Für Annegret Tjaden-Steinhauer und Kay Tjaden
1. Gesellschaftstheoretischer Vorstoß: ein triperspektivisches Modell
Dass überhaupt wieder ernsthafte, gehalt- und anspruchsvolle Versuche unternommen werden, den Begriff der Gesellschaft unter den Bedingungen struktureller Modernisierung systematisch zu entfalten und theoretisch zu konzipieren, verdient schon an sich große Anerkennung. Wenn solche Versuche – wie der Uwe Schimanks mit seinem „Grundriss einer integrativen Theorie der modernen Gesellschaften“[1] – überdies in kritischer, Gesellschaft als Ganzes nicht nur intellektuell reproduzierender, sondern problembewusster diagnostischer Absicht erfolgen, dann sind sie erst recht zu begrüßen. Während der letzten zwei, drei Jahrzehnte waren ja selbst prominente, auf systematische Begründung Wert legende Gesellschaftstheorien in die Defensive geraten, wohingegen Konzepte, die auf einzelne Aspekte moderner Gesellschaften fokussierten, es teilweise zu einer geradezu spektakulären Publizität brachten, wie etwa die „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck oder die „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze zeigen. Die diesen und anderen Studien anhaftenden Defizite im Blick auf die Struktur moderner Gesellschaften möchte Schimank korrigieren, indem er ein triperspektivisches Modell vorschlägt, das alle konstitutiven Dimensionen moderner Gesellschaften systematisch zu berücksichtigen und ihren Zusammenhang angemessen zu reflektieren verspricht. Es beinhaltet eine differenzierungs-, eine ungleichheits- und eine kulturtheoretische Perspektive, denen wiederum ein anthropologischer, von Max Scheler und Arnold Gehlen inspirierter Handlungsbegriff unterlegt ist. Darin unterscheidet sich die systemtheoretische Orientierung Schimanks von der Niklas Luhmanns, der bekanntlich soziales Handeln durch die Kommunikation von Sinn ersetzte. Diesem Handlungsbegriff Schimanks wird hier nicht weiter nachgegangen, da er für das triperspektivische Modell selbst eher eine Prämisse als das zentrale inhaltliche Problem bildet. Statt dessen soll sich die Aufmerksamkeit im Folgenden auf die Frage richten, inwieweit der von Schimank konzipierte „Grundriss einer integrativen Gesellschaftstheorie“ und damit der mit ihm gelieferte Begründungs- und Vermittlungszusammenhang der drei genannten Theorieperspektiven inhaltlich zu überzeugen vermag.
Auch wenn man bereit ist, sich auf die drei Theorieperspektiven einzulassen, und das soll hier durchaus geschehen, ergeben sich bald einige Fragen, die entlang der von Schimank durchgeführten und jeweils mit einem markanten Leitsatz abgeschlossenen Arbeitsschritte diskutiert werden sollen.
2. Funktionale Differenzierung und „Leistungsproduktion“
Funktionaler Differenzierung wird von Schimank ein analytischer, nicht sachlicher Primat für das Verständnis moderner Gesellschaften zugeschrieben. Für Schimank heißt funktionale Differenzierung das, was moderne Gesellschaften vor anderen auszeichnet, nicht aber, dass funktionale Differenzierung für sie wichtiger sei als die ungleichheits- oder kulturtheoretische Perspektive (247). Aus funktionaler Differenzierung lasse sich erkennen, was die Einzelnen von der Gesellschaft erwarten und was sie selbst zur gesellschaftlichen „Leistungsproduktion“ beitragen, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen stattfindet. Im Begriff der ‚Leistungsproduktion‘ wird der Bezug zur handlungstheoretischen Fundierung systemtheoretischer Differenzierung sichtbar. In diesen Teilsystemen (der Wirtschaft, der Politik, des Rechts usw.) treten sich „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsempfänger“ gegenüber, aber auch Leistungsproduzenten/Leistungsempfänger eines oder mehrerer Teilsysteme können gegenüber anderen Teilsystemen „fremdreferentielle“[2] Ansprüche geltend machen. Mit der Betonung dieser Fremreferentialität will sich Schimank von der systemtheoretischen Konstruktion Luhmanns unterscheiden, die auf Selbstreferentialität und autopoietische Geschlossenheit der jeweiligen Teilsysteme aufbaut. Demgegenüber geht es Schimank wesentlich um die Integration der Teilsysteme zu dem, was moderne Gesellschaft konstituiert.
Hier stellt sich die Frage, ob die Begriffe „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsempfänger“ (oder „Leistungsabnehmer“) geeignet sind, das Handeln von Akteuren in Teilsystemen angemessen zu erfassen. Die Schwierigkeit dieser Begriffsbildung liegt nämlich vor allem darin, dass sie ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen (materieller und ideeller Natur) von Akteursgruppen subsumiert, also lediglich eine formale Kategorisierung liefert. Fasst man zum Beispiel die Gruppe der Unternehmer und die der „Arbeitnehmer“, also genauer der lohnabhängig Beschäftigten, zu einer gemeinsamen Kategorie von „Leistungsproduzenten“ im Teilsystem Wirtschaft zusammen, so stehen sich zumindest die lohnabhängig Beschäftigten paradoxerweise selbst als konsumierende „Leistungsempfänger“ gegenüber, während gleichzeitig ihre gegensätzliche Stellung zu den Unternehmern im (kapitalistischen) Arbeitsprozess ausgeblendet wird. Damit verdeckt aber das formale Verhältnis von „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsempfängern“, wie Schimank es aus systematischen Gründen beschreibt, die realen materialen Interessengegensätze zwischen beiden Gruppen innerhalb der Kategorie der „Leistungsproduzenten“; denn die Bedingungen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation beider Gruppen weisen strukturelle Unterschiede und Ungleichheiten auf, deren Relevanz sich auch in Bezug auf alle anderen Teilsysteme manifestiert. Was Unternehmer und Lohnabhängige vom Teilsystem Wirtschaft, aber auch anderen Teilsystemen an Lebenschancen und -perspektiven erwarten können, hängt von Ursachen ab, die ihrer teilsystemischen Funktion als „Leistungsproduzenten“ oder „Leistungsabnehmern“ vorausgesetzt sind, aber von Schimank nicht thematisiert werden. Diese Ursachen liegen in der aller Produktion und Konsumtion strukturell vorausgehenden ungleichen (privatwirtschaftlich-kapitalistischen) Verteilung der relevanten Produktionsmittel und anderer materieller Ressourcen (z.B. Geldvermögen), die auch weitgehend über den Zugang zu sonstigen materiellen wie ideellen bzw. symbolischen Ressourcen (Bourdieu würde bei Letzteren von „kulturellem Kapital“ sprechen) entscheiden. Die damit konstituierte, nicht auf graduelle Niveauunterschiede eingrenzbare, sondern vielmehr strukturelle und gleichzeitig antagonistische Ungleichheit im Zugang zu und in der Verfügung über gesellschaftliche Ressourcen materieller und ideell-symbolischer Art determiniert alle Teilsysteme und die Beziehungen zwischen ihren „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsabnehmern“. So wie Schimank die Frage der Integration der Teilsystem über die „Publikumsrollen“ von Leistungsproduzenten und -abnehmern angeht, ruft er aber unvermeidlich den Eindruck einer lediglich formalen, von den materialen Bedürfnissen und Interessen der Akteure abgelösten kategorialen Zuschreibung hervor.
Das steht nun in einem eigentümlichen Kontrast zu der von ihm selbst hervorgehobenen Bedeutung der Ungleichheitsperspektive auf moderne Gesellschaft. Er erkennt nämlich Ungleichheit ausdrücklich als wesentliches Merkmal moderner Gesellschaft an. Da er aber in seiner schrittweisen Begründung gesellschaftlicher Integration – Letztere wird nicht als soziale oder normative Einbindung, sondern systemtheoretisch funktional gedacht – die kulturtheoretische Thematik (in einem gewissen Widerspruch zu der von ihm zunächst selbst genannten Abfolge) an die der funktionalen Differenzierung anschließt, soll hier zunächst schon einmal auf die kulturtheoretische Perspektive eingegangen werden.
3. Teilsysteme als „Wertsphären“ und Fortschrittsidee
Dass die differenzierungs- und die kulturtheoretische Perspektive in einem zweiten Arbeitsschritt zusammengebracht werden, erklärt Schimank mit der Qualifizierung aller Teilsysteme als kulturell konstituierte „Wertsphären“ (248). Er denkt dabei an teilsystemisch spezifizierte Selbstreferentialität, die sich ausschließlich der Steigerung des jeweiligen „Eigenwerts“ eines Teilsystems verpflichtet sieht, und die sich, wie er auf Max Weber verweisend schreibt, von den Handlungskriterien anderer Teilsysteme abhebt wie etwa unablässiges Gewinnstreben – „Effektivität“ – als teilsystemischer Wert der Wirtschaft vom Kriterium der „Effizienz“ spezifischer organisationaler Tätigkeiten für den Bestand der Gesamtorganisation. Etwas missverständlich unterscheidet Schimank also zwischen „Effizienz“ und „Effektivität“, obwohl beide Begriffe semantisch nahe bei einander liegen und deshalb einer genaueren Charakterisierung bedürfen. „Effizienz“ meint bei Schimank wohl eine Output-Maximierung arbeitsteiliger Organisationen, etwa in Industriebetrieben, während sich „Effektivität“ auf die sinnhaft-symbolische Steigerung der den Teilsystemen immanenten spezifischen „Werte“ und damit gleichzeitig auf die damit verbundene Zurückweisung fremdreferentieller Zumutungen bezieht. Einfacher gesagt: in der Kunst z.B. geht es ausschließlich um die Steigerung, also Vervollkommnung ästhetischer Prinzipien und Werte, wie es sich in der Stilrichtung des „l’art pour l’art“ programmatisch manifestierte, nicht um optimale Verkäuflichkeit von Bildern oder um das Verfassen von der herrschenden Politik gefälligen Romanen.
Abweichend von seiner eigentlichen Absicht einer systematischen Begründung versucht Schimank den Stellenwert der kulturtheoretischen Perspektive anhand der Fortschrittsidee konkret zu exemplifizieren, ohne jedoch vorher die konstitutive Bedeutung von Kultur für moderne Gesellschaften allgemein bestimmt zu haben. Damit wechselt er methodisch gleichsam das Register, insofern sich die bisherigen Ausführungen auf einer systematisch-theoretischen Ebene bewegten. Darauf wird zurück zu kommen sein.
Den gemeinsamen Nenner für die wertbezogene Effektivitätssteigerung in den einzelnen Teilsystemen sieht Schimank also in der „Fortschrittsidee“ (249), auch wenn deren Lesarten kontrovers ausfallen mögen. Dabei erweist sich funktionale Differenzierung als Feld von Deutungskämpfen, indem die jeweiligen „Leistungsproduzenten“ (manchmal auch gemeinsam mit den „Leistungsempfängern“) die von ihnen bevorzugte Idee von Fortschritt auch in anderen Teilsystemen durchsetzen wollen. Das geschieht beispielsweise dann, wenn die „Leistungsproduzenten“ des Teilsystems Politik, also die politische Klasse, auch den Leitwert des Wissenschaftssystems „gute Wissenschaft“ zu definieren beanspruchen.
Was gewinnt Schimank mit seiner Sichtweise der Fortschrittsidee? Ihr Verhältnis zu den teilsystemischen Leitwerten bleibt unklar, aber auch das Verhältnis letzterer zueinander. Will Schimank sagen, dass funktionale Differenzierung der Teilsysteme nur dann möglich ist, wenn deren jeweilige Leitwerte nicht durch Fremdreferentialität deformiert werden? Wie aber vertrüge sich das wiederum mit seiner Vorstellung, dass teilsystemische Leitwerte einem ‚Verdinglichungsprozess‘ (250) unterworfen sind, der ihre Verfestigung zu selbstreferentieller Geschlossenheit vorantreiben und damit funktionale Differenzierung beeinträchtigen könnte? Oder will er zeigen, dass Modernisierung – anders als Luhmann glaubte – eine Hybridisierung von Werten erfordert? Oder legt er vielmehr eine Umcodierung von Werten innerhalb der Teilsysteme nahe, etwa beispielsweise so, dass ein Übergreifen ökonomischer Wertimperative auf die private Lebensführung abgewehrt wird, indem Selbstbeschränkung und Verzicht an die Stelle bedenkenloser Konsumorientierung treten? Während Luhmann die selbstreferentielle Geschlossenheit teilsystemischer Codes in den Vordergrund stellte, um die Alternativlosigkeit funktionaler Differenzierung als conditio sine qua non von Modernisierung zu sichern, denkt Schimank offenbar an eine verhandlungstheoretisch basierte Auseinandersetzung um die Angemessenheit teilsystemischer wie gesamtgesellschaftlicher Leitwerte. Die Hegemonie eines einzigen Leitwerts hält er für problematisch.
Erstens bleibt inhaltlich unbestimmt, was „Fortschritt“ meint; denn Schimank liefert eine ziemlich abstrakte Kennzeichnung, wenn er die „Fortschrittsidee“ mit der allgemeinen Vorstellung von Steigerung und Wachstum (oder deren Infragestellung) konnotiert. Strukturen, Prozesse, Handlungen usw. können so unterschiedliche inhaltliche Bestimmungen aufweisen, dass sich auch mit Hilfe von Parametern wie ‚Wachstum‘ und ‚Steigerung‘ kein sinnvoller Bezug mehr zwischen diesen Bestimmungen und ‚Fortschritt‘ herstellen lässt, selbst wenn man ‚Fortschritt‘ mit gegensätzlichen Bedeutungen versehen würde. Es gibt Phänomene, die man mit Wachstum beschreiben kann, ohne dass sie in irgendeinem Zusammenhang mit ‚Fortschritt‘ stehen, und es gibt Phänomene, die man mit Fortschritt in Verbindung bringen kann, ohne dass sie irgendetwas mit ‚Wachstum‘ zu tun haben.
Zweitens bedarf die Frage, ob die Deutungskämpfe um Fortschritt eine „die Ordnung funktionaler Differenzierung“ untergrabende „Steigerungsdynamik“ entfesseln, einer materialen Analyse, die sich nicht mehr auf die kulturtheoretische Ebene beschränken lässt. Verzichtet man darauf, tendiert die Analyse zu der wegen ihrer Abstraktheit notwendig widersprüchlichen These, dass es einerseits für einen Schutz vor „Zerbrechlichkeit der Moderne“ (251) und eine erfolgreiche Kontrolle ihrer „Selbstgefährdungspotentiale“ keine absolute Garantie gebe, andererseits aber von „unaufhörlichen“, wenn auch „kollidierenden“ Steigerungsdynamiken (251) auszugehen sei, was ja wiederum gerade auf eine dauerhafte, systemkonforme „Immer-so-weiter“-Differenzierung und damit das Gegenteil von „Zerbrechlichkeit“ und „Selbstgefährdung“ hinausläuft. Wenn aber Leitwerte, seien sie gesamtgesellschaftlicher oder teilsystemischer Natur, mit darüber entscheiden, ob moderne Gesellschaften anpassungs- und bestandsfähig bleiben oder scheitern müssen, dann darf man vom Entwurf einer Gesellschaftstheorie erwarten, dass er außerdem Auskunft darüber gibt, welche Voraussetzungen Akteure brauchen, um Leitideen und -werte so zu gestalten, damit sie den Erfordernissen von Vergesellschaftung nicht nur kulturell Rechnung tragen können. Um diese Voraussetzungen gesellschaftlich ermitteln zu können, wäre es durchaus gerechtfertigt, zumindest in diesem Punkt auch auf die von Schimank offensichtlich für obsolet gehaltene „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas zurückzugreifen.
Im nächsten (dritten) Arbeitschritt seines Theorieprogramms kommt Schimank auf einen Aspekt zu sprechen, der zwar mit der Skizzierung der Ungleichheitsperspektive (243/244) schon berührt, aber noch nicht explizit gemacht wurde: Es geht um nichts Geringeres als Kapitalismus und dessen Stellenwert in Schimanks triperspektivischem Modell.
4. Kapitalismus und Staat
Kapitalismus ist für Schimank ein besonderes Charakteristikum funktionaler Differenzierung, das zwar nicht, wie er dem Marxismus etwas salopp unterstellt, als seiner sachlichen Relevanz nach den drei Teilperspektiven deterministisch übergeordnet sei, aber doch hervorgehoben zu werden verlange.
Trotz der betonten Abgrenzung von einem marxistischen Verständnis des Kapitalismus enthält seine Skizze gewichtige Gesichtspunkte, die zu marxistischen Analysen Parallelen aufweisen. Das gilt sowohl für die geschichtliche Ausdifferenzierung eines kapitalistischen Systems des Wirtschaftens als auch die Kennzeichnung des – man müsste hinzufügen: privaten – Gewinnstrebens als gebieterischem Leitwert dieses Teilsystems. (Ob, wie in der „Trinitarischen Formel“ der Klassischen Nationalökonomie, auch Kapital als Produktionsfaktor zu gelten hat, ist eine diskutable Ansicht Schimanks, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.)
Auch was Schimank über den Zusammenhang zwischen Markt, dessen Regulierungsdefiziten und den Ursachen zyklischer Krisen schreibt, enthält mit marxistischen und anderen gesellschaftskritischen Auffassungen übereinstimmende Momente. Schimanks funktionalistische Erklärung, warum gerade die kapitalistische Wirtschaft eine „relationale gesamtgesellschaftliche Dominanz“ über die anderen Teilsysteme erlangen kann, bedarf aber einer kritischen Erwägung; denn Schimank leitet diese Dominanz aus dem Phänomen des Geldes als allgemeinem Medium der gesellschaftlichen Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ab. Schimank verselbständigt die Funktion des Geldes in der kapitalistischen Ökonomie. Er übersieht, dass die kapitalistische Funktion des Geldes – und zwar als Zirkulationsmittel und als Ware – die Tatsache materieller Produktion historisch und systematisch voraussetzt. Und materielle Produktion impliziert wiederum immer, wie Marx es ausdrückte, den – gesellschaftlich organisierten – „Stoffwechsel“ zwischen Mensch und außermenschlicher Natur, weil der Mensch selbst ein Naturwesen ist und sich deshalb deren Stoffe und Energien für die eigene Reproduktion aneignen muss.[3] Der Primat kapitalistischer Ökonomie in der modernen Gesellschaften ergibt sich also erstens nicht aus dem Phänomen Geld, sondern daraus, dass es dem Kapitalismus gelungen ist, dem materiellen Reproduktionsprozess seine spezifische, auf profitable Verwertung von Natur und menschlicher Arbeitskraft fixierte gesellschaftliche Form aufzuzwingen. Er ergibt sich zweitens daraus, dass das spezifische (private) Eigentum an Produktionsmitteln und die daraus resultierende Verfügungsgewalt über ihre Verwendung auch die Rolle des Geldes in der Gesellschaft determinieren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich in den gegenwärtigen Spielarten moderner Gesellschaft die Proportionen zwischen so genannter „Realwirtschaft“ und dem Finanzsektor erheblich verschieben und das Gewicht so genannter „immaterieller Arbeit“ (Hardt/Negri)[4] verglichen mit unmittelbar herstellender Arbeit zunimmt, der Reproduktionsprozess sich also scheinbar von seinen materiellen Voraussetzungen und Wirkungen stofflicher, energetischer und biotischer Art ablöst.
Geht man von einem Primat materieller, die Mensch-Umwelt-Beziehungen einschließenden Reproduktion moderner Gesellschaft aus, dann folgt daraus, dass kapitalistisches Wirtschaften, abweichend von Schimanks These, nicht wegen des Geldes, sondern wegen seiner materiellen Basisfunktion als die allen anderen Teilsystemen zugrunde liegende und sie tendenziell durchdringende Vergesellschaftungsbewegung betrachtet werden muss. Was Letzteres betrifft, berühren sich Schimanks Argumentation und die hier zunächst gegen ihn vorgetragenen Einwände dann wieder an dem Punkt, wo Schimank nachdrücklich den enormen „Ökonomisierungsdruck“ betont, den „unternehmerisches Gewinnstreben (253) auf alle anderen gesellschaftlichen Lebensbereiche ausübt. Zwar wäre es dabei interessant, wenn Schimank seine Aussage, dass „allein die wirtschaftliche Leistungsproduktion ... mehr Geld (verdient) als sie kostet“ (253), näher begründet und erklärt hätte, wie dieses „Mehr“ entsteht, aber seine Dominanzthese wird durch diese Auslassung nicht entwertet, bringt er doch einige Überlegungen ein, die diese These durchaus erhärten.
Zu Recht grenzt er sich gegen jene Tendenz im gesellschaftstheoretischen Diskurs ab, die eine Dominanz eines Teilssystems überhaupt in Frage stellt, wobei er allerdings überraschender Weise auch Max Weber zu den Repräsentanten dieser Tendenz rechnet, obwohl Weber selbst den Kapitalismus als „die schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“[5] betrachtet hat. Dass Schimank weiterhin die Hypothese zurückweist, auch andere Teilsysteme als die (kapitalistische) Wirtschaft könnten Dominanz erlangen, ist, folgt man seiner bisherigen Argumentation, nur folgerichtig. Weniger plausibel erscheint dagegen seine Behauptung eines „funktionalen Antagonismus“ der kapitalistischen Wirtschaft auf der einen, deren „gesellschaftliche Dysfunktionalitäten ausgleichenden wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen auf der anderen Seite“ (254). Das ruft den Eindruck hervor, als ob kapitalistische Wirtschaft und Staat antagonistische Teilsysteme seien, der Staat sich also an privatem Gewinnstreben entgegengesetzten Leitwerten und Zielen orientiere. Aber in auf kapitalistischer Produktionsweise basierenden modernen Gesellschaften nimmt der Staat im Interesse vor allem der großen produktions- und marktbeherrschenden Einzelkapitale Aufgaben wahr, die deren ökonomische Potenz (unter gegebenen Bedingungen der Produktivität, des technologischen Niveaus, der Infrastruktur usw.) übersteigen und ihre Kapitalrentabilität substantiell beeinträchtigen würden.[6] Zu diesen Aufgaben gehört die Finanzierung allgemeiner Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion (einschließlich ihrer politischen, rechtlichen und militärischen Institutionen). Da aber der Staat und das Politische eine öffentliche Angelegenheit sind, kann es unter der Voraussetzung einigermaßen pluralistischer politischer Willensbildung denjenigen sozialen Gruppen, die in einem Interessengegensatz zur kapitalistischen Wirtschaft und ihrem Gewinnprinzip stehen, zumindest teilweise gelingen, ihre Bedarfe in das staatliche Handeln einzubringen und als System von Sozialleistungen und/oder durch staatliche Investitionen in Bildung, Umwelt, Verkehr usw. geltend zu machen. Die Differenzierung zwischen ausschließlich kapitalismuskonformen Funktionen einerseits und auch kollektive Bedürfnisse abdeckende sozialstaatlichen Funktionen innerhalb des Staates andererseits ist wichtig, um der Illusion zu entgehen, als stünden sich, wie Schimank offensichtlich meint, kapitalistische Wirtschaft und staatlich-politisches Teilsystem „antagonistisch“ bzw. „asymmetrisch“ (254), also auch „fremdreferentiell“ gegenüber. Außerdem sollte Schimank nicht allzu sehr darauf vertrauen, dass der Sozialstaat gleichsam automatisch die von „wirtschaftliche(n) Imperative(n)“ ausgelösten Exzesse immer rechtzeitig und erfolgreich präventiv unterbinden könne. Auch einem relativ leistungsfähigen Sozialstaat ist keine Garantie für dauerhafte Krisenbewältigung eingebaut, wie dessen wechselhafte Geschichte demonstriert. Wenn man wie Schimank glaubt, dass vom marxistischen Standpunkt aus dem Kapitalismus gestellte „zwingende Untergangsprognosen“ (255) nicht gerechtfertigt seien, so sollte man aber auch nicht ohne weiteres der gegenteiligen Annahme Glauben schenken, dass der Sozialstaat gleichsam von selbst immer wieder katastrophalen Entwicklungen des Kapitalismus erfolgreich gegensteuern werde. Die Hoffnung, dass der „funktionale Antagonismus“ zwischen kapitalistischem Ökonomisierungsdruck einerseits und „Wohlfahrtsstaat“ andererseits auf Dauer gestellt werden kann, ohne jemals in einem gesellschaftlichen Zusammenbruch zu enden, kann nur hegen, wer sich nicht konsequent von der Grundtendenz der Systemtheorie, der „prästabilierten Harmonie“ der Teilsysteme, löst.[7]
Indem Schimank funktionale Differenzierung an Kapitalismus bindet, wirft sein Ansatz weitere Probleme auf. Aus seiner Argumentation folgt nämlich erstens der Schluss, dass es innerhalb der Moderne keine nicht-kapitalistischen Gesellschaften geben kann. War also die DDR von 1985 eine funktional nicht ausdifferenzierte, vormoderne Gesellschaft, weil sie auf einem ökonomischen System ohne Kapitalverwertung beruhte? Und scheiterte die DDR zwangsläufig deshalb oder nicht vielmehr vor allem (wenn auch nicht nur), weil ihre konkreten Ausgangs- und Existenzbedingungen[8] extrem ungünstig waren? Zweitens drängt sich bei Schimanks Koppelung von funktionaler Differenzierung und Kapitalismus der Eindruck auf, dass es dazu in modernen Gesellschaften keine Alternative gibt. Zwar sieht er ja, wie schon erwähnt, die destruktiven Konsequenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise sehr genau und ist alles andere als ihr Apologet, aber er schließt offensichtlich die Möglichkeit aus, sie transzendieren zu können. Für ihn scheinen dabei nicht nur historische Tatsachen, sondern auch die aktuelle Erfahrung zu sprechen, dass es trotz der verheerenden Krisenanfälligkeit des globalen „finanzmarktgetriebenen“ Kapitalismus offensichtlich nicht gelingt, dessen ungeheure Macht zu brechen und durch eine andere ökonomische Logik zu ersetzen. Gegen Schimank spricht aber, dass, solange sich überhaupt Geschichte menschlicher Vergesellschaftung ereignet, immer auch etwas Anderes möglich war und bleibt.
5. Ungleichheitsperspektive
In einer dritten Perspektive befasst sich Schimank mit der Bedeutung sozialer Ungleichheit, die aus der funktional differenzierten Gesellschaft hervorgeht und ihre Dynamik wesentlich antreibt.
Kapitalismus, daran lässt Schimank keinen Zweifel, stellt die „zentrale Determinante“ (257) sozialer Ungleichheit dar und entscheidet über den Zugang zu oder den Ausschluss von teilsystemischen „Leistungsproduktionen“. Dabei erweist sich das arbeitsmarktvermittelte Einkommen der „Arbeitsnehmer“ als ausschlaggebende Ungleichheitsdimension (255). Fragt man danach, was Schimanks Einlassungen zu sozialer Ungleichheit für sein Verständnis differenzierter moderner Gesellschaften leisten, dann kristallisieren sich zwei Gesichtspunkte heraus.
Erstens kommt die Dynamik sozialer Kämpfe, so Schimank, nicht primär in einem – vom Marxismus postulierten – Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit zum Ausdruck, sondern vor allem in vielfältigen Konflikten und Konkurrenzbeziehungen zwischen Gruppen der Gesamtheit der Lohnabhängigen. „Klassenkampf“ findet also nicht zwischen einer Minorität großkapitalistischer Eigentümer und der Masse der von ihnen abhängig Beschäftigten, sondern innerhalb der Klasse der letzteren statt, wie Schimank unter Anspielung auf den Terminus eines umverteilenden „Sozialismus in einer Klasse“ (Fritz W. Scharpf)[9] schreibt.
Dass innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen (besser innerhalb ihrer und zwischen ihren einzelnen Schichten) trotz der grundlegenden Gemeinsamkeit der Lohnarbeit Konkurrenz herrschen kann, ist weder neu noch steht dieser Befund im Widerspruch zu marxistischen Auffassungen, wie Schimank ja vermutet. Ganz im Gegenteil. Marx und Engels selbst begründeten das damit, dass sich die Lohnabhängigen als Verkäufer ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt in individueller Konkurrenz gegenübertreten. Dieses Konkurrenzverhältnis könne, so Marx und Engels, erst durch bewusste kollektive (gewerkschaftliche und politische) Organisation aufgehoben werden.[10] Bei der Konkurrenz der ArbeiterInnen unter einander handelte es sich, wie die Geschichte gewerkschaftlicher Kämpfe schon früh zeigte, nicht nur um ein theoretisches, sondern eminent praktisches Problem. Das spiegelte sich zum Beispiel in Konflikten wider, die von Spannungen zwischen traditionellen handwerklichen Berufsgewerkschaften zum einen und den industriellen Massenarbeitern des „New Unionism“ in England während der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zum anderen über die Beschäftigung von Frauen, Auseinandersetzungen um die so genannte „Arbeiteraristokratie“ und Privilegien der Angestellten („Stehkragenproletariat“) gegenüber den ArbeiterInnen bis zur „exklusiven Solidarität“ (Klaus Dörre) von Stammbelegschaften gegenüber ZeitarbeiterInnen in deutschen Industrieunternehmen der Gegenwart reichen.
Zweitens geht es um die durch soziale Ungleichheit hervorgerufenen Unterschiede der Teilhabe sozialer Gruppen an den „Leistungsproduktionen“ der diversen Teilsysteme (257). Entsprechend seiner differenzierungstheoretischen Prämissen verortet Schimank die dabei auftretenden Konflikte in Gegenätzen zwischen „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsabnehmern“, so etwa zwischen Schulen/Lehrern einerseits und Schülern/Eltern andererseits oder zwischen Krankenhäusern und Patienten (257). Aber Schimank legt hier den Akzent nicht auf die strukturellen, durch kapitalistische Ökonomisierungs- und Privatisierungszwänge innerhalb der Teilsysteme generierten Gegensätze, also zum Beispiel auf die Gegensätze zwischen Rentabilitätsstrategien der privatisierten Kliniken und Patienten, sondern verlagert sie auf Konflikte zwischen besser und schlechter gestellten Gruppen innerhalb der Kategorie der „Leistungsempfänger“, obwohl auch diese Konflikte letztlich auf eine kapitalistisch determinierte Ungleichheit der individuellen oder gruppenspezifischen Reproduktionsbedingungen zurückzuführen sind. Nur indem Schimank auf Konflikte zwischen „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsempfängern“ fokussiert, kann er die These aufrecht erhalten, dass die einzelnen Teilsysteme auch dann, wenn sie unter Ökonomisierungsdruck geraten, ihre funktionale Autonomie behaupten können, die ihrerseits einen „Gegenmechanismus“ (257) zum kapitalistischen Ökonomisierungsdruck in Gang setzt. Aber, so wäre zu erwidern, was in den Teilsystemen geschieht, welche Konflikte und Kämpfe dort entstehen und welche Koalitionen zwischen Akteuren dort zustande kommen, muss selbst schon als integrales Moment des Widerspruchs zwischen der alle Teilsysteme erfassenden kapitalistischen Vergesellschaftungslogik einerseits und den von ihr jeweils teilsystemisch Betroffenen andererseits verstanden werden. Bei der Auseinandersetzung um eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung von öffentlichen Schulen geht es um eine sekundäre Verteilung des gesellschaftlichen Wertprodukts und zwar des Teils, über den der Staat mittels seiner Steuereinnahmen verfügt. Hinsichtlich dieser Steuermittel werden kapitalistische Unternehmen sowie ihre politischen und institutionellen Akteure versuchen, die Ausgaben für öffentliche Angelegenheiten möglichst gering zu halten. Der eigentliche Gegner von Schülern und Eltern sind also nicht die „Leistungsproduzenten“ des Schulsystems, nämlich Schulleitungen und Lehrpersonal, sondern der den Kapitalismus politisch gewährleistende Staat. Ihm können allerdings unter zumindest partiell demokratischen Bedingungen mehr oder weniger große Zugeständnisse abgerungen werden. Deshalb ist gegen den Befund Schimanks, dass „Schlechtergestellte“ in Kämpfen um soziale Inklusion (etwa um mehr „Chancengleichheit“ im Bildungssystem) Erfolge erzielen können, nichts einzuwenden. Solche Erfolge wäre dann aber nicht das Ergebnis von Konflikten zwischen teilsystemischen „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsabnehmern“, sondern des sich im Teilsystem Bildung reproduzierenden Antagonismus zwischen unablässig zu maximierender Kapitalverwertung zum einen und kollektiven Bedürfnissen nach besseren Lebenschancen größerer Gesellschaftsgruppen zum anderen.
6. Kulturtheoretische Perspektive: Noch einmal das Fortschrittsproblem
An der Einführung der dritten Theorieperspektive, also der kulturtheoretischen, von der Schimank ja teilweise schon vorwegnehmend gesprochen hatte, fällt auf, dass nur sehr knapp angedeutet wird, warum der Dimension des Kulturellen eine für moderne Gesellschaften konstitutive Funktion zugemessen wird. Schimank leitet sie lediglich aus der Feststellung ab, dass „die moderne Gesellschaft als Ordnung hochgradig generalisierter, gesellschaftsweit geltender evaluativer, normativer und kognitiver Orientierungen sowie dazu gehöriger Praktiken“ (244) zu betrachten ist. Eine weiterreichende systematische Bestimmung von Kultur, die auch deren qualitativen Unterschied zu vormodernen Gesellschaften zu begründen hätte, vermisst man ebenso wie eine Erklärung des Kulturellen für die Ausdifferenzierung der Teilsysteme und ihrer Interdependenz. Wie könnte die Erklärung für den konstitutiven systemischen Stellenwert der kulturellen Dimension für moderne Gesellschaften aussehen? In einer ersten Annährung lässt sich darauf Folgendes antworten: Differenzierung, Arbeitsteiligkeit, Vernetzung und wechselseitige Abhängigkeiten materialer technischer, ökonomischer, sozialer, politischer und kognitiver Prozesse haben in modernen Gesellschaften ein diese von vormodernen Gesellschaften qualitativ unterscheidendes Niveau erreicht, das einer alle Teilsysteme erfassenden, auf Dauer gestellten, Sinn erzeugenden Be- und Verarbeitung bedarf, ohne die gesellschaftliche Integration weder funktional noch sozial oder normativ möglich ist. Unter den Bedingungen kapitalistischer und patriarchaler Herrschaft, den beiden Hauptelementen gesellschaftlicher Herrschaft in modernen (westlichen) Gesellschaften, nimmt die strukturelle Relevanz des Kulturellen Formen symbolischer Gewalt an, die sich wiederum in teilsystemische Codes ausdifferenzieren. Inwieweit diese Codes Gesellschaftlichkeit in den unterschiedlichen Lebensbereichen beeinträchtigen, wem sie nützen und wem sie schaden, bedarf der empirischen Analyse. Sie hätte sowohl die Funktion der Codes in den einzelnen Teilsystemen als auch deren interdependente Anschlussfähigkeit zu untersuchen.
Statt der systematischen Funktion des Kulturellen weiter nachzugehen, widmet sich Schimank aber ziemlich unvermittelt der Frage, welcher konkrete kulturelle „Leitwert“ die Ordnung moderner Gesellschaft dominiert, und entdeckt ihn, wie schon erwähnt, in der „Fortschrittsidee“ (244). Dass sie nicht konsensual interpretiert werde, sondern umkämpft sei, ändere nichts an ihrer für jegliches Handeln sozialer Akteure hegemonialen Legitimationsfunktion. Schon diese These wirft Fragen auf. Kann man nicht statt „Fortschritt“ mit demselben Recht zum Beispiel von „Rationalität“ oder „Freiheit/Autonomie“ als wie immer umstrittenen Leitideen der Moderne sprechen? Ist der Fortschrittsbegriff nicht viel zu diffus, um die ihm von Schimank zugedachte Erklärungsfunktion erfüllen zu können? Und haftet ihm nicht eine gewisse Beliebigkeit in der Kombination mit anderen Leitwerten an? Und wie lässt sich die Entscheidung für Fortschritt als zentrale Leitidee empirisch-historisch rechtfertigen?[11]
Zweifellos hat „Fortschritt“ für das Selbstverständnis sozialer Akteure in der Geschichte moderner Gesellschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, was durch kontroverse Begriffskonnotationen – darin ist Schimank durchaus zuzustimmen – nicht widerlegt, sondern bestätigt wird.
In der klassischen Soziologie avancierte Fortschritt bei Comte, Spencer, Marx und Durkheim zu einer trotz ganz konträrer Interpretationen richtungweisenden positiven Idee, ehe sie später im Kontext sowohl konservativer als auch gesellschaftskritischer Diskurse grundsätzlichen Zweifeln begegnete, für die einerseits unter anderen Oswald Spengler, Ludwig Klages und Martin Heidegger, andererseits Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin und Herbert Marcuse stehen. Einen Aufschwung erfuhr die Fortschrittsidee dann erneut mit der Entwicklung der westlichen und östlichen Industriegesellschaft nach dem 2. Weltkrieg. Im Westen fungierte die Formel „technischer Fortschritt = sozialer Fortschritt“ eine Zeit lang als das die Gesellschaftspolitik wesentlich beeinflussende Konstrukt, bevor sich dann etwas später dessen Schattenseiten nicht mehr verbergen ließen („Grenzen des Wachstums“, Risiken der Kernenergie u.a). Dennoch lassen sich weder die Idee des Fortschritts noch die des Wachstums als einzige hegemoniale Leitidee moderner Gesellschaften identifizieren. Gerade heute lässt sich beobachten, dass beide Ideen in der Semantik öffentlicher Diskurse kaum noch eine prominente Rolle spielen und andere leitwertfähige Topoi in den Vordergrund treten (vgl. Boltanski/Chiapello)[12], obwohl Kapitalismus und Ungleichheit fortbestehen.
Das Fortschrittsthema nimmt in Schimanks gesellschaftstheoretischem Entwurf einen auffallend breiten Raum ein. Er stellt es in den engen Zusammenhang mit dem Gedanken, dass der Fortschrittsidee eine schier grenzenlose „Steigerungslogik“ (258) innewohne, bezieht diese Logik aber nicht nur auf kapitalistisches Wachstum und Profitmaximierung, sondern ebenso auf die vermeintliche Tendenz einer potentiell unbegrenzten Anhebung eines garantierten Grundeinkommens, des Rechts auf Arbeit, des Mindestlohns und der Mitbestimmung, ja auf das Postulat sozialer Gleichheit überhaupt (259). Abgesehen davon, dass sich eigentlich alle gesellschaftlichen Phänomene und Werte irgendwie mit Forschritt assoziieren lassen und der Fortschrittsbegriff damit seine analytische Trennschärfe einbüßt, muss man zwischen begrenzten Verbesserungen, die auf bestimmte Gruppen zielen (wie der gesetzliche Mindestlohn), und der exzessiver Reichtumsakkumulation ökonomisch quasi-feudal herrschender Minoritäten strikt unterscheiden. Beides gleichermaßen unter der Vorstellung einer schrankenlosen Steigerungsspirale von Fortschritt und Wachstum subsumieren zu wollen, erschiene wirklichkeitsfremd. Außerdem müssen Schritte zu mehr sozialer Gleichheit keineswegs zwangsläufig der von Schimank imaginierten Fortschrittsidee einer Steigerungslogik entsprechen, sondern können im Gegenteil auf eine Entschleunigung des „Dschagannath“-Effekts (261)[13] der Moderne, auf Reduktion von Wachstum, Nachhaltigkeit und schonendem Ressourcenverbrauch gerichtet sein. So wie Schimank den Fortschrittsbegriff konzipiert, ist er zu heterogen und diffus, um in einem gesellschaftstheoretischen Grundriss der Moderne als zentraler Leitwert dienen zu können.
7. Gesellschaftliche Steuerung und Planung – ein Ding der Unmöglichkeit?
Zu den Vorzügen des Entwurfs von Schimank zählt dagegen, dass sich sein systemtheoretischer Ansatz nicht nur von harmonistischen Illusionen früherer Systemtheorien, namentlich der Parsons’, distanziert, sondern die Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit gerade im Gegenteil zur prägenden Signatur moderner Gesellschaft erklärt. Allerdings ist die Schlussfolgerung, die Schimank daraus zieht, nicht zwingend, insofern er aus Konflikthaftigkeit und Gefährdung gesellschaftlicher Stabilität die Möglichkeit einer nur „sehr begrenzte(n) Planbarkeit und Gestaltbarkeit“ (261) ableitet. Dass Planung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse in gegenwärtigen modernen Gesellschaften absolut unterentwickelt sind, hat seine Ursache nicht in einer objektiven Überkomplexität gesellschaftlicher Problembestände, sondern in Herrschaftsverhältnissen, die eine konsequente Nutzung durchaus vorhandener sozialer, wissenschaftlich-technischer und kognitiver Potentiale von Planung verhindern. Die Probleme der Moderne schreien geradezu nach kollektiver Steuerung und Planung[14], um schon im Gang befindliche oder drohende Krisen und Katastrophen zu bewältigen, aber mächtige Partialinteressen herrschender Gruppen, Akteure und Institutionen – und nicht vor allem Ambivalenzen und Unüberschaubarkeit der Moderne – stehen dem entgegen.
Schimank hat mit seinem klugen und anregenden „Grundriss“ ein Angebot in den kritischen soziologischen Diskurs eingebracht, das eine weitere intensive Diskussion verdient. Das gilt nicht zuletzt für die zentrale Frage, ob es nicht richtiger wäre, statt von teilsystemischen Gegensätzen zwischen „Leistungsproduzenten“ und „Leistungsempfängern“ von Gegensätzen zwischen unterschiedlichen Verfügungsgewalten (einschließlich ihrer Inhaber und Akteure)[15] und den jeweils von ihnen betroffenen Gesellschaftsgruppen auszugehen.
[1] Es handelt sich um Uwe Schimank: Grundriss einer integrativen Gesellschaftstheorie, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, 2/2015, S.236 – 268. Der Beitrag löste eine breitere Diskussion aus, auf die im Folgenden aber aus Platzgründen nicht Bezug genommen werden kann. Ihm ging Schimanks Studie „Gesellschaft“ (Bielefeld 2013) voraus. Schimank versucht, Elemente von Systemtheorie, Handlungstheorie und kritischer Gesellschaftsanalyse zusammenzuführen.
[2] „‚Fremdreferentiell’“ meint bei Luhmann die Bezugnahme eines Systems auf andere Systeme durch Bezugnahme auf sich selbst. Systeminterne Selbstreferenz und operative Geschlossenheit bedürfen also der kognitiven Offenheit nach außen. Mit anderen Worten: Selbstreferenz ist also immer nur auch durch Fremdreferenz möglich.“
[3] In zahlreichen Beiträgen haben sich Karl Hermann Tjaden und Karl Hermann Tjaden/Margarete Tjaden-Steinhauer mit dem Problem des Verhältnisses von Vergesellschaftung und Umwelt auseinandergesetzt. Vgl. zum Beispiel Karl Hermann Tjaden: Mensch – Gesellschaftsformation – Biosphäre. Über gesellschaftliche Dialektik des Verhältnisses von Mensch und Natur, Marburg 1990; Lars Lambrecht, Karl Hermann Tjaden, Margarete Tjaden –Steinhauer: Gesellschaft von Olduvai bis Uruk. Soziologische Exkursionen, Kassel 1998.
[4] Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Demokratie und Krieg im Empire, Frankfurt/New York 2004.
[5] Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Vorbemerkung, Tübingen 1920/1988, S. 4.
[6] Zur Geschichte und Funktion des Staates vgl. aus marxistischer Sicht den sehr lesenswerten Überblick von Frank Deppe: Der Staat, Köln 2015.
[7] Zur Kritik aus historisch-materialistischer Sicht an Theorien sozialer Systeme und sozialen Wandels vgl. die bis heute unübertroffenen Analysen von Karl Hermann Tjaden, in: ders., Soziales System und sozialer Wandel, Stuttgart 1972. Vgl. außerdem seine Einleitung und sein Nachwort in: Soziale Systeme. Materialien zur Dokumentation und Kritik soziologischer Ideologie. Herausgegeben, eingeleitet und mit einem Nachwort versehen von K. H. Tjaden unter Mitarbeit von Armin Hebel, Neuwied und Berlin 1971.
[8] gl. zum Beispiel Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1949 – 1985, Frankfurt am Main 1985; Jörg Roesler: Geschichte der DDR, 2.Aufl., Köln 2013.
[9] Vgl. Wolfgang F. Scharpf: Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt am Main 1987.
[10] Karl Marx/Friedrich Engels: Über die Gewerkschaften, Berlin (DDR) 1971.
[11] Damit soll durchaus nicht gesagt werden, dass der Begriff des Fortschritts grundsätzlich fragwürdig ist. Man kann ihn sehr genau bestimmen, wie Karl Hermann Tjaden und Annegret Tjaden-Steinhauer gemeinsam mit anderen das getan haben in: Statt einer Einleitung: Anmerkungen zum Fortschritt in der Geschichte. In: Urte Sperling/Margarete Tjaden-Steinhauer (Hrsg.) Gesellschaft von Tikal bis irgendwo. Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel 2004, S. 7 – 42.
[12] Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 (frz.1999).
[13] Dieser Ausdruck stammt von Anthony Giddens und spielt auf einen Mythos der Hindu-Religion an. Nach diesem Mythos warfen sich die Anhänger der Religion selbst unter einen Wagen, der mit dem Bild der Gottheit Krischna durch die Strassen raste. Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996 (engl.1990), S. 173 ff.
[14] Zu Problemen der Planung heute vgl. Karl Georg Zinn u.a. in Thomas Mies/Karl Hermann Tjaden (Hrsg.): Gesellschaft, Herrschaft, Bewußtsein. Symbolische Gewalt und das Elend der Zivilisation, Kassel 2009.
[15] Dieser mir sehr brauchbar erscheinende Begriff ist Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden zu verdanken, die allerdings zunächst auch von „Verfügungsmächten“ sprachen (vgl. Margarete Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden: Gesellschaft von Rom bis Ffm. Ungleichheitsverhältnisse in West-Europa und die iberischen Eigenwege, Kassel 2001). Heute unterscheiden sie zwischen ökonomischer, politischer, familial-geschlechtsbezogener und „ideokratischer“ Verfügungsgewalt.