Ein Modethema
Über Gemeinnutzen und Commons wird in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Barbara Unmüßig betont im Vorwort einer von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Sammelpublikation: „Die Commons eignen sich für eine große Erzählung. Ihr Potential besteht darin, soziale Innovation als entscheidenden Hebel gesellschaftlicher Transformation zu entwickeln.“ (Helfrich 2012: 13; Ostrom 1999) Die Commons, Gemeinschaftsgüter, meint Rainer Rilling, „beziehen sich auf gemeinschaftlich besessene, geteilte oder genutzte Naturgüter und materielle Ressourcen (Wasser, Fischbestände, Rohstoffe, Wald, Land, Luft, Wildbestände) oder auch auf gemeinschaftliche soziale und kulturelle Ressourcen (Plätze, Wissen, Ideen, Traditionen).“ Und er setzt fort: „Die Commons stehen somit für vielfältige Facetten einer anderen Ökonomie und Kultur als der politischen Ökonomie des Privaten.“ (Rilling 2009: 175/176) Ähnlich argumentiert Dieter Klein: „Bedroht sind die ‚Commons‘, sind elementare öffentliche Güter. Als natürliche öffentliche Güter gelten zunächst gemeinschaftlich besessene und nutzbare Naturgüter, zu denen grundsätzlich alle Menschen freien Zugang ohne Zahlung haben (Wasser, Land, Luft, belebte Natur).“ (Klein 2009, 158)
Will man Commons in aktuelle politische Überlegungen einbeziehen, bringt es wenig, so unpräzis zu definieren. Zu längst nicht allen dieser genannten Commons haben alle Menschen ohne Begrenzung Zugang: Es gibt ihn zu Luft und Sonnenlicht (auch nicht immer!), aber in den meisten anderen Fällen handelt es sich um Güter mit geregeltem Zugang. Garrett Hardin, der die Formel von der „Tragödie der Gemeindewiesen“ eingeführt hat und vorschlug, Commons zu privatisieren oder zu verstaatlichen, musste zugeben, dass er sich nur auf ungeregelte und nicht verwaltete Gemeingüter bezog. Commons sind heute noch wichtig und werden in Zukunft eine Rolle spielen, weil auch der freieste Markt nicht ohne Ressourcen aus vormarktwirtschaftlichen Zeiten existieren kann. Für eine „Transformationsgesellschaft“ aber können, müssen und werden sie eine viel wichtigere Rolle spielen, wenn man genauer definiert und eingrenzt.
Commons sind für Kulturwissenschaften wie die Europäische Ethnologie (früher „Volkskunde“) ein altes Thema (Kramer 2012), und es ist schade, dass Kultur- und Sozialwissenschaften so wenig Kenntnis voneinander nehmen. Nur mit einigen Aspekten erinnert der Sammelband von Silke Helfrich (2012) an die historische Dimension. Aber eigentlich ist vor der „Entbettung“ (Polanyi) des wirtschaftlichen Lebens aus sozialkulturellen Bindungen das gesamte Leben der „vormodernen“ europäischen und außereuropäischen Gemeinschaften ohne die Selbstorganisation von Nutzergemeinschaften und Zwangskorporationen nicht vorstellbar. Immer gab es zwar auch Märkte, aber ihre Prinzipien dominierten nicht das gesamte gesellschaftliche Leben. In Dorf und Stadt regelten die Gemeinschaften die meisten ihrer Angelegenheiten selbst, freilich nicht ohne Organisation und Kontrolle, und die gesellschaftlichen Machtstrukturen („Obrigkeiten“, Grundherren und Staat) müssen diese Selbstorganisation aus eigenem Interesse auf allen Ebenen anerkennen, stützen und fördern. „Machtgestützte Selbstorganisation“ ist ein geeigneter Ausdruck für diese Strukturen, angelehnt an die Formel von der „machtgeschützten Innerlichkeit“ für die Intellektuellen des fin de siécle.
Das staatszentrierte Denken des Marxismus, bereits in den Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts Position für die uneingeschränkte Übernahme der Staatsmacht beziehend, ist ein Hindernis, die Bedeutung der Selbstorganisation im dynamischen Fließgleichgewicht des gemeinschaftlichen Lebens anzuerkennen. Die Selbstorganisation war immer auch für die Arbeiterbewegung unerlässlich, aber sie wurde weitgehend nur als Vorstufe zum endlich zu erkämpfenden sozialistischen Staat verstanden, der dann alles regelt. Die Linken sind (verkürzt gesprochen) orientiert an Zielen wie „Fortschritt“ und „Modernisierung“, übernommen aus dem evolutionistischen Geschichtsbild der Aufklärung. Sie sind ferner meist überzeugt, die Zukunftsgesellschaft könne erst nach Überwindung des Kapitalismus erreicht werden, und dieser wiederum wachse nur auf den Trümmern der Ständegesellschaft, die deshalb mit all ihren Institutionen überwunden werden müsse. Die meisten von ihnen halten auch Wachstum für unentbehrlich, und das muss in der Krise der Wachstumsgesellschaft mühsam mit dem Etikett der Nachhaltigkeit versehen werden. Aber „Wege aus der Wachstumsfalle“ sind am ehesten zu finden mit Gemeinnutzen, Selbstorganisation und Commons, die nicht wie die kapitalistische Wirtschaft ständig wachsen müssen und bei denen Suffizienz (Selbstbegrenzung) eine Rolle spielt (schon 1993 konnte darauf hingewiesen werden, Kramer 1993 und 2016).
Ein historisch-systematischer Exkurs
„Von der Versorgungs- zur Produktionswirtschaft“ (Reinhard in Iriye 2014: 753) verläuft der Weg zur Marktwirtschaft, der im Rahmen einer „Fortschrittsgeschichte“ wertend beurteilt wird, aber keineswegs alternativlos und zwangsläufig ist.
Für die europäische Landgemeinde der frühen Neuzeit und ihre politische Rolle lesen wir: „Die wesentlichen Aufgaben der Gemeinde gründeten im Organisations- und Regelungsbedarf, der zum einen aus dem Zusammenleben der Nachbarn und der gemeinsamen Nutzung der Flur durch die bäuerlichen Familienwirtschaften, zum anderen aus der autonomen oder von herrschaftlicher Seite übertragenen Wahrnehmung herrschaftlich-politischer Funktionen resultierte. … Sie koordinierte die Arbeiten der Höfe in der Flur, … die Benutzung und den Unterhalt von Weg und Steg, die Weiderechte …, die Allmend- und Holznutzung sowie die Wasserversorgung …; sie war zuständig für den Feuerschutz und die Baupolizei sowie die Durchsetzung entsprechender Verordnungen; sie kontrollierte das Wirtschaftsgebaren der Haushalte und bestrafte schädigendes Verhalten (z. B. Grenzverletzungen).“ „Gemeindeaufgaben (Brunnen-, Bach- und Grabenfege, Unterhalt von Weg und Steg u.a.)“ wurden häufig im Gemeinwerk (Scharwerk) organisiert. Karl Polanyi erinnert daran, dass Symbolwelten zu dieser Organisation der gemeinschaftlichen Lebensverhältnisse gehören, Künste eingeschlossen: „Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensformen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten.“ (Polanyi 1978: 87). Mit den Grundherrschaften (Obrigkeiten), die meist auch für die Sicherung gegen äußere Feinde sorgen mussten, wurden in „Weistümern“ („Teidingen“ in Österreich) wechselseitige Rechte und Verpflichtungen ausgehandelt. Das Leben in diesen Zeiten war kein Paradies, war auch meist patriarchalisch organisiert und immer wieder durch Fehden und Kriege gestört, hatte aber seine Dauerhaftigkeit, und es gab immer auch Glückschancen, nicht zuletzt wegen der Verbindung von Suffizienz und temporärem Exzess (Kramer 2016).
„Herrschaft mit Bauern“ nennt die Kasseler Historikerin Heide Wunder dies mit Bezug auf die Dorfgemeinde. Nach Bauernkriegen, Religionskriegen und Dreißigjährigem Krieg werden die Eingriffe und Bevormundungen der Herrschaft stärker, und im bürokratischen Feudalismus kommt es zur „Herrschaft über Bauern“ (Lesarten der Geschichte: 3).
Nicht nur für die Dörfer, erst Recht für die Städte galten solche Formen. Dort organisierten Patriziat, Zünfte, Brunnengemeinschaften, Bruderschaften usf. das gemeinschaftliche Leben (in den Freien Reichsstädten mit Privileg des Kaisers, sonst mit dem der Grundherren). Auch die lebensnotwendige Versorgung mit Trinkwasser wurde in den Städten so organisiert (Rauchegger).
Paul Mason interpretiert unangemessen, wenn er schreibt: „Der Feudalismus war ein ökonomisches System, das auf nichtökonomischen Faktoren basierte, in erster Linie auf Verpflichtung und Gewalt.“ (Mason 2016: 71) Damit werden, wenn man unter „Verpflichtung“ den außerökonomischen Zwang versteht, die zwischen Nutzergemeinschaften und Obrigkeiten ausgehandelten wechselseitig bindenden Vereinbarungen der Ständegesellschaft ausgeblendet.
Immer wieder gab es Streitigkeiten um Gemeinnutzen, zu denen sich die Grundherren mehr Zugriff sichern wollten (Troßbach 1987: 2004). Erst allmählich und in vielen Stufen werden die Elemente der gemeinschaftlichen Organisation der Lebensverhältnisse aufgehoben. Es ist ein Prozess, der bis weit ins 19. Jahrhundert dauert, und noch im 20. Jahrhundert werden aus den Zunftstrukturen stammende Privilegien einzelner Berufsgruppen wie z. B. der Schornsteinfeger beseitigt – unter dem Beifall aller liberalen und linken Intellektuellen. Als der Taxidienst Uber die Privilegien der zunftähnlich öffentlich konzessionierten Taxibetreiber im Rahmen der „Privatisierung des Privatlebens“ aushebeln will, da erst gibt es Widerstand.
Die Dorfgemeinde im Marxismus
Die Physiokraten erklären die Landwirtschaft zur alleinigen Quelle des Reichtums; „im Schoße einer feudalen Gesellschaft“ vollziehen sie die „Unterwerfung der Agrarordnung unter Marktprinzipien“ (Kuczynski 1955: 53). Die Gemeinnutzen, wie die Zunftverfassung hinderlich für die Entfesselung des Marktes, werden den Bauern entzogen. Damit wird ihnen die Fähigkeit der „machtgestützten Selbstorganisation“ genommen, und sie sind den anderen Mächten, auch dem Markt, hilflos ausgeliefert. Nur die Genossenschaften, von Wilhelm Raiffeisen angestoßen, helfen ihnen im 19. Jahrhundert noch, ähnlich die Sparkassen in den Städten. Mit neuen „Finanzinstrumenten” wie den Mikrokrediten der „Grameen Bank” von Yunus wird anstelle der Genossenschaftsidee ein noch leichter missbrauchbares marktwirtschaftliches Instrument als nützliche Hilfe empfohlen.
Bei Marx und Engels ist die Auseinandersetzung mit der kulturellen Lebenswelt des Dorfes widerspruchsvoll. Im Kommunistischen Manifest liest man zu den Leistungen der Bourgeoisie: „… sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen“ (MEW 4: 466 – wobei wir unter „Idiotismus“ die „Vereinzelung“ verstehen wollen). Es ist dies die Perspektive von „urbane(n), eurozentrische(n) Kosmopoliten“ (Wielenga: 826). Das Bild von den Bauern, die wie einzelne Kartoffeln in einem „Kartoffelsack“ zusammengebunden sind (18. Brumaire, MEW 8, 198) und kollektiv nicht handlungsfähig sind, setzt diese Einschätzung fort (Wielenga: 827). Sie mag nicht ganz falsch sein: Seit die dörfliche Selbstverwaltung mit den „machtgestützten Gemeinnutzen“ in Mitteleuropa zerstört ist, gibt es keine organisierenden Strukturen mehr. Aber bei Marx und Engels fehlt jede „Einsicht in die Funktionsweise des Dorfes in ökonomischer und sozialer [und kultureller, wäre zu ergänzen, DK] Hinsicht“ (ebd.). In den 1870er Jahren schätzt Marx in den Briefen an Vera Sassulitsch „die russische Agrarkommune als ‚die erste gesellschaftliche Gruppierung freier Menschen, die nicht durch Blutsbande eingeengt war‘“ (MEW 19, 403). Aber in der russischen Revolution werden solche Einschätzungen nicht übernommen. Lenin hat „die sozialen Formen und Strukturen der gegenseitigen Verpflichtung und der Solidarität“ (Wielenga: 827) nicht berücksichtigt; Stalin schon gar nicht. Erst José Carlos Mariátegui hat sie für die „Communidad“ in den indianischen Dörfern Perus wieder gewürdigt.
Die „Reformen“ des frühen 19. Jahrhunderts haben fortgesetzt, was der „aufgeklärte Absolutismus“ an „rationaler“ Bürokratisierung in der Herrschaft über die „gewachsenen“ Strukturen des „historischen Rechts“ der Gemeinschaften der Bauern und Städter etabliert hat. Zünfte und Gemeinnutzen wurden unter dem Beifall der Marxisten als Hindernis des Fortschritts abgeschafft; gleichwohl ermöglichten die Organisationsformen der Zunftgesellen für die frühen Gewerkschaften einen nahezu nahtlosen Übergang in die Arbeiterbewegung. Durch Aufklärung und liberales Fortschrittsdenken haben die Marxisten sich verleiten lassen, in der Hoffnung auf die Erschließung des „Springquells menschlichen Reichtums“ und auf „Zuckererbsen für Jedermann“ den wettbewerbswirtschaftlich organisierten Fortschritt als Vorbereitung der klassenlosen Zukunftsgesellschaft rückhaltlos zu unterstützen – in einer Zeit, in der an Grenzen des Wachstums niemand dachte.
Molekulare Wandlungen und Informationstechnologien
Dieter Klein meint, dass neue Commons dank „molekularer Wandlungen“ Teil einer „kleinen Transformation“ sein können, mit der die Selbstverständlichkeiten der Marktgesellschaft relativiert werden (Klein 2013; Kramer 2016). Ähnlich wie Jeremy Rifkin und andere setzt Paul Mason (2016) auf die Veränderungen durch Informationstechnologien, auf „Informationsvergesellschaftung“ und auf Grundeinkommen, und er meint: Wenn wir die „neuen, kooperativen Peer-to-Peer-Geschäftsmodelle im Zusammenhang mit den schon länger existierenden Modellen der Sozialwirtschaft betrachten – mit Genossenschaftsbanken oder Kreditgenossenschaften, realwirtschaftlichen Kooperativen und lokalen Währungen oder mit von Freiwilligen betriebenen Bio-Bauernhöfen –, wenn wir all diese gewissenhaft dokumentieren und verstehen, wie diese Peer-to-Peer-Modelle neben der Sozialwirtschaft existieren, dann sehen wir einen schon jetzt gewichtigen Wirtschaftsbereich, der weder marktwirtschaftlicher noch staatlicher Art ist.“ Man kann, meint er, die neue durch die Informationsrevolution entstandene „gemeinschaftliche Wirtschaft“ auch „als Beginn von Etwas Neuem begreifen“ (ebd.: 55).
Zur großen Familie der Gemeinnutzen gehören von Nutzergemeinschaften geregelte Allmenden, Almweiden, Waale oder Sionen als Bewässerungseinrichtungen, ebenso Genossenschaften. Sie stehen der großen Familie der Gemeinnutzen näher als dem Staat. Aber die aktuelle Hegemonie des Privaten im liberalen Marktradikalismus zwingt auch den Genossenschaften die Handlungslogiken der Profitmaximierung und die „marktlichen Operations- und Denkweisen wie Zielwerte“ (Rilling 183) weitgehend auf. Die „aktuelle Genossenschaftsgesetzgebung“ höhlt „die Alleinstellungsmerkmale der Genossenschaften“ aus; erkennbar dominant ist der „seit circa vier Jahrzehnten anhaltende Trend die Genossenschaften durch die Gesetzgebung den Kapitalgesellschaften in ihrer Struktur anzugleichen“ (Henrÿ 2012: 69).
Aber hier gibt es z. B. in Österreich Versuche der Reform (Kramer 2016: 130/131). Sie sind in der aktuellen gesellschaftlichen Situation als soziale (sozialkulturelle) Innovationen ähnlich wichtig wie Aktivitäten der „Collaborative Consumption“ oder die „Gemeinwohlbilanzen“.
Für die „Ausarbeitung eines post-neoliberalen Weltmodells“ und „das Projekt eines mit langem Atem betriebenen Übergangs zu einer auf Kooperation basierenden Gesellschaft“ (Mason 2016: 58) muss auch eine „anti-neoliberale Linke“ entstehen. Ferdinand Lassalle und seine Genossenschaften mit Staatshilfe sind Mason als Anregung für eine „alternative Form des Wirtschaftens“ ebenso wie die von dieser Arbeiterbewegung geschaffenen Institutionen (ebd.: 81) wichtig (ebd.: 59). Auch damit wird angedeutet, dass manche festgefahrenen Interpretationen der Linken zur Disposition gestellt werden müssen.
Immer geht es darum, ansatzweise aus den Umklammerungen des Marktsystems herauszukommen. Je mehr Menschen das tun, desto brüchiger wird es. Das Marktsystem wird sich dagegen zu wehren versuchen: Wenn keine neuen Märkte erschlossen werden können, dann werden die alten durch Zwang oder künstliche Obsoleszenz zerstört und neue eröffnet (in der Computerwelt werden die meisten Geräte wegen neuer Programme unbrauchbar). Dem können die Nutzer sich verweigern – massenhaft aber nur, wenn kulturelle Öffentlichkeiten und politische Ebenen von der Gemeinde an aufwärts dies stützen.
Ein Effekt der neuen Gemeinnutzen und ihrer Ubiquität ist Krisenelastizität: Je mehr Menschen sich so orientieren, desto eher können sie Krisen, wodurch auch immer sie eintreten mögen, überstehen (und wenn sie das Gefühl haben, dies zu können, reagieren sie auch weniger hysterisch auf Einschränkungen).
Werte, soziale Grundrechte und Infrastruktur
Eine andere Form von Gemeingütern sind im Wertesystem verankerte gemeinschaftlich geteilte und eingeforderte Grundregeln des Miteinander (der Sozialkultur), wie sie in der Sozialisation und im alltagskulturellen Leben vermittelt werden. Ohne sie kann keine Gemeinschaft existieren (eingeschlossen sind z. B. Verkehrsregeln, bei denen es ein Gemeingut ist, dass die meisten Menschen sich daran halten). Der soziale demokratische Rechtsstaat ist nicht denkbar ohne diese Werte. Die sozialen oder materiellen Grundrechte der Verfassungen sind die intensivste, den Staat verpflichtende Form des Gemeingutes (Wolfgang Abendroth empfahl uns einst, daran zu denken, dass wir sie auch verteidigen werden müssen gegen Angriffe der Gegner). Die materielle Infrastruktur gehört in den gleichen Zusammenhang.
Um Gemeinnutzen heute in linke Politik einzubeziehen, müssen sie angemessen interpretiert werden. In der historischen Entwicklung des liberalen Staates und der Arbeiterbewegung wie der Linken treten Staat und Gebietskörperschaften als allumfassende Fürsorger programmatisch an die Stelle der Nutzergemeinschaften der kommunalen und korporatistischen Selbstorganisation der Ständegesellschaft. Heute kann „progressive Entstaatlichung“ mit dem reaktivierten Gemeinnutzen und der Selbstorganisation in der Arbeiterbewegung zusammen gedacht werden. Mit ausgeprägter historischer und institutionengeschichtlicher Erfahrung (die Sackgassen des Anarchismus eingeschlossen) kann man zu mehr Bodenhaftung, Akzeptanz, Dauerhaftigkeit und Festigkeit für eine einschlägige Politik gelangen.
Literatur
Bergmann, Theodor: Art. Agrarfrage. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 1 Sp. 77.
Helfrich, Silke; Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld 2012.
Henrÿ, Hagen: Genossenschaften und das Konzept der Nachhaltigkeit. Pflichten und Möglichkeiten des Gesetzgebers. In: Miribung, Georg: Internationale Tagung: Der Beitrag von Genossenschaften zur nachhaltigen regionalen Entwicklung - Prämissen, Möglichkeiten, Ausblicke. Bozen 2012, S. 67 -74.
Holenstein, André: Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg. München 1996 (EdG Enzyklopädie deutscher Geschichte 38).
Klein, Dieter: Das Morgen tanzt im Heute. Transformationen im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg 2013 (Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg Stiftung).
Klein, Dieter: Das Öffentliche – verstrickt in die Verknüpfung von Großkrisen. In: Candeias; Rilling, Rainer; Weise, Katharina (Hrsg.): Krise der Privatisierung. Rückkehr des Öffentlichen. 2009 (Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte rls 53), S. 157 - 173.
Kramer, Dieter: Konsumwelten und die Krise der Wachstumsgesellschaft. Vorwort: Ulrich Brand, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Marburg 2016.
Kramer, Dieter: Kulturelle und historische Dimensionen der Diskussion um Gemeinnutzen. Ein Beispiel für die Aktualität von Themen der Europäischen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 2012, H. 2, S. 265 - 285.
Kuczynski, Jürgen: Zur Theorie der Physiokraten. In: Grundpositionen der französischen Aufklärung. Berlin 1955 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, hrsg. v. Werner Kraus und Hans Mayer Bd. 1, S. 27-53, 53).
Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag. Kassel 2004.
Mason, Paul: Nach dem Kapitalismus?! In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2016, S. 45-60, und die Diskussion dazu: Für einen radikalen Neuanfang. Paul Mason in der Debatte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2016 S. 62 – 82.
Ostrom, Elinor: Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Staat und Markt. Tübingen 1999.
Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaft und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main 1978.
Rauchegger, Andreas: Wasserträger, Wasserverkäufer, Wasserschenker. Der Homo aquamportans. Ein Beitrag zur historischen Trink- und Nutzwasserversorgung im europäischen Kulturraum. Innsbruck 2014.
Rilling, Rainer: Plädoyer für das Öffentliche. In: Candeias, Mario; Rilling, Rainer; Weise, Katharina (Hrsg.): Krise der Privatisierung. Rückkehr des Öffentlichen. Berlin 2009 (Rosa-Luxemburg-Stiftung Texte rls 53), S. 175-190.
Wielenga, Bastiaan: Art. Dorfgemeinschaft. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Sp. 825 – 830.