Es gibt in den Gesellschaftswissenschaften, die marxistischen eingeschlossen, viele offene Fragen. Dazu gehört nicht zuletzt der namengebende Begriff „Gesellschaft“ selber. Und es gibt den Begriff „Umwelt“, der heute in aller Munde ist. Dementsprechend vielfältig sind seine Verwendungen und die ihm zugedachten Bedeutungen. Ausgehend von der Biologie breitete er sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften aus und wurde zu einem Grundbegriff ökologischer Betrachtungen, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Einzug hielten. Uns scheinen die Darlegungen zum Umweltbegriff, die James J. Gibson in seinem Buch „The Ecological Approach To Visual Perception“ vornimmt, von großem Nutzen zu sein bei dem Versuch, zu einem bedeutungsvollen Begriff von Gesellschaft zu gelangen. In dieser Auffassung folgen wir einem Wink, den uns Gibson selber mit seiner Erörterung des Begriffs „social interaction“ gegeben hat.
Mutualität von Umwelt und Lebewesen
Beginnend mit der Herausbildung lebender Organismen, die mit den natürlichen Medien wie Luft, Wasser und den Substanzen und Objekten ihrer Umgebung in Verbindung stehen, ist die Erde im Verlauf der Evolution ihres Bewuchses und ihrer Bewohner für die verschiedenartigsten Lebewesen zur Umwelt geworden, darunter für die Menschen. Die Erde – herkömmlicherweise unterteilt in Lithosphäre, Biosphäre und Atmosphäre – war nicht Umwelt, als Lebewesen noch nicht entstanden waren, sie wurde mit deren Evolution zur Umwelt. In diesem Sinn bilden die Worte Umwelt und Tier (nicht-tierliche Lebewesen lassen wir im folgenden außer Betracht), wie James J. Gibson formuliert, ein „inseparable pair“ und leben Tiere in wechselseitiger Verbundenheit („mutuality“) mit ihrer Umwelt. (Gibson 1986, 8ff) Sie existieren in einer mutualen Verbundenheit, die auf Seiten des Tiers durch Abhängigkeit von seiner Umwelt spezifiziert ist: Während die tierlichen Lebewesen auf die natürliche Umwelt existenziell angewiesen sind, ist dies umgekehrt nicht der Fall. Jedes Tier ist, wie Gibson formuliert „sentient“ und „animate“, fühlend und belebt, und zumindest zu einem gewissen Grad „a perceiver of and a behaver in the environment“. (Gibson 1986, 8) Gibson macht darauf aufmerksam, dass die Mutualität von Tier und Umwelt für das Konzept der Natur in der Physik keine grundlegende Bedeutung hat. Und wir selbst meinen ganz allgemein feststellen zu können, dass in dem heute maßgeblichen Wissenschaftsbetrieb das umwelttheoretische Mutualitätskonzept, das Gibson entworfen hat, keine Rolle spielt. Im herrschenden Selbstverständnis der verschiedenen Wissenschaften erscheinen die Gegenstände, um die es jeweils geht, in einer dualistischen Denk- und Betrachtungsweise, die jene Verbundenheit nicht zur Kenntnis nimmt, welche das Mutualitätskonzept zum Ausdruck bringt. Für Menschen und andere Tiere ist Umwelt das, was sie wahrnehmen und worin sie sich verhalten, wobei Wahrnehmen und Handeln oder Verhalten sich gegenseitig bedingen. Sie besteht in natürlichen Einheiten, nicht in metrischen wie in der Physik. Im Unterschied zur physikalischen Welt besteht „the world of ecological reality of meaningful things“. (Gibson 1986, 33)
Umweltdargebote für das Lebewesen
Die Ausstattung der irdischen Umwelt, deren Vielfalt hier nicht dargelegt werden kann, sorgt dafür, dass tierliche Lebewesen ihr Dasein unterhalten können. In diesem Sinn besteht eine „Komplementarität“ zwischen einem Tier und seiner Umwelt. Diese besteht – anders als Einheiten etwa in der Physik – in einer Vielfalt bedeutungsvoller Dinge: sie bietet etwa eine Wasserstelle oder einen Wohnplatz. (Gibson 1986, 33, 127) Gibson bezeichnet diese Dinge mit einem im englischen Sprachgebrauch bis dato nicht eingeführten Substantiv, das von dem Verb „to afford“ abgeleitet ist: „affordances“. (Gibson 1986, 127) Diese Wortschöpfung ist nach unserer Meinung adäquat mit „Dargebote“ ins Deutsche zu übersetzen. Ein Dargebot in der Umgebung eines Lebewesens, auch eines menschlichen, wie etwa eine Wasserstelle, muss von diesem wahrgenommen werden, um ein entsprechend bedeutungsvolles Agieren auszuführen. Insofern stellt ein Dargebot gleichermaßen ein „Faktum der Umwelt“ und ein „Faktum des Verhaltens des Lebewesens“ dar. In dem Begriff „affordance“ wird diese Komplementarität von Tier und Umwelt zum Ausdruck gebracht. (Gibson 1986, 127ff) Die unterschiedlichen Substanzen und Objekte der Umwelt haben vielerlei unterschiedliche Bedeutungen und stellen unterschiedliche Dargebote im Hinblick auf z. B. Nahrung oder Fertigung von Artefakten oder auch Kommunikation dar. Von Besonderheit unter den Dargeboten der Umwelt sind diejenigen, die der andere Mensch oder das andere Tier darstellt. Diese Lebewesen bewegen sich im Unterschied zu Pflanzen und leblosen Dingen aus eigenem Antrieb. „They move from place to place, changing the postures of their bodies, ingesting and emitting certain substances, and doing all this spontaneously.“ (Gibson 1986, 135) Sie verändern ihre Gestalt, um sie im Grunde dennoch zu behalten. Was ihre besondere Bedeutung für das jeweils andere Individuum ausmacht, ist, dass beide sich zueinander in wechselseitiger Rückbezüglichkeit verhalten, „in a kind of behavioral loop“: „behavior affords behavior“.(Gibson 1986, 42, 135) Gibson spricht auch von reziprokem Verhalten. Diese Verhaltensweise wird von Gibson als „social interaction“ bezeichnet. Sie hängt ab von der Wahrnehmung der „mutual affordances“, welche Individuen einander in vielerlei Hinsichten bieten. (Gibson 1986, 42, 128, 135) Gibson sieht in dieser wechselseitig-rückbezüglichen Interaktion der Individuen untereinander den „basic fact“ oder eigentlichen Gegenstand, mit dessen Ausarbeitung die Sozialwissenschaften einschließlich der Psychologie sich befassen sollten. „Behavior affords behavior, and the whole subject matter of psycology and of the social sciences can be thought of as an elaboration of this basic fact. Sexual behavior, nurturing behavior, fighting behavior, cooperative behavior, eonomic behavior, political behaviour – all depend on the perceiving of what another person or other persons afford.“ (Gibson 1986, 135) Der Begriff der mutual affordances verweist auf die gegenseitige umweltliche Abhängigkeit der menschlichen und anderer tierlicher Individuen voneinander, und der Begriff social interaction bringt zum Ausdruck, dass sich diese Abhängigkeit in aufeinander bezogenem individuellen Verhalten und Handeln realisiert. Dabei ist das sozial-interaktive Verhalten und Handeln als eine besondere Art des bedeutungsvollen umweltlichen Agierens zu verstehen.
Wahrnehmung der Umwelt, Wissen und Fiktion
Mit der Wahrnehmung der Umwelt haben die einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen so ihre Probleme, nicht zuletzt diejenigen Wissenschaften, die sich mit den Fragen der Wahrnehmung als solcher befassen. Sie laborieren an einer „Kluft“ zwischen den angenommenen diskreten Sinnesreizen bei einem Betrachter und den realen Dingen, Lebewesen und Ereignissen der wahrgenommenen Umwelt, in der dieser sich selber befindet. (Hofstätter 1958, 322ff) Diese Kluft verschwindet, sobald die Wahrnehmung nicht mehr als physikalisch-chemischer Vorgang angesehen wird, der durch irgendwelche geistigen Aktivitäten ergänzt werden muß. Die Theorie der visuellen Wahrnehmung, die Gibson konzipiert hat, entzieht sowohl der Kluft zwischen Theorie und gegenständlicher Realität im traditionellen Verständnis der Wahrnehmung als auch dem tradierten Dualismus von sinnlicher Rezeption und mentaler Ausdeutung den Boden. Deren umweltbezogener Ansatz befreit nicht allein die Theorie der visuellen Wahrnehmung aus den Fesseln abstrakter Begriffe, sie bietet darüber hinaus einen Fingerzeig, wie dem dualistischen Denkmuster einer herrschaftlichen Erhabenheit der Menschen über ihre Umwelt ein Ende bereitet werden kann. Gibsons Wahrnehmungstheorie belässt die Wahrnehmenden als lebendige Betrachter in ihrer Umwelt und reduziert deren Wahrnehmungsorgane nicht auf physikalische Agentien. Gibson unterscheidet zwischen Stimulusenergie und Stimulusinformation. Der Wahrnehmende ist, wie er sagt, sozusagen eingetaucht „in the sea of energy around us“, von der ein sehr kleiner Teil als Stimulation fungiert und Information über die Umwelt bereitstellt. Diese Informationen können direkt wahrgenommen werden. (Gibson 1986, 57, 62, 246, 250) Nach Gibsons Theorie, in der diese Informationsaufnahme als „pick up“ bezeichnet wird, ist Wahrnehmen ein kontinuierlicher Akt, der Bewusstsein von etwas involviert, statt bloßes Bewusstsein; sei es das Bewusstsein von etwas in der Umwelt außerhalb des Betrachters oder von etwas beim Betrachter oder bei beidem. Die kontinuierliche Wahrnehmungsaktivität impliziert ein „coperceiving of the self“ in der Umwelt. An den Dingen und Lebewesen wird das wahrgenommen, was sie darbieten, was sie bedeuten, etwa einen Sitzplatz und nicht eine Fläche oder eine Blüte und nicht eine Farbe, wie es das herkömmliche Vokabular will, das mit Begriffen wie Form, Farbe, Raum, Zeit, Bewegung aufwartet. Auch der Begriff der Information wird in seinem Bedeutungsgehalt neu gefasst. In der Theorie des pick up of information ist mit Information weder ein Effekt von Reiz- oder Stimulieinwirkungen auf ein passives Subjekt gemeint noch sind es die Sinnesempfindungen der energie-spezifisch operierenden Rezeptoren der Sinnesorgane. (Gibson 1986, 243) „In life one obtains stimulation in order to extract the information.“ Das „pick up“ von Informationen aus dem „flux of stimulation“ wird als Wahrnehmungsaktivität von Sinnesorganen gesehen, die sich nicht auf einen Sinn und zugehörigen Rezeptor beschränkt, sondern zu deren Aktivität der gesamte Körper des Wahrnehmenden beiträgt; und zwar auf je spezifische Weise, so „that the qualities of the world in relation to the needs of the observer are experienced directly“. (Gibson 1986, 246) Es wird angenommen, dass der Prozess des „pick up“ von einem „input-output loop“ des Wahrnehmungssystems begleitet ist oder dass, anders ausgedrückt, „automatic tests for reality [...] in the working of a perceptual system“ impliziert sind. (Gibson 1986, 250, 256) Der Theorie des pick up zufolge extrahiert der /die Wahrnehmende „the invariants of structure from the flux of stimulation while still noticing the flux“. (Gibson 1986, 247) Auf der Extraktion und Abstraktion von Invarianten, die die Umwelt spezifizieren und die Wahrnehmung von Persistenz und Wandel erlauben, beruht nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das Wissen über die Umwelt. „To perceive the environment and to conceive it are different in degree, but not in kind“, formuliert Gibson und präzisiert den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Wissen weiter mit den Worten: „knowing is an extension of perceiving“. (Gibson 1986, 258; kursiv i. O.) Sprache macht Wahrnehmung „erster Hand“ und Wissen „explicit“, das zuvor „tacit“ war. In Worte gefasst, wird Wissen kommunikabel und kann zu Wissen „at second hand“ werden. Es hat nun den Nachteil, nicht mehr den „automatic tests for reality“ wie die pick up-Information ausgesetzt zu sein. „What [...the original perceiver] presents may be fact or it may be fiction.“ (Gibson 1986, 260ff) Verbale Deskriptionen können in ihren Aussagen falsch oder richtig sein, bildliche Darstellungen auf gänzlich andere Art korrekt oder unkorrekt. (Gibson 1986, 261f) Nach Gibsons Theorie erbringen die Aktivitäten des „pick up of information“ der direkten Wahrnehmung der umweltlichen Dargebote der/dem darin einbegriffenen Wahrnehmenden ein „perceptual awareness“, das heißt, das Bewußtsein „of existing places, objects, persons, and animals of the environment, and of ongoing events“. (zit. n. Reed 1988, 299; kursiv i. O.) In dies Bewußtsein sind mentale Prozesse wie „memory, expectation, knowledge, and meaning“ eingeschlossen. (Gibson 1986, 255) Diese gedanklichen Prozesse des Wahrnehmungssystems werden „nonperceptual“ oder „noncognitive awareness“ genannt. (Gibson 1986, 256, 263) Gibson vermutet, dass diese in Operationen des Wahrnehmungssystems gründen, die von den Zwängen des „stimulus flux“, des kontinuierlichen Flusses der umweltlichen Stimuli, losgelöst sind. (Gibson 1986, 256) Er unterscheidet verschiedene Arten von Vorstellungen in dieser Gedankenwelt, so die eben schon genannten, und differenziert des weiteren zwischen Vorstellungen über Zustände und Ereignisse, „that could arise or be fabricated within what we call the limits of possibility“ und solchen, die dies nicht tun. Hierzu zählen auch „fictions, fantasies, dreams, and hallucinations“. (Gibson 1986, 255f, 263)
Manipulation der Umwelt und Artefakte
Die Umwelt, welche die menschlichen wie andere tierliche Lebewesen wahrnehmen, ist bedeutungsvoll, und die Lebewesen führen darin bedeutungs- bzw. absichtsvolle Aktivitäten aus. Dieses „meaningful action in the environment“ als grundlegenden Vorgang realen Daseins herausgestellt zu haben, ist ein Verdienst der Umwelttheorie Gibsons. (Reed 1988, 284) Diese Lebewesen gebrauchen unterschiedliche Dargebote, Substanzen, Objekte etc., um sich mittels ihrer zu ernähren oder sie als Unterkunft zu nutzen oder sich Geräte zu fertigen oder gar ein Schlafnest in Baumkronen zu bauen. Für die Menschen ist spezifisch, dass ihre Aktionen große Veränderungen an der Umwelt hervorgebracht haben. „Man“ hat sich, wie Gibson formuliert, als „the great manipulator“ vor anderen Tieren hervorgetan. (Gibson 1986, 29) Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass dabei eine „neue“ Umwelt geschaffen worden sei. Die artifiziellen Objekte sind aus natürlichen Dargeboten der verschiedensten Art gefertigt worden. (Gibson 1986, 130) Zum Begriff der Manipulation sei angemerkt, dass er im Vergleich mit dem üblicherweise verwendeten Begriff der Produktion sowohl auf die Aktivität der menschlichen Lebewesen als auch auf das umweltliche Dargebot verweist, womit der herkömmliche Gegensatz zwischen schöpferischem Akteur und „totem“ Stoff aufgehoben ist. Er hält die Abhängigkeit der Akteure von ihrer irdischen Umwelt im Bewusstsein. Die Wortbildung Manipulation zeigt an, dass bei den Veränderungen an der Umwelt den Händen eine große Bedeutung zukommt. Das handgefertigte Steinmesser ist ein frühes Beispiel hierfür. Es ist selbst ein Artefakt, ein einfaches technisches Gerät. Es dient der Hand als „tool“ oder Werkzeug, um weitere Manipulationen an anderen natürlichen Dargeboten vorzunehmen. Dieses Artefakt zählt zu der Mannigfaltigkeit von Manipulationsinstrumenten, die von Menschen bis heute hervorgebracht wurden und zu denen selbstverständlich auch sämtliche Arten maschineller Geräte gehören. Sie sind nicht als spezifische „von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns“ zu begreifen. (Marx 1998, 582, kursiv i. O.) Gibson zufolge ist ein „tool“ eine spezielle Art von detachierten Objekten, die, „when in use, [...] a sort of extension of the hand [...] or a part of the user‘s own body“ darstellen; wenn nicht in Gebrauch, sind sie ein Objekt der Umwelt. (Gibson 1986, 41) Nicht nur die menschliche Hand, auch die Sinnesorgane und das körperliche Sprechvermögen erfahren eine derartige Extension durch Artefakte: hier sind Mikroskope und Teleskope, Telefon und e-mail zu nennen. Schreibwerkzeug, mit dem die Hand schon in früher Zeit Zahl- und Schriftzeichen auf einer Oberfläche, einem „surface“, anbrachte, hat eine viel tausendjährige Geschichte. Gibson bezeichnet beschriftete und bebilderte Oberflächen in der Umwelt, die optische Informationen enthalten, als ein „very special class of artificial objects – or perhaps devices is a better term“. (Gibson 1986, 42) Bilder oder Abbildungen sind in gewisser Weise wie Auslagen in einem Schaufenster; d.h., auf einer Oberfläche, die für sich selbst besteht – etwa eine Felswand, eine Tontafel, ein Blatt Papier – bieten sie der Betrachterin, dem Betrachter etwas Anderes zur Schau. Diese sind gefordert, zwei unterschiedliche Wahrnehmungen zu machen, die der Oberfläche, auf der das Bild sich befindet, und die Oberfläche in dem Bild, z.B. einen abgebildeten Baum. Diese Oberfläche ist virtuell. „There is a direct perceiving of the picture surface along with an indirect awareness of virtual surface – a perceiving, knowledge, or imagining, as the case may be.“ (Gibson 1986, 283) Die Schrift- und Zahlzeichen als solche stellen bereits Artefakte dar, die sich grundlegend von den lautlichen Äußerungen der gesprochenen Sprache unterscheiden. Wir nennen sie symbolische Artefakte im Unterschied zu dinglichen. Das Schreibwerkzeug, das sie hervorbringt, ist heutzutage in hohem Maß technisiert. Zusammen mit den akustischen sind die optischen Informationsträger hochtechnische Werkzeuge zur Verbreitung von Wissen zweiter Hand unter Lesern, Zuhörern und Zuschauern. Als von Menschen gehandhabte Instrumente zur Manipulation an der Umwelt sind alle hier angesprochenen „tools“ mit dem Problem der Zerstörung der natürlichen Umwelt einschließlich ihrer menschlichen Insassen selber behaftet. In diesem Sinn formuliert Gibson: „We human animals have altered it to suit ourselves [...] so wastefully, thoughtlessly, and, if we do not mend our ways, fatally.“ (Gibson 1986, 130)
Mutualität und Gesellschaft
Zwischen einem tierlichen Lebewesen und seiner Umwelt besteht eine wechselseitige Verbundenheit. Wie oben unter Umweltdargebote für das Lebewesen näher ausgeführt, gilt dies auch für die Menschen als Teil der Umwelt, die sie nicht nur als Betrachter wahrnehmen, sondern in der sie selber, inmitten positiv wie negativ bedeutungsvoller Dargebote, gleichfalls auf bedeutungsvolle Weise in Aktion sind. (Reed 1988, 296) Hier sind die mutualen Dargebote der Menschen untereinander von besonderer Relevanz, in denen das spezifische wechselseitig-rückbezügliche Handeln und Verhalten gründet, das Gibson, wie wir sahen, „social interaction“ genannt hat. Menschen sind gesellige Lebewesen, die in unterschiedlich umfangreichen Gruppen zusammenleben. Die Gruppen bestehen aus Individuen in verschiedenem Lebensalter und unterschiedlichen Geschlechts, die sich zueinander auf sozial-interaktive Weise im oben beschriebenen Sinn verhalten. Die sozialen Interaktionen sind auf umweltliche Dargebote orientiert, die im Hinblick auf die Beschaffung der Mittel für den Lebensunterhalt, die Betreuung der nachwachsenden Generation, die Nutzung eines Gebiets als Habitat sowie die Wahrnehmung und Kommunikation von Informationen über die Umwelt bedeutungsvoll sind. Wir können an dieser Stelle festhalten, dass die „mutual affordances“ einen geselligen Zusammenhang zwischen menschlichen Individuen stiften, der in den sozialen umweltlichen Interaktionen von ihnen selber zur Geltung gebracht wird. Dieser interaktive umweltliche Zusammenhang von Menschen kann Gesellschaft genannt werden. Umweltliche soziale Interaktionszusammenhänge finden sich auch, in vielfältiger Variation, bei anderen tierlichen Spezies zu Wasser und zu Land. In diesem umfassenden Sinn hat der Begriff Gesellschaft einen, wenn auch sehr allgemeinen, so doch realen Bedeutungsgehalt.
Soziale Interaktionen und andere umweltliche Aktivitäten der Menschen können durch gewohnheitliche Austragung aggressiver Verhaltensweisen gekennzeichnet sein. Dies ist insbesondere bei gesellschaftlichen Gewohnheiten wie der Jagd auf andere tierliche, insbesondere große, Lebewesen oder der Domestikation der Fall. Menschen bilden spezifische Weisen kooperativer sozialer Interaktion aus, die ihnen unter Zuhilfenahme speziell gefertigter Werkzeuge ermöglichen, über Ko-Spezies in ihrer Umwelt zu dominieren und sie auf vielfältige Art auszubeuten. In solchen Verhaltensweisen äußert sich ein umweltliches Agieren, das gewalttätige und herrschaftliche Züge trägt. Das kollektive Jagen tritt deutlich in präzivilisatorischen jungpaläolithischen Gesellschaften zum Beispiel in Kantabrien hervor; in der neolithischen anatolischen Gesellschaft von Çatalhöyük verbindet es sich mit dem Zähmen einiger tierlicher Ko-Spezies. Hier können wir nicht ausführen, aber immerhin darauf hinweisen, dass nach dem Ende der letzten Eiszeit im Westen Eurasiens Gesellschaften entstanden und sich entwickelten, die zunehmend auf aggressive Gewalttätigkeit anstelle von gegenseitiger Einvernehmlichkeit sowie auf Fiktionalität anstelle von umweltlicher Realität in den Vorstellungen über die gesellschaftlichen Mensch-Umwelt-Interaktionen setzten.
In Gesellschaften, die in der Entwicklung des westeurasischen Zivilisationsprozesses in Erscheinung treten, breitet sich dieses gewaltsame Verhalten auf die sozialen Interaktionen der Individuen innerhalb und zwischen den Gesellschaften der menschlichen Spezies aus. Die mutualen umweltlichen und sozialen Interaktionen werden nun in jeglicher Hinsicht zunehmend von Gegensätzlichkeit geprägt, die sich in Ausbeutung, Unterdrückung und Beherrschung manifestiert. Es sind Gesellschaften von Menschen, die die Wahrnehmung ihrer Abhängigkeit von der natürlichen Umwelt in immer größerem Ausmaß einzubüßen scheinen und die vermeinen, diese mit immer aggressiveren Werkzeugen und anderen Artefakten manipulieren und ausnutzen zu können ̶ungeachtet der unwiderruflichen Zerstörungen, die sich mit ihnen verbinden. Diese Gegensätzlichkeit ist mit der Ausbildung eines anthropozentrischen ideokratischen Weltbildes verbunden, das sich auf Fiktionen und symbolische Artefakte stützt, die ansatzweise bereits in späten jungsteinzeitlichen Gesellschaften hervortraten.
Mit dem Begriff anthropozentrisch-ideokratisches Weltbild zielen wir auf immer deutlicher ausgeprägte Vorstellungen, in denen ein Streben von Menschen nach Domination über die natürliche Umwelt zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Bestreben, bezeugt durch archäologische Funde und durch Mythenliteratur, tritt in fiktiven Vorstellungen von einem maskulinen „Schöpfungsvermögen“ hervor – eine Idee, die wir als androkratische oder patriarchale Fiktion bezeichnen möchten. Zu den Emanationen dieser Idee gehören die Vorstellungen von überirdischen Wesenheiten, die sich u. a. mit dem Wort Gott verbinden und die nicht zufällig in menschlicher Gestalt und mit menschlichem Gebaren vorgestellt werden. Sie haben allerdings auch die den Menschen unzugänglichen Eigenschaften der Unsterblich- und Unsichtbarkeit. Auf diese patriarchalen Fiktionen und symbolischen Artefakte treffen wir in den agrarischen Stadtstaaten im Süden Mesopotamiens, wo ihre Herausbildung um die Wende vom 4. zum 3. Jahrtausend v.u.Z. in archäologischen Funden erstmals ins Auge fallen, darunter die wohl frühesten schriftsprachlichen Aufzeichnungen überhaupt. Als Beispiel für die patriarchalen Fiktionen sei hier auf den mesopotamischen Götterpatriarchen „An“ (wohl von dem Wort anu, der Himmel, abgeleitet) und seinen Sohn „Enki“ verwiesen. Dieser hat der Mythenschreibung des späten 3. und des beginnenden 2. Jahrtausends zufolge die Flüsse Euphrat und Tigris mit dem „fluid“ seines Penis zum fließenden Wasser verholfen. Die Entstehungsgeschichte dieser Fiktionen, die sicherlich nicht die Erfindung eines individuellen Kopfes sind, ist bis heute nicht geschrieben. An deren Stelle wird die Mythenschreibung umso andauernder fortgeführt. Zu den symbolischen Artefakten sei so viel gesagt, dass damit Schrift- und Zahlzeichen sowie ihre Materialisierungen in textlichen und kalkulatorischen Aufzeichnungen und in Messinstrumenten gemeint sind. Sie sind ebenso wie die patriarchalen Fiktionen unentbehrliche Hilfsmittel bei der in Mesopotamien in Gang gekommenen zivilisatorischen Manipulation der natürlichen Umwelt – in die, um dies zu wiederholen, die Menschen eingeschlossen sind. Wir können darauf an dieser Stelle nicht weiter eingehen, aber wir wollen jedenfalls die Vermutung äußern, dass im westeurasischen Prozess der Zivilisation, der in den südmesopotamischen Stadtlandschaften vor 5.000 Jahren begann und sich über das europäische Altertum und Mittelalter bis in die Neuzeit fortsetzte, Gesellschaften aufeinander gefolgt sind, in denen eine blindwütige technokratische Gewaltsamkeit die umweltliche Aktivität und sozialen Interaktionen prägen und eine wahnhaft-herrschaftliche Selbstwahrnehmung die umweltliche Abhängigkeit der Akteure auf den Kopf stellt. Was dabei in einigen Jahrtausenden zu Wege gebracht worden ist, ist eine unablässige Wiederkehr von Ausbeutung, Dienstbarmachung und (territorialer) Eroberung, begleitet von einer Kultur ideokratischer Fiktionen – dies alles in je spezifischem historischen Outfit.
Literatur
Gibson. James J., 1986, The Ecological Approach to Visual Perception, Hillsdale, London
Hofstätter, Peter R., 1958, Psychologie, Frankfurt/M.
Marx, Karl, 1998, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEGA II/1.2, 315-747
Reed, Edward S., 1988, James J. Gibson and the Psychology of Perception, New Haven, London