„Eine entscheidende Frage gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage. Wirtschaftliche Macht bedeutet auch politische Macht. Solange die Entscheidungen großer Unternehmen sich an den Renditewünschen statt am Wohl der Allgemeinheit orientieren, ist Politik erpressbar (…). Eine (…) demokratische Gesellschaft erfordert, dass die ökonomische Macht derer, die an Armut, Ausbeutung, Naturzerstörung, Rüstung und Kriegen verdienen, zurückgedrängt und überwunden wird. (…) Wir wollen eine radikale Erneuerung der Demokratie, die sich auch auf wirtschaftliche Entscheidungen erstreckt und sämtliche Eigentumsformen emanzipatorischen, sozialen und ökologischen Maßstäben unterwirft.“ So steht es im Programm der Partei Die Linke.[1] Die Partei, heißt es, „kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.
Die Frage, wie dieser „transformatorische Prozess“ näher zu charakterisieren sei, beantwortet das an der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) angesiedelte Institut für Gesellschaftsanalyse mit seinem Ansatz der „Transformationsforschung“, zu dem mittlerweile eine umfangreiche Literatur vorliegt. Der vorliegende Beitrag diskutiert einige Aspekte dieser Transformationsvorstellungen anhand ausgewählter Beiträge; ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Zentrale Gedanken werden u.a. in den politischen Grundsatzreden der Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger aufgegriffen (s.u.).
1. Krisendiagnose und Transformationsszenarien
Mit dem Begriff der Transformation bezieht sich Dieter Klein (2013, 2014) auf höchst unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse, einerseits auf den Übergang osteuropäischer Staaten zum Kapitalismus, andererseits auf den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Im Gegensatz dazu soll nun eine langfristige „zweite große Transformation“ zu einer „solidarischen und gerechten Gesellschaft im Einklang mit der Natur“ (Klein 2014, 102) führen. Dieser „großen“ Transformation geht eine „kleine“ voraus, die noch innerhalb des Kapitalismus verbleibt und deren Notwendigkeit sich für Klein zum einen aus der jüngsten Weltwirtschaftskrise ergibt, zum anderen aus der Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie aus dem Erfordernis, die Art der globalen Energiegewinnung umzustellen. Der Begriff wird also für Systembrüche wie für Veränderungen innerhalb des Kapitalismus verwendet.
Ausgangspunkt der Transformationsszenarien der RLS, die sich vorwiegend auf Entwicklungsrichtungen des Kapitalismus in der BRD und über ihn hinausweisende Tendenzen beziehen, ist die seit 2007 anhaltende Weltwirtschaftskrise, die in eine Reihe mit den „organischen“ Krisen des Kapitalismus gestellt wird, die 1873 bzw. 1929 begannen. „Transformation kapitalistischer Gesellschaften“, schreibt Mario Candeias, „meint dabei zunächst eine Veränderung aller gesellschaftlichen Verhältnisse. (…) Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Klassenfraktionen formieren sich in Auseinandersetzung mit anderen zu neuen gesellschaftlichen Blöcken (…) um konkrete strategische Projekte herum.“ (Candeias 2014, 304f, vgl. Klein 2013, 34ff)
Analysiert werden sollen „vier im Entstehen begriffene konkurrierende strategische Projekte – kein Szenario, wie es künftig aussehen könnte, sondern ein Versuch der Bestimmung empirischer Tendenzen“ (Candeias a.a.O.). Diese sind:
- Autoritärer Neoliberalismus und restriktive Austeritätspolitik, getragen von Finanzkapital und Kapitalfraktionen, die auf fossile Energieträger setzen.
- Grüner Kapitalismus, getragen von Kapitalfraktionen aus dem Bereich nicht-fossiler Energien und unter Einbindung von Gewerkschaften und Bündnis90/Die Grünen.
- Sozial-libertärer Green New Deal mit mehr öffentlichen Investitionen und Finanzmarktregulation im Interesse des am Binnenmarkt orientierten Kapitals.
- Grüner Sozialismus, mit Wirtschaftsdemokratie und „grün-sozialistischer Reproduktionsökonomie“, getragen allein von einer „Mosaik-Linken“ (s.u.).
Candeias räumt ein, dass der Green New Deal unwahrscheinlich und der Grüne Sozialismus nur eine „politische Interventionsstrategie“ ist. Die nähere Bestimmung des Transformationsprozesses bleibt in der hier besprochenen Literatur weitgehend vage. Die Linke, heißt es etwa, müsse „Umrisse möglicher Transformationspfade, Kipppunkte, Brüche und Übergänge ausarbeiten“ (Rilling 2014, 43). Die Datengrundlage und Methode für die Identifizierung der genannten Trends bleiben unklar. Klaus Steinitz vermerkt unter anderem, dass Konsequenzen der neoliberalen Globalisierung im Szenario-Ansatz der Stiftung zwar aufgegriffen würden, aber „hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens“ nicht ausreichend bewertet worden seien (Steinitz 2015, 46). Ergänzen ließe sich, dass die Grundstrukturen und Entwicklungstendenzen der Wirtschaft und Kapitalverwertung ebenso wie der Produktivkraftentwicklung stärker zu berücksichtigen wären, etwa hinsichtlich der Digitalisierung oder Produktivitätssteigerung (vgl. Klein 2013, 68f).
2. Mosaik-Linke und Mitte-Unten-Bündnisse
Die Frage, wer die von der Linken gewünschte Transformation durchsetzen solle, beantwortet die RLS politisch und soziologisch. Von Hans-Jürgen Urban übernimmt sie das Konzept der „Mosaik-Linken“ (vgl. Candeias 2010). Diese „müsste neben den Gewerkschaften die globalisierungskritischen Bewegungen, weitere Nichtregierungsorganisationen, die diversen sozialen Selbsthilfeorganisationen und nicht zuletzt die kritischen Teile der kulturellen Linken, also Wissenschaftler, Intellektuelle und andere umfassen“ (Urban 2009, 77). Eine „neue Kultur der wechselseitigen Toleranz und der Akzeptanz“ müsse die „Schlüsselressource eines solchen Bündnisses darstellen“ (ebd., 78); wie ein „Mosaik seine Ausstrahlungskraft als Gesamtwerk entfaltet, obwohl seine Einzelteile als solche erkennbar bleiben, könnte eine neu gegründete Linke als Kollektivakteur wahrgenommen und geschätzt werden“ (ebd.). Zusammengehalten werden soll das Mosaik durch gemeinsame „Einstiegsprojekte“ (s.u.).
Michael Brie und Cornelia Hildebrandt betonen die Notwendigkeit einer Klassenanalyse und greifen insbesondere auf die Milieutheorie des Arbeitskreises um Michael Vester zurück. Die „horizontale Differenzierung“ unter den abhängig Beschäftigten beschreiben sie so: „Den einen gelingt es, Einkommen, Bildung, Status und soziale Sicherheit zu verbessern. Sie verfügen über global gefragte Qualifikationen, arbeiten in Kernsektoren der boomenden deutschen Exportindustrien oder sind im höheren öffentlichen Dienst tätig. Andere kämpfen um die Aufwertung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen, um bescheidenen Wohlstand. (…) Wieder andere (…) sind das Dienstleistungsproletariat – sie putzen und lagern, transportieren und bewachen, liefern aus, räumen ein und kassieren in den Discountern, sie kellnern und erledigen die Routinearbeiten des digitalen Zeitalters.“ (Brie/Hildebrandt 2015) Klein spricht von Unten-Mitte-Bündnissen, die aus einer „sozial-libertären Mittelschicht“, „bedrohten Kernbelegschaften“ und „subproletarischen Gruppen“ bestehen (vgl. Klein 2013, 163). Ungeachtet dessen vermisst man allerdings eine systematische Sozial- und Klassenstrukturanalyse. Weitgehend unklar bleibt, gegen welche Interessenlagen und Koalitionen die „strategischen Projekte“ und die erwarteten gesellschaftlichen Veränderungen durchgesetzt werden müssen. Untersuchungen zu den Verflechtungsstrukturen von Kapital und Staat, zu den Macht- und Herrschaftsapparaten einschließlich der ideologischen Apparate (Medien z.B.) fehlen weitgehend. Linke nehmen Brie und Hildebrandt anscheinend nur in der „Mitte“ wahr. „Viele Linke leben selbst in Milieus der gehobenen Mittelschichten. Dies macht blind, verführt oder korrumpiert sogar. Wie sozial gemischt sind zum Beispiel die Freundeskreise dieser Linken?“ Ihnen wird empfohlen, „den Blick von unten zu trainieren“.
Dass es das Phänomen gibt, ist unbestritten (vgl. Merkel 2016), aber die Art der Beschreibung zeigt eine starke Identifikation mit den akademischen Mittelschichten. Linke, die den „Blick von unten“ nicht trainieren müssen, weil sie ihn aus ihrer Alltagserfahrung kennen, kommen nicht vor. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn das „Unten“-Lager hinsichtlich seines Wahlverhaltens als problematisch dargestellt wird – seine Mitglieder wählen nicht oder wählen angeblich rechts (vgl. Brie 2014b, 173). Teile der Mittelschichten könnten ebenfalls als politisch unzuverlässig betrachtet werden: Sie wählen FDP, AfD und Grüne oder plädieren für Bürgerbeteiligung (Brangsch 2016, kritisch dazu: Wagner 2016), und eine „Teilhabegesellschaft“ (s.u.).
Nichts gegen Bündnisse mit der Mittelschicht, aber man muss deren Einfluss begrenzen. Erfolgreich war die Partei unter Arbeitslosen und abhängig Beschäftigten mit geringen Einkommen zu ihren Anfangszeiten, als sie mit deutlichen Worten Hartz IV und Sozialabbau angriff und konfrontativ gegenüber allen Parteien und insbesondere SPD und Grünen auftrat. Es mag sein, dass dieser Erfolg nicht zu wiederholen ist. Jedenfalls haben die Lager „Unten“ und „Mitte“ tendenziell unterschiedliche Probleme und Interessen, und das eine wird nicht aktiv werden, solange das andere die Forderungen und den Diskurs bestimmt.
Die „Mosaik-Linke“ beschreibt einen Kooperationsmodus, die Notwendigkeit von deutlichen Abgrenzungen bleibt jedoch unterbelichtet. Ebenso unterbelichtet bleibt, aus welchen Elementen das Mosaik eigentlich genau bestehen soll. Die Partei Die Linke habe sich, so die Einschätzung Urbans (2010), erfolgreich als „Sammlungsbewegung der Krisenopfer“ im Parteiensystem eta-bliert, mit der Rolle eines „Motors“ kapitalismuskritischer Bewegungen sei sie derzeit jedoch überfordert. Im Rahmen einer Mosaik-Linken kämen ihr drei Funktionen zu: Erstens als „Vetospieler“ gegen „finanzmarktkapitalistische Zumutungen“, zweitens als parlamentarische Kraft für außerparlamentarische Bewegungen, drittens als Ideengeberin für diese Mosaik-Linke. Die Partei müsse sich, so Urban weiter, „in ihrer Parlaments- und Regierungsarbeit der zu beobachtenden Verselbstständigung des politischen Systems und seiner Abschottung gegenüber der Gesellschaft entgegenstemmen“ (ebd.). Wie das gehen soll, bleibt unklar, solange die Partei für Koalitionen auf die SPD angewiesen ist, die, wie Urban selbst sagt, in einer Sackgasse gelandet ist, ohne Aussicht auf Verwandlung in eine kapitalismuskritische Kraft. Klein setzt auf eine rot-rot-grüne Koalition bei einer „gravierenden Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links“ (Klein 2013, 89). Woher diese Veränderung kommen soll, bleibt ebenso offen wie die Frage, warum sich SPD und Grüne grundsätzlich ändern sollten. Bis jetzt ist die Linkspartei eher geschwächt aus Koalitionen auf Landesebene hervorgegangen.
3. Linke Parteien für die EU und gegen das Kapital?
Erstaunlicherweise kommen linke Parteien in der Literatur zur Transformationsforschung eher selten vor. Die „Krisen führen heute (…) zu neuen Protest- und Beteiligungsformen“ sowie zu „vielfältigen Suchprozessen von gesellschaftlichen Bewegungskräften, von kommunalen Bewegungen und überregionalen Bürgerinitiativen, von Aktivitäten der Nichtregierungsorganisationen, aber auch von kritischen Intellektuellen und Journalisten, Teilen des Unternehmertums und selbst von aufgeschlossenen Kreisen im politisch-administrativen System“ (Reißig 2014, 83).
Die parteipolitischen Optionen scheinen eher als begrenzt wahrgenommen zu werden. Katja Kipping und Bernd Riexinger (2015) reden vom „endgültigen Scheitern aller rot-grünen Vorstellungen von kosmetischen Veränderungen im Rahmen des Bestehenden“; SPD und Grüne „sind von sozialer Gerechtigkeit derzeit weiter entfernt als je zuvor, es gibt kein linkes Lager der Parteien mehr“ (Kipping & Riexinger 2016). Sie setzen einerseits auf ein neu zu schaffendes „Lager der Solidarität“, andererseits auf einen „grundlegenden Kurswechsel bei SPD und Grünen“. Letzteres klingt eher unrealistisch, bereiten sich Bündnis90/Die Grünen doch derzeit auf eine mögliche Koalition mit CDU/CSU vor.
Cornelia Hildebrandt (2015) konstatiert eine Zersplitterung der Linksparteien und zählt die deutsche Linke zu den „linkslibertären Parteien mit sozialökologischem Anspruch“, die im Euro verbleiben wollen (Hildebrandt 2015, 204). Die strategischen Überlegungen, die sie aus der Niederlage von Syriza ableitet, sind überraschend: „Es kommt jetzt gerade darauf an, in den wirtschaftlich-politisch starken Ländern der EU die nationalen Mehrheitsverhältnisse zu verändern, um von dort aus auch die europäische Politik zu verändern.“ (Ebd., 214) Überraschend ist diese These aus zwei Gründen: Zum einen sind Widerstandsbewegungen gerade in den politisch-ökonomisch starken Ländern weniger wahrscheinlich, zum anderen wird damit den Linksparteien dieser Länder, zum Beispiel Deutschlands, implizit eine Führungsrolle zugeschrieben. Insgesamt schätzt Hildebrandt die europäische Linke als eher schwach ein, Transformation wäre für deren Politik wohl ein eher zu großes Wort.
Zwar ist viel vom Konfliktpotenzial kapitalistischer Gesellschaften die Rede, nur werden die Konflikte wie die Akteure – etwa die großen Konzerne und ihre Interessenpolitik – selten konkret benannt.
Unter den Ausnahmen ist besonders Judith Dellheims Aufsatz (2014) über die europäischen Kapitaloligarchien hervorzuheben. Die Autorin schätzt die Spielräume der Linken als eher gering ein und plädiert zunächst für eine Konzentration auf Abwehrkämpfe gegen Verschlechterungen. Recht unvermittelt skizziert sie dann eine langfristige Perspektive. Es müssten „die Netzwerke der Eliten demontiert, das Finanzkapital ‚seziert‘ und tatsächlich vergesellschaftet werden. Das setzt deutlich veränderte Machtkonstellationen voraus (…). Sie wären die Bedingung dafür, dass koordiniert handelnde staatliche und EU-Institutionen zustande kommen, die eine sozialökologische Transformation befördern. Allerdings müssten zunächst die bisherigen zivilen Institutionen, die Wirtschafts- und Währungsunion erhalten und eine Wirtschaftsregierung geschaffen werden.“ (Dellheim 2014, 363) Mit Blick auf das Schicksal Griechenlands fragt man sich jedoch, wer bis dahin den Preis für eine von Deutschland dominierte EU zu zahlen hat. Aufstieg und Niederlage von Syriza haben zumindest zweierlei gezeigt: Zum einen können besondere Umstände die politische Landschaft umpflügen und es einer linken (und über lange Zeit eher unbedeutenden) Partei ermöglichen, beachtlichen gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen und stärkste Regierungspartei zu werden. Die im Mosaik-Konzept beklagte „Zersplitterung der Linken“ im Land war jedenfalls nicht Syrizas Hauptproblem. Zum anderen wurde offensichtlich, dass der europäischen Linken bislang die Mittel fehlen, um gegenüber dem Kapital internationalistisch handeln zu können. Der vielleicht einzige Mobilisierungserfolg waren die Proteste gegen die Europäische Zentralbank im März 2015.
4. „Einstiegsprojekte“ und Ziele
Generell besteht ein großer Widerspruch zwischen den in der Literatur skizzierten weitreichenden Transformationsvorstellungen einerseits und den relativ begrenzten mittelfristigen strategischen Optionen der Linken andererseits. Verschärft wird dieser Widerspruch, wenn von den so genannten Einstiegsprojekten die Rede ist. „Einstiegsprojekte“, schreibt Lutz Brangsch (2014, 379), „müssen dadurch gekennzeichnet sein, dass sie die gebotenen Möglichkeiten des bürgerlich-demokratischen Systems nutzen und sie zugleich kritisieren, indem sie sie zu sichtbaren radikaldemokratischen Konsequenzen treiben. Insofern verstehe ich Demokratisierung auch als ‚Achse der Transformation‘.“ Als ein Beispiel nennt Brangsch den von der in Berlin mitregierenden PDS ins Leben gerufenen Öffentlichen Beschäftigungssektor (ÖBS). Es handelte sich um ein Arbeitsbeschaffungsprojekt. Im Rahmen des ÖBS wurden Stellen für Erwerbslose geschaffen, indem der Senat das Arbeitslosengeld und/oder andere Leistungen auf minimal 1.300 Euro aufstockte. Brangsch (ebd., 381) schreibt dazu: Der ÖBS stand „unter Kritik von links wie auch unter Beschuss von rechts (…). Die Befragungen in ÖBS-Projekten ergaben aber generell eine hohe Zustimmung (…) seitens der Betroffenen. Neben der Stärkung des Selbstwertgefühls stand aber auch das Empfinden, vom ‚Amt‘ abhängig zu sein. (…) Obwohl mit dem ÖBS ein ganzes Bündel von Problemen (…) sichtbar wurde, fehlte in der politischen Landschaft die Fähigkeit, diese in wirksame politische Veränderungen umzusetzen.“ Angesichts dessen scheint die Charakterisierung als Einstiegsprojekt in eine Transformation, die irgendwann zum Sozialismus führen soll, als wohl doch etwas zu hoch gegriffen. Hier zeigt sich die Begrenztheit und Ambivalenz solcher Reformvorschläge, die nicht aus sich heraus, sondern nur im Kontext einer Gesamtbewegung zu Elementen einer progressiven Gesellschaftsveränderung werden können.
Das gilt auch für andere Einstiegsprojekte, die hier hier nur in Stichpunkten genannt seien: Vermögensabgabe und temporäre Millionärssteuer, Einführung einer BürgerInnenversicherung, einschließlich Gesundheit und Pflege, 30-Stundenwoche, Rekommunalisierung der Stadtwerke, erweiterte betriebliche Mitbestimmung, Rüstungskonversion, Auflösung der NATO (vgl. Institut für Gesellschaftsanalyse 2011, Klein 2013, 196ff). Die entscheidende Frage in allen Fällen bleibt die nach den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, die die angedeuteten Reformschritte ermöglichen und in eine Richtung lenken können, die sie zu Ausgangspunkten weitergehender Veränderungen machen können. Die antimilitaristischen Ziele werden übrigens von Teilen der eigenen Partei, dem Forum Demokratischer Sozialismus, konterkariert. Moritz Kirchner und Christopher Neumann (2016) fordern eine „gemeinsame Europäische Armee“ als „Schule europäischer Identität“, da bloße Landesverteidigung einem „kognitiven Nationalismus“ verhaftet sei.
Die verschiedenen Ziele der „Einstiegsprojekte“ müssten stärker nach ihrer zeitlichen Priorität, Verwirklichungswahrscheinlichkeit und Bündnispartnern gegliedert werden. Forderungen nach einer „solidarischen Teilhabegesellschaft“ (Reißig 2014, 77) bleiben Schlagworte und bedürften einer Abgrenzung gegenüber ähnlichen Termini „grüner“ Politik (vgl. Heinrich-Böll-Stiftung 2015).
Der Sozialismus, verstanden als langfristig anzustrebendes ökonomisch-politisch egalitäres Gesellschaftssystem, wird in der Literatur zur Transformationsforschung stark relativiert. Klein (2013, 16) begreift Sozialismus „nicht als ein fertiges ganz anderes Gesellschaftssystem“, sondern nennt ihn ein „Wertsystem“ und unter Berufung auf Karl Polanyi eine „Tendenz“, die in Europa „stets mit christlichen Traditionen“ (Polanyi) verbunden gewesen sei. Die abstrakte, rein normative Bestimmung des Sozialismus als „gerechte Gesellschaft des inneren und äußeren Friedens im Einklang mit der Natur“ entzieht sich der Frage nach den Strukturmerkmalen und den Widersprüchen sozialistischer Gesellschaften – etwa zwischen Naturschutz und notwendigen Produktivitätsfortschritten. An anderer Stelle ist von einer Bewegung die Rede, die „die Gesellschaft ein Stück menschlicher und solidarischer“ mache (Klein 2013, 122). Dieses Verständnis von Sozialismus ist allein deshalb problematisch, weil in ihm nichts Kämpferisches oder auch nur Konfrontatives anklingt.
5. Terminologie und Sprache:
Per Revolution zum Infrastruktursozialismus?
Die Sprache von Analysen sollte im Idealfall präzise, verständlich und anziehend sein. In der Literatur der Transformationsforschung scheint sich ein bestimmter Stil herausgebildet zu haben, der diese Kriterien nicht immer erfüllt. Die folgenden Beispiele sollen nur das Problem verdeutlichen, nicht die jeweiligen Autoren vorführen.
Unter dem Anglizismus „Futuring“ versteht Rainer Rilling im gleichnamigen Band Zukunftsgestaltung (vgl. Rilling 2014, 25). Keiner der folgenden Beiträge bezieht sich aber explizit darauf. In den Texten finden sich zahlreiche Aufzählungen, die redundant und vage bleiben. Es geht beispielsweise um „individuelle Verfügungs-, Teilhabe- und Emanzipationsmöglichkeiten“ (ebd., 67), um „soziale Teilhabe und demokratische Teilnahme“ (Reißig 2014, 73) sowie um „soziale Teilhabe- und demokratische Beteiligungs- und Lebensweiseformen“ (S. 86). Zukunft beschreiben könne man durch „Sprechen, Texte, Bilder, Hoffnungen, Wünsche, Träume, durch Vorstellungen, Diskurse, Simulation, Imagination oder Spiel, aber auch durch Kritik, Visionen (…), Utopien (…), Dystopien, Katastrophen, Apokalypsen“ (Rilling 2014, 42f.).
Ein anderes, offenbar bewusst eingesetztes Stilmittel besteht darin, Neologismen zu verwenden oder bereits bekannte Begriffe mit neuer Bedeutung zu versehen oder in einen ungewohnten Zusammenhang zu stellen. Das bereits erwähnte „Futuring“ ist ein Beispiel dafür. Als „Infrastruktursozialismus“ bezeichnet Bernd Riexinger eine „öffentliche soziale und bedarfsorientierte Infrastruktur für gute Bildung, Gesundheitsversorgung, Pflege, Mobilität, Energieversorgung und Wohnen für alle“ (Riexinger 2015). Dies waren einmal im guten Sinne klassisch-sozialdemokratische Forderungen. Es sollte aber dazugesagt werden, welche weitergehenden Veränderungen notwendig wären, um ihre Verwirklichung zu ermöglichen. Einerseits ist es zu begrüßen, wenn der lang gebrandmarkte Begriff des Sozialismus in der politischen Sprache rehabilitiert wird, andererseits riskiert man eine Beliebigkeit der Sprache und eine Schwächung des Ausdrucks. Bekanntlich bedeutet Sozialismus Kollektiveigentum der Produktionsmittel in den Händen der bisher (potentiell) abhängig Beschäftigten, was hier allerdings nicht gemeint zu sein scheint. Ähnlich verhält es sich mit der „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“, die Katja Kipping und Riexinger fordern. Auch hier wird Richtiges formuliert. „Wir sind uns bewusst, was ‚soziale Revolution‘ bedeutet: radikale Umwälzung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und aller gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen ausgebeutet, erniedrigt und unterdrückt werden. Eine solche Umwälzung steht in Deutschland derzeit nicht auf der Tagesordnung.“ (Kipping/Riexinger 2016). Trotzdem halten sie fest: „Eine Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie fängt an mit einer Kampfansage an die Wenigen, die unermesslichen Reichtum, Vermögen und Macht auf Kosten der Mehrheit der Menschen angehäuft haben. Wir nennen die Namen derjenigen, die von prekärer Arbeit, Armutslöhnen, steigenden Mieten und Pflegenotstand in den Krankenhäusern profitieren.“ (Ebd.) Inhaltlich umfasst diese „Revolution“ insbesondere eine Umverteilung im Sinne des Infrastruktursozialismus, zugunsten von Armutsbekämpfung und sicheren Arbeitsverhältnissen. Eine „Kampfansage“ an die Verantwortlichen ist allerdings nur ein erster Schritt, leitet aber noch keine „Revolution“ ein. Es besteht die Gefahr, dass solche großen Begriffe nicht ernst genommen werden und – im ungünstigen Fall – von enttäuschten Wählerinnen und Wählern als bloße Propaganda wahrgenommen werden.
6. Fazit
Friedrich Engels empfahl einmal, die Mittel zur Beseitigung gesellschaftlicher Missstände „nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken“ (MEW 19, 210). In gewisser Weise folgt die Transformationsforschung diesem Rat, indem sie versucht, Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu identifizieren, um daraus Verwirklichungschancen für den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ abzuleiten. Engels hatte die großen und konfliktreichen Vergesellschaftungstendenzen des Kapitalismus im Auge. Für ihn lag, wie Brecht es ausgedrückt hat, die Hoffnung in den Widersprüchen. Wünschenswert wäre, dass gerade diese Widerspruchskonstellationen in ihrer ganzen Vielfalt und Kompliziertheit ausgeleuchtet würden. Datengrundlagen und Methoden der Konstruktion von Szenarien müssten ausführlicher dargestellt bzw. stärker ausgearbeitet würden, wenn Szenarien und Zielvorstellungen wären hinsichtlich ihrer Realisierungschancen nüchterner zu bewerten. Das setzt aber voraus, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse dieser Gesellschaft gründlich unter die Lupe genommen werden.
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[1] https://www.die-linke.de/fileadmin/download/dokumente/programm_der_partei_die_linke_ erfurt2011.pdf