteipolitische Verschiebungen, so Strohschneider, werden nicht ausreichen, um die Chancen eines linken Lagers zu verbessern. Denn eine linke Mehrheit entsteht nicht allein auf der parteipolitischen Ebene (obwohl natürlich auch die gebraucht wird). Sie bildet sich vielmehr heraus im „Spannungsverhältnis zwischen Parteien und sozialen Milieus, zwischen parlamentarischer Logik und gesellschaftlicher Selbstbewegung.“ Oder eben auch nicht. „Nicht die Stimmenzahl von drei oder vier Parteien allein ist es, die schon ausreichend politischen Kitt bildet“ (81).
Genau das zeigen ja auch die Erfahrungen der vergangenen Jahre. Ihnen gibt Strohschneider viel Raum. Denn die Debatte um Rot-Rot-Grün hat ja eine längere Geschichte. Die reicht zurück bis in die 1990er Jahre, als es „nur“ um Rot-Grün ging, noch vor der Gründung der Partei Die Linke (17ff.). Wir lesen viel über die damaligen Crossover-Debatten, den parteiübergreifenden Diskussionsprozess, der dann 1998 abbrach, als die linken Kräfte in SPD und Grünen durch die Regierungsbildung eben dieser Parteien „domestiziert“ wurden (22). „Keine Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen linksreformerischer Politik in der Bundesrepublik kommt an der Bilanz der rot-grünen Jahre ab 1998 vorbei.“ (44) Chancen für die aktuellen Debatten liegen stets auch „im kritischen Lernen aus früheren Regierungsbeteiligungen“ (46). Damit ist es bei SPD und Grünen nicht weit her. Von schonungsloser Aufarbeitung“ (76) kann nicht die Rede sein. Allerdings, so Strohschneiders Warnung, sollte man die Bilanz wiederum auch nicht zu einem „Negativ-Symbol … überhöhen“, wie es manche links von Rot-Grün täten (45). Der Rückblick zeigt also viele Niederlagen. Wer war schuld? Alle. Das träfe auch zu auf die Bundestagswahl 2013: Da SPD und Grüne verhinderten, dass in den politischen Debatten die „Möglichkeit, das es überhaupt besser, anders werden könnte“ auch nur erwogen wurde, half auch die (allerdings in Anbetracht der niedrigen Wahlbeteiligung fragile) rechnerische rot-rot-grüne Mehrheit nichts. Die SPD gab sich gegenüber der Linken wie in Beton gegossen (33). Die Linke ihrerseits war zwar nicht müde geworden, Offerten zur Zusammenarbeit an SPD und Grüne zu senden, war aber nicht wirklich darauf vorbereitet. „Was, wenn die SPD plötzlich auf die Politik der drängenden Einladung mit einem Ja reagiert hätte? Was, wenn auch die Grünen Ja gesagt hätten?“ In der Linkspartei hätte das strömungspolitische Fliehkräfte freigesetzt, mit unklarem Ausgang. Deren Führung wusste das, SPD und Grüne wussten es auch (33f).
Diejenigen, die Rot-Rot-Grün wollen, müssen sich irgendwann irgendwie auch parteipolitisch zusammenraufen. Das ist schon schwierig genug. Man sollte sich aber hüten, „Reformen nur von Regierungsbänken aus für machbar zu halten“ (48), zitiert Strohschneider zustimmend Thomas Ebermann aus dem Jahr 1987. Die beteiligten linken Akteure müssten es schaffen, einen politischen Gegenentwurf zur neoliberalen Krisen- und Austeritätspolitik zu entwickeln werden, der den Hoffnungen und Erwartungen der Menschen entgegenkommt (74). Und sie müssten erkennbar entschlossen sein, ihn auch umzusetzen. Das wäre die Regierungsebene. Um erfolgreich zu sein, brauchte das Projekt aber auch eine breite gesellschaftliche Debatte, in der sich ein „gegenhegemonialer Block“ herausbildet, der eben dieses Projekt tragen könnte. Das geht über Parteipolitik hinaus. Hier bezieht sich Strohschneider zustimmend auf Hans-Jürgen Urbans Ansatz einer „Mosaik-Linken“ – einen Prozess des Austausches, der Vertrauensbildung, der Konsensfindung, an dem eben nicht nur die Parteien oder gar nur Parteiführungen, sondern Gewerkschaften, globalisierungskritische Bewegungen, andere Nichtregierungsorganisationen, Selbsthilfeinitiativen, die kritischen Teile der kulturellen Linken, Wissenschaftler, Intellektuelle und andere aktiv teilnehmen. Erst auf der Basis eines in zäher Kleinarbeit nach links verschobenen politischen Klimas hätte eine Reformkoalition Chancen. Sonst wäre sie eben bloß „eine Regierung“ (84). Das ist richtig. Und zweifellos gehört es zu den wichtigen Aufgaben der Linkspartei, an einer solchen linken gesellschaftlichen Unruhe von unten (Raul Zelik) mitzuarbeiten und dafür die mobilisierungsfähigen Themen aufzugreifen. Welche Bilanz die Linkspartei hier vorzuweisen hat und was sie in dieser Hinsicht besser machen sollte, kommt bei Strohschneider allerdings zu kurz.
Für Lucke stellen sich solche Fragen gar nicht. Hier ist Rot-Rot-Grün in erster Linie eine Frage des Regierungsbündnisses von drei Parteien. Mit diesem Tunnelblick gesehen liegt das ganze Elend eigentlich nur am mangelnden Willen des jeweiligen Führungspersonals. So geschehen nach der Bundestagswahl von 2013 (8). Und jetzt wieder? Müssten also SPD und Linkspartei lediglich einige falsche Positionen korrigieren, um die Weichen für die linke Mehrheit zu stellen? Luckes „zentrale These“ weist in diese Richtung: „Die Krise der Linken ist nur durch ein doppeltes Versagen zu erklären – von SPD und Linkspartei“ (18). Das ist wahr – aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Lucke macht diesen schlichten Ansatz durch Personalisierung noch schlichter. „Gedeih und Verderb der Linken“ hängen an zwei Personen: Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine (19). Diese Personalisierung zieht sich durch sein Buch wie ein roter Faden.
Lucke beginnt mit dem Versagen der SPD. Von dieser Seite seien es vor allem Hartz IV und die Folgen, die ein Linksbündnis behindern (22-51). Die SPD habe ihren „Markenkern“ der sozialen Gerechtigkeit verloren (196) – oder hat sie ihn nicht vielmehr bewusst zerstört? Jedenfalls: „Bis heute fällt die SPD als inhaltliche Leitpartei aus, die eine echte Alternative verkörpert“ (50). Das ist nicht falsch, aber doch zaghaft formuliert. Die Kritik könnte sich in gleicher Weise gegen die Grünen richten, analog zu Gerhard Schröder also gegen Joschka Fischer. Die Grünen werden aber erstaunlich beiläufig abgehandelt. Sehr viel weniger zaghaft geht Lucke dann mit der Linkspartei um. Dafür umso ausführlicher, nämlich auf den weiteren 160 Seiten des Buches. Er charakterisiert sie als – im Kern – eine „Anti-Hartz- und Anti-Kriegs-Partei“ mit der Hauptstoßrichtung immer gegen die SPD (66). So bekommt das Engagement der Linkspartei für soziale Gerechtigkeit und Frieden einen negativen Touch. Eigentlich ist die Linkspartei nur ein Abfallprodukt der Hartz-IV-Politik der SPD. Genau genommen bedarf es dieser Partei gar nicht. Aus dieser Logik folgt auch: Es ist hauptsächlich die Linkspartei, die sich anpassen muss, damit SPD und Grüne ihr den Status der Regierungsfähigkeit und Verlässlichkeit zuerkennen. Allerdings stören dabei vor allem Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Denn ihre Position ist klar: „Opposition pur und fundamental“ (85).
Lucke illustriert das am Beispiel der Außen- und Sicherheitspolitik. „Mit ihrer Absage an die NATO und an UN-mandatierte Einsätze bricht die Linkspartei mit den außenpolitischen Essentials der Bundesrepublik, ohne dafür auch nur ansatzweise gleichwertige Alternativen vorzuschlagen.“ (88) Hier sollte sie vom ehemaligen Außenminister Joschka Fischer lernen, der gerade durch die Hinwendung „zur deutschen Interventionspflicht“ die grüne „Regierungsfähigkeit“ erst hergestellt habe (104). Die „NATO-Zugehörigkeit“ sei „sicherheitspolitisch in der Tat bis auf Weiteres alternativlos“ (166). Genau hier liege „der größte Konfliktpunkt mit der Linkspartei“ (105), die „eigentliche, harte Trennlinie zwischen Linkspartei auf der einen und SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der anderen Seite“ (167). Das könnte auch ein SPD-Spitzenpolitiker geschrieben haben. Jedenfalls mache diese linke Position Rot-Rot-Grün unmöglich, und – so Lucke verständnisvoll –, sie sei „zweifellos die stärkste Begründungskraft für Schwarz-Grün“ (105). Sah der Autor gar keinen Anlass, den schwarz-grün gepflasterten Weg der Anpassung, weg von Rot-Rot-Grün, kritisch zu beleuchten?
Über die programmatischen Positionen und Kompromisse der Linkspartei zur Außen- und Sicherheitspolitik kann man sicherlich kontrovers diskutieren. Die kritiklose Selbstverständlichkeit aber, mit der Lucke den – doch auch außerhalb der Linkspartei heftig umstrittenen – Status Quo der etablierten Außen- und Sicherheitspolitik zum Maßstab erhebt, ist verblüffend. Das ist genau „das Stöckchen, das SPD und Grüne der Linken hinhalten“, so Strohschneider ironisch (63). Und über dieses Stöckchen soll Die Linke nun brav springen, sonst darf sie nicht mitmachen. Und hat Lucke eigentlich Recht, wenn er die Außenpolitik zum größten Konfliktpunkt mit der Linkspartei erhebt? Birgt nicht eigentlich die Wirtschafts- und Sozialpolitik noch größeren Konfliktstoff?
Trennlinien gibt es auch beim Thema Europa (109ff.). Lucke bemängelt, die SPD habe bisher „die Chance vertan, dem Merkelschen Konkurrenznationalismus mit einer echten Europäisierung der Politik zu begegnen“ (119). Das mag zutreffen, ist aber eine sehr milde Bewertung der SPD-Politik, die den Merkelschen Konkurrenznationalismus ja aktiv und militant mitträgt. Lucke konzentriert sich dann mehr auf die Linkspartei. Insbesondere geht es wiederum gegen Lafontaine und Wagenknecht, denen er den „Rückzug auf nationale Lösungen“ (123) und „fatale Renationalisierung“ (131) anlastet. Dies sei „Populismus“ (74, 188) und übrigens auch „platter Antiamerikanismus“ (174). Ein ernsthaftes Abklopfen unterschiedlicher europapolitischer Positionen innerhalb der Linkspartei, darunter auch der von Sahra Wagenknecht, kommt so nicht zustande. Lucke fordert von der Linken die „positive Vision eines anderen, solidarischen Europas“ (130), so als gäbe es dort solche Positionen bisher überhaupt nicht. Das erfordert aber gerade auch eine linke und radikale Kritik an den EU-Institutionen und ihrem Agieren – ohne in eine bloße Anti-Haltung oder nationalkeynesianische Positionen abzugleiten. Es sollte allerdings keine Denkverbote geben, „die legitimen Sphären des Nationalen und des Europäischen und damit das Verhältnis zwischen nationalstaatlicher Autonomie und Gemeinschaftskompetenzen“ zu diskutieren und gegebenenfalls neu zu definieren, wie unlängst Hans-Jürgen Urban schrieb (Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2016). Jedwede Überlegung in diese Richtung mit dem „Bannstrahl des Nationalismus-Vorwurfs zu ächten“ helfe nicht weiter. Indem Lucke aber sogleich die Populismus-Keule hervorholt, verweigert er sich selbst einer offenen Debatte. Die Keule wird noch größer, wenn er behauptet, die kritisierte linke Strömung sei im Grunde gar nicht links, sondern rechts. „Faktisch gehen linker und rechter Radikalismus eine fatale Symbiose ein“ (204). Faktisch seien die „Gemeinsamkeiten“ zwischen „linkem und rechtem Populismus“ das Überwiegende (207) usw. Auch wenn Heinrich-August Winkler diesem Denkmuster die seriösen wissenschaftlichen Weihen zu geben versucht hat, bleibt es doch – zumal bei Lucke – eine schreckliche Vereinfachung, die durch Aus-dem-Zusammenhang-Reißen von Zitaten und Ignorieren komplexerer Zusammenhänge ein falsches Bild zusammenbastelt.
Lucke argumentiert hier, als sei er Mitglied des SPD-Vorstands. Strohschneider bezieht sich auf den stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner, der sein Angebot, einen dauerhaften Gesprächsfaden mit der Linkspartei zu knüpfen, mit dem Ultimatum verbunden habe, diese müsse sich – weil unzuverlässig – zunächst gravierend ändern (82). Es ist genau dieses ständige Hantieren „mit Vorbedingungen, Vorhaltungen, Vorurteilen“, das die wechselseitigen Blockaden immer wieder neu schafft, die angeblich überwunden werden sollen (ebd.). Dann werden sie auf SPD-Seite zum Vorwand, um es sich in der Großen Koalition weiter gemütlich zu machen. Und die Grünen nehmen es als willkommene Ausrede, um sich auf Schwarz-Grün vorzubereiten. Und beide müssen sich dann keinen unbequemen Fragen nach ihrer eigenen „Zuverlässigkeit“ stellen.
Aber lassen wir das, das führt nicht weiter. Sitzt, wer so denkt, nicht „einer harmonischen Konzeption des Politischen“ auf (16), fragt Strohschneider mit Bezug auf die Politikwissenschaftlerin Sonja Buckel. Die beiden Titel, von denen hier die Rede ist, zeigen im Grund doch – auf unterschiedliche Weise: Es kann sein, dass es nicht reicht für eine linke Mehrheit. Aber wenn alle potenziellen Akteure sich nicht darauf einlassen können, ohne Vorbedingungen aufeinander zuzugehen, Konflikte auszuhalten, Konflikte ohne Ausgrenzung auszutragen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, Vertrauen zu bilden, wird es ganz sicher nichts mit einer linken Mehrheit.
Jürgen Reusch
1 Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘, Frankfurt/Wien 1968, S. 500.
2 Thomas Kuczynski, Eugen Vargas Begriff der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Entstehungsgründe und Anwendbarkeitsgrenzen, S. 7 (www.mez-berlin.de)
1 Christina Kaindl, Pfade der Transformation, in: Z 107 (September 2016), S. 61.
2 Ebd.
3 Vgl. dazu Ulrich Busch: Anthropologie statt Ökonomie, in: Z 91 (September 2012), S. 201-205.
1 Samt der unvollendet gebliebenen Dokumenten-Bände (gelb-rot eingeschlagen), der dreibändigen „Chronik“ (grün-grau) und des „Biographischen Lexikons“ (blau).
1 Thomas Straubhaar im Bergedorfer Gesprächskreis, Grenzen der Macht: Europa und Amerika in einer neuen Weltordnung. 145. Bergedorfer Gesprächskreis, 9.-11. März 2010, Washington D.C., S.69. Zitiert nach Kai Hirschmann: Wie Staaten schwach werden. Fragilität von Staaten als internationale Herausforderung, Bonn 2016, S.17/18.
2 Vor den negativen Auswirkungen wurde schon vor 1989/90 gewarnt. Vgl. für die UdSSR z.B. Moshe Lewin, Gorbatschows neue Politik. Die reformierte Realität und die Wirklichkeit der Reformen, Frankfurt/M. 1988, S.10; und für Jugoslawien: Predrag Vranicki, Marxismus und Sozialismus (1977), Frankfurt/M. 1985, S.237.
3 Vgl. dazu auch den programmatischen Aufsatz von Mihailo Marković, Der Sinn der Selbstverwaltung, in: Ders., Dialektik der Praxis (1968), Frankfurt/M. 1969, S.94-120.
4 Vgl. dazu Tanja Petrović, Yuropa, Das jugoslawische Vermächtnis und Zukunftsstrategien in postjugoslawischen Gesellschaften (2012), Berlin 2015.
1 Inzwischen liegt die 50. Ausgabe der „Mitteilungen“ (September 2016) vor.
1 Es scheint, dass Kößler nicht nur mit seinen oft recht prätentiösen, aber letztlich nicht weiter führenden Ausführungen, sondern auch mit seinen heftigen ( nicht nachvollziehbaren) Polemiken z.B. gegen das oben erwähnte Buch Goldbergs etwas aus dem Rahmen des vorliegenden Buchprojekts fällt.
1 http://science.orf.at/stories/2785939/
2 Vgl. Z 106 (Juni 2016), S. 160 ff. und in diesem Heft S. 145 ff.