Hans Jürgen Krysmanski, am 27. Oktober 1935 in Berlin geboren, ist am 9. Juni 2016 in Hamburg gestorben. Vor zwei Jahren hat er verschmitzt mit seinem schmalen Die letzte Reise des Karl Marx über ein Lebensende getextet, eine historische Social Fiction. Sein letztes Buch.[1] Sein Leben lang zog er an vielen Fäden des Endes des Kapitalismus, von denen neuerdings so viel die Rede ist. Er mochte das „Always historicize!” (Fredric Jameson) mit Leuten, Worten, Bildern, das „cognitive mapping“ mit den großen Themen und Theorien, wilden Fantasien und neugierigen Assoziationen – den Utopien, Sozialismen, den Kämpfen der Linken, der reflexiven, radikalen, dissenten, außenseiterischen, nützlichen, hilfreichen, materialistischen Wissenschaft, der Science Fiction also, den Produktivkräften und der Hightech, den Big Data und Netzen und den TV-Medien, dem Gewalt-, Kriegs- und Rüstungskapitalismus mitsamt seinem mörderischen Militär-Industrie-Komplex, der globalen Attraktion des ungeheuren American Empire, endlich der Machtstrukturforschung von unten über oben mit dem Fokus auf Eigentumsmacht, Reichtum und der Geopolitik planetarer Imperialität.
Krys promovierte 1961 bei Helmut Schelsky über Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts und schließt: „Einem sozialen Denken, das am status quo, dem ‚illusionärsten aller Ziele‘, klebt, hilft die utopische Spekulation so auf die Beine; sie lehrt es gehen in einer Welt, die bereits zu rasen beginnt.“[2] Er war Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle Dortmund, sodann während des Jahres 1964 in Kolumbien als Gastdozent an der Universidad Nacional in Bogotá. Dem counterinsurgency program der USA fiel 1965 sein Mitdozent und Freund, der katholische Priester und Revolutionär Camilo Torres, zum Opfer. „Damals begann ich Marx ernsthaft zu lesen, um zu verstehen, was da geschah (…) Ich war, wie fast alle Linken damals, ein bunter Vogel, ich war unabänderlich anti-autoritär gestimmt. So konnte ich mir den Marxismus, wider alle Dogmatik und Orthodoxie, so frei und auch eklektisch aneignen, wie Marx selbst seine Wissenschaft betrieben hatte. Und so und nicht anders bin ich an Marx hängen geblieben.“[3] Dann bis 1966 Lehrstuhlassistent bei Schelsky, habilitierte er bei ihm 1967 für das Fach Soziologie – da war er freilich schon „zunehmend in radikale Politik involviert“ (so höflich seine biografischen Notizen)[4]. Wissenschaft als Außenseitertum betitelte er einen Beitrag, dessen Erscheinen im high-science-konservativen Jahrbuch für Sozialwissenschaft (3/1966) doch erstaunte. Solche wie Dankwart Danckwerts, Lars Clausen oder Kai Tjaden gehörten zu dieser Spezies. Ihn brachten auf den Weg zum marxistischen Außenseiter in der Soziologie vor allem neben seinen Erfahrungen in den USA und Lateinamerika die Kontakte mit der machtbewussten Soziologie der Schelsky, Gehlen und Freyer, die sich auskannten, wenn sie von Macht redeten oder über sie schwiegen. Für Krys gehörte das Interesse an den Reichen und Mächtigen zu seiner Entscheidung, Soziologe zu werden. Die Soziologie dieser Zeit freilich war eine Mittelschichtenveranstaltung, die geschäftig diese selbst und die Unterklassen betrachtete, mit der herrschenden Klasse jedoch einen Nichtangriffspakt eingegangen war. Immer wieder zitierte Krys aus der Rede von Martin Nicolaus auf einer Tagung der American Sociological Association im August 1968 zur „Fat-Cat Sociology“: „That is to say that the eyes of sociologists, with few but honorable (or honorable but few) exceptions, have been turned downward, and their palms upward.“[5] In der Regel wusste sie gar nicht, dass es so etwas gibt. Für sie hörte die Sozialstruktur mit der oberen Mittelschicht auf. Sie sah sie nicht einmal, die 0,1 %. Gerade die bundesdeutsche Soziologie war hier eine „verstummte Soziologie“[6] (Krysmanski). „Elite“, so zitierte er häufig Carl Schmitt, „sind diejenigen, deren Soziologie niemand zu schreiben wagt.“[7] Und wer diese 0,1 % als kritischer Soziologe und marxistischer Außenseiter und in einem Dutzend radikaler Organisationen und Zeitschriften des linken Flügels thematisierte, galt bei Fachkollegen wie Erwin K. Scheuch als „Kommunistenfreund“[8].
Berufen in der kurzen Zeit der linken Offensive, war Hans Jürgen Krysmanski von 1971 bis 2001 Hochschullehrer für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster. Er publizierte weit über 100 Langtexte, keine Weißwaschliteratur. Auffällig auch sein wunderbar wirr-postmodernes Beziehungsnetzwerk (siehe etwa die Festschrift Soziologische Ausflüge zum 60. Geburtstag)[9] oder die zuweilen sehr spöttisch bemalten Zettel, die sein Klassenkampfhandwerk in Forschung, Lehre, Vorträgen, Seminaren und Debatten begleiteten. Und natürlich Politik – auch im Kampf gegen die Berufsverbote von Wissenschaftlern wie Thomas Neumann oder Peter Marwedel, die an „seinem“ Institut arbeiteten.
In den 1990ern transformierte er sich für ein Jahrzehnt zusätzlich zum „soziologischen Filmemacher“ (Krys). Er agierte als Autor und Regisseur von acht größeren Dokumentarfilmen bei Spiegel TV, WDR und NDR, die den Spuren des globalen kapitalistischen Triumphzugs und der geopolitischen Ästhetik der neuen weltgesellschaftlichen Klassenverhältnisse folgten – über die Abwicklung der Interflug, Heiner Müllers Ostberlin, den russischen Militär-Industrie-Komplex, Amerikas Zugriff auf Sibirien, deutsch-deutsche Geheimdiplomatie vor der Wende, Alexander Rudzkoi und der Moskauer Coup 1993. Geopolitische Filmexpeditionen also. Zeitweise kam damals sein Wortschatz nicht mehr ohne die Rede vom „Storyboard“ aus. Mitte der 90er entwickelte er mit strahlenden Augen an einem langen Nachmittag der Villa Rossa-Herbstakademie unter den Steineichen der 1498er Medici-Villa Palagione bei Volterra die Grundrisse eines Storyboards für einen Hollywood-Blockbuster über den 4. Band des Kapitals. Ein skelettierter Initialtext dokumentiert „Mit Engelszungen“ (Z 22 [Juni 1995], S. 111ff.), wie dieser dank Olga, Karl Stirner, Mike Liebknecht, Tom Bosch und Tamara ins Leben kam. Fast. Jahre danach (2005) wurden hieraus mehrere Versionen eines coolen Drehbuchs Fünf Tage im Leben von Karl Marx (gemeinsam mit Karl Philip Lohmann). Zahlreiche Bücher (wie Popular Science[10]), Aufsätze und Forschungsprojekte zur Massenkultur (bis zu seiner unfertigen Studie zur universellen Windows-Metapher 2005[11]) waren der gesellschafts-, medien- und kulturanalytische Spin-off dieses Turns zu den bewegten Bildern und zum Intellektuellen, der durch Macht und Medien abenteuerte. In ihnen kumulierte als Text, was bildseitig eine lebensgeschichtliche Präsenz hatte von heimischen Privatgemälden über die Schaubilder und Schemata seines historisch-materialistischen Histolabiums[12] und eine respektvolle, ironisch-neugierige Begeisterung für die Weltregierungsbilder[13]des Bureau d’Etudes oder Mark Lombardis Diagrammen[14] bis hin zu seinem Ringmodell der Machteliten[15] im 0,1 Prozent. Das Imperium der Milliardäre[16] und einer hierzulande wohl einmaligen zwei Jahrzehnte überdauernden (post-)professoralen Homepage-Bastelwebpräsenz an der Universität Münster, an der sich heute noch die langen Browserwellen vom Gopherspace zu Mosaic, Netscape und Mozilla ablesen lassen. Seine dortige Webkompilation in Sachen herrschender Klasse und Reichtum sucht ihresgleichen. Die Idee des Ganzen war: Eine Politik soziologischer Imagination (C.W. Mills)[17] müsse als Verdichtung kulturökonomischer Kompetenz und geopolitischer Ästhetik (Jameson) zur Bildung eines radikal anderen Blicks auf die eine Welt des imperialen Kapitalismus beitragen und, weiterreichender noch, zu den Zukunftsahnungen von allgemeiner Arbeit und allgemeiner Geldware trete nun noch das Internet als Instrument und Form einer allgemeinen Vermittlung, also als Medium der Vergesellschaftung, das auch neue Möglichkeitsräume schaffe. „Es gehört eben“, meinte er rückblickend zum Neubeginn seiner soziologischen Imagination der postmodern-neoliberalen Macht anfangs der 00er Jahre, „auch zum Power Structure Research, dass er Spaß machen kann oder sonst wie in Kultur übergeht.“[18] 1982, in einer anderen, schon lange vergangenen Zeit noch, hatte er bereits mit seiner matrixdurchsetzten Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik[19]für die Begriffsapparatur einer historisch-materialistischen Gesellschaftsanalyse ein Big Data-Modell entwickelt, das als analytische Grundlage für eine Neuformulierung sozialistischer Gesellschaftsplanung fungieren sollte. Niemand interessierte sich dafür.
Er schrieb anhaltend in der Utopie kreativ, LuXemburg, Z, Argument, Wissenschaft und Frieden, den Blättern, tauchte im Manager-Magazin, dem ak, im Stern, telepolis oder in der Soziologischen Revue auf, in Enzyklopädien oder soziologischen Lexika oder den Marxistischen Studien, in Heiligendamm oder auf dem Left Forum in New York. Oft, immer öfter und begeistert im Netz. Auch Sammelbände mochte er. Lange Zeit publizierte er im Pahl-Rugenstein Verlag. Er war Autor, zuweilen auch Mitherausgeber oder Beiratsmitglied, etwa im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für marxistische Studien und Forschungen. Er versäumte nie, unter seinen Organisationsmitgliedschaften neben der Rosa Luxemburg Stiftung, dem wissenschaftlichen Beirat von attac oder dem Bund demokratischer WissenschaftlerInnen auch seine komplett unhonorige Mitgliedschaft im Präsidium des Weltfriedensrates und in der Weltföderation der Wissenschaftler hervorzuheben. Schließlich gehörte Krysmanski beispielsweise zu den „nachweisbar“[20] 21 westdeutschen und westberliner „Kommunisten und SED-Sympathisanten“, die als Besucher mindestens einer Veranstaltung der DDR-„Akademie für Gesellschaftswissenschaften“ in den 1980ern identifiziert werden konnten.
Wer mit Krys zu tun hatte, entdeckte bei allen seinen Neubeginnen ein paar lebenslange Kontinuitäten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte seine Familie („Meine Eltern waren kleine Nazis“) in Salzburg, wo er erstmals mit Amerikanern in Kontakt kam. In dem südhessischen Dorf in der amerikanischen Zone, in das sie dann kamen, setzte sich das fort. Im Unterschied zu vielen anderen später linksorientierten Wissenschaftlern gelangte er dann als Siebzehnjähriger 1952/53 in das Schüleraustauschprogramm des US-Hochkommissariats (HICOG) zuerst nach Detroit und später in die Kleinstadt Mancelona (Michigan). Neben der kulturellen Erfahrung von Leichtigkeit und Offenheit tauchen in einer seiner wenigen publizierten Erinnerungen an diese Zeit Stichworte wie Reichtum, Provinzialität, Rassismus oder die schiere Größe des Landes auf, die seitdem die USA für ihn „in jeder Hinsicht“ zu einer „zentrale Größe“[21] werden ließen. In den folgenden sechs Jahrzehnten lässt er von dieser „zentralen Größe“ nicht mehr ab. Schon damals reizten ihn die altvorderen investigativen Muckrakerjournalisten und -analysen wie Gustavus Myers „Die großen amerikanischen Vermögen“[22] oder Ferdinand Lundbergs „America's Sixty Families“[23]. Krys: „Was machen die da oben eigentlich?“[24]. Das betrifft die USA und ihre imperiale Macht in der Welt als Gegenstand sozial- und kulturwissenschaftlicher Analyse und die verschiedensten Sparten der Reflexion gleichermaßen, die das mächtigste national-globale Wissenschaftssystem seit dem Zweiten Weltkrieg und danach produzierte, das wie kein anderes getragen war von Militär und Kapital. Er reist häufig in die USA und nach Kanada und führt dazu Dutzende Lehrveranstaltungen durch. Seine in den 60er und 70er Jahren u.a. mit K. H. Tjaden ausgearbeitete historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse theoretisiert globale Konfliktstrukturen immer wieder am Exempel der USA, und bei seiner Rezeption des damals kleinen, aber wachsenden Strangs der kritischen US-Soziologie wird die 1956 publizierte und unter dem Eindruck der Faschismusanalysen Franz Neumanns[25] entstandene „Power Elite“ von Charles Wright Mills[26] zu dem zentralen Initialtext für die Entwicklung seiner zahlreichen Beiträge zur Klassen- und Machtanalyse, in denen er sukzessive die Vermittlung von Militär-Industrie- und Geldmachtkomplex herausarbeitete. Ihm ging es hier nicht nur um das eine als Territorialstaat USA fixierte kontinentalkapitalistische Amerika. Es ging ihm auch um das andere Amerika des Americanism, in dessen Kern die „amerikanische Partei“ (Arrighi) und ihre Vektoren standen und stehen, über welche Elemente des US-Staates und der amerikanischen Zivilgesellschaft, Kultur und Ökonomie sich in die Welt bewegen – als American Empire eben. Auf dieser Grundlage hat er – bis zum hartnäckigen Verfolg zuweilen skurrilster Abweichler aus den Reihen der US-ruling class – versucht, ein realistisches Bild von der Stabilität und Reichweite wie den historischen Grenzen dieser „zentralen Größe“ im planetar globalisierten Kapitalismus zu bekommen. Daher begegnete er der flinken Manier zur zyklischen Beschwörung des US-Decline, die sich zuletzt im vergangenen Jahrzehnt auch hierzulande ausbreitete, mit anhaltender Skepsis und Vorsicht. Beides einzeln und zusammen, die kritische Gegenstandsanalyse und die Aufnahme und Bearbeitung vor allem strategisch-reflexiver Ideen und Konzepte in den USA und den machtfähig platzierten Denkorten in der Welt, wo sich „Amerika“ fand, seine Perspektive implementierte und herrschte, ist im universitären Milieu bis heute eine Ausnahme geblieben.
Und es gab noch eine zweite verlässliche, zähe, bestimmende Kontinuität. Das war der ganz große Frieden – nicht der private, der soziale oder der kriegerische, nicht der kleine Frieden auf Zeit und Gelegenheit, sondern der voraussetzungsvolle Frieden, dem die Alternativen zu sich selbst ausgegangen sind – also das, was 1712 als ein Keim der bürgerlichen Revolution in die Welt kam als positiver Friede und als „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ (Charles Irenée Castel de Saint-Pierre, bekannt als Abbé de Saint-Pierre). Auch bei diesem zweiten Lebensthema hatte Krys gleich mehrere Fäden am Wickel: die Produktivkraft Wissenschaft, bei der es anknüpfend um Kriegs- und Friedensursachenforschung ging, oder die Rekonstruktion der Friedensutopien und der Traditionen oder Begründungen einer friedlichen Soziologie, die er in Soziologie des Konflikts[27] und seinem herausragenden politischen Bildungsbuch Soziologie und Frieden dabei ganz beiläufig als „Umwälzungswissenschaft“[28] konzipierte. Eine tiefe Abneigung gegen Gewalt trieb ihn voran. Seine friedenswissenschaftlichen und -analytischen Texte kamen der in den 80ern entstehenden Friedensbewegung mit ihren starken wissenschaftlichen Abteilungen vor allem aus den Natur- und Sozialwissenschaften, der Medizin und Informatik lange zuvor. Also zu spät, da im Medienmarkt längst abgelegt, um noch breit rezipiert zu werden. Seine Texte – und ihr Verfasser – waren aber in den dortigen Aktivistengruppen und ihren neuen Think Tanks und Publikationen über ein Jahrzehnt immer wieder präsent. Die paar Dutzend linker Soziologen freilich, die in Berlin, Kassel, Marburg, Bremen oder eben auch Münster damals zwar ihre mittlerweile marxistische bzw. historisch-materialistische Disziplinkritik in Bänden wie Soziologie und Praxis oder Die Krise in der Soziologie[29] zu Gehör bringen konnten – wobei Krys die initiierende Schlüsselfigur war – konnten diese Kritik (sieht man von der Arbeits- und Industriesoziologie ab) in der Soziologie, ihren hegemonialen Fachmedien oder in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bestenfalls in Spurenelementen institutionalisieren – das änderte sich erst wieder auf ganz anderen Feldern in den 00er Jahren. Fachlich und fachpolitisch aber legten sie die Friedens-/Kriegsfrage ad acta – eine der wenigen Ausnahmen war eine Handvoll Soziologen in Münster und auch Marburg. Vielleicht hielt auch deshalb die von Krysmanski in den 90ern – mit ein paar zusätzlichen Euros im geschätzten Gegenwert des Notlandefallschirms einer militärischen Minidrohne ausgestattete – Arbeitsstelle „Peace and Conflict Studies“ (PeaCon) bis etwa 2003 durch – verschwunden ist sie aber bis heute nicht. Bei genauerem Hinsehen freilich finden sich im partei- und bewegungspolitischen Raum und Umfeld der Friedensbewegung bis Mitte der 90er Jahre eine ganze Reihe jüngerer organischer Intellektueller, die aus diesem linken sozialwissenschaftlichen Milieu kamen.
Je klarer aber in der Reagan-Zeit und der folgenden langen Bush/Clinton/Bush-Ära das neue imperiale Kriegertum der USA und der von ihr dominierten NATO geopolitisch als Landnahme, Raumhoheit und Reichtumsgenerierungsmaschine expandierte, desto mehr rückte für ihn ein anderes Thema vollends in den Vordergrund. In seiner Einleitung zu Popular Science (S. 9) schreibt Krys: das „soziologische Hauptthema nach dem Ende des Kalten Krieges ist aus meiner Sicht das Thema ‚Macht und Herrschaft in der Postmoderne’“, also auch im Spät- oder Hyperkapitalismus. Das von ihm erstmals wohl schon Ende der 60er Jahre angerufene „power structure research“ hat über vier Jahrzehnte hinweg seine Gesellschaftsperspektive immer nachhaltiger fokussiert. Seit der Jahrhundertwende dominierte sie. Sie ist die dritte Kontinuität, an die hier zu denken ist. Und sie ist übrigens und im leichten Unterschied zu den erstgenannten Leitideen zum American Empire und dem großen Frieden geradezu komplett bevölkert von Männern: den Karl Marx, Max Weber, C. Wright Mills, Göran Therborn, William Domhoff, Ferdinand Lundberg, Noam Chomsky, Thomas R. Dye, Michael Parenti, Kevin Phillips oder Val Burris. Um Abweichungen abzuzählen, reichte eine Hand aus. Nicht nur die Macht, sondern auch ihr Lob und ihre Kritik sind bis heute das Kerngeschäft des Patriarchats.
Noch in der letzten Maiwoche dieses Jahres amüsierte Krys sich ziemlich höhnisch über Dr. Eric Schmidt („It’s a delight to be here and welcome to our 2016 Shareholder Meeting. My name as you know is Eric Schmidt, I’m the Executive Chairman of Alphabet“[30], von Google plus also). Schmidt hatte das zweite Further Future Festival „Burning Man for the 1%“ mit seiner Präsenz beehrt und kommentiert: „It’s well documented that I go to Burning Man. The future’s driven by people with an alternative world view. You never know where you’ll find ideas.”[31] Der „Guardian“ hatte schon öfters über dieses unfaßlich jämmerliche Partyevent in der Wüste bei Las Vegas berichtet, das sich dem tollen neuen Trend der „tranformational festivals“ zurechnete. Das könne, so spottete Krys, der lang erwartete transformationstheoretische Durchbruch gewesen sein, den die Linke mal wieder verschlafen habe, schließlich sei das Future-Festival seit ein paar Wochen schon Vergangenheit. Wieder einmal zeige sich, wie schwer die Umkehr des flotten Satzes von Evgeny Morozov sei: „Wozu braucht man die Linke, wenn man Google hat?“ Solcher Spott hatte seinen Grund: Der Google-Konzern war für Krys ein herausragendes Exempel der Verknüpfung von blindwütiger, gefährlicher Innovation mit dem Aufbau der Macht der neuen, privaten Souveräne, einem imperial-planetaren Zugriff und fantastischen Möglichkeitserweiterungen nicht nur des Kapitals. Und die Eric Schmidts dieser Welt waren seit Jahrzehnten sein Sujet.
Er verachtete das korrupte Neusprech vom „Vermögen“. Sein Forschungsprogramm kreiste um fünf Grundkategorien: Eigentum, Kapital, Reichtum, herrschende Klassen, Macht. Dazu kam der Blick auf verdrängte linke Fragmente: technologischer Antikapitalismus, Planung, Befreiung der Big Data, Commons. Seine im Lauf von zwei Jahrzehnten aufgebaute Webkompilation in Sachen herrschender Klasse und Reichtum sucht ihresgleichen (http://www.uni-muenster.de/PeaCon/krysmanski/). Die zwei Dutzend webgestützter Seminare, die er vor und nach seiner Emeritierung bis 2013 in Münster durchführte, kreisten ebenso um dieses Begriffsfeld wie die zwei größeren mit der Rosa Luxemburg Stiftung organisierten Reichtumsworkshops in Münster und Berlin in 2004 und 2005 und Workshops auf der BdWi-Tagung „Ungleichheit als Programm“ (2006). Seine großen Übersichten zum Stichwort „herrschende Klasse“ im HKWM 6/1 (2004) und „Z“ (Z 57 [März 2004])[32], zu „Politische Eliten – Wem gehört die EU?“ (Z 69 [März 2007])[33] und der Sammelband Hirten & Wölfe ragen heraus.
2012 erschien dann sein Buch 0,1 Prozent. Das Imperium der Milliardäre, ein Resümee seiner Arbeit an dem Power Structure Research. Der Band verstößt hartnäckig gegen übliche und bewährte Tabus auch der Linken, deren erstes Manko ein nur auf den ersten Blick nachvollziehbares Desinteresse an der Analyse der herrschenden Klassen ist – schließlich ist sie keine Zielgruppe im politischen Tagesgeschäft. Doch hier sprudeln auch Stories und News aus Richistan. Und mehr noch: hier wird eine grundlegende Differenz gemacht. Gegen die neue Blüte der Verschwörungstheorien setzt der Text eine Überarbeitung der Klassentheorie und der Theoretisierung der „herrschenden Klasse“, die von ihrer Bindung an die Moderne, den Nationalstaat und die Ignoranz der Ausbildung einer eben postmodernen Weltgesellschaft befreit werden müsse. Das von Krysmanski in den Anfängen der 70er und 90er Jahre gebaute Feld aus vier Subsystemen des Systems der Produktionsverhältnisse – Eigentums-, Verwertungs-, Verteilungs- und Arbeitsverhältnisse – verknüpfte er nun mit einem deskriptiven Akteursmodell herrschender Klassen oder Machteliten aus vier funktionell verschränkten Gruppen. Damit holte er vor allem mit Verve die Fragen des Reichtums, seiner Spitzenakteure und Dienstklassen und deren Macht wieder in eine geschärfte marxistische Kapitalismus-, Kapital- und Klassentheorie zurück. Wer von herrschender Klasse rede, dürfe von ihrem strukturierenden Zentrum im Kapitalismus der Postmoderne nicht schweigen: dem Komplex der Geldmacht, dem Ort der Privatesten des Privaten und der anderen, neuen, letzten globalen Souveränität: „Souverän ist, wer über die Geldmacht verfügt.“ Mit dem Verschwinden der Souveränitätsformen der Moderne verfügt in the long run nur diese Gruppe, als einzige, noch über Souveränität, denn „das Regime privater Enteignung (tendiert dazu), universell zu werden.“[34] Dieser eine Ort des Reichtums[35] ist immer ein Ort des Eigentums und ein Auffangbecken für die akkumulierten Werte. Er zieht gleichsam wie ein schwarzes Loch das rasend fluktuierende, fluide und sozial veruneinheitlichte Geld der Welt an sich, verwandelt es ständig in Verwertungsmacht und personifiziert es in eine planetar operierende Klassenmacht. Um die soziale und politische Verfassung ihrer Akteursgestalt und Binnenstruktur zu fassen, ist für ihn ein Rückgriff auf neu entworfene, aber alte und hierzulande oft zu Recht in der Wissenschafts- und Politiklinken tabuisierte Begriffe wie Oligarchie, Plutokratie (klassisch: Herrschaft des Reichtums), politische Direktorate oder die „Ringburg“ (einer quasi refeudalisierten Struktur) sinnvoll. Sie beschreiben ja die Situation einer unkontrollierten Macht, die ununterbrochen neue Ohnmacht bei allen anderen erzeugt. Wie die Piketty oder Saez im letzten Jahrzehnt die Innenstatistik der 0,1 % entblößten, ziselierte Krysmanski die Soziologie Richistans: Ein Land, das keine Arrangements mehr kennt, die demokratisch genannt werden könnten, planetar, nomadisch, sich maßlos steigernd.
Hans Jürgen Krysmanski hat mit seiner Umwälzungswissenschaft unseren Blick auf Imperien, auf ihre Kriege, auf Richistan und ihre Geschichte verändert – neugierig, spöttisch, lachend, skurril, charmant, klug, tückisch, gebildet, spielerisch, nachdenklich und auf alle Fälle in Schwarz, meistens mit Rundgläserbrille und manchmal als Irrläufer, in Cowboystiefeln, der durch alle Praxen, Theorien und Imaginationen zappte und surfte, die er kriegen konnte. Mit dem view from above, aber von unten.
„Une autre fin du monde est possible“ stellte jüngst ein NuitDebout-Graffiti richtig. Ein Ende des Kapitalismus ohne ein Vorleben in einem Imperium der Milliardäre wäre ein guter Anfang – auch für eine letzte Reise.
[1] Die letzte Reise von Karl Marx, Frankfurt/M. 2014.
[2] Wiesbaden 1963, S. 148.
[3] Re-education – damals und heute, S.4, 5. Referat auf der Tagung ‚60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Was haben wir gelernt?’, FB Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, 12. 5. 2005; http://www.uni-muenster.de/PeaCon/psr/pn/Re-education.PDF. Ein Großteil der Verweise findet sich in den „Biographical Notes“ auf http://www.uni-muenster.de/PeaCon/krys.htm.
[4] Ebd.
[5] http://www.colorado.edu/Sociology/gimenez/fatcat.html.
[6] Die verstummte Soziologie. Vom Verlust sozialwissenschaftlicher Urteilskraft in Deutschland, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1992, S. 1112-1124.
[7] Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, Berlin 1991, Eintrag vom 1. 5. 1948, S. 144.
[8] Zitiert bei H.J. Krysmanski: Unter dem Diktat der Nützlichkeit: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Soziologie? Vortrag auf einer Tagung - ‚Effizienz – Konkurrenz – Exzellenz. Soziologie unter dem Diktat der Nützlichkeit?’ - des (abwicklungsbedrohten) Instituts für Soziologie der Universität Münster am 9.11.2007; http://www.uni-muenster.de/PeaCon/psr/pn/soziologie--krys-9-11-07.htm#_ftn1.
[9] Hg. Georg Ahrweiler, Rainer Rilling, Rolf Schellhase, Opladen 1997.
[10] Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne, Münster 2001; http://www.uni-muenster.de/PeaCon/popscience-online/krysmanski-popscience.pdf.
[11] http://www.uni-muenster.de/PeaCon/psr/pn/05-krys-windows.pdf.
[12] http://www.uni-muenster.de/PeaCon/pk-pv-planungsschema/kategorialerzusammenhang.htm.
[13] http://bureaudetudes.org/wp-content/uploads/2010/01/Worldgov2004nb.pdf.
[14] http://www.pierogi2000.com/artists/mark-lombardi/.
[15] http://www.uni-muenster.de/PeaCon/global-texte/g-a/05-krys-powerstructure.htm.
[16] Frankfurt/M. 2012.
[17] http://www.uni-muenster.de/PeaCon/s-texte/dgskrys.htm.
[18] Hirten & Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen, 3. erw. Auflage, Münster 2011, S. 164.
[19] Soziologische Skizzen zum Zusammenhang von Produktionsweisen, Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Köln 1982.
[20] Lothar Mertens: Rote Denkfabrik? Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Münster 2004 S. 70f.
[21] http://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/erlebtegeschichten/krysmanskihans102.html
[22] Chicago 1909–1910.
[23] New York 1937.
[24] Im Gespräch auf KenFM (Teil 1), 15. 03. 2013; https://www.youtube.com/watch?v=-7BQZHrHcEY.
[25] Franz Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York u.a., 1944. Charles Wright Mills: Neumann and Behemoth the best of German Tradition. In: Irving Louis Horowitz (Hg.): Power, Politics and People, London u. a. 1967, S. 170–178.
[26] New York 1956. Niemand sonst erwähnte Krys so oft und wertschätzend wie C.W. Mills und F. Jameson.
[27] Reinbek 1971.
[28] Grundsätzliche Einführung in ein aktuelles Thema. Opladen 1993, S. 52.
[29] Bernhard Heidtmann, Robert Katzenstein (Hg.), Köln 1979 und H. J. Krysmanski, Peter Marwedel (Hg.), Köln 1975.
[30] http://seekingalpha.com/article/3980865-alphabets-goog-management-hosts-2016-annual-meeting-shareholders-transcript.
[31] http://9to5google.com/2016/05/05/eric-schmidt-further-future/.
[32] http://archiv.zme-net.de/archiv/xxinfo/h057s008.html.
[33] http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/697.politische-eliten-wem-gehoert-die-eu.html.
[34] Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. 2002, S. 313.
[35] Robert Frank nennt ihn: Richistan: A Journey Through the 21st Century Wealth Boom and the Lives of the New Rich, New York 2007. Eine bundesdeutsche Veranschaulichung habe ich versucht mit „Besuch im Reichland“, in: Sebastian Chwala u.a.: Die gekaufte Stadt? Hamburg 2016, S. 195-228.