Postkapitalismus und Commons

„Eine Art ‚Commonismus’"? Varianten des ‚Postkapitalismus’

Ein Literaturbericht – Teil I

von Werner Goldschmidt
September 2016

[1]

Die Spatzen pfeifen es von allen Dächern: Das Ende des Kapitalismus ist nah.[2] Nicht nur Zyniker, sondern auch besorgte Umwelt- und Tierschützer mögen sich fragen, wer zuerst stirbt, der Kapitalismus oder die Spatzen. Ähnlich äußert sich der keineswegs zynische, wohl aber skeptische Michael Mann in einem Gemeinschaftswerk mit Immanuel Wallerstein u.a., in dem die Autoren der Frage nachgehen: ‚Stirbt der Kapitalismus?’[3] In einem ist M. Mann sich mit seinen Kollegen einig: Wir stehen vor der „nächsten großen Wende“. Wohin die Wende führen wird, darüber sind sich die Autoren hingegen uneins. Einig sind sie sich indessen darin, dass „der Kommunismus [wie er ‚real’ in Form des Sowjetsystems existierte – WG] keine gangbare Alternative zum Kapitalismus“[4] war, aber auch, dass der ‚Kapitalismus wie wir ihn kennen’[5] keine Zukunft hat.

Diese für Linke heute an sich keineswegs beunruhigende Diagnose fällt freilich ausgerechnet in eine historische Phase, in der sich die politischen Perspektiven der Linken weltweit verdüstern. Rechte Stimmungen, rechtspopulistische, reaktionäre bis neofaschistische Bewegungen und Parteien – die bewusst oder unbewusst das ökonomische System kapitalistischer Gesellschaften stabilisieren – scheinen unaufhaltsamen Auftrieb zu erhalten, während linke, kapitalismuskritische bis antikapitalistische Bewegungen, Parteien und Regime an Einfluss verlieren. Am dramatischsten sichtbar ist dieser Trend in Lateinamerika, einem Kontinent, der für viele Linke, auch in den kapitalistischen Zentren Nordamerikas und Westeuropas, lange Zeit als Hoffnungsträger galt. Die hochfliegenden Träume oder gar konkrete Pläne für einen ‚Sozialismus des 21. Jahrhundert’[6] sind – voraussichtlich für einen längeren Zeitraum – weitgehend zerstoben.[7]

Worauf also stützen sich die – angesichts dieser aktuellen politischen Tatsachen – erstaunlich zahlreichen, vielfältigen und zumeist optimistischen Prognosen oder Visionen von einem bevorstehenden Ende des Kapitalismus? Und, was kaum weniger oder eher noch wichtiger ist, welche Vorstellungen enthalten sie darüber, wie man sich eine zukünftige, postkapitalistische Gesellschaftsformation vorstellen kann, samt ihren möglichen Übergangsstadien[8] usw.? Worauf gründen sie sich ökonomisch, sozial, kulturell und nicht zuletzt – alles zusammenfassend – politisch, objektiv und subjektiv?

Aus dieser Fragestellung ergibt sich ein Kriterium, das die Auswahl der in diesem Literaturbericht zu besprechenden Arbeiten mitbestimmt hat. Es sollen vor allem solche Beiträge berücksichtigt werden, in denen, wie Dieter Klein es formuliert hat, das ‚Morgen im Heute tanzt’, die sich also auf spontane Entwicklungen und/oder bewusste bzw. gezielte ‚Transformationen im Kapitalismus’ stützen, die ‚über ihn selbst hinausweisen’.[9] Dieses Prinzip immanenter Kapitalismuskritik entspricht Marx’ grundlegender Einsicht, dass sich aus der inneren ‚Logik’ der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bestimmte Produktivkräfte, Produktions- und Verkehrsverhältnisse entwickeln, „die ebenso viele Minen sind, um sie [die kapitalistische Gesellschaft – WG] zu sprengen“, denn „wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“[10]

Zu diesen der kapitalistischen Entwicklung inhärenten ‚Sprengkräften’ zählte Marx (1) zunächst und vor allem die seiner Auffassung nach innerhalb des Kapitalismus „stets anschwellende(.) und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulte(.), vereinte(.) und organisierte(.) Arbeiterklasse“[11] als Subjekt der revolutionären Umwälzung. Dann aber auch (2) die ‚materiellen Produktionsbedingungen’ des sich entwickelnden Kapitalismus und (3) die dementsprechenden ‚Verkehrs- bzw. Produktionsverhältnisse’ als objektive Voraussetzungen für eine „auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära“ fußende Transformation über den Kapitalismus hinaus, in eine zukünftige klassenlose Gesellschaft „der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“[12]

Wie steht es damit heute? Müssen wir nicht – mit, ggf. aber auch ohne Marx – ‚über Marx hinaus’[13], oder sollten wir – wie Antonio Negri es einst vorgeschlagen hatte – auf ‚Marx beyond Marx’ zurückgreifen und also Marx mit Marx kritisieren?[14] Immerhin hatten die Autoren des ‚Kommunistischen Manifests’ selbst schon 1872, fünfundzwanzig Jahre nach dessen erstem Erscheinen, mit Blick auf die ‚immense Fortentwicklung der großen Industrie’, die ‚fortschreitende(.) Parteiorganisation der Arbeiterklasse’ und die ‚praktischen Erfahrungen’ mit der 1848er Revolution und der Pariser Kommune darauf hingewiesen, dass das ‚Manifest’ nun ‚stellenweise veraltet’ sei. Wie steht es damit knapp 150 Jahre nach dem Erscheinen des 1. Bandes des ‚Kapital’ – und manche würden hinzufügen, 25 Jahre nach der Öffnung des Internets für private und kommerzielle Zwecke?[15] Ist nun nicht mehr nur das ‚Manifest’, sondern auch das ‚Kapital’ möglicherweise sogar mehr als ‚stellenweise’ veraltet – insbesondere was die darin explizit oder implizit enthaltene ‚Revolutionstheorie’[16] anbetrifft (einschließlich der These vom ‚Zusammenbruch’ oder wenigstens vom ‚Ende’ des Kapitalismus, der Rolle der Arbeiterklasse, des Sozialismus/Kommunismus usw.)?

Was die eingangs erwähnte Literatur betrifft, so fällt auf, dass die überwiegende Zahl der Autoren, die derzeit das ‚Ende des Kapitalismus’ in der einen oder anderen Form diagnostizieren oder prognostizieren, sich nur selten und dann zumeist eher beiläufig auf Marx oder den Marxismus beziehen. (Vgl. hier Teil I) Daneben gibt es aber auch eine Reihe – mit Ausnahme etwa von Antonio Negri und Michael Hardt, ggf. auch noch Elmar Altvater – zumeist weniger prominenter Autoren, die zu ähnlichen Resultaten wie die erstgenannte Gruppe kommen, sich dabei aber explizit auf Marx beziehen. (Vgl. Teil II im nächsten Heft von ‚Z.’) Auch diese Autoren – vielleicht mit Ausnahme von Robert Kurz[17] – wenden sich gegen jede Art von ‚Zusammenbruchstheorie’, wie sie bestimmten Theoretikern der II. und III. Internationale (R. Luxemburg, H. Grossmann, E. Varga u.a.) zugeschrieben wird.[18]

Zugleich wenden sie sich unisono gegen den ‚orthodoxen’ Marxismus, wie er etwa in Form des ‚Marxismus-Leninismus’ aufgetreten war, einige auch gegen Marx selbst, dessen Kritik der politischen Ökonomie (des Kapitalismus) sie zwar grundsätzlich teilen, regelmäßig aber nicht die im ‚Kapital’ ohnehin nur sehr knapp und allgemein gehaltenen Vorstellungen vom Ende des Kapitalismus und der Rolle der (industriellen) Arbeiterklasse. Stattdessen rekurrieren nicht wenige von ihnen auf z.T. unabgegoltene Probleme dieser Thematik, wie sie vor allem in den marxschen Manuskripten von 1857/58 (‚Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie’) angedeutet waren. Dabei geht es vor allem um die Schranken der Verwertung des Kapitals, des Wertgesetzes usw., wie sie durch die Verwissenschaftlichung der Produktion im Laufe der kapitalistischen Entwicklung, und heute insbesondere durch die ‚dritte’ oder ‚vierte’ industrielle resp. informationstechnische Revolution ihren Höhe- und zugleich Umschlagspunkt erreicht habe, und nicht zuletzt um die Rolle und den Formwandel der Arbeit und der Arbeiterklasse im Prozess des Übergangs zu einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion, der durch „schneidende Widersprüche, Krisen und Krämpfe“ geprägt sei.[19] Dabei ist sich die Gruppe dieser Autoren mit den hier (Teil I) zunächst behandelten explizit nicht-marxistischen Autoren weitgehend einig, dass es sich bei der vorhergesagten und/oder angestrebten ‚postkapitalistischen’ Gesellschaftsformation keinesfalls um eine staatszentrierte Form des Sozialismus (oder gar Kommunismus) handeln werde. Stattdessen sprechen die meisten von einer dezentral-netzwerkartig organisierten, solidarischen Ökonomie und Lebensweise, die auf einer gemeinsam-kooperativen Verwaltung von Gemeingütern (Commons) basiere.[20]

Die anti-etatistische Position, die bei den meisten Autoren beider Gruppen vorherrscht, betrifft freilich nicht nur deren Vorstellungen über die soziale Organisation einer ‚postkapitalistischen’ Gesellschaftsformation, sie macht sich auch durch eine bemerkenswerte Ausblendung des Politischen, der Frage der Macht – und zwar sowohl des Kapitals als auch des Staates wie der internationalen politischen Organisationen – sowie deren Verbindung untereinander geltend. Auf diesen Hauptmangel der zu behandelnden Texte wird am Ende dieses Berichtes zurückzukommen sein (vgl. Teil II).

I

Niemand wird bezweifeln, dass die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse in der kapitalistisch globalisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich gegenüber der Mitte des 19. Jahrhunderts dramatisch verändert haben. Zugleich aber werden viele (heute wieder) zugestehen, dass wir noch immer und vielleicht noch tiefgreifender, bis in die letzten Winkel unserer Lebenswelt, von der kapitalistischen Kommerzialisierung und Entfremdung betroffen, ja das heute weltweit sogar mehr Menschen als je zuvor unmittelbar oder mittelbar der kapitalistischen oder semi-kapitalistischen Ausbeutung ihrer körperlichen, nervlichen und/oder geistigen Arbeitskraft unterworfen sind. Von daher stellt sich immer noch und immer wieder die Frage: Wie lässt sich dieses ökonomisch bestimmte Gesellschaftssystem überwinden und welcher Gesellschaftsform gehört die Zukunft?

Immanuel Wallerstein – Wolfgang Streeck

Einig sind sich fast alle Kritiker darin, dass die Überwindung des Kapitalismus weder durch Beschluss des Zentralkomitees einer sich revolutionär verstehenden Avantgarde-Partei[21] noch durch einen demokratischen Volksentscheid für den ‚Kexit’ gelingen wird – wie man sich überhaupt die Überwindung einer sich über Jahrhunderte hinaus entwickelnden Produktionsweise und Gesellschaftsform realistischer Weise nicht in Form einer Revolution (als historisches Ereignis), etwa vom Typ der französischen oder russischen Revolution, vorstellen kann, sondern nur als einen historischen Prozess der Transformation von langer Dauer (longue durée).[22]

Es wäre freilich ebenso verfehlt anzunehmen, solche Prozesse struktureller Umwandlungen vollzögen sich – etwa wegen ihrer Langfristigkeit – ohne identifizierbare historische Subjekte. Stets sind sie mit Kämpfen real existierender Menschen, Individuen oder Menschengruppen, Klassen, Ständen, Schichten etc. verknüpft, auch wenn diese Subjekte im historischen Verlauf selbst einen sozialen Formwandel erfahren.[23] Und schließlich – auch dies belegt die Geschichte – verlaufen solche konfliktreichen Transformationsprozesse selten gradlinig, bisweilen sogar gegenläufig, also häufig zickzackförmig. Jedenfalls „dürfen wir uns in keiner Weise dem Gefühl hingeben, die Geschichte sei auf unserer Seite, die gute Gesellschaft werde so oder so kommen. Die Geschichte ist auf der Seite von niemanden.“[24]

Damit verweist Immanuel Wallerstein auf die reale Möglichkeit des Scheiterns einer progressiven Überwindung des Kapitalismus. Dass nämlich die von manchen – auch ‚führenden’ bürgerlichen – Ökonomen, wie etwa Larry H. Summers, diagnostizierte ‚säkulare Stagnation’[25]des globalisierten Kapitalismus politisch und kulturell in ein postdemokratisch-autoritäres, von mafiösen Strukturen, imperialem Vorherrschaftsstreben, militärischen Konflikten um Wasser, Rohstoffe und andere Ressourcen sowie durch ethnische und religiöse Konflikte, und durch all dies ausgelöste Massenmigrationen bisher unbekannten Ausmaßes geprägten Weltsystems oder vielmehr ‚Weltchaos’ münden könnte.

Es ist eines der Hauptverdienste Immanuel Wallersteins, nicht nur auf die lange Dauer, sondern auch auf die enormen Schwierigkeiten des Übergangs zu einem postkapitalistischen Weltsystem hingewiesen zu haben: „… bei all dem müssen wir dem Kampf gegen drei grundlegende Ungleichheiten auf der Welt in unserem Bewusstsein und in unseren Aktionen oberste Priorität einräumen – den Ungleichheiten von Gender, Klasse und Rasse/Ethnie/Religion. Das ist die schwierigste aller Aufgaben, weil niemand von uns schuldlos und rein ist. Und weil die gesamte Weltkultur, die sich uns allen vererbt hat, dem entgegensteht.“[26] Hinsichtlich der Subjekte im Kampf um den Übergang zu dieser ‚demokratisch egalitären’ Weltordnung bleibt Wallerstein allerdings eher vage. Als Protagonisten des Kampfes zwischen der alten und der neuen Ordnung benennt er die – inzwischen selbst schon fast wieder Geschichte gewordenen – Anhänger des ‚Geistes von Davos’ (Weltwirtschaftsforum) auf der Seite der kapitalistisch-hierarchischen, die Anhänger des ‚Geistes von Porto Alegre’ (Weltsozialforum) auf der Seite der demokratisch-egalitären Ordnung. Letztere müssten sich zu einer „Regenbogenkoalition“ zusammenfinden. Ihre Chancen, eine bessere Welt zu schaffen, stünden bei 50 Prozent. „Aber 50 Prozent sind nicht wenig. Auch wenn Fortuna uns entflieht, müssen wir versuchen, sie zu fassen zu bekommen. Was kann es für irgendjemanden von uns sinnvolleres geben, als das zu tun?“[27]

Dem makroskopischen Blick Wallersteins entgeht naturgemäß das Detail der widersprüchlichen sozialen Phänomene, die der Kapitalismus in seiner jüngsten postfordistisch-neoliberalen Phase hervorgebracht hat. Hierin ist ihm etwa Wolfgangs Streecks mesoskopische Perspektive deutlich überlegen, insbesondere was die Analyse der konkreten Widersprüche des globalisierten Kapitalismus seit Beginn der 1980er Jahre anbelangt.[28] Streeck stützt sich dabei weniger auf Marx oder vermeintliche Marxisten wie Kondratjew u.a. – die für Wallersteins Langfristanalyse von hervorragender Bedeutung sind –, sondern vor allem auf Karl Polanyis Kritik des (neo)liberalen Grundlagentheorems sich selbst regulierender Märkte und auf die These vom ‚fiktiven’ Warencharakter der Arbeit, des Bodens (Natur) und des Geldes.[29]

Polanyis Konzeption lautete, knapp zusammengefasst, dass der kapitalistische Weltmarkt bis zum frühen 19. Jahrhundert auf einer ‚Doppelbewegung’ von Freihandel für ‚echte Waren’ und Beschränkung (oder Einhegung) für die von ihm so genannten ‚fiktiven’ Waren ‚Arbeit, Boden und Geld’ beruhte. Damit schützte die Gesellschaft (gemeint sind die damals ‚fortgeschrittenen’, aber noch nicht vollindustrialisierten europäischen Gesellschaften) sich selbst „gegen die verderblichen Auswirkungen einer von Märkten beherrschten Wirtschaft.“[30] Erst in den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das Prinzip des Freihandels (Laissez-faire) durch den Staat (!) etabliert – und nicht dadurch, „dass man den Dingen ihren Lauf ließ“. „Alle westlichen Staaten folgten demselben Trend, unabhängig von der nationalen Mentalität und Geschichte … Welthandel bedeutete nun die Organisierung des Lebens auf diesem Planeten im Rahmen eines selbstregulierenden Marktes, der Arbeit, Boden und Geld umfasste.“ Es war nun aber gerade das politisch durchgesetzte Laissez-faire-Prinzip, das auf dem Weltmarkt schließlich den ‚Zusammenbruch der Marktwirtschaft’, durch die entgegengesetzte Reaktion des Protektionismus, den Imperialismus, die große Weltwirtschaftskrise 1929ff und in letzter Instanz die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hervorgebracht habe. „In dieser letzten Phase … spielte der Konflikt der Klassenkräfte die entscheidende Rolle“, und der endete – vorerst – im Faschismus.[31]

Für Streeck stellt sich die historische Situation des Kapitalismus in freier Anknüpfung an Polanyi etwa wie folgt dar: Nach einer längeren Periode des ‚re-embedding’ der Nachkriegszeit (Fordismus, Sozialstaat) sei der seit den 1980er Jahren wiederum neoliberal-politisch ‚entbettete’ Kapitalismus erneut in eine strukturelle sozial-ökonomische Krise geraten, die sich durch drei sich wechselseitig verstärkende Langzeittrends auszeichne: Rückgang des Wachstums, Anstieg der privaten und staatlichen Verschuldung und fortschreitende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Das wäre an sich keineswegs neu, „doch was wir derzeit erleben, erscheint im Rückblick als ein kontinuierlicher Prozess schrittweisen Niedergangs, der sich zwar hinzieht, aber umso unerbittlicher durchsetzt.“[32]

Begleitet sei dieser ökonomische Prozess säkularer Stagnation von einer schleichenden Aushöhlung der politischen Demokratie, wie sie sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Form des fordistisch-keynesianischen Sozialstaats einigermaßen stabil etabliert zu haben schien. Nach der neoliberalen Wende seien aber „die Zweifel an der Vereinbarkeit einer kapitalistischen Wirtschaftsweise mit demokratischer Politik mit aller Wucht zurückgekehrt.“[33] An die Stelle des Sozialstaats sei die neoliberale Utopie einer ‚marktkonformen Demokratie’ (Angela Merkel) getreten, die sich in ihrer realen Gestalt mehr und mehr als bürokratisch-autoritäre ‚Postdemokratie’ (Colin Crouch) erweise, der es aber gerade deshalb nicht gelänge, die kumulierten Krisenphänomene zu regulieren, sondern sie im Gegenteil durch eine spezifisch neoliberale Austeritätspolitik noch verstärke.

„Geht es also mit dem Kapitalismus zu Ende?“[34] Streeck hat daran kaum einen Zweifel. Allerdings bemerkt er – abweichend von Polanyi[35]: „Wir sollten … lernen, über ein Ende des Kapitalismus nachzudenken, ohne uns dabei die Beantwortung der Frage aufbürden zu lassen, was denn an seine Stelle treten solle. Es ist ein marxistisches – oder besser: modernistisches – Vorurteil, dass der Kapitalismus als historische Erscheinung nur dann enden könne, wenn eine neue, bessere Gesellschaft in Sicht ist – und mit ihr ein revolutionäres Subjekt, bereit und in der Lage, diese um des Fortschritts der Menschheit willen zu verwirklichen.“[36] Vielmehr werde der neoliberal desorganisierte, anomische Kapitalismus an sich selbst zugrunde gehen, ohne dass sich eine neue, postkapitalistische Gesellschaft als Alternative anbiete. „Man könnte meinen, dass sich im Verlauf einer lang anhaltenden Krise dieser Art immer wieder Gelegenheitsfenster für reformistisches oder revolutionäres Handeln öffnen werden. Es sieht jedoch so aus, als desorganisiere der desorganisierte Kapitalismus nicht nur sich selbst, sondern gleichzeitig auch seine Gegenkräfte, wodurch er diese der Fähigkeit beraubt, ihn entweder zu überwinden oder, alternativ, zu retten. Damit der Kapitalismus sein Ende findet, muss er deshalb selbst für seine Zerstörung sorgen – und genau das erleben wir heute.“[37]

Wallersteins vorsichtiger und Streecks expliziter Agnostizismus hinsichtlich der Alternativen zum untergehenden Kapitalismus beruht vor allem auf ihrer methodisch begründeten und durch Erfahrung belehrten Skepsis gegen allzu forsche Spekulationen über die Zukunft, in mancher Hinsicht nicht unähnlich der marxschen Weigerung „Rezepte (…) für die Garküche der Zukunft zu verschreiben“.[38]

Jeremy Rifkin – Paul Mason

Wissenschaftliche Skrupel dieser Art kennen die beiden international prominentesten Vertreter der These vom „Ende des Kapitalismus“ kaum. Jeremy Rifkin[39] und Paul Mason[40] sind – entgegen aller postmodernen Kritik[41] – nach wie vor von der kulturell-politischen Wirkung ‚großer Erzählungen’ überzeugt.

Sie wenden sich an eine breite Öffentlichkeit, Rifkin als ‚Visionär’, ‚Missionar’ oder ‚Guru’[42] des techno-sozialen Fortschritts, Mason eher als politisch links engagierter Demokrat. Und beide schreiben – was man ihnen nicht vorwerfen sollte – gut verständlich, Mason sogar ‚populär’ im durchaus positiven Sinne. Und beiden wird man auch nicht vorwerfen können, sie verfügten über wenig Sachkenntnis. Rifkins Texte sind, auch wenn man seinen Interpretationen kritisch gegenübersteht, reich an konkretem Anschauungsmaterial, das für politische Diskussionen über Alternativen zum ‚Kapitalismus wie wir ihn kennen’, Stoff liefern kann.[43] Bei Mason findet man darüber hinaus bemerkenswerte, durch sozialgeschichtliche Reflexionen zu den Kämpfen der Arbeiterklasse im Kapitalismus des 19. Und 20. Jahrhunderts fundierte Überlegungen zu den Subjekten des Übergangs und zur sozial-ökonomischen Organisation einer demokratisch-postkapitalistischen Gesellschaft.

Für beide steht fest, dass es sich in der Zukunft um eine Weltgesellschaft jenseits von ‚marktwirtschaftlichem Kapitalismus’ und ‚staatszentriertem Sozialismus’ handeln wird, und beide finden die materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen – teilweise sogar schon realisierte Ansätze – dieser zukünftigen Gesellschaftsformation in der gegenwärtig sich voll entfaltenden ‚Dritten Industriellen Revolution’[44] vor. Schließlich gehen beide von einer längerfristigen Transformationsperiode aus, in der unterschiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftsformen mehr (bei Mason) oder minder (bei Rifkin) konfliktreich neben- und gegeneinander existieren (Hybridgesellschaft). In der Auseinandersetzung zwischen dem Alten und dem Neuen würde sich schließlich – darin sind sich beide einig – die neue, auf ‚kollaborativer’ Verwaltung von Gemeingütern (Commons) basierende Wirtschafts- und Gesellschaftsformation als überlegen durchsetzen, nicht zuletzt, weil sie in Übereinstimmung mit der eigentümlichen Natur der Produktivkräfte in der entfalteten ‚Dritten Industriellen Revolution’ stünden.[45]

Worauf stützen sich Rifkin und Mason bei ihrem Optimismus? Zunächst einmal gehen beide von der generellen Annahme aus, dass es sich bei der kapitalistisch organisierten Gesellschaftsformation um ein historisches Phänomen handelt, was ein Werden und ein Vergehen impliziere, im Unterschied zum quasi religiösen und/oder liberalen, von Hegel bis zu Hayek und Fukuyama vertretenen ‚Narrativ’ vom ‚Ende der Geschichte’. Zum zweiten aber stimmen sie auch darin überein, dass der Kapitalismus – bei allem technisch-wissenschaftlichem, politischen und teilweise auch kulturellem Fortschritt – nicht nur ökonomische Ungleichheit erhalten oder gar gesteigert, sondern auch grundlegende soziale Bedürfnisse der Menschen vernachlässigt und soziale Institutionen zerstört hat, die die Arbeit und das Alltagsleben in vorkapitalistischen (feudalen) Verhältnissen noch bestimmt hatten (Gemeinschaftsformen wie Allmende, Zünfte etc.), und was insbesondere von den sozialen Unterschichten schon beim Übergang zur industriell-kapitalistischen Produktionsweise als Verlust empfunden worden war und heute weitgehend unbekannten Widerstand hervorgerufen hatte.[46]

Rifkin und Mason betonen, dass der sich seit der Wende zum 21. Jahrhundert erneut artikulierende, in der Folge der Weltwirtschaftskrise seit 2008 noch zugespitzte Widerstand sozialer Bewegungen gegen das globale System des neoliberalen Finanzkapitalismus sich nicht nur gegen die in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegene ökonomische Ungleichheit[47], sondern gleichermaßen auch gegen die Zerstörung der natürlichen Umwelt wie der sozialen Beziehungen in der Arbeits- und Lebenswelt der Menschen, die mangelhafte – hinter den realen Möglichkeiten weit zurückbleibende – kulturelle Entwicklung gerichtet hat. Und dies, obwohl infolge der ‚Dritten Industriellen Revolution’ alle diese durch die spezifischen Schranken des globalisierten Kapitalismus erzeugten und zahlreiche Menschen in aller Welt empörenden Mängel beseitigt werden könnten, ja dass das dominierende Profit- und Konkurrenzmotiv die volle Entfaltung der emanzipativen Möglichkeiten dieser Produktivkraftrevolution geradezu behindert.

Weder Rifkin noch Mason kann man ernsthaft den Vorwurf eines ‚technologischen Determinismus’ machen[48]; vorzuhalten wäre ihnen allenfalls eine Art von naivem ‚Sozialökonomismus’, der – wie eingangs erwähnt – weitgehend blind ist für die Fragen der politischen Macht. Beide betonen – vermutlich übermäßig – die Bedeutung von Wissenschaft und allgemeinem Wissen, von individueller Kreativität, sozialer Kooperationsfähigkeit usw. der lebendigen Arbeitskraft als grundlegende Bedingung der ‚Dritten Industriellen Revolution’ und nur auf diesem, als systemisch verstandenen Zusammenhang gründen sie ihre Erwartungen bzw. Hoffnungen auf Überwindung des Kapitalismus, weil er sich seinerseits in wachsendem Maße als Schranke dieser Entwicklung erweise. Die Aufgabe, diese Schranke und damit den ‚marktwirtschaftlichen Kapitalismus’ als dominante Produktions- und Verteilungsweise (Rifkin) oder als Gesellschaftsformation insgesamt (Mason) aktiv zu überwinden, bleibt bei beiden selbstverständlich den lebendigen Individuen vorbehalten, die durch ihr entwickeltes technisches, soziales und kulturelles Wissen, ihre kooperative Kompetenz und ihre netzwerkartige Verflechtung auf diese Aufgabe – zumindest potentiell – immer besser vorbereitet seien.[49] Diese subjektiven Momente erlangen in der objektiven Verwertungskrise des Kapitals im Rahmen der ‚Dritten Industriellen Revolution’ sowohl nach Rifkin als auch nach Mason ihre eigentümliche historische Sprengkraft. Sie stehen für einen tief greifenden gesellschaftlichen Umbruch, der wahrscheinlich nicht weniger bedeutend und dauerhaft sein wird als der, der die Gesellschaft zu Beginn der kapitalistischen Ära aus einer theologischen in eine ideologische Weltsicht katapultiert hat.“[50]

Rifkin beruft sich bei seiner Krisenanalyse auf Oskar Lange, J. M. Keynes und ausführlicher auf die oben erwähnte Hypothese von Larry Summers[51], wonach der technologisch fortgeschrittene ‚Kapitalismus des Informationszeitalters’ mangels Verwertungsmöglichkeiten auf eine ‚säkularen Stagnation’ zusteuere, da die ‚Grenzkosten für Informationsgüter’ gegen Null tendierten und damit auf lange Sicht die Preise unter Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen keinen Gewinn mehr abwerfen würden. Dies sei nach Summers deshalb so dramatisch, weil eine immer größere Zahl von ‚Gütern’ einen immer größeren Bestandteil an ‚Information’ (d.h. Wissen) enthielten, deren Preise und die daran gekoppelten Gewinnerwartungen in die gleiche Richtung wiesen, was reale Investitionen immer unattraktiver mache. Investoren seien daher in wachsendem Maße auf den spekulativen Sektor der ‚Finanzindustrie’ verwiesen, wo es nicht mehr um die Generierung von Produktion und Wachstum, sondern lediglich noch um die Umverteilung einer langfristig sinkenden Profitmasse ginge. Als einzigen Ausweg aus diesem Dilemma empfahl Summers neben zusätzlichen öffentlichen Investitionen vor allem eine ‚vorübergehende’ Unterstützung privater Monopole, u.a. durch besonderen Schutz des ‚geistigen Eigentums’, um die Preise für informationeller Güter künstlich hoch zu halten. Dies aber – so Rifkin – behindere den sozial-ökologischen wie den technischen Fortschritt gleichermaßen. Vor allem verzögere diese Strategie den Übergang zum ‚Internet der Dinge’, das eine sprunghafte Ausdehnung der informationellen Kommunikation erfordere und die Produktivität dermaßen erhöhe, dass die Grenzkosten und Preise vieler Güter und Dienstleistungen nach Null tendierten, was aus einer ‚Ökonomie der Knappheit’ „langsam eine Ökonomie des Überflusses … macht.“[52]

Rifkin sieht in der von Summers vorgeschlagenen Strategie ein parasitäres Moment, das in Widerspruch zur neoliberalen Legende stehe, wonach die marktwirtschaftlich-kapitalistische Konkurrenz die effizienteste Organisationsform der Produktion ist. Gleichzeitig befördere sie aber auch den Widerspruch zahlreicher hochqualifizierter ‚Wissensarbeiter’ (spezieller der ‚Digital-Arbeiter’[53]) in der Informations- und Kommunikationsindustrie heraus. Deren ursprünglich überwiegend bloß technokratisches Selbstverständnis sei nach langjähriger Erfahrung mit der Subsumtion unter die Imperative kapitalistischer Profitproduktion, die die Kreativität ihrer Arbeitskraft unterdrücke und sie letztlich nicht vor sozialer Unsicherheit bewahrt habe, allmählich einem kapitalismuskritischen Bewusstsein gewichen.

Was immer man von diesen Überlegungen Rifkins empirisch halten mag[54], interessant bleiben Rifkins Spekulationen über die strukturelle Analogie von Wissen, Arbeitsformen und gesellschaftlichem Bewusstsein der modernen Wissensarbeiter mit der Struktur der neuesten Entwicklung in der Informationstechnologie. „Das Internet der Dinge ist der technologische ‚Seelenverwandte’ der sozialen Commons – ein im Entstehen begriffenes kollaboratives Common. Konfiguration und Wesen der neuen Infrastruktur des Internets der Dinge ist die quelloffene Architektur. Das System ist von Natur aus dezentral und soll sowohl die Zusammenarbeit ermöglichen als auch die Suche nach Synergien, was es zum idealen technologischen Rahmen für die Förderung der Sozialwirtschaft macht. … Das Auftauchen der IdD-Infrastruktur … mit ihrer offenen, dezentralen Architektur ermöglicht es so­zialen Unternehmen in den kollaborativen Commons das Monopol der vertikal integrierten Riesen [etwa in der Energieversorgung – WG] auf dem kapitalistischen Markt zu durch­brechen, indem sie die Peer-Produktion in lateral skalierten kontinen­talen und globalen Netzwerken bei Nahezu-null-Grenzkosten möglich macht.“ Insofern seien die netzwerkartig verbundenen, kollaborativen Produktions-, Verteilungs- und Konsumgemeinschaften gerade auf dem Feld der erneuerbaren Energien ein zentrales Moment für den Erfolg der globalen Energiewende.[55]

Solche auf gemeinsamem Eigentum und/oder gemeinsamer Nutzung beruhenden kooperativen Commons sind nun keine soziale Innovation der neuesten Zeit. In Struktur und Funktion erinnern sie an historisch ältere Formen, insbesondere an die bis in die jüngste Zeit hinein existierenden Genossenschaften. Sie seien – so Rifkin – „die älteste institutionalisierte Form demokratischer selbstverwalteter Aktivität“. Die großen landwirtschaftlichen Einhegungen während der Übergangsperiode vom Feudalismus zur kapitalistischen Marktwirtschaft „machten den ländlichen Commons [zumindest im westlichen Europa – WG] ein Ende, nicht aber dem gemeinschaftlichen Geist, der sie beseelte“ und der über die Jahrhunderte fortlebte in den verschiedensten Formen der Arbeiter- und Bauernsolidarität (Gewerkschaften, Genossenschaften u.a.) auf allen Kontinenten. Dieser demokratisch-kooperative ‚Geist’ erfahre nun durch die neueste technologische Entwicklung einen ungeheuren Schub, „der im nächsten halben Jahrhundert zum Schwinden des Kapitalismus und zum Aufstieg der kollaborativen Commons als dominantem Modell zur Organisation des wirtschaftlichen Lebens führe(.)“[56]

Rifkins enthusiastisches, mit zahlreichen historischen und aktuellen Beispielen reich illustriertes commonistisches Narrativ steht in der Literatur zum ‚Ende des Kapitalismus’ nicht allein. Paul Mason hat ein insgesamt nüchterneres, aber für die Commons kaum weniger engagiertes Buch geschrieben, das vor allem wegen seines zwar kritischen, stets aber sympathisierenden Anschlusses an die Kämpfe der klassischen Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften und politischen Parteien, an Marx und den Marxismus und wegen seines anti-elitären Demokratismus hier von besonderem Interesse ist.

Wenngleich man Mason weit weniger als Rifkin den Vorwurf machen kann, er vernachlässige die politische Dimension des Übergangs zum ‚Postkapitalismus’[57], so ist er doch keineswegs frei von einem naiven Vertrauen in die Institutionen der politischen Demokratie und mehr noch in die politische Macht der neuen sozialen Bewegungen. Nicht einmal die keineswegs radikale Kritik seines Landsmanns Colin Crouch am Zustand der zeitgenössischen institutionalisierten Demokratie in den kapitalistischen Staaten des Westens[58] findet er eine Erwähnung wert – ebenso wie die in fast allen diesen Staaten sich derzeit abzeichnenden Trends zu antidemokratischen bis neofaschistischen Bewegungen. Die Existenz rechter politischer Bewegungen passt nicht in’s ungetrübt optimistisch-fortschrittliche Gesellschaftsbild Masons. „In der Vergangenheit wäre eine intellektuelle Radikalisierung ohne Macht sinnlos gewesen. ... In einer Informationsökonomie ändert sich jedoch die Beziehung zwischen Denken und Handeln. … In einer Informationsgesellschaft wird kein Gedanke, kein Diskussionsbeitrag und kein Traum [! – WG] verschwendet, egal, wo er herkommt – sei es aus einem Zeltlager, einer Gefängniszelle oder einer ‚Imagineering-Sitzung’ in einem Start-up Unternehmen. Beim Übergang zur postkapitalistischen Gesellschaft können wir durch ein sorgfältiges Design Fehler in der Umsetzung vermeiden. Und diese Gesellschaft kann so wie Software modular gestaltet werden. … Wir brauchen keinen Plan mehr, wir brauchen ein modulares Projektdesign.“[59]

Gewiss wäre es unfair, Masons Buch auf ein solches, an Rifkins euphorische Formulierungen erinnerndes Zitat zu reduzieren, denn er weiß auch, dass die wirklich Mächtigen im Konfliktfall nicht bereit sind, den demokratischen Willen der Bevölkerung, z.B. in Griechenland und anderswo, zu respektieren. „In diesen Fällen kollidiert der Kampf für Gerechtigkeit mit der Macht, die wirklich die Welt beherrscht.“[60]

Es ist hier nicht erforderlich, die nicht immer konsistente Argumentation Masons näher darzustellen (vgl. dazu die Kritik an Mason von Chr. Fuchs in diesem Heft), zumal er in vielen Punkten den Thesen Rifkins folgt, wenngleich er dessen ökonomistisch-antipolitische Haltung als illusionär verwirft.[61] Was ihn freilich selbst nicht vor der Illusion bewahrt, die sozialen Bewegungen gegen den kapitalistischen Charakter der Informations- und Wissensgesellschaft könnten die Welt verändern ‚ohne die Macht zu ergreifen’.

Hierin sind Masons Überlegungen den Thesen der im folgenden Teil (II) zu behandelnden Autoren nicht unähnlich – und sie verweisen auf eine gewisse Ambivalenz, die in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, in seiner Analyse der Pariser Kommune u.a. Schriften selbst enthalten ist.[62]

[1] R. Misik, Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns das glücklich machen? Berlin 2016, S. 208.

[2] Die Zahl der entsprechenden Publikationen mit z.T. wissenschaftlichem, z.T. aufklärerisch-populärem Anspruch ist inzwischen Legion. Darunter eine von U. Herrmann mit dem Titel ‘Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen’, Frankfurt/M. 2013, die „unterhaltsam und anschaulich“ zu erklären verspricht, „wie der Kapitalismus funktioniert“. Das Buch endet mit dem „Ausblick: Der Untergang des Kapitals“. Hier kann nur eine relativ kleine Zahl dieser Texte bzw. Textgattungen berücksichtigt werden.

[3] M. Mann, Das Ende ist vielleicht nah – aber für Wen?, in: I. Wallerstein, R. Collins, M. Mann, G. Derluguian, C. Cahlhoun, Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2014, S. 89-122.

[4] Die nächste große Wende. Gemeinsame Einleitung. A.a.O., S. 9-15, hier S. 10.

[5] E. Altvater, Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik. Münster 2005.

[6] Pars pro toto: H. Dieterich, Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, Berlin 2006. Zur theoretischen Kritik vgl. S. Wenzel, Sozialismus des 21. Jahrhunderts?, in: UTOPIE kreativ, H. 191 (Sept. 2006), S. 811-822.

[7] Vgl. D. Boris, Linksregierungen in der Defensive. Zehn Thesen zur politischen Entwicklung Lateinamerikas, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12/2015, S. 1-13; U. Brand, Lateinamerika: Das Ende der linken Epoche? In: Blätter f. dt. u. intern. Politik, 61. Jg. (H. 5) 2016, S. 93-100.

[8] „Zweifellos wird jeder neue Versuch des Übergangs zum Sozialismus in einer mehr oder minder langen Übergangsphase von der Koexistenz verschiedener Produktionsformen geprägt sein.“ T. Sablowski, Die Produktionsweise eines Vereins freier Menschen, in: Luxemburg 4/2010, S. 129.

[9] D. Klein, Das Morgen tanzt im Heute. Transformationen im Kapitalismus und über ihn hinaus. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (unter den Bedingungen einer Creative Commons License veröffentlicht: Creative Commons Attribution-Non-Commercial-NoDerivs 3.0 Germany License (abrufbar unter www.creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/legalcode ), Hamburg 2013.

[10] Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, 93. (Im Folgenden kurz ‘Grundrisse’)

[11] Kapital, Bd. 1, MEW 23, 790f.

[12] A.a.O., 791.

[13] Erstens weil Marx’ Werk selbst unvollendet und wichtige Probleme auch von nachfolgenden ‘orthodoxen’ oder ‘heterodoxen’ Marxisten ungelöst geblieben waren und die teilweise auch heute noch umstritten sind, und zweitens, weil die gesellschaftliche Wirklichkeit, d.h. die Entwicklung des Kapitals, der Arbeit und der sozialen Kämpfe, die Fragen der Kultur, die Rolle der Wissenschaft, der sozialen Lebenswelt usw., weit über die Marx bekannten Verhältnisse hinausgewachsen ist und vielfältige neue Probleme aufgeworfen hat. Dies einzusehen bedarf es freilich keiner spezifischen ‘Lagermentalität’, wie es vorausgesetzt scheint in: M. von der Linden, K. H. Roth (Hg.), Über Marx hinaus: Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin-Hamburg 2009; vgl. dort S. 24-27.

[14] A. Negri, Marx beyond Marx. Lessons on the Grundrisse, South Hadley/Mass. (USA), 1984. Ein Text, dessen engl./am. Ausgabe einen internationalen Hype um die ‘Grundrisse’ hervorrief. (Vgl. Teil II dieses Textes)

[15] M. Castells, Die Internet-Galaxie – Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2005.

[16] Schon der junge Gramsci hatte die Revolution der Bolschewiki als „Revolution gegen das Kapital von Karl Marx“ bezeichnet. Vgl. Antonio Gramsci – vergessener Humanist?, Politische Schriften, zusammengestellt und eingeleitet von H. Neubert, Berlin 1991, S. 36.

[17] R. Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, 2. Aufl., München 2002; ders., Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus, Hamburg 2013.

[18] Vgl. zur klassischen Diskussion: P. M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Köln 1959, 149-187. Zur neueren Diskussion: R. Diederichs, Die Dritte Industrielle Revolution und die Krise des Kapitalismus – Zusammenbruchstheorien in der neomarxistischen Diskussion, Marburg 2004.

[19] Vgl. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, 642.

[20] Das Konzept der Allmende-Verwaltung wurde ursprünglich von der späteren (2009) Ökonomie-Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom entwickelt (Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999. Dieses Konzept ist inzwischen vor allem um die Dimension der Produktivkraftrevolution erweitert und umgestaltet worden, so dass die Konzeption der ‘Commons’ – trotz vieler Unterschiede – als gemeinsame Basis zahlreicher Theoretiker und politischer ‘Militanten’ in der Auseinandersetzung um die postkapitalistische Gesellschaft gilt.

[21] „Durch Beschluss abschaffbar war nur der Kommunismus, zentralisiert wie er in Moskau war“, bemerkt Wolfgang Streeck, in: ders., Wie wird der Kapitalismus enden?, Teil I, in: Blätter f. dt. und int. Politik, 60. Jg., H. 3/2015, S. 106. Dass es sich dabei freilich um alles andere als um Kommunismus handelte, vernachlässigt diese ansonsten spitze Pointe.

[22] Das bedeutet keineswegs, dass die klassischen Revolutionen der letzten drei Jahrhunderte für den gesellschaftlichen Formationswechsel, etwa vom Feudalismus zum Kapitalismus etc., keinerlei Bedeutung gehabt hätten. Im Gegenteil, Marx hatte gewiss guten Grund zu behaupten, Revolutionen seien die ‘Lokomotiven der Geschichte’ (MEW 7, 85), aber das bedeutet lediglich, dass sie die langfristigen Transformationen beschleunigen, keineswegs aber deren Demiurg oder Kairos waren. Vgl. dazu etwa I. Wallerstein, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts, Wien 2002, S. 15ff. Vgl. auch H. Müller, Von der Revolutionsidee zum Transformationskonzept, In: I. Wallerstein, H. Müller, Systemkrise: Und was jetzt? Utopistische Analysen, Supplement der Zeitschrift ‘Sozialismus’ 4/2010, S. 28f. Zur geschichtsmethodologischen Bedeutung der Begriffs der ‘longue durée’ vgl. F. Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: U. Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972.

[23] Weder die Volksmassen der französischen und der russischen Revolution, noch das Proletariat des 19. noch die Arbeiterklasse(n) und die sonstigen ‘Verdammten dieser Erde’ (Fanon) des 20. Jh., und schließlich auch nicht die ‘Multitude’ des 21. Jahrhunderts – wie sie etwa in Hardt/Negris Ontologie des ‘Gemeinen’ erscheinen - sind sozial identische Subjekte der Transformationsgeschichte in dieser gesamten Periode.

[24] I. Wallerstein in, ders., H. Müller, a.a.O., S. 16.

[25] L. Summers, Why stagnation might prove to be the new normal, abrufbar unter http://larrysummers.com/commentary/financial-times-columns/why-stagnation-might-prove-to-be-the-new-normal/ Vgl. Auch: Ders. u.a., Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures, ed. C. Teulings/R. Baldwin, Centre for Economic Policy Research, London 2014.

[26] Ebenda. Vgl. auch I. Wallerstein, Utopistik, a.a.O., Kap. II: Der schwierige Übergang oder die Hölle auf Erden. S. 43-75, 95.

[27] A.a.O., S. 16 und Wallerstein, Utopistik, a.a.O., S. 101.

[28] W. Streeck, Wie wird der Kapitalismus enden?, 2 Teile in: Blätter f. dt. und int. Politik, 60. Jg., H. 3/4 2015. Vgl. auch ders., Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.

[29] Vgl. K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978, S. 102-112; 182-293.

[30] A.a.O., S. 112.

[31] A.a.O., 293, 312-329.

[32] Streeck I, a.a.O., 99f. (Hervorh. WG)

[33] A.a.O., 103.

[34] A.a.O., 106.

[35] Zu Polanyis Sozialismus-Konzeption vgl. M. Brie (Hg.) Polanyi neu entdecken, Hamburg 2015.

[36] Streeck I, a.a.O., 107.

[37] A.a.O., 109 (Hervorh. WG).

[38] K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 23. Gegen dieses ‘Bilderverbot’ protestiert – ausgerechnet unter Bezug auf Adorno – St. Meretz in einem Vortrag der Marxistischen Abendschule Hamburg vom 15. 9. 2012. Inwiefern die nachfolgend thematisierten ‘Narrative’ dieser Forderung entsprechen, soll hier nicht entschieden werden.

[39] J. Rifkin, Die Nullgrenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus, Frankfurt/M. 2016.

[40] P. Mason, Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie, Berlin 2016.

[41] F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 7. Aufl., Wien 2012. Darin wird zwischen wissenschaftlichem und narrativem Wissen unterschieden. Letzteres fuße auf einem Bedürfnis nach einem Bild der Welt als Ganze (Weltanschauung), das keiner weiteren wissenschaftlichen Legitimation bedürfe; dazu zählte Lyotard u.a. die ‘modernen’ Ideen der Aufklärung, des Fortschritts, des Humanismus, kurz: alle (progressive) Geschichtsphilosophie.

[42] Wie ihn die Medien teils bewundernd, teils kritisch bezeichneten.

[43] Vgl. etwa die Darstellung des seit mehr als drei Jahrzehnten anhaltenden Kampfes gegen die Patentierung (Einhegung) des genetischen Codes der belebten Welt und um ihre Erklärung zum gemeinsamen Welterbe. In Rifkin, a.a.O., S. 243-250.

[44] J. Rifkin, Die Dritte Industrielle Revolution, Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter, Frankfurt, New York 2011.

[45] Rifkin sieht den Umschlag von der Dominanz der marktwirtschaftlich-kapitalistischen zur kollaborativ-gemeinnützigen Formation etwa um die Mitte des 21. Jahrhunderts voraus. A.a.O., S. 10:

[46] Dass es sich hierbei nicht bloß um romantische Verklärungen der Vergangenheit handelt, belegen zahlreiche sozial-historischen Untersuchungen zu Lage, Bewusstsein und Abwehrkämpfen der sozialen Unterschichten im Übergang zum industriellen Kapitalismus. Vgl. etwa E. P. Thompson, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1980; A. Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewusstsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M., Berlin 1981; Allgemeiner: J. Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes (hier Bd. 2, 1650-1810) , Köln 1981.

[47] Th. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014. Vgl. dazu etwa G. Fülberth, Piketty: Verteilungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Z 100 (Dez. 2014), S. 61-68.

[48] Auch wenn einzelne Formulierungen, insbesondere bei Rifkin, in diese Richtung gedeutet werden könnten. Der Vorwurf, nicht nur gegen Rifkin, beruht aber häufig selbst auf einem technizistischen Missverständnis des Begriffs der Produktivkräfte, der nicht nur die ‘Natur’ (Boden, Bodenschätze etc.) und die sachlichen Produktionsmittel (Werkzeuge, Maschinen, Automaten, Roboter, Computer, 3D-Drucker etc.), sondern auch die menschliche Arbeitskraft und ihre spezifischen körperlichen, nervlichen, emotiven und geistigen Fähigkeiten in einem durch Organisation, Wissenschaft, allgemeinem Wissen und Information vermittelten System der Produktivkräfte mit einschließt.

[49] Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Kategorien und der Konzeption insgesamt vgl. Teil II dieses Literaturberichts.

[50]Rifkin, a.a.O., S. 254. „Heute ermöglicht die …. Dritte(.) Industrielle(.) Revolution es dem Konsumenten, selbst zum Produzenten zu werden. Die neuen Prosumenten wiederum arbeiten zunehmend zusammen, teilen Güter und Dienstleistungen in globalen vernetzten Commons bei nahezu keine Grenzkosten und sprengen damit die Mechanismen des kapitalistischen Marktes. In dem sich entfaltenden wirtschaftlichen Zusammenstoß zwischen Kollaboristen und Kapitalisten manifestiert sich ein kultureller Konflikt, der vermutlich in den kommenden Jahren das Wesen der menschlichen Entwicklung neu definiert. Und wenn es ein Thema gibt, das dem sich abzeichnenden kulturellen Narrativ zugrunde liegt, dann ist das die ‘Demokratisierung von allem’.“ Ebd.

[51] L. Summers, a.a.O. (Fn 25) Zur aktuellen Lage vgl. J. Goldberg, Rezessionsgefahren, säkulare Stagnation oder neue Mittelmäßigkeit?, in: Z 106 (Juni 2016), S. 56-66.

[52] Rifkin, a.a.O., S. 24.

[53] Vgl. C. Fuchs, Digital Labour and Karl Marx, New York 2014.

[54] Hierzu kritisch: Ders., Zur Theoriebildung und Analyse der digitalen Arbeit, Teil I, in: Z 103 (September 2015), S. 85-95; Teil II, in: Z 104 (Dezember 2015), S. 73-86.

[55] Rifkin, a.a.O., S. 35f., 44.

[56] A.a.O., S. 32, 34.

[57] Vgl. etwa die einleitenden Bemerkungen in P. Mason, a.a.O., S. 21f.

[58] C. Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008.

[59] P. Mason, a.a.O., S. 20.

[60] A.a.O., S. 21.

[61] „Einer Beschreibung der gegenwärtigen Realität am nächsten gekommen ist Jeremy Rifkin … Rifkins bedeutsamste Leistung ist, dass er das Potenzial des Internets der Dinge verstanden hat.“ Rifkin reduziere allerdings den Konflikt zwischen marktwirtschaftlichen Kapitalismus und kollaborativen Commons „auf einen Konflikt zwischen Geschäftsmodellen und guten Ideen.“ A.a.O., S. 193f.

[62] Das sog. ‘Maschinenfragment’ aus den ‘Grundrissen’ erweist sich dabei als Schlüsseltext, dessen Interpretation durch post-operaistische Autoren wie Negri u.a. sich in vielen Oppositionsbewegungen weltweit durchgesetzt und die verbreitete theoretische Ignoranz oder Unsicherheit in der Frage der politischen Macht und deren Subjekte wenn nicht verschuldet, so doch verstärkt hat.