Im Editorial des Themenhefts der Zeitschrift „Das Argument“ zum 100. Geburtstag von Peter Weiss heißt es: „In der Ästhetik des Widerstands geht es um die Frage, wie Fremdbestimmung durch ‚Kulturarbeit’ aufzusprengen sei. Befreiung – dieses Wort gewinnt hier eine neue reiche Bedeutung, denn es geht nicht allein um ‚die Befreiung aus politischer Unterdrückung, sondern ebenso um die Befreiung von den kulturellen Hindernissen (…), die ganze Lebensweise ist gemeint, alles worin man verfilzt ist, worin man lebt‘. ‚Kulturarbeit‘ heißt dann auch Überwindung der Eingeschlossenheit in die Engstirnigkeit, die Trägheit, das Besserwissen. Daher die Bedeutung von Kunst und Literatur, die, wenn sie lebendig sind, ‚immer im Streit gegen etwas stehen‘, keine faule Identität aufkommen lassen, produktive Unruhe verbreiten.“[1]
Zitiert wird hier Peter Weiss selbst, der nicht, wie es mittlerweile im Kulturbetrieb wieder üblich ist, unter Kultur nur entweder die hohe Kunst oder die Populärkultur verstand, sondern etwas, was „die ganze Lebenshaltung“ meint. „Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt und arbeitet“ – das war auch eine Formel, die seit den 1970er Jahren nicht nur in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit Verbreitung fand. Sie richtete sich gegen das elitäre Prinzip des L’art pour l’art und gegen eine bildungsbürgerliche Auffassung von „Kulturgütern“ als „ewigen Werten“, die angeblich nichts mit schnöden Interessen und dem Alltag der Menschen zu tun haben.
Kulturarbeit bei Peter Weiss
Aber was ist damit gemeint, dass mit Hilfe von Kunst und Literatur „die Überwindung der Eingeschlossenheit in die Engstirnigkeit, die Trägheit, das Besserwissen“ möglich werden soll? Bei einer Kulturarbeit im Sinne von Peter Weiss geht es offenbar nicht nur um die Erweiterung des Wissens und den Abbau von Bildungsbarrieren, sondern auch um die Formen des Zugangs zu Wissen: Aktive Aneignung anstelle von Belehrung und konsumtiver Aufnahme; Neugier und forschende Phantasie anstelle von bloßem Bescheidwissen oder Besserwisserei.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass in mehreren Beiträgen zum „Argument”-Heft über „Peter Weiss und die Aktualität der Ästhetik des Widerstands“ der Anfang des dreibändigen Werks eine besondere Rolle spielt. In ihm ist das Konzept von Peter Weiss auf wenigen Seiten verdichtet. Dazu einige Zitate aus den Beiträgen:
„Am 22. September 1937 betrachten der Erzähler und seine Freunde Coppi und Heilmann den auf der Berliner Museumsinsel ausgestellten Fries des Pergamon-Altars. Dieser stellt, wie aus dem Gespräch der drei jungen Kunst-Betrachter und antifaschistischen Kämpfer bald erhellt, das für die griechische Mythologie zentrale Geschehen der Gigantomachie dar. Die Giganten, welche sich gegen die Götter erheben, werden nach zähem Ringen von den Olympiern besiegt (…) Der bildgewordene Mythos, dem sich die drei Freunde aussetzen, verschleiert die Verhältnisse von Sieg und Niederlage, Herrschaft und Ausbeutung, doch gelingt es den Betrachtern, den Schleier zu lüften und Einsicht in die Wahrheit der historischen Kräfteverhältnisse zu nehmen – obwohl der Fries gerade qua seiner kunstvollen Gestaltung solche Lesarten zunächst abwehrt (…) In der erzählerischen Inszenierung der historisch aneignenden, synästhetischen Wahrnehmung der drei Freunde ersteht das Bild des Frieses eindrucksvoll wieder zum Leben – der starre Stein wird zurückverwandelt in das Blut und Fleisch des Gigantenkampfes, aber auch der bildhauerischen Arbeit am Fries selbst.“[2]
„Auf wenigen Seiten, die einer Handlungszeit von ein, zwei Stunden entsprechen, sind hier die einzelnen Schritte einer sinnlichen und intellektuellen Annäherung geschildert: vom ersten, tastenden Erfassen der Gestaltungen und Figuren über die kulturgeschichtlich informierte Entschlüsselung des Dargestellten bis hin zur kritischen Analyse der intendierten Botschaft und ihrer radikalen Umkehrung. Dem Gemeinplatz von den ‘sprechenden Steinen’ (saxa loquuntur) des Altertums hat Weiss mit diesem Erzählauftakt ein neuartiges Modell kultureller Aneingung abgewonnen.“[3]
„In der Ästhetik des Widerstands führt Peter Weiss vor, wie die Werke der Bildenden Kunst, der Malerei, der Literatur dabei helfen, ‚die Geschichte gegen den Strich zu bürsten‘ (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I.2, 697). Zwar von den Herrschenden in Auftrag gegeben, um die eigene zeitlose Notwendigkeit in Szene zu setzen, gehen sie doch in dieser Funktion nicht auf (…). Der Fries des Pergamonaltars gereichte ‚nicht nur den Götternahen zum Ruhm, sondern auch denen, deren Stärke noch verborgen lag‘ (ÄdW I, 12f). Um die Stärke der als Unterlegene ins Bild Gebrachten zu ‚sehen‘, bedurfte es freilich eines Blicks ‚von unten‘, der an der ‚Aufhebung des Unrechts, der Beendigung der Verarmung‘ (13) interessiert war (…) So versuchen die drei Freunde, ein Schüler und zwei Arbeiter, die im September 1937 vor dem Pergamonaltar stehen, nachzuholen, ‚was uns in der Schule nie beigebracht wurde‘, vor allem das ‚Bilderansehn‘ (36). Ein Sehen, das sie selbst enthält und dem in der Fabrik wie in der Bildungswelt stets drohenden ‚Selbstverlust‘ (59) vorbeugt.“[4]
Wesentliche Punkte dieses hier skizzierten „neuartigen Modells kultureller Aneignung“ sind: Es geht um einen Umgang mit Kunstwerken, der nicht auf vorgängiges oder durch Experten vermitteltes Wissen setzt, sondern auf die „ausdauernde Arbeit der Wahrnehmung und des Entzifferns.“[5] Es geht auch um eine Selbstermächtigung von Laien. Dabei spielt der freie Austausch von Wahrnehmungen, Kenntnissen und Interpretationen der Beteiligten eine große Rolle. Heilmann, Coppi und der Ich-Erzähler betrachten den Pergamon-Altar nicht mit „interesselosem Wohlgefallen“, als „reine Kunst“, sondern unter dem Gesichtspunkt, was er – hier und heute – für ihre Lebenssituation, für ihren politischen Kampf und ihre Zukunft bedeutet: „Auch uns (…) sollte das, was sich Kultur nannte, zugute kommen (…) doch gelangten wir damit noch nicht zu einem Bild, das uns selbst enthielt.“[6]
Der Fries sperrt sich zunächst mit all seiner imposanten Kunstfertigkeit gegen ihre Wahrnehmungen und Interpretationen. Sie müssen und können ihn aber gegen den Strich lesen. Dann beginnt er auch für sie zu sprechen. Ihr Blick von unten kann das entdecken, was der herrschenden Lehre der Kunstwissenschaft bisher verborgen blieb. Sie sind jetzt selbst im Bild, nicht mehr ausgeschlossen von den Werken der hohen Kultur. Diese werden von andächtig anzuschauenden Idolen zu nützlichen (Über-)Lebensmitteln für sie.
Das ist eine Form der Kunstbetrachtung, die der bis heute überwiegend praktizierten widerspricht. In der „Ästhetik des Widerstands“ heißt es über den Pergamon-Altar: „Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eigenen Fleisch. Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischen Gesetz ahnten die andern.“[7]
Vergegenwärtigung als Zugang zum Kunstwerk
Zweierlei Arten, mit Kunst umzugehen, werden von Peter Weiss idealtypisch gegenübergestellt. Die eine, privilegierte, setzt auf Genuß, der wie selbstverständlich sich ergibt durch das, was am Kunstwerk harmonisch ist, was gute Form ist, schöne Gestaltung. Die andere muss erst einmal das „Abgetrenntsein“ durch vorenthaltene Bildung überwinden, sich dem Werk gegen alle inneren und äußeren Widerstände annähern und es bewusst aneignen. Dieser Prozess kann sich, das wird in der Eingangsszene der „Ästhetik des Widerstands“ entwickelt, darauf stützen, dass das Kunstwerk den Widerspruch zur Harmonie, zu den bestehenden Verhältnissen mit ihren Privilegien in sich selbst enthält:
„Doch gehörte dem Werk immer noch der selbe Zwiespalt an, der zu der Zeit galt, als es entstanden war. Dazu berufen, königliche Macht auszustrahlen, konnte es gleichzeitig befragt werden nach seinen Eigenarten des Stils, nach seiner plastischen Überzeugungskraft (...) Das Verstummen, die Lähmung derer, deren Los es war, in die Erde gestampft zu werden, war weiterhin spürbar (...) Das Dasein der Himmlischen war für sie unerreichbar, in den knienden vertierten Wesen aber konnten sie sich erkennen. Diese trugen, in Grobschlächtigkeit, Erniedrigung und Geschundenheit, ihre Züge. Daß die Apotheose des Götterflugs und der Vernichtung der andrängenden Gefahr nicht den Kampf des Guten gegen das Böse zum Ausdruck brachte, sondern den Kampf zwischen den Klassen, wurde nicht nur in unsrer heutigen Betrachtung, sondern vielleicht auch schon von manchem geheimen Blick damaliger Leibeigner erkannt. Doch auch die Nachgeschichte des Altars wurde bestimmt von der Unternehmungslust der Begüterten.“[8]
Die Fähigkeit, Werke der Kunst zu befragen, sich in ihnen zu erkennen, setzt den möglichst vorurteilslosen, nicht verbildeten Blick auf sie und ein bestimmtes Interesse voraus. Damit es zur Geltung kommen kann, muss eine rein rezeptive Haltung überwunden werden: „Wir konnten uns die Ausführung eines Buches, eines Bilds, noch nicht vorstellen, waren der Kunst bisher nur rezeptiv begegnet…“[9]
Ein Umgang mit Kunst, wie er in der „Ästhetik des Widerstands“ beschrieben wird, bedeutet die unmittelbare Vergegenwärtigung dessen, was sie an geschichtlichen Erinnerungsspuren enthält. Beim gemeinsamen Lesen und Besprechen von Dantes „Göttlicher Komödie“ kommen der Ich-Erzähler und seine Freunde zu dem Schluss: „Es war nicht mehr notwendig, daß wir die Aussagen so verstanden, wie sie vielleicht vor sechshundert Jahren gemeint waren, sondern daß sie sich in unsre Zeit versetzen ließen, daß sie hier, in dieser Parkanlage, neben dem Kinderspielplatz, hier, zwischen diesen frisch aufgeschütteten Gräbern unterhalb der Sankt Sebastian Kirche, Leben annahmen, denn das war es, was sie dauerhaft machte, daß sie unsre eigenen Erwägungen weckten, daß sie nach unsern Antworten verlangten.“[10]
Sich selbst ein Bild machen und nach eigenen Antworten suchen, das ist die Quintessenz einer „widerständigen Aneignung sowohl der geschichtlichen wie der kulturellen Überlieferung“[11], die, das zeigt Peter Weiss in exemplarischer Weise auf, am besten in und über die Kommunikation mit anderen gelingt:
„Anders als jede archäologische und kunstgeschichtliche Darstellung hebt Peter Weiss von vornherein das auf, was im allgemeinen als ästhetische, als wissenschaftliche Distanz bezeichnet wird, was jedoch kaum mehr ist als die Anerkennung und Aufrechterhaltung bestimmter ästhetischer Autoritäten, und zudem die Verdrängung der Angst vor dem ästhetischen Objekt. In der Ästhetik des Widerstands gibt es die von den Wissenschaftlern so gering geschätzte ‚naive’ Betrachtung der Kunstwerke nicht mehr, und die Interpretationen der angeblich Berufenen sind dem Erzähler manchmal ‚zuwider’, weil diese ‚mit erhobnem Zeigefinger die Vieldeutigkeit jedes einzelnen Werks vergessen’ (ÄdW, I, 77). Diese Vieldeutigkeit ist aber im Roman zunächst eine jedem Betrachter zugestandene Kompetenz, die sich in der Auseinandersetzung mit den anderen Betrachtern realisiert und konkretisiert. Der alte bürgerliche Anspruch, dass die Kunst – anders etwa als die Wissenschaft – ein Unternehmen ist, über das jeder sprechen kann und es auch tut, wird hier beim Wort genommen und konsequent durchgeführt.“[12]
Kommunikative Aneignung von Kunst
In der Tat hat das „Kunstgespräch“ bei Peter Weiss eine lange Vorgeschichte. Der „alte bürgerliche Anspruch“, über Kunst zu sprechen, datiert seit den Zeiten, als die Fürsten ihre Kunstsammlungen für das gebildete Publikum öffneten und allmählich die ersten Museen entstanden. Mit ihnen kam auch die Konversation über Kunst auf – quasi als eine Vorform bürgerlicher Öffentlichkeit.[13] In Deutschland finden sich entsprechende Bestrebungen in der Frühromantik, in der die Impulse der französischen Revolution noch gegenwärtig waren. August Wilhelm Schlegels Buch „Die Gemählde. Gespräch“ erschien zuerst 1799. Hier geht es darum, dass die subjektiven, emotionalen und unterschiedlichen „Eindrücke eines Kunstwerks“, das, „was der Betrachter mit hinzubringt“, ausgesprochen werden können, statt ihm einen „Maulkorb“ umzuhängen und ihn auf das „trockene Urteilen“ des „Kunstverständigen“ zu verweisen.[14] Auch Kleists Betrachtungen zur „Seelandschaft“ von Caspar David Friedrich und der vorgängige Bericht Clemens von Brentanos und Achim von Arnims über Gespräche zu dem Bild gehören in diesen Zusammenhang.[15]
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden solche Ansätze zurückgedrängt zugunsten des Anspruchs der Museen auf fachliche Führung. Die Kunstgeschichte als „späte Wissenschaft“ verlegte sich, um ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen, auf positivistische Verfahren, ikonografische Vergleiche und die Konstruktion von Kunstepochen und Stilen. Die Seite der Rezeption wurde vernachlässigt, die subjektive Wahrnehmung galt als unwissenschaftlich. Die „Gefühlswirkung der Kunst“[16] blieb außerhalb des Horizonts der Kunsthistoriker, die auch die Aufklärung der Museumsbesucher über Kataloge und Führungen in die Hand nahmen. Es kam quasi zu einer „Monopolisierung des lauten Sprechens über Kunstwerke“ durch die Experten.[17]
Dialogische Vermittlungsformen entwickelten sich erst wieder gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Volkserziehungs- und Kunsterziehungsbewegung. Hier ist als Pionier Alfred Lichtwark zu nennen, der als Leiter der Hamburger Kunsthalle 1886 mit Schulklassen „Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken“ machte.[18] Auch bei der Führung von Gruppen aus der Industriearbeiterschaft durch die Museen wurde seine – allerdings noch sehr lernzielorientierte – Methode angewandt.
Zum Sinn des Sprechens über Kunst hat Gabriele Sprigath angemerkt: „Erst im Gespräch kann sich der Betrachter seine persönliche Beziehung zum Bild in Form von Assoziationen bewusst machen. Hat er dazu keine Gelegenheit, dann werden ihm auch die dabei hervortretenden Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Erwartungen nicht bewusst, die er stattdessen weiter verinnerlicht. Die im Gespräch realisierte Phantasietätigkeit, in der der Betrachter sich ein eigenes Stück Selbstbewusstsein erobert, findet nicht statt.“[19]
Die Methode des Kunst- oder Bildergesprächs ist, trotz aller inzwischen erfolgten Aufnahme dialogischer Elemente in die Museumspädagogik und die Kunstvermittlung, nach wie vor eher randständig und erscheint im gegenwärtigen Kulturbetrieb als fast schon subversiv. Ihr geht es um die „freie Assoziation“ in des Wortes doppelter Bedeutung: Als Freisetzung von Wahrnehmungen und Interpretationen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die nur moderiert, aber nicht auf ein vorgegebenes Ergebnis hin geführt werden. Und als gemeinsame Aktivität einer Gruppe, die der demokratischen Forderung „Kultur für alle“ nachkommt. Dieser emanzipatorische Anspruch widerspricht dem Bemühen von verschiedenen Seiten, die Interpretationshoheit über kulturelle Erzeugnisse zu behalten.[20]
„Bewusstsein der Ambivalenz“
Die Kommunikation über Kunstwerke kann das stärken, was Peter Weiss „Bewußtsein der Ambivalenz“ genannt hat, die Fähigkeit, Widersprüche, auch bei sich selbst und im eigenen Lager, wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen und sie möglichst produktiv zu wenden. Denn „wirkliche Kunstwerke aus der Sicht von Weiss zeichnen sich durch Tiefenschärfe, Mehrschichtigkeit und Vieldeutigkeit aus“.[21] Deshalb sind sie dazu in der Lage, „herkömmliche Aneignungsformen“ zu durchbrechen und „oftmals schockhaft – tradierte Wahrnehmungsweisen“ umzuwälzen.[22] Daher ergeben sich auch „die politischen Bildungswirkungen (...) in der ‚Ästhetik des Widerstands’ nicht direkt über die in Kunstwerken liegenden politischen Inhalte. Politisch relevant werden ästhetische Produktionen dann, wenn sie in den Subjekten Wahrnehmungsweisen und Bewusstseinsformen verändern und diese damit zu neuen Einsichten befähigt haben.“[23]
Es gibt für Peter Weiss keine ein für allemal feststehende Deutung und Bedeutung von Kunstwerken: „‘Und nach längerem Schweigen sagte Heilmann, dass Werke wie jene, die aus Pergamon stammen, immer wieder neu ausgelegt werden müssten, bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgebornen aus Finsternis und Sklaverei erwachten und sich in ihrem wahren Ansehn zeigten.‘ (ÄdW 1, S. 53) Diese Umkehrung ist der im Kontext der ästhetisch-politischen Bildung vollzogene Bruch mit einer herrschaftskonformen Aneignung von Geschichte.“[24]
Es ist auch der Bruch mit einer herrschaftskonformen Auslegung von Kunst. In Bezug auf das Gespräch von Heilmann, Coppi und dem Ich-Erzähler vor dem Pergamon-Altar hat Jürgen Habermas einmal emphatisch festgestellt: „In solchen Beispielen einer Aneignung der Expertenkultur aus dem Blickwinkel der Lebenswelt wird etwas von der Intention der aussichtslosen surrealistischen Revolte, mehr noch von Brechts, selbst von Benjamins experimentellen Überlegungen zur Rezeption nicht-auratischer Kunstwerke gerettet.“ [25]
Als vorläufiges Fazit aus diesen Anmerkungen zum Umgang mit Kunst bei und nach Peter Weiss könnte man ziehen: „Ein uraltes, verwittertes, scheinbar ganz und gar ‚unpolitisches‘ Kunstwerk wird zur Energiequelle, die in doppelter, ja dreifacher Aneignung, rational, sinnlich und dialogisch, mit verschiedenen Erfahrungen wahrgenommen, den Horizont der Betrachter weitet, ihre Sinne schärft und ihnen die Kraft zum Widerstand verleiht. Gewonnen ist damit noch nichts. Die allererste, noch ganz ungefilterte, quasi halluzinatorische Wahrnehmung der sich aus dem Stein erhebenden Leiber wird durch die nachfolgende Konkretion nicht widerlegt, sie bleibt in ihrer diffusen Totalität vielmehr die tiefste, die wahrhaftigste: Das furchtbare Sinnbild der Geschichte aller Klassenkämpfe als einer einzigen ‚Metamorphose der Qual, erschauernd ausharrend, wartend auf ein Erwachen, in fortwährendem Dulden und fortwährender Auflehnung‘.“[26]
[1] Peter Jehle: Peter Weiss zum 100. Geburtstag, in: Das Argument Nr. 316 (Heft 2/2016). S. 168.
[2] Klaus Birnstiel: Bilderschrift. Peter Weiss’ intermediale Ästhetik des Widerstands, a.a.O., S. 206f.
[3] Alexander Honold: Eine Kuppel, in die Erde versenkt. Vom Widerstand des Ästhetischen bei Peter Weiss, a.a.O., S. 192.
[4] Peter Jehle und Jan Loheit: Was heißt Unbehagen an der Kultur? A.a.O., S. 271.
[5] Honold, a.a.O.
[6] Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, Band I, Frankfurt a. M. 1975, S. 55.
[7] A.a.O., S. 9.
[8] A.a.O., S. 13.
[9] A.a.O., S. 81.
[10] A.a.O., S. 82.
[11] Honold, a.a.O., S. 196.
[12] Heinrich Dilly: Die Kunstgeschichte in der Ästhetik des Widerstands, in Alexander Stephan (Hrsg.): Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M. 1983, S. 299.
[13] Vgl. Louis Marin: Über das Kunstgespräch, Zürich 2001.
[14] August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Gespräch, Amsterdam und Dresden 1996.
[15] Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, in: Berliner Abendblätter, 13. Oktober 1810.
[16] Vgl. Gabriele Sprigath: Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen, Marburg 1986.
[17] Joachim Penzel: Der Betrachter ist im Text. Berlin 2007, S. 249.
[18] Vgl. Alfred Lichtwark: Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken. Nach Versuchen mit einer Schulklasse. Dresden 1900.
[19] Sprigath, a.a.O., S. 102.
[20] Vgl. Reiner Diederich: Das Bildergespräch als Methode interkulturellen Lehrens und Lernens, in: Andreas Treichler/Norbert Cyrus (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a. M. 2004, S. 448-469; ders.: Zur Geschichte der KunstGesellschaft, in Norbert Schneider/Alexandra Axtmann (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Kunst. Das Realismus-Problem in der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit (Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft Band 16), Göttingen 2014, S. 129-141.
[21] Armin Bernhard: Mittel des Widerstands. Die Aneignung von Kunst für und bei Peter Weiss, in: Forum Wissenschaft Nr. 2/2007, S. 13.
[22] A.a.O.
[23] A.a.O., S. 14.
[24] A.a.O.
[25] Jürgen Habermas: Kleine Politische Schriften, Frankfurt a. M. 1981, S. 462.
[26] Jens-Fietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie, Berlin 2007, S. 233.