Kaum eine Rebellion auf dem Erdball, bei der nicht Che Guevaras Bild auf Plakate, T-Shirts, Fahnen usw. zu sehen ist. Seine Schriften und generell sein theoretisches Denken sind demgegenüber weniger bekannt. Weite Verbreitung fanden vor allem seine militärischen Tagebücher (geschrieben während des Guerillakampfs in Kuba, Kongo und Bolivien). Sein Bolivianisches Tagebuch wurde hundertfach herausgegeben. Aber kaum jemand weiß, dass Guevara parallel dazu auch andere Hefte schrieb — insbesondere vier Hefte, die heute nach ihren Farben genannt werden: Das rote Heft mit philosophischen, geschichtlichen und soziologischen Exzerpten, Notizen und theoretische Bilanzen zu seiner Lektüre während des Guerillafeldzugs in Bolivien; zwei grüne Hefte, davon eines, in das er 69 Gedichte anderer Autoren eintrug,[1] und ein schmaleres, in dem er den Entwurf für eine spätere Rekonstruktion der materialistischen Geschichtsauffassung skizziert; und schließlich ein rosafarbenes Heft, das drei Gedichte enthält. Bis in die späten 1990er Jahre waren diese Hefte quasi „Kriegsbeute“ im Besitz der bolivianischen Armee und verschollen. Die erste Ausgabe von 1998 war eine Übersetzung ins Italienische, die gravierende Fehler enthielt (es wurden unter anderem die Namen der von Guevara gelesenen Autoren verwechselt). Nach diesem ersten Fehlversuch einer Publikation hatte ich das Glück, über den Filmemacher Tristán Bauer, der damals in Bolivien an seinem Film „Che, un hombre nuevo“ arbeitete, im Zuge der Dreharbeiten Zugang zu dem Material zu bekommen. So entstand ein Buch, das die besagten Texte in einer philologischen, biographischen und theoretischen Studie versammelt: En la selva. Los estudios des conocidos del Che Guevara. A propósito de sus “Cuadernos de lectura de Bolivia” (Im Urwald – Die unbekannten Studien Guevaras: Seine „bolivianischen Lektürehefte“).[2] Später, nach Antritt der Regierung von Evo Morales, wurden die Hefte erstmals öffentlich zugänglich gemacht.
Die bolivianischen Hefte sind in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Im grünen Heft skizziert Guevara die Rekonstruktion der materialistischen Geschichtsauffassung und entwirft sie als Inhaltsverzeichnis eines künftigen Buchs. Er nimmt sich vor, die materialistische Geschichtsauffassung von einen nicht-eurozentrischen Standpunkt aus neu zu denken – eine Aufgabe, die erst viel später in Angriff genommen wurde, etwa in den Arbeiten Samir Amins. Im roten Heft analysiert, exzerpiert und kommentiert Guevara neun Autoren: C. Wright Mills[3], Georg Lukács[4], Friedrich Engels[5], Fidel Castro[6], Leo Trotzki[7], Mark Moisevich Rosental und G. M. Straks[8], Jorge Ovando Sanz[9], Mikhaíl Aleksandrovich Dynnik[10] und Rubén Darío[11].
Zuvor hat Guevara die unterschiedlichen Titel in eine Liste zu lesender Bücher eingetragen. Diese Liste ist so lang, dass sie z.B. allein für den Monat Oktober 1966 — für die Zeit also, in der sich Guevara noch im Trainingslager in Kuba befindet, bevor er nach Bolivien reist — 51 Titel zählt. Guevara hat diese Bücher also nicht alle gelesen; sie stehen dort nur als Gegenstand künftiger Lektüren.
Die Titel der in den Bolivianischen Heften exzerpierten Bücher fügt Guevara in diese Liste – zusammen mit einer Vielzahl anderer Titel – zwischen November 1966 (als er sich noch in Kuba befindet) und Februar 1967 (wo er sich schon in Bolivien engagiert hat) ein. Wright Mills‘ Anthologie ist für November 1966 eingetragen, ebenso das Buch von Rubén Darío. Lukács, Engels und Trotzkis erster Band stehen unter Dezember 1966; Rosental/Straks und Ovando unter Januar 1967; Trotzkis zweiter Band und Dynniks erster Band sind unter Februar 1967 notiert.
Wahrscheinlich wurden die in Bolivien gelesenen Bücher dort angeschafft. Wir wissen nicht, ob Guevara sie persönlich holte oder ob er sie bei jemandem bestellte, die oder der sie ihm dann schickte (z.B. Inti Peredo oder auch Tamara „Tania“ Bunke von La Paz aus). Sicher hat Guevara sie nicht persönlich aus Kuba mitgebracht: Erstens gibt es keine einzige kubanische Ausgabe der genannten Bücher, zweitens fährt er heimlich nach Bolivien, verkleidet und unter einer falschen Identität, was ausschließt, dass er mit einer solchen Anzahl marxistischer Texte die Grenze passiert. Wenngleich zwei Ausgaben aus Mexiko sind, erschienen die zwei Trotzki-Bände in einem kleinen argentinischen Verlag, der in Kuba nicht vertreten ist. Castros Rede vom 2. Januar 1967 hat er wahrscheinlich über Radio Havanna empfangen. An dem Tag trägt er in sein Tagebuch ein: „Die Besucher (Sánchez, Coco und Tania) sind nachmittags, nachdem Fidels Rede zu Ende war, aufgebrochen.“ Später, am 10. August notiert er: „Lange Rede von Fidel, in der er über die traditionellen Parteien herfällt...“
Marx- und Engels-Biographien
Guevara schätzt marxistische Apologetik und Vulgata sehr gering. Er verabscheut die scholastische Übung, die dem klassischen Werk von Marx und Engels Lehrzitate entnimmt, sie aus ihrem historischen Zusammenhang reißt und sie als allseits einsetzbare Karte zur opportunistischen Legitimierung der wechselnden politischen Positionen verwendet.[12] Seiner Meinung nach stecken 1964/65 die herrschende kulturelle und politische Welt der Länder des sowjetischen Blocks und deren offiziell-diskursive Richtlinien in einer schweren theoretischen Krise. Aus seiner Sicht hat diese Krise damit zu tun, dass man Marx vergessen und weder ernst genommen noch stringent studiert hat.[13]
Um dem Einhalt zu gebieten, organisiert Guevara lange und systematische Seminare über Das Kapital[14] und übernimmt die Aufgabe, die grundlegenden bzw. klassischen Werke zu studieren. Gegenstand dieser Studien ist u.a. die von F. Mehring geschriebene Marx-Biographie, die in Guevaras bolivianischen Heften für Oktober 1966 eingetragen ist. Im Versuch, diese Biographie pädagogisch zugänglich zu machen, arbeitet Guevara 1965/66 an seiner Einführung in Leben und Werk von Marx und Engels (1. Aufl. 2007[15]). Dieser Text bietet uns keine neuen philologischen Entdeckungen über Marx und Engels. Er gestattet vielmehr Einblick in das, was Guevara bedenkenswert erschien und was er als theoretische und politische Elemente für eine Annäherung an die Klassiker hervorhob. Guevaras vorrangiges Ziel ist hier popularisierender Natur: Er will eine „einführende“ Biographie, die nicht für Fortgeschrittene, sondern für neue Aktivisten gedacht ist, für jene, die (noch) nicht das Marxsche Werk beherrschen. Die klassische Marx-Biografie von F. Mehring ist für ihn die dabei zu verwendende Hauptquelle (ebd. 25, 62).
Guevara schreibt: „Der Marxismus wartet noch auf die Biografie, die Mehrings wunderbare Arbeit von einer breiteren Perspektive aus vervollständigt und manche der Fehler korrigiert, die diese erlitt“ (62). Er ergänzt die der Biografie Mehrings entnommenen Daten durch Angaben aus dem Briefwechsel zwischen Marx und Engels sowie durch eigene Lektüren und Studien über das Marxsche Werk. So bezieht er etwa die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 ein, die Mehring nicht berücksichtigen konnte, weil sie erst 1932, nach Mehrings Tod, veröffentlicht wurden. Die Relevanz, die dieser Text bei Guevara erhält, ist bekannt – etwa in Guevaras kritischer Analyse der Entfremdung, die er in seinem Brief „Der Sozialismus und der neue Mensch in Kuba“ (1965) unternimmt. Gleiches kann von der Deutschen Ideologie gesagt werden, die Guevara kommentiert (vgl. 2007, 28) und die – wie die Manuskripte von 1844 – erst von Dawid Rjasanow (1870-1938) in der Sowjetunion veröffentlicht wurde.
Der einzige in Guevaras Biografie genannte zeitgenössische Autor ist L. Althusser. Ohne sich dazu direkt zu äußern, referiert Guevara im Konjunktiv Althussers klassische These eines angeblichen „epistemologischen Bruchs“ zwischen dem jungen, humanistischen und dem reifen, wissenschaftlichen Marx. Guevara kannte Althussers Denken aus erster Hand: In seiner persönlichen Bibliothek (im Che-Guevara-Zentrum Havanna) findet sich z.B. ein gründlich durchgearbeitetes, mit Randglossen versehenes Exemplar von Althussers Pour Marx (in der spanischen Übersetzung von seiner Schülerin Marta Harnecker).[16]
Da sie als einführender Text gedacht ist, geht Guevaras Marx-Engels-Biografie nicht detailliert auf Das Kapital ein. Seine Gedanken zur Werttheorie, zum Fetischismus und zu anderen zentralen Themen, die mit dem Kapital im Zusammenhang stehen, stellt Guevara an anderer Stelle dar, etwa in Apuntes críticos a la economía política,[17] oder auch in seiner Polemik mit Bettelheim und C. R. Rodríguez über den „Übergang zum Sozialismus“.
Die zeitgenössischen Debatten fließen auch in die von Guevara verfasste Biografie ein, etwa wenn er schreibt: „Auch heute, wo so viele linke Parteien oder Gruppierungen ihre wirklichen Bestrebungen (bzw. das, was ihre wirklichen Bestrebungen sein sollten) hinter einer geschmacksneutralen Philosophie bzw. einer solchen Philosophie verstecken, die für die ‚besonneneren’ Schichten der ausbeutenden Klassen ihr volles ‚Verständnis’ aufbringt, kann das ‚Manifest der kommunistischen Partei’ von jedem Revolutionär der Welt unterschrieben werden, ohne Angst, dabei als mild bezeichnet zu werden“ (34). Guevaras kritische Rede von einer „geschmacksneutralen Philosophie“ bezieht sich dabei auf den „Realismus ohne Scheuklappen“ eines Roger Garaudy[18] und auf ähnliche Ansätze, die Mitte der 1960er Jahre Chruschtschows „pazifistischen Reformismus“ durch eine philosophische Sprache für die westlich-kommunistische Welt beschönigen wollten. Chruschtschows KPdSU vertrat, so seine Sicht, damals die Linie eines stetigen, evolutionären Endes des Kapitalismus und des Übergangs zum Sozialismus „ohne Bürgerkrieg“, ohne Revolution und ohne Machtübernahme. Eine andere Stelle in der Biografie bezieht sich auf diese Kritik, wo er die Stellung von Marx zur Pariser Kommune analysiert. Er referiert die Briefe, in denen Marx die Naivität vieler Kommunarden unterstreicht, die des Blutvergießens wegen „den Bürgerkrieg nicht eröffnen“ wollten (an Kugelmann, MEW 33, 205), wo doch diese Haltung zur Zerschlagung der Kommune zu einer viel blutigeren und schmerzhafteren Tragödie führte.
In derselben Perspektive verfasste er kritische Kommentare zu Lassalle, zur gesellschaftlichen Einbindung der englischen Arbeiterklasse und auch zu Bernsteins Revisionismus. Die Auflösung der ersten Internationale, so Guevara, „geschah aufgrund einer Anämie, die durch die fehlende Unterstützung seitens der organisierten Arbeiter Europas provoziert wurde“ (52). Auch in anderen Texten zieht Guevara diese kritische Bilanz des Eurozentrismus und der gesellschaftlichen Integration derjenigen, die – nach den offiziellen Formulierungen der Sowjetunion jener Jahre – die „Avantgarde“ der Weltrevolution sein sollten (so etwa in seinen Apuntes críticos a la economía política, aber auch in seiner Grußbotschaft an die Völker der Welt).
Besonders bei F. Engels überschreitet Guevaras biografische Skizze eine bloße Wiederholung der Aussagen Mehrings. Er hebt Engels’ Kampfeswillen hervor, z.B. seine Teilnahme im unmittelbaren militärischen Kampf bei den Ereignissen von 1848/49. Er unterstreicht die Bedeutung des Anti-Dühring, in dem von Engels „eine sehr breite und ziemlich vollständige Sicht der marxistischen Vorstellungen über die Welt insgesamt geboten“ werde; „zusammen mit der Dialektik der Natur, die er leider nicht beenden konnte, ist es eine wertvolle Ergänzung zu Das Kapital“ (70). Trotz dieser Feststellung zeichnet sich eine kritische Perspektive ab, wenn Guevara fortfährt: „Wie Mehring zeigt, übertraf Engels Marx in der Geschwindigkeit, mit der er den zentralen Punkt einer Problematik begriff, und in der Leichtigkeit, um zu einer glatten Prosa ohne Abschweifungen zu gelangen. Aber wir haben den Eindruck, als ob er es nicht mochte, sein Denken bis zum Ende ‚auszupressen‘, als ob er sein ‚journalistisches’ Talent bei der Fokussierung ausnutzte und das Thema, wenngleich nicht oberflächlich, so doch mit viel weniger Tiefgründigkeit als Marx behandelte.“ (25)
Guevara und Engels’ Spätwerk
Als Guevara seine biographische Skizze über die Begründer des Marxismus schrieb, kannte er Das Kapital gründlich. Passagen wie die oben zitierte zeigen zudem, dass Guevara Engels als den großen Gefährten Marxens ansieht, dass er aber zugleich von einer gewissen Dissonanz – oder zumindest einem gewissen Niveauunterschied – zwischen beiden ausgeht. In Bolivien nimmt er sich vor, Engels aufmerksam zu studieren.
Als Jugendlicher studierte er bereits den Anti-Dühring im Detail.[19] Seine Lektüre als Erwachsener, auf der Grundlage eines viel präziseren marxistischen theoretischen Instrumentariums, ist kritisch: „Heute ist klar ersichtlich, dass dieses Buch den Versuch darstellt, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen; das Problem, auf Spatzen zu schießen ermöglicht quasi ein Buch, das eines Artilleristen würdig ist. Dühring ist in der Geschichte dank Herostratos-Engels bekannt, der ihn, ihn zerstörend, erzeugte. Der Text fällt in die andauernde und ungemütliche Gegenwart Dührings zurück und – auch wenn Engels das Gegenteil behauptet – diese Gegenwart verunmöglichte die Verwirklichung von etwas, was die Marxisten so sehr brauchten (und heute brauchen): Eine integrale Entwicklung, populär im Ausdruck und wissenschaftlich im Inhalt, des dialektischen Materialismus. Engels war besser als jeder dazu bereit, aber die Verfolgung des Herrn Dühring erlaubt es ihm nicht, seinen eigenen Weg einzuschlagen, und die Darstellung gibt nach, bis es nichts mehr zu retten gibt, außer den Teil über den Sozialismus, wo es eine klare Verkettung der Schlussfolgerungen und eine darstellende Methode gibt, die diesen Teil in ein wirkliches Kompendium verwandeln.“ (2006a, 223)[20]
Wenn nach Guevara vom ganzen Anti-Dühring nur der dem Sozialismus gewidmeten Teil zu retten ist: Was bleibt dann vom Anti-Dühring noch bestehen? Seinem Stil getreu, mit einem weder naiven noch apologetischen Blick, behält Guevara einen kritischen Standpunkt gegenüber dem ganzen Kapitel, das sich dem Aufbau eines „kosmologischen Systems“ widmet, also dem Hauptteil des Werks, der dann von der Sowjetunion zum grundlegenden Kern des DIAMATs und seiner Lehrbücher gemacht wurde. Das einzige, was er von diesem Buch rettet, ist der Teil, in dem Engels innerhalb der materialistischen Geschichtsauffassung verbleibt und sich nicht auf das rutschige Terrain der „Kosmologie“ begibt.
Nach dieser kritischen Reflexion und Kritik am Anti-Dühring[21] schreitet Guevara in seinem Studium weiter voran. Er notiert als zu erledigende Lektüre für Monat Oktober 1966 das Buch des (nach Argentinien exilierten) italienischen Philosophen R. Mondolfo: El materialismo histórico en Federico Engels[22], in dem eine Lektüre von Engels’ Werk aus der Perspektive der Philosophie der Praxis versucht wird. Im selben Monat trägt er auch ein anderes Buch von Engels ein: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Schließlich nimmt er sich vor, dieses Buch zu studieren, das zum Schlüsselwerk des ganzen philosophischen Systems der Sowjetunion gemacht worden war, die Dialektik der Natur. In seinen Bolivianischen Lektüreheften exzerpiert Guevara nach gründlicher Lektüre eine Reihe von Passagen dieses Buchs.[23]
Beim Studium und der Reflexion über die klassischen Gründer des Marxismus kombiniert Guevara Bewunderung und kritische Lektüre. Dies ist etwa ersichtlich in jener anregenden Passage seiner „Notizen für das Studium der Ideologie der Kubanischen Revolution“, in der er schreibt: „Offensichtlich können Marx als Denker, als Forscher der sozialen Lehren und des kapitalistischen Systems, das er erlebte, gewisse Ungenauigkeiten vorgeworfen werden. Wir, die Lateinamerikaner, können z.B. nicht einverstanden sein mit seiner Interpretation Bolivars oder mit der Analyse bezüglich der Mexikaner, die er und Engels gemacht haben, bei der sie sogar gewisse Theorien über Rassen oder Nationalitäten voraussetzen, die heute nicht mehr vertretbar sind. Aber die großen Menschen, Entdecker leuchtender Wahrheiten, leben trotz ihrer kleinen Fehler, und diese dienen nur dazu, uns zu demonstrieren, dass sie menschlich sind, d.h. Leute, die Fehler machen können, auch wenn wir uns der Höhe deutlich bewusst sind, die diese Riesen des Denkens erreicht haben. Deswegen erkennen wir die wesentlichen Wahrheiten des Marxismus als Teil des kulturellen und wissenschaftlichen Erbes und nehmen sie an, mit der Natürlichkeit, die uns etwas vermittelt, was keiner Diskussion mehr bedarf.“[24]
Mit derselben Herangehensweise und Distanz nähert sich Guevara dem späten Engels, nicht nur dem des Anti-Dührings, sondern in Bolivien auch dem der Dialektik der Natur. Als den wichtigsten Teil identifiziert er jene Passagen, die der Analyse der Dialektik als Logik, als Erkenntnistheorie und als Methode gewidmet sind (Begriffe, Kategorien, „Gesetze“ etc. miteinbezogen). An Plechanows Bezugnahme auf Engels denkend, schrieb Lenin einmal an den Rand der Hegelschen Wissenschaft der Logik (LW 38, 169), man müsse die Kritik an Kant von Hegel aus und nicht von Plechanow oder vom Vulgärmaterialismus ausgehend betreiben, genauer: „Plechanow kritisiert den Kantianismus (und den Agnostizismus überhaupt) mehr vom vulgär-materialistischen als vom dialektisch-materialistischen Standpunkt, insofern er ihre Gedankengänge nur a limine verwirft, sie aber nicht richtigstellt (wie Hegel Kant richtigstellte), indem er sie vertieft, verallgemeinert, erweitert und den Zusammenhang und die Übergänge aller und jeder Begriffe aufzeigt.“
Ähnlich findet Guevara, dass in der Dialektik der Natur die Palette der theoretischen Aussagen gegen Kant zu einfach gestrickt ist. Er notiert in den Bolivianischen Lektüreheften: „Ich habe den Eindruck, dass die Argumentation […] von Engels bezüglich Kant grob vereinfachend ist und dass die finale Aussage die Anerkennung der Wahrheit des kantianischen Erbes impliziert – es sei denn, man weist dem Wort ‚Erkennen’ eine restriktive oder relative Bedeutung“ zu. Dies bezieht sich auf die Frage bzw. Überlegung Engels, dass „historisch gefasst […] die Sache einen gewissen Sinn [hätte]: Wir können nur unter den Bedingungen unsrer Epoche erkennen und soweit diese reichen.“ (MEW 20, 508)[25] Diese Engelssche Passage verleiht also Kant eine gewisse Vernünftigkeit, wenn – so Guevara – der gnoseologische Materialismus (und seine traditionelle engelsianische Widerspiegelungstheorie) auf eine geschichtliche Auffassung „unter den Bedingungen unsrer Epoche […] und soweit diese reichen“ bezogen wird. M.a.W.: Wenn die Theorie der noumenisch-kantianischen „Sache an sich“ nicht als bloß idealistischer Widersinn, sondern dialektisch-historisch betrachtet wird, aus einer Perspektive, in der das Absolute nur von einem bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen Moment aus erkennbar ist.
Diese Konvergenz zwischen der kritischen Sicht von Guevara auf Engels und der hegelianischen Lektüre von Plechanow durch Lenin, die sich beide auf Kant beziehen, ist nicht zufällig. Ihre jeweiligen Auffassungen eines revolutionären und eingreifenden Marxismus konnten sich nicht mit dem Geist der philosophischen, aber auch politischen Passivität zufriedengeben, die für den vorkritischen Materialismus[26] prägend war, der für gewöhnlich Kant nicht von der Dialektik Hegels aus, sondern ausgehend von einer passiven und mechanischen Sicht auf das Subjekt infrage stellte.
Ursprünglich Mediziner, hat Guevara auch eine Ausbildung im Bereich der Biologie und Chemie erhalten, aber nur ein kleiner Teil der späten Engelsschen Fragmente, die er in den Bolivianischen Heften wiedergibt, bezieht sich auf die naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts. Die Mehrzahl bezieht sich auf die dialektische Logik, die dialektische Methode und Erkenntnistheorie. Eine dritte Art von Aufzeichnungen und Kommentare betrifft das Studium der kapitalistischen Gesellschaftsordnung; hier sieht Guevara im Werk Engels die Bestätigung, dass im Kapital die These von den Konsequenzen der allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Akkumulation die Tendenz zur absoluten und nicht nur relativen Pauperisierung des Proletariats bezeichnet. So notiert er folgenden Satz aus der Dialektik der Natur: „Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepresst; wir haben damit die Produktion ins Unendliche vervielfacht, so dass ein Kind jetzt mehr erzeugt als früher hundert Erwachsene. Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen und alle zehn Jahre ein großer Krach.“ (MEW 20, 323f.) Er kommentiert: „Dieses Zitat von Engels ist wichtig, weil es klar den Geist verdeutlicht, in dem die polemische Marxsche Passage über die progressive Pauperisierung des Proletariats geschrieben wurde. Kein besserer als Engels, um gründlich das Wesen des marxistischen Gedankenguts zu interpretieren, und hier spricht er sich klar für die These einer realen, nicht metaphorischen oder relativen Pauperisierung aus.“
Guevaras Auswahl von Fragmenten des späten Engels beinhaltet nur wenige, eher knapp gefasste eigene Kommentare, aber sie stellt ein klares Verzeichnis seiner Beschäftigungen und Interessen dar. Engels bewundernd, aber ohne den kritischen Standpunkt zu verlassen, zieht Guevara sein Fazit zur Dialektik der Natur wie folgt: „Großartiges Werk unter vielen Aspekten, aber unvollständig und stückhaft, mit Kapiteln, die mit Klebstoff zusammengeleimt zu sein scheinen, und andere über die technische Entwicklung, die wenig zugänglich und nicht mehr aktuell sind; für einen Mann der Wissenschaft ist die Elektrizität heute kein theoretisches Puzzle mehr. Das Beste des Werks, sind die unfertigen Gedanken zur Dialektik und verstreute Betrachtungen, die heute allgemeingültig sind, wie etwa seine Definition des Lebens.“ Guevaras Blick auf dieses Werk, die Perspektive, von der aus er es betrachtet und sich annähert, die kritische Perspektive, in der er Engels liest, studiert und diskutiert, kontrastieren deutlich mit der Perspektive und Hermeneutik, die zu der Zeit in den sowjetischen Lehrbücher des Marxismus typisch waren.
Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch: Santiago Vollmer
[1] Dieses Heft wurde als Gedichtband von Paco Ignacio Taibo II herausgegeben: Pablo Neruda; León Felipe, Nicolás Guillén, Ernesto Guevara, César Vallejo et al. (2007), El cuaderno verde del Che, Buenos Aires.
[2] Das Buch erschien zuerst in Caracas, Venezuela, als nicht-kommerzielle Ausgabe, im Zusammenhang der Misión Conciencia. Es folgten u.a. Ausgaben in Argentinien, Chile, Kolumbien, Portugal, Spanien. Der vorliegende Text beruht auf einer erweiterten Übersetzung eines Kapitels aus dem Buch.
[3] C. Wright Mills: Los marxistas [Anthologie, Übers. v. The Marxists, 1963]; Mexico, 1964.
[4] Georg Lukács: Eljoven Hegel y los problemas de la sociedad capitalista [Übers. v. Der junge Hegel - Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, 1938, zuerst veröff. 1948]; México, 1963.
[5] Friedrich Engels: Dialéctica de la naturaleza [Übers. v. Dialektik der Natur, 1873-83, zuerst veröff. 1925] México, 1961.
[6] Fidel Castro: Discurso en la Plaza de la Revolución de La Habana del 2 de enero de 1967 [Rede vom 2. Januar 1967 auf dem Revolutionsplatz in Havanna].
[7] Leo Trotzki: Historia de la revoluciónrusa [dt. unter dem Titel Geschichte der russischen Revolution]; Buenos Aires [1931-33] 1962; Bd. 1 und 2.
[8] M. M. Rosental und G. M. Straks: Categorías del materialismo dialéctico [dt. Kategorien der materialistischen Dialektik, DDR], Mexico, 1962.
[9] Jorge Ovando Sanz: Sobre el problema nacional y colonial de Bolivia; Cochabamba, 1961.
[10] Michail A. Dynnik u.a.: Historia de la filosofía, Band 1 [dt. 1959 Geschichte der Philosophie, Band 1]. Mexico, 1960.
[11] Rubén Darío: Cantos de vida y esperanza [ohne editorische Angaben].
[12] Siehe dazu etwa Guevaras Kommentar zum Manual de economía política de la Academia de Ciencias de la Unión Soviética (Lehrbuch der politischen Ökonomie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR), den er wahrscheinlich 1966 in Prag schrieb (2006 postum publiziert in Apuntes críticos a la economía política. Melbourne, Australia, La Habana, Cuba, Ocean Sur): „Stalin […] ordnete die Abfassung eines Lehrbuchs an, das für die Massen zugänglich sein und alle Themen der politischen Ökonomie […] behandeln sollte. Dieses Lehrbuch wurde in die wichtigsten Weltsprachen übersetzt und erfuhr mehrere Ausgaben, wobei es in seinem Aufbau und seiner Orientierung deutliche Veränderungen erfuhr – eben in dem Maße, wie sich Veränderungen in der UdSSR ereigneten.“ (S. 30) Es sei wichtig, eine „kritische Studie“ dieses Lehrbuchs zu realisieren, denn „im Bereich der Ökonomie begibt sich die marxistische Forschung gerade auf gefährliche Irrwege“ (ebd.). Eine solche Studie würde sich u.a. „an die vielen kubanischen Studenten“ richten, die einerseits „v.a. in den aus der UdSSR stammenden Publikationen ‚ewige Wahrheiten‘“ lernen müssen und andererseits beobachten können, „wie unsere Haltung und die wiederholten Betrachtungen unserer Führer dem, was sie in den Texten lesen, radikal widersprechen. […] Die Marxsche Aussage auf den ersten Seiten des Kapitals über eine bürgerliche Wissenschaft, die, unfähig ist, sich selbst zu kritisieren und an deren Stelle die Apologetik tritt, kann leider heute auch auf die marxistische ökonomische Wissenschaft bezogen werden.“ (S. 32) Vgl. ebenso die „Polémicas en unviaje a Moscú“ (Polemiken während einer Moskaureise) von 1964; es handelt sich um die Niederschrift einer mündlichen Intervention, in der Guevara u.a. über „die Bibel, die das Lehrbuch ist“, diskutiert; 2003 erschienen in: Néstor Kohan, Introducción al pensamiento marxista. Buenos Aires. Vgl. dazu ebenso den Brief von Ernesto Guevara an Armando Hart Dávalos (Dar-Es-Salaam, Tanzania, 4.12.1965), in dem es u.a. um die „sowjetischen Bausteine“ geht, „die den Nachteil haben, dich nicht denken zu lassen, denn die Partei hat es für dich getan, und du sollst es verdauen. Als Methode ist es völlig antimarxistisch, aber außerdem pflegen diese Bausteine sehr schlecht zu sein“ (publiziert in: Néstor Kohan, 2005: Ernesto Che Guevara: El sujeto y el poder, Buenos Aires, S. 164).
[13] Die Theorie ist dabei zu versagen, und zwar weil sie [in der UdSSR] vergessen, dass Marx und eine ganze ihnen vorhergehende Epoche existierten, und sie ihre Erkenntnisse und Betrachtungsweisen „sozusagen nur auf Lenin oder auf einen Teil von Lenin beziehen“ (Polémicas en unviaje a Moscú).
[14] Guevara nimmt an zwei Kapital-Kursen in Havanna teil. Am ersten Kurs, zu Beginn der kubanischen Revolution, nehmen Fidel Castro und auch Carlos Rafael Rodriguez teil. Letzterer wird später als Präsident des Instituto Nacional de Reforma Agraria pro-sowjetische Positionen vertreten, die unter dem Namen „Cálculo económico“ bekannt sind (eine Art „Markt-Sozialismus“), während Guevara die gegnerische Position eines „Sistema Presupuestario de Financiamiento“ (das auf der sozialistischen Planung gründet) vertritt. Beim zweiten Kapital-Kurs, der ein paar Jahre später stattfindet, nahm Guevara als Leiter des Industrie-Ministeriums zusammen mit Kolleginnen und Kollegen teil; u.a. Enrique Oltuski sowie Orlando Borrego Díaz, einer seiner wichtigsten Mitarbeiter (und Autor zweier Berichte zu diesen Debatten und Lektüren). Beide Seminare wurden von Anastasio Mansilla koordiniert, der bis dahin als Professor an der Lomonossow-Universität Kapital-Kurse gegeben hatte. Mansillas spanische Eltern hatten für die Republik gekämpft und waren danach ins sowjetische Exil gegangen. Vgl. Orlando Borrego: „Che Guevara lector de El Capital”, in: Néstor Kohan (2005): Ernesto Che Guevara: El sujeto y el poder. Buenos Aires, S. 229-254. Online: http://amauta.lahaine.org/?p=2033; siehe auch „El Che Guevara y El Capital”, http://cipec.nuevaradio.org/?p=20.
[15] Der Text ist nicht datiert; Guevara verfasste ihn irgendwann zwischen der Niederlage gegen die kolonialistischen Truppen Belgiens im Kongo und seiner Reise nach Bolivien. E. Guevara, Marx y Engels: Una síntesis biográfica. Ocean Sur, Cuba 2007. Dt.: Marx und Engels: Eine Einführung in Leben und Werk, Köln 2009.
[16] Nebenbei sei erwähnt, dass Althusser epistemologisch die Position von Charles Bettelheim inspiriert, der wiederum Guevaras Kontrahent bei der in Kuba 1963/64 ausgetragenen Polemik um das Wertgesetz, die ökonomische Kalkulation und das Finanz-Haushaltssystem während des Übergangs zum Sozialismus war.
[17] E. Guevara, Apuntes críticos a la economía política. Ocean Sur, Cuba 2006.
[18] Roger Garaudy, D'un réalisme sans rivages (1963), auf Spanisch 1964 erschienen unter dem Titel Hacia un realismo sin fronteras; dt. Wien 1981: Für einen Realismus ohne Scheuklappen.
[19] Siehe dazu das vom jungen Guevara verfasste Diccionario de filosofía (Philosophisches Wörterbuch), das in der Zusammenstellung postumer Texte Guevaras, América Latina. Despertar de un continente (Ocean Sur, Cuba 2006), enthalten ist.
[20] Guevara bezieht sich hier auf die kubanische Ausgabe des Textes von Engels, Havanna 1963.
[21] In der marxistischen Tradition ist Guevara keine Ausnahme. Sowohl Gramsci als auch Lukács hatten auch kritisch auf diesen Text des späten Engels hingewiesen. Guevara hatte keine dieser Bewertungen gelesen, sondern kam auf dem Weg eigener Lektüre und Reflexion zu einem ähnlichen Schluss.
[22] Rodolfo Mondolfo: El materialismo histórico en Federico Engels. Rosario, Argentina 1940.
[23] Er benutzt dabei die mexikanische Übersetzung, herausgegeben vom damals kommunistischen Verlag Grijalbo (1961).
[24] Diese Passage, in der Guevara kritische Distanz gegenüber dem Angriff von Marx auf Bolívar und den von Engels verwendeten Bezeichnungen für das mexikanische Volk einnimmt, findet sich nur in den ersten Ausgaben der Schrift und wurde aus späteren Ausgaben gestrichen.
[25] Guevara zitiert aus folgender mexikanischen Ausgabe: Friedrich Engels, Dialéctica de la naturaleza, México, 1961.
[26] Gemeint ist hiermit jene Philosophie des 18. Jahrhunderts, in der die „objektiven“ Stellungen so hervorgehoben wurden, dass die subjektiven Eingriffe in die menschlich-geschichtliche Praxis (und speziell in den Klassenkampf) umgangen oder sogar verneint wurden. Eine Kritik an Kant bezog sich z.B. auf dessen Agnostizismus. Eine andere Kritik hob dagegen die Schwächen hervor, die mit seinem Bezug auf die aristotelische Formallogik zusammenhängen und die dazu führten, gesellschaftliche Widersprüche sowie das gesellschaftliche Ganze zu verkennen. Diese Kritik hebt also die dialektischen Schwächen Kants hervor. Während Plechanow die erste Kritik an Kant unterstrich, bezogen sich Lenin (Philosophische Hefte), Gramsci (Gefängnishefte) und Lukács (Geschichte und Klassenbewusstsein) eher auf die zweite Kritik. Guevaras Position folgt eher der zweiten Kritik.