Aspekte von Linkspopulismus

von Dieter Boris
September 2016

„Es gibt keinen Sozialismus ohne Populismus, und die höchsten Formen
des Populismus können nur sozialistisch sein.“
Der „frühe“ Ernesto Laclau 1977/81

„Populismus“ (als Substantiv) oder „populistisch“ (als Adjektiv) ist gegenwärtig in aller Munde. Das war vor 40 bis 50 Jahren keineswegs so. Damals waren diese Begriffe eher für historisch weit zurückliegende Bewegungen (im ausgehenden 19. Jahrhundert in den USA bzw. um die Jahrhundertwende 1900 in Russland) oder für Erscheinungen aus der damals noch so genannten „Dritten Welt“ reserviert.

Heute ist viel vom ansteigendem „Rechtspopulismus“ in Europa und in den USA die Rede, welcher sich in Gestalt mancher (neuer) Parteien anschickt, immer größere Teile der Wählerschaft für sich zu mobilisieren, z. B. in Frankreich der „Front National“, der bei den letzten Kommunalwahlen im Okt./Nov. 2015 ca. 30 Prozent der Wähler erreichte. Da auch der Wahlkampf bzw. die Vorwahlen in den USA zu einem überraschenden Aufstieg des Immobilienmilliardärs Donald Trump (für die Republikanische Partei) geführt hat und bei den Demokraten ebenso überraschenderweise der bis vor kurzem (hierzulande zumindest) völlig unbekannte Bernie Sanders der eigentlich „gesetzten“ Kandidatin der Demokraten (Hillary Clinton) erstaunlich viel Gegenmobilisierungen bereitet hat, wird schon davon gesprochen, dass dieses mal ein „populistisches Moment“ in Gestalt des Rechts- und des Linkspopulismus das Feld beherrsche. Auch das Auftauchen „linkspopulistischer“ Formationen in Südeuropa (Syriza in Griechenland, von PODEMOS in Spanien) haben in der Linken Debatten über Unterschiede und Ähnlichkeiten von Rechts- und Linkspopulismus ausgelöst.

Trotz des stark zunehmenden Gebrauchs dieser Begriffe überwiegt weithin noch die Verwendung dieser Termini als politische Schimpfworte, wobei „Opportunismus“, „dem Volk aufs Maul schauen“, „falsche Versprechungen“ machen oder die Sehnsucht nach einer vergangenen „heilen Welt“ schüren u.ä. die normalen Konnotationen sind. Wer eine philosophische Definition wünscht, kann von dem renommierten, konservativen politischen Philosophen Hermann Lübbe bedient werden. „’Populismus’ – so nennt man doch die Spekulation auf politische Zustimmungsgewinne durch Appelle an sich ausbreitende Volksmeinungen, die in der dominanten politischen Klasse als selbstschädigend, ja, moralisch zweifelhaft eingeschätzt werden.“ (FAZ v. 23. Juni 2016) So Lübbe in Abwehr der Befürchtung, die Ablehnung des gegenwärtigen EU-Projekts könne ihm den Vorwurf „populistischen Denkens“ einbringen.

Leider sind die Sozialwissenschaften, die eigentlich eine Hilfestellung geben könnten (und sollten), weit von einem minimalen Konsens über einen wissenschaftlichen Gebrauch dieser Begriffe entfernt.[1] Es existieren in den einschlägigen damit befassten Disziplinen (Politikwissenschaften, Soziologie, Kulturwissenschaften, Sozialpsychologie, politische Philosophie, Geschichtswissenschaften etc.) sicher mehrere Dutzend von Definitionen dieses Phänomens im allgemeinen (vgl. z. B. bei Priester 2012: 11ff.) und ebenso über die spezielleren Begriffe Rechts- und Linkspopulismus, wobei natürlich hierbei deren Nähe zueinander bzw. deren diametrale Distanz gegeneinander oft im Zentrum der Debatte steht.

Im Folgenden sollen zunächst (1) einige aktuelle Auffassungen von „Linkspopulismus“ präsentiert und zur Diskussion gestellt werden; der „Rechtspopulismus“, der ja eine ungleich größere Aufmerksamkeit und wissenschaftliche Bearbeitung[2] erfahren hat, soll dagegen im Hintergrund bleiben. Danach (2) soll ein Blick auf typische gesellschaftliche und politische Konstellationen geworfen werden, in denen populistische Bewegungen entstehen können, und darauf, welche wesentlichen Merkmale diese in der Regel aufweisen. Im weiteren (3) sind Umrisse von „Linkspopulismus“ zu skizzieren, wobei dessen Potenziale und Grenzen für eine Strategie grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen angesprochen werden sollen.

1. Wahrnehmungsformen von „Linkspopulismus“

Dass hierzulande „Populismus“ fast immer mit „Rechtspopulismus“ gleichgesetzt wird und „populistisch“ infolgedessen bei den meisten Menschen, die rechtskonservativen bis rechtsextremistischen Parolen ablehnend gegenüberstehen, als Schimpfwort gilt, kann man zwar teilweise verstehen, aber es zeugt nicht gerade von großer Differenziertheit des Denkens und des politischen Urteilsvermögens; zumal ja immer mehr zu beobachten ist, dass kritische Einwände gegen „sozio-ökonomische und politische Oligarchisierungstendenzen“ im gegenwärtigen Kapitalismus (D’Eramo, 2013) als „populistisch“ zurückgewiesen werden.

Auch der Hinweis, „Populismus“ sei ein komplexes und äußerst heterogenes Phänomen (in historischer, regionaler und theoretischer Hinsicht) vermag ein tief sitzendes Unverständnis und die völlig negativen Assoziationen mit diesem Begriff nicht aufzulösen. Dem in der letzten Zeit auch hierzulande eingeführten Begriff des „Linkspopulismus“ wird daher überwiegend – auch von linker Seite – mit Skepsis oder Ablehnung begegnet.

Nicht wenige verwerfen diesen Begriff, weil er einen Widerspruch in sich enthalte: Denn wenn „Populismus“ grundsätzlich und unverrückbar ein „rechtes“ Phänomen sei (auch: undemokratisch, antipluralistisch, autoritär etc.), dann könne es – gleichviel welcher Couleur – nicht gleichzeitig „links“ sein. So z.B. argumentieren so verschiedene politische Denker wie A. v. Lucke und G. Fülberth.

Während ersterer in einem „exklusiven Wir“ und der Abwesenheit von Pluralismus die entscheidenden Merkmale von Populismus sieht, dekretiert Letzterer die reale Nicht-Existenz von „Linkspopulismus“. Lucke erklärt: „Deswegen halte ich den Begriff ‚Links-Populismus’ für einen Widerspruch in sich, weil er immer ein exklusives ‚Wir’ propagiert. Das untergräbt den Pluralismus, den es in jeder Demokratie braucht.“ (Kaindl/Solty/v.Lucke 2016). In einem Vortrag über „Kapitalismus – Faschismus – Antifaschismus“ am 12. 9. 2015 in Stralsund (im Netz zugänglich) verkündete der Professor für Politikwissenschaft, Georg Fülberth, gewissermaßen ex cathedra: „Linkspopulismus gibt es nicht. Mit diesem Begriff werden von der Rechten und der Mitte linke Massenbewegungen diffamiert.“

Eine andere, häufig zu hörende und zu lesende Position setzt Rechts- und Linkspopulismus im Wesentlichen gleich; die Unterschiede seien geringer als ihre Übereinstimmungsmomente. Diese – an die berühmte und berüchtigte „Totalitarismustheorie“ (braun = rot) – erinnernde These wird tendenziell u.a. von der renommierten Populismusforscherin Karin Priester vertreten. Trotz „genetischer und funktionaler Unterschiede“ wiesen die europäischen Rechtspopulismen viele Gemeinsamkeiten mit dem „Linkspopulismus“ auf. „Was wir Links-oder Rechtspopulismus nennen, sind bereits Amalgame unterschiedlicher ideologischer Komponenten, die dem unpolitischen, moralischen Protest, der Empörung, der Verdrossenheit erst eine politische Ausrichtung verleihen… Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass auch er sich globalisiert hat. Rechts wie links spricht er nicht mehr nur das nationalstaatlich begrenzte Volk, sondern die gesamte Menschheit an.“ (Priester 2012a: 243, 229).[3]

Eine weitere Position räumt zwar bedeutende Unterschiede zwischen Rechts- und Linkspopulismus ein, hält aber das Scheitern des Linkspopulismus (als Bewegung oder als Regierung) im Kern für vorprogrammiert, da er auf einer undifferenzierten und letztlich falschen Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruhe und überdies auf antagonistische Zuspitzungen sowie emotionale Mobilisierungseffekte abstelle, die langfristig scheitern oder ins Autoritäre abgleiten müssten. So z.B. Jan-Werner Müller (2016).

2. Konstellationen der Entstehung und zentrale Charakteristika

Soweit Erklärungsansätze sich überhaupt in komparativen Analysen den typischen Entstehungsbedingungen systematisch zuwenden[4] (was nicht häufig der Fall ist, da in der Regel Diskurse, Anführer, Symbolik etc. im Vordergrund stehen), besteht relative Einigkeit darin, dass der gesellschaftliche Nährboden für populistische Bewegungen in tief greifenden ökonomischen und/oder politischen Umbruchphasen zu sehen ist. Die Ablösung bestimmter überkommener Akkumulationsmodi und deren Ersetzung durch neue, die häufig mit dauerhaften Krisenphänomenen einhergeht, führt zu signifikanten Auswirkungen auf größere Bevölkerungsteile. Diese Umbruchsituationen oder Strukturwandlungen können sich in unterschiedlicher Art und Weise realisieren: Neue Formen der Einbindung in den Weltmarkt (größere Öffnung oder Schließung), Welle von Konzentrations- und Zentralisationsprozessen des Kapitals, häufig die Kumulierung bedeutender technischer Innovationen (mit entsprechenden Arbeitsmarktwirkungen), Freisetzung von Arbeitsbevölkerung und erhöhtes internes oder sogar externes Migrationsaufkommen. Neben diesen ökonomischen und sozialstrukturellen Dimensionen der Veränderung des „gewohnten Rhythmus“ der Gesellschaft können auch Prozesse der zunehmenden „Schließung“ im politischen System Einzug halten, die eine Protestartikulation gegenüber den tief greifenden Veränderungen kaum oder gar nicht zulassen. Wenngleich die Wahrscheinlichkeit für das Aufkommen populistischer Bewegungen (evt. populistischer Parteien) beim Zusammentreffen von ökonomischer und politischer Krise in der Regel deutlich höher ist, ist keineswegs ausgemacht, dass immer „populistische Effekte“ zustande kommen.[5] Ebenso wenig ist selbst in Europa eindeutig vorherbestimmt, ob – falls populistische Strömungen wachsen – diese Parteien oder Protestbewegungen eher rechts- oder linkspopulistisch ausgerichtet sind. Man vergleiche Frankreich, das Vereinigte Königreich, Ungarn etc. versus Spanien, Portugal, teilweise Italien. Dies deutet darauf hin, dass weitere Bestimmungsfaktoren für die Aktualisierung des „populistischen Moments“ (eventuell in der historischen Entwicklung, der kulturellen Prägung, in bestimmten politischen Parteien im jeweiligen Land etc.) gesucht werden müssen.

Die meisten Beschreibungen von Populismus stellen entweder einen Wirkungsmodus (oder mehrere Wirkungsmodi) oder bestimmte Merkmale in den Vordergrund. So ist für die einen „Populismus“ primär mit einem spezifischen Politikstil (Inszenierung, Symbolpolitik, Einsatz von Mythen, intensive mediale Auftritte etc.) oder vor allem mit einem bestimmten Diskurs verbunden. Für andere stellt er eine besondere Strategie des Machterwerbs bzw. des Machterhalts einer – in Ausnahmefällen – zur Regierung gelangten Gruppierung dar. Gelegentlich werden auch einzelne Seins- und Wirkungsmodi miteinander kombiniert.

An allgemeinen Merkmalen und Charakteristika von Populismus wird in der Regel folgendes Register aufgezählt: Betonung eines scharfen Gegensatzes von Eliten und Massen/Volk; Hervorhebung verselbständigter und partikularer Eigeninteressen der „Eliten“ und allgemeiner bzw. das Gemeinwohl repräsentierender Interessen des „Volkes“; Denunziation der „Machenschaften“ der Eliten; Moralisierung des Diskurses, vereinfachte Entgegensetzungen auch bei komplexeren Problemlagen; Beschwörung von Krise und Niedergang; Betonung des guten Urteilsvermögen des „Volkes“ gegenüber abgehobenen und nicht verständlichen Urteilen aus dem Kreis der Eliten. Diese Grundelemente des Diskurses jedweden Populismus werden ergänzt durch die besonderen Diskurselemente, die dem „Rechtspopulismus“ einerseits und dem „Linkspopulismus“ andererseits zuzuordnen sind.

Dabei sind nicht nur, wie dies üblicherweise geschieht, die unterschiedlichen Diskurselemente, sondern vor allem auch die programmatischen Forderungen und politischen Zielsetzungen für die Zukunft zu analysieren, um wichtige Kriterien für eine schärfere Trennlinie zwischen „Rechts-“ und „Linkspopulismus“ zu gewinnen. Deren Analyse kann auch dazu dienen, wichtige Unterschiede z.B. innerhalb des Rechtspopulismus wahrzunehmen; die Spannbreite von rechtspopulistischen Formationen reicht von streng konservativ, autoritären und nationalistischen Einstellungen bis hin zu sozio-kulturell libertären und nicht-nationalistischen Ausprägungen. Der Rechtspopulismus in seinem überwiegenden Auftreten (in Europa) ist durch ein Amalgam von neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik, neokonservativen gesellschaftlichen Vorstellungen, autoritärer Law and Order-Politik, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie von chauvinistischen Tönen gekennzeichnet. Die Kritik an der EU, deren zentralistischen Neigungen sowie an ihrem bürokratisch-verselbständigten Handeln und am Sozialstaat sind in der Regel weitere Elemente des rechtspopulistischen Diskurses. Die soziale Basis ist meistens klassenübergreifend breit ausgelegt: Sie reicht von wohl situierten Großbürgern, bildungsbürgerlichen Schichten über Selbständige bis hin zu Teilen der Arbeiterklasse und prekär Beschäftigten. Davon ist der Typus des „Linkspopulismus“ sehr deutlich zu unterscheiden.

3. Umrisse von „Linkspopulismus“

Wie könnte man „Linkspopulismus“ näher zu verstehen und seine Grundzüge zu beschreiben versuchen?

In einem ersten Schritt könnte man ihn als eine Bewegung bzw. politische Strömung begreifen, die eine Sammlung unterschiedlicher Elemente subalterner Klassen anstrebt oder realisiert; sie versucht, die herrschenden politisch-ökonomischen Führungsgruppen anzugreifen (abzulösen), um sozial gerechtere, national-souveräne, demokratisch-selbstbestimmte Politiken in Angriff zu nehmen. Die dabei verwandten Diskurse enthalten in der Regel scharfe Polarisierungen („oben“ vs. „unten“, „reich“ vs. „arm“ etc.), die häufig auch emotional und affektiv aufgeladene Konnotationen einschließen. Von diesen Diskursen muss aber nicht notwendigerweise auf die Qualität der ihnen zu Grunde liegenden Gesellschaftsanalysen geschlossen werden.

Zugespitzte Benennung des politischen Hauptgegners als mobilisierender und vereinigender Faktor dürfte einer radikalen Partei, die auf grundlegende Veränderungen aus ist, keine Probleme bereiten. Manche Theoretiker des Linkspopulismus, wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, unterstreichen, dass die Bildung eines politischen „Wir“ über die Fixierung des politischen Gegners maßgeblich zustande kommt. Diese Verknüpfung differierender Positionen von vielfältigen Protestgruppen innerhalb der subalternen Klassen und Schichten („Artikulation einer Äquivalenzkette“ in ihrer Terminologie) ist offenkundig zentrales Moment „linkspopulistischer“ Politik. Dabei wird die Massenwirksamkeit solcher „relativen Vereinheitlichung“ und Ausrichtung eines gemeinsamen politischen Willens häufig erst durch klassen- und gruppenübergreifende Themen, Symbole und Bilder erreicht. Diese können manchmal unmittelbare und auch emotional eingebundene Einsichten hervorrufen, die ein längerfristiges politisches Engagement auslösen und begründen. „Dieser Moment der Konstruktion eines kollektiven Willen über die Gegensätze hinweg ist der entscheidende politische Schritt, ohne den man keine angemessene Strategie entwickeln kann. Denn erst in diesem Fall haben wir es mit einer Form der Einigkeit zu tun, die Vielfalt respektiert und Differenzen nicht beseitigt… Daher erfordert die Konstruktion eines kollektiven Willens die Bestimmung eines Kontrahenten.“ (Mouffe 2014: 76f.) Darüber, dass dieser in den „politischen und ökonomischen Kräften des Neoliberalismus“ gesehen wird, lässt sie keine Zweifel aufkommen.

Auch die Einbeziehung der gefühlsmäßigen Dimension politischen Handelns – neben rationaler Analyse und Planung des Vorgehens – muss dieses ja nicht per se disqualifizieren, sind doch auch moralische Empörung über extreme Missstände und Polarisierungen nicht nur verständlich, sondern durchaus legitim. Mit Termini wie „Wutbürger“, „Protestpartei“, „europafeindlich“ u.ä. ist diese Dimension der Politik häufig schon im medialen Vorfeld der Disqualifikation oder der Lächerlichkeit preisgegeben, wobei auch von linker Seite solchen Sprachregelungen manchmal gefolgt wird, ohne zu realisieren, dass dies häufig Wortschöpfungen des hegemonialen Blocks sind. Insofern ist auch die semantische Ebene der konfrontativen Auseinandersetzungen nicht zu unterschätzen.

Andererseits: Ob die Hauptgegner in der politischen Agitation „Kaste“ (wie in Spanien), „1%“ (wie in den USA), „Elitenkartell“, „politische Klasse“ oder „herrschende Klasse“ oder sonst wie bezeichnet werden, müsste keine große Rolle (auch für eine dahinter stehende Gesellschaftsanalyse) spielen, wenn eindeutig ist, dass die zentralen Betreiber und teilweisen Nutznießer der neoliberalen Globalisierungspolitik gemeint sind. Diese Terminologie ist oft taktischen Überlegungen geschuldet, die aus den spezifischen, nationalen politischen Traditionen resultieren, wenn z.B. eine bestimmte Terminologie von „Mitte-Links“-Kräften sich als unglaubwürdig und verfälschend erwiesen hat.

Auch die Berufung auf „das Volk“ (ob in der Version „Wir sind das Volk“ oder „Wir sind ein erheblicher, bedeutender Teil des Volkes“) ist nicht unterschiedslos und apriori als anti-pluralistisch oder inhärent „anti-demokratisch“ zu werten. Gerade in den lateinamerikanischen Projekten des Linkspopulismus (Venezuela, Ekuador, Bolivien) wird in den neuen Verfassungen das „Volk“ explizit als „pluri-national“ und „multi-kulturell“ verstanden. Dies dürfte ebenso für die südeuropäischen Varianten des Linkspopulismus gelten. Insofern ist Ingar Solty und Alban Werner zuzustimmen, wenn sie unterstreichen: „‚Das Volk’ ist dabei aber eben nicht gedacht als ethnisch homogene oder irrtumsfreie Entität, sondern als handlungs- und lernfähige Multitude, als Ort gemeinsamer Interessen, die Berufungsinstanz politischer Handlungen.“ (Solty/Werner 2016: 277)

Wichtiges Element des „Linkspopulismus“ scheint das Beharren auf größtmöglich egalitären gesellschaftlichen Verhältnissen zu sein. Insbesondere das Insistieren auf Inklusion von Prekären, Arbeitslosen, Migranten, Minderheiten – kurz: von marginalisierten Bevölkerungsteilen – ist wesentlicher Bestandteil linkspopulistischer Politikentwürfe, wobei natürlich auch die Masse der lohnabhängig Arbeitenden keineswegs übersehen wird.[6]

Das Misstrauen gegenüber „repräsentativen Organen“ (z.B. Parlamenten), die populare Willensbekundungen vielfältig filtern, abdämpfen und teilweise in eine andere – manchmal entgegengesetzte – Richtung lenken, ist ein weiteres emanzipatorisches Moment, das der hierarchischen Vorstellungswelt der typisch rechtspopulistischen Konzepte und Praktiken völlig zuwiderläuft.

Auch die große Bedeutung des Beharrens auf nationaler Souveränität (vor allem in Ländern der „Peripherie“) wird voll verständlich, wenn man sich gegen die strukturelle und asymmetrische Abhängigkeit gegenüber Ländern der Zentren bzw. Metropolen zu wehren sucht. Dies scheint auch Porcaro im Blick zu haben, wenn er formuliert: „Es (kann) Handlungen geben, die der Form nach keinen Klassencharakter tragen, aber dafür einen Klasseninhalt. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn Kämpfe eines defensiven nationalen Typs (im Gegensatz zum aggressiven Nationalismus) das Kapitaleigentum der Kontrolle einer spezifischen territorialen Gemeinschaft unterstellen.“ (Porcaro 2015: 97)

Die linkspopulistischen Diskurse (vor allem in der „Bewegungsphase“), die sie begleitenden Gesellschafts- und Wirtschaftsanalysen sowie die Art der Durchsetzung einer Politik (bei eventueller Regierungsfähigkeit) können in der Regel (bzw. müssen auch, wenn sie Erfolg haben wollen) in gewissem Umfang voneinander differieren, da sie – aus nachvollziehbaren Gründen – feld- und situationsabhängig sind. (Aber auch hier, d.h. im Verhältnis der unterschiedlichen Ebenen von Diskurs, Analyse und praktisch-politischer Umsetzung sind offenkundig höchstens nur graduelle Unterschiede zur herrschenden Praxis z.B. von „Volksparteien“ zu sehen.)

Hier könnte eine gewisse Nähe zum Konzept des „popularen Bündnisses“ von Porcaro gesehen werden. Dieses sei „weder eine ‚reine’ Klassenfront noch ein populistisches Bündnis“ (im Sinne von Rechtspopulismus). „Im Unterschied zu Letzterem verteidigt es nicht einen Teil des Volkes gegen einen anderen, es verherrlicht nicht die spontanen Qualitäten des Volkes, sondern regt es zur Selbsttransformation und Selbstbildung an. Es vertraut sich nicht einem Führer an, sondern entwickelt autonome Institutionen und strukturierte Parteien. Und es kämpft nicht nur gegen einige Sektoren des Kapitalismus (die ‚Spekulanten’, die ‚Parasiten’), sondern gegen das Ganze der kapitalistischen Ordnung.“ (Porcaro 2015: 88)

Vielfach wird auf scheinbare Gleichförmigkeiten von Rechts- und Linkspopulismus hingewiesen: Diskursive Zuspitzungen, emotionalisierte Sprache, Systemkritik und Elitenschelte usw. Dieser Eindruck kann sich gelegentlich einstellen und punktuelle Übereinstimmungen sind möglich. Letztlich kommt es aber auf die Gesamtausrichtung der Kritik an, auf die emanzipatorischen oder anti-emanzipatorischen Inhalte, Implikationen und die Zielrichtung. Inklusion, weitestgehende Egalität, Herrschafts- und Hierarchieabbau sowie demokratische Selbstbestimmung auf möglichst vielen Ebenen sind keineswegs Elemente rechtspopulistischer Diskurse oder Programmatik, wohl aber in der Regel bei linkspopulistischen Konzepten und realen Versuchen – ganz unabhängig von dem jeweiligen Grad der tatsächlichen Realisierung.

Die scheinbaren Überlappungen und Gleichklänge hängen damit zusammen, dass die Zielpunkte der jeweiligen Kritik oft dieselben sind, diese aber gänzlich anders/unterschiedlich wahrgenommen und analysiert werden und demzufolge daraus auch andere Schlussfolgerungen, Konsequenzen und politischen Ziele abgeleitet werden. Zu Recht hob Gerd Wiegel kürzlich noch einmal hervor: „Die verbreiteten Vorbehalte gegen die mit diesem globalen Kapitalismus verbundenen politischen Kräfte und das gesamte ‚System’ werden in den Augen dieser Menschen (i.e der für Rechtspopulismus Anfälligen) am besten von den Parteien des Rechtspopulismus repräsentiert. Widerstand, Systemkritik, und fundamentale Opposition gegen das Bestehende sind in vielen Fällen nach rechts gewandert, womit die europäische Rechte eine großen Teil der völlig berechtigten Unzufriedenheit mit dem politischen und ökonomischen System zum Ausdruck bringt, wohingegen die (parteipolitische) Linke in zahlreichen dieser Länder als Teil des Problems, bestenfalls als Teil einer ohnmächtigen und angepassten Politikerkaste, wahrgenommen wird, von der keine grundlegende Änderung zu erwarten ist.“ (Wiegel 2016: 20)

Thematische und diskursive Gleichklänge zwischen „rechten“ und „linken“ Positionen kann es geben und hat es immer wieder gegeben. Man denke nur an die faschistischen „Entwendungen aus der Kommune“ (so Ernst Bloch in „Erbschaft dieser Zeit“, 1935).[7]

Auch diejenigen, die das Phänomen des „Linkspopulismus“ für möglich und für existent halten und es von „Rechtspopulismus“ zu unterscheiden vermögen, haben kritische Einwände, die sich u.a. am linkspopulistischen Diskurs (und dessen Semantik), am taktischen Vorgehen, der Bündnispolitik festmachen. Während R. Zelik bei dem spanischen linkspopulistischen Projekt „Podemos“ eine „tendenzielle Entleerung der Politik zugunsten ihrer Kommunizierbarkeit“ und somit die Gefahr einer „sinnentleerten Politik“ (möglicherweise in allzu wörtlichem Verfolgen des Laclau’schen Populismuskonzepts, welches von einem „leeren Signifikanten“ ausgeht) befürchtet (Zelik 2015: 142ff.), konzentrieren sich Boos/Schneider bei ihrer summarischen Kritik linkspopulistischer Versuche in Lateinamerika und Europa auf Widersprüche populistischer Mobilisierungsstrategien, auf Probleme der Bündnispolitik mit Mittelklassen sowie auf Schwierigkeiten der Überwindung der „Materialität“ staatlicher Apparate und deren Beharrungskraft trotz progressiver Einwirkung und partieller Umbesetzung (ebd.: 101ff.). Allerdings scheinen diese angesprochenen Aspekte nicht speziell etwas mit linkspopulistischer Analyse und Diskurs, Taktik und Strategie zu tun zu haben, sondern generell auf wichtige Kernprobleme tiefgreifender Transformation kapitalistischer Gesellschaften zu verweisen.

Dass „Linkspopulismus“ eine Art von machiavellistischer Rezeptkiste oder Wundertüte für linke Leute auch hierzulande sein könnte, hat meines Wissens noch niemand behauptet. Bevor vorschnell „rote Karten“ an als „exotische Politikabenteuer“ angesehene alternative linke Herangehensweisen zur Herstellung von Bewegung, Sammlung und Begeisterung für gründliche Veränderungen verteilt werden, sollte mehr über Raul Zeliks Fazit nachgedacht werden: „Begriffe zu suchen, die unterschiedliche Positionen und Anliegen zusammenführen können, ist tatsächlich Grundlage jedes erfolgreichen Organisationsprozesses und jeder Politik. Ohne gemeinsame Interpretationen der Wirklichkeit kann es kein gemeinsames Handeln geben, und ohne gemeinsames Handeln ist die richtige Beschreibung der Realität irrelevant. Insofern lässt sich die Fragestellung, die hinter der Podemos-Gründung steckt, gegenüber der Haltung vieler deutscher Linker, die nach wie vor meinen, es gehe darum, recht zu haben, leicht verteidigen.“ (Zelik 2015: 148) Weiter führende Überlegungen zu einer vertieften Diskussion um „Linkspopulismus“ – auch innerhalb der Linken – sind bereits angestellt worden (Solty/Werner 2016). Zu Recht wird beispielsweise betont, dass „Linkspopulismus“ nichts als ein für allemal Abgeschlossenes zu betrachten ist. Er bietet Ausgangspunkte und Chancen an, die genutzt werden können in Form von einer Zurückdrängung des Neoliberalismus, auch auf institutioneller Ebene. „Populismus ist wie andere Modi der Politik (Technokratie, Kaderpartei, Bewegung) ein Lernprozess… Gegenüber anderen Politik-Modi hat der Linkspopulismus aber den ‚Charme’, den Lernprozess nicht rationalistisch zu verkürzen und seinen Maßstab in der Ausarbeitung, Verfeinerung und Mobilisierung der Handlungsfähigkeit der Massen zu finden.“ (Ebd.: 284)

Alle wissen aber auch, dass Potenziale womöglich nicht genutzt werden können und Lernprozesse scheitern mögen. Die „innere Dynamik“ linkspopulistischer Versuche zu erforschen, wäre daher ein weiteres lohnendes Thema einer progressiven Politiktheorie.

Literatur

Becher, Philip (2013): Rechtspopulismus, Köln

Bloch, Ernst (1973/1935): Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M.

Boos, Tobias/Schneider, Etienne (2016): Lateinamerikanisiert Europa!? Einige vorläufige Schlussfolgerungen zur Frage eines linken Populismus in Europa, in: Brand, Ulrich (Hg.): Lateinamerikas Linke, Hamburg

D’Eramo, Marco (2013): Populism and the new Oligarchy, in: New Left Review, 54. Jg, H. 4

Fülberth, Georg (2015): Kapitalismus – Faschismus – Antifaschismus, Vortrag in Stralsund am 12.9.2015 2015, http://www.ostsee-rundschau.de/Redemanuskript-von-Professor-F%C3%BClberth.pdf

Hentschke, Jens R.(1998): Populismus – Bedeutungsebenen eines umstrittenen theoretischen Konzepts, Arbeitshefte des Lateinamerika-Zentrums, Nr. 48, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Hermet, Guy(2001): Les populismes dans le monde, Paris

Kriesi, Hanspeter/Pappas, Takis S. (Hg.) (2015): European Populism in the Shadow of the Great Recession, Colchester

Laclau, Ernesto (1977/1981): Zu einer Theorie des Populismus, in: Ders.: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin

Loch, Dietmar/Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2001): Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, Frankfurt/M.

Mouffe, Chantal (2014): Radikale Politik und die echte Linke. Plädoyer für eine agonistische Alternative, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12

Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin

Priester, Karin (2012a): Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt/M.

Priester, Karin (2012b): Wesensmerkmale des Populismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (http//www.bpb.de/apuz/75848/wesensmerkmale-des-populismus)

Porcaro, Mimmo (2015): Tendenzen des Sozialismus im 21. Jahrhundert, Hamburg

Solty, Ingar/Werner, Alban (2016): Der indiskrete Charme des Linkspopulismus, in: Das Argument 316, Heft 2, 2016

Strobach, Hermann (1983): Zum Volksbegriff bei Marx und Engels, in: Küttler, Wolfgang (Hg.): Das geschichtswissenschaftliche Erbe von Karl Marx, Berlin

Wiegel, Gerd (2016): Krisenreaktionen von rechts. Die AfD nach den Landtagswahlen, In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. H. 106

V. Lucke, Albrecht, im Gespräch mit Kaindl, Christina und Solty, Ingar (2016): Über Linkspopulismus, in: prager frühling, H. 25 (Juni 2016)

Zelik, Raul (2015): Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien, Berlin

[1] Daraus wird gelegentlich sogar die Konsequenz gezogen, gänzlich Abstand von diesem Begriff in den Sozialwissenschaften zu nehmen, z.B. Jens R. Hentschke 1998.

[2] Siehe hierzu z.B.: Loch/Heitmeyer 2001, Becher 2013, Kriesi/ Pappas 2015, Wiegel 2016.

[3] Trotz der Einräumung gewisser ideologischer Unterschiede zwischen Rechts- und Linkspopulismus unterstreicht Priester nachdrücklich, dass in der faktischen Umsetzung beider Politikformen große Übereinstimmung besteht. „Populismus beruht – unabhängig von seiner Verortung auf einer Rechts-Links-Skala – auf der Aversion gegen ‚Bevormundung’ des Volkes durch Funktionseliten. Diese Aversion ist aber scheinemanzipatorisch, wird doch Mündigkeit nicht als Prozess der Selbstwerdung, sondern als ein statisches Apriori verstanden. Populismus betreibt keine bloße Aufwertung des Volkes, sondern eine Umpolung der Wertigkeiten von Volk und Elite und ist nur in einem instrumentellen Sinne anti-elitär. Er richtet sich lediglich gegen die jeweils herrschende Elite, strebt aber den Aufstieg einer neuen, moralisch überlegenen Elite von homines novi an.“ (Priester: 2012b)

[4] Siehe als positives, seltenes Beispiel die breite Analyse von Guy Hermet: Les populismes dans le monde. Une histoire sociologique. XIXe - XXe siècle, Paris 2001.

[5] Das Umgekehrte kann genauso vorkommen: So konnten beträchtliche rechtspopulistische Strömungen in relativ prosperierenden Ländern (Schweden, Österreich, Deutschland) entstehen, in Irland aber trotz schwerer ökonomischer Krise nicht.

[6] Beiläufig sei erwähnt, dass Marx und Engels den Begriff des „Volkes“ und der „Volksmassen“ sehr häufig und in vielen unterschiedlichen Kontexten verwendet haben. Wenn er nicht umgangssprachlich gebraucht wurde, dann meistens als „historisch-sozialer Begriff“, der unterschiedliche Klassen und Schichten umfasst. „Als Klassen und Schichten, die unter dem Begriff des Volkes zusammengefasst werden können, nennen Marx und Engels das Proletariat sowie die Bauern und Kleinbürger. Engels betonte noch: die ‚kleinen Bauern und kleinen Bürger‘, Marx im Hinblick auf das Kleinbürgertum: ‚die nicht der Bourgeoisie angehörigen Fraktionen des Bürgertums’, also die werktätigen, nicht zur Ausbeuterklasse aufgestiegenen (mittleren und größeren) Bauern und die werktätigen Bürger (Handwerker, große Teile der bürgerlichen Intelligenz u.a.). Es sind jene Klassen und Schichten, auf denen, wie Engels schrieb, ‚nicht nur die politische, sondern vor allem die gesellschaftliche Unterdrückung’ lastet, und das heißt hier die Ausbeutung, die ‚Exploitation des Volks’.“ (Strobach 1983: 164) Das schließt nicht aus, dass Marx und Engels auch andere Konnotationen von „Volk“ gelegentlich erwähnen, wie natürlich die ethno-soziale Akzentuierung, aber auch schon „Volks“-Konstruktionen, die von der Romantik-typischen Überhöhung gekennzeichnet waren.

[7] „Wenn zwei dasselbe tun, tun sie nicht dasselbe. Wie gar, wenn der eine des anderen Tun nachahmt, um zu betrügen. So heute, wo der Nazi noch nicht zeigen kann, wie er wirklich aussieht und was er wirklich will, sich also verkleidet. Er gibt sich aufrührerisch, wie bekannt; der schrecklichste weiße Terror gegen Volk und Sozialismus, den die Geschichte je sah, tarnt sich sozialistisch. Zu diesem Zweck muß seine Propaganda lauter revolutionären Schein entwickeln, ausstaffiert mit Entwendungen aus der Kommune.“ (Bloch 1973: 70).

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