Editorial

Juni 2016

Europa existiert seit bald einem Jahrzehnt im Krisenmodus. Alle europäischen Gesellschaften sind geprägt durch neoliberale Deregulierung, Konkurrenzaktivierung, wachsende Sektoren von Armut und Prekarität. Die gesellschaftliche Polarisierung ist mit Entwertungserfahrungen und Abstiegsängsten bis weit in die Mittelschichten verbunden. Dies ist das soziale und psychologische Milieu einer Rechtsentwicklung unter Krisendruck, die wir gegenwärtig in Europa erleben. Flucht und Migration nach Europa sind in den letzten anderthalb Jahren als zusätzlicher Katalysator dieser Rechtsentwicklung genutzt worden. Die Ergebnisse der Landtagswahlen vom März d. J. oder der jüngsten Präsidentschafts-Wahlen in Österreich sind nur Schlaglichter in diesem Prozess. Demgegenüber hat die Linke Rückschläge zu konstatieren. Diese Fragen behandelt der Themenschwerpunkt „Krisenreaktionen in Europa“.

Walter Baier gibt einen Überblick über die „Radikale Rechte in Europa“. Er unterscheidet zwischen rechtsextremen Parteien, die sich explizit in eine nazistische Tradition stellen, und Rechtsradikalen bzw. Rechtspopulisten, die sich davon abgrenzen. Den Aufstieg der in verschiedenen Fraktionen des EU-Parlaments organisierten Kräfte zeigt er als europäisches Phänomen. Die Behauptung, insbesondere die Arbeiter wählten rechts, weist Baier zurück, vielmehr gewinne die radikale Rechte Zuspruch aus verschiedenen Klassen und Schichten. „Die Ursachen für den Aufstieg der rechtsradikalen Parteien (…) schließen zahlreiche politische und kulturelle Faktoren ein: Neben Krise, Prekarität und Abstiegsangst der Mittelschichten sind es der Verfall der Sozialdemokratie, der, wenn er auf der Linken nicht durch eine glaubwürdige radikale Alternative kompensiert wird, die Enttäuschung über das politische System nur allzu leicht auf die Mühlen der radikalen Rechten leitet.“ (S. 17) Gerd Wiegel analysiert Aufstieg und Ziele der AfD. In einem ersten geleakten Programmentwurf hatte sich die Partei als ein „Haufen herzloser Konservativer und völkischer Marktradikaler“ entpuppt, der „programmatisch offenbar deutlich neben ihrer frisch bejubelten Wählerklientel“ lag. Die nun beschlossene Fassung „spiegelt die politischen Vorstellungen einer konservativ-reaktionären, nationalistischen und rechtspopulistischen Partei“ wider. Diese sei bei den zurückliegenden drei Landtagswahlen besonders unter Arbeitern erfolgreich gewesen. „Offensichtlich ist es der AfD gelungen, soziale Ängste und Sorgen mit dem Thema Geflüchtete zu verbinden und die Angst vor einer potenziellen Konkurrenz um die knapp gehaltenen öffentlichen Ressourcen für sich nutzbar zu machen.“ (S. 23)

Der Wahlsieg von Syriza im Januar 2015 hatte bei vielen Linken, insbesondere auch beim politischen Zusammenschluss der Europäischen Linken (EL), die Hoffnung erzeugt, es werde nun in einer Art Dominoeffekt auch in anderen europäischen Ländern zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach links und damit zu einer Aufweichung der Austeritätspolitik kommen. Klaus Dräger setzt dieser Erwartung eine nüchterne Analyse der Kräfteverhältnisse in der EU und vor allem in Griechenland, Portugal, Irland und Spanien entgegen. Seine Zwischenbilanz: Es ist eine starke Fragmentierung des politischen Spektrums zu verzeichnen, in etlichen Ländern ist die Sozialdemokratie weiter auf dem absteigenden Ast, verbliebene Mitte-Links-Regierungen (Italien, Frankreich) sind auf Austerität und neoliberale Strukturreformen gepolt, rechtspopulistische Parteien, die sich als „antisystemische“ Kräfte profilieren, sind im Aufschwung. Formationen der radikalen Linken in Spanien und Portugal sind zwar erstarkt, aber bei weitem nicht in dem Maß, dass sie eine politische Linkswende durchsetzen könnten. Die Linke wird in weiten Bereichen als Teil des Establishments wahrgenommen. Dräger unterstreicht: Eine ohne Tabus geführte Debatte unter Linken über diese Probleme ist bitter nötig. Sebastian Chwala untersucht die „Nuit Debout“-Bewegung in Frankreich vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Front National und der Krise des Parti Socialiste. Einerseits konstatiert er das stärker werden einer linken politischen Opposition. Andererseits betont er, dass dieser linksoppositionelle Aufbruch bislang keinen parteipolitischen Ausdruck findet. Der Blick in eine andere Himmelsrichtung zeigt, in welchem Ausmaß im postsowjetischen Russland Putins rechte und religiös fundierte Tendenzen Konjunktur haben. Im Gespräch mit Gudrun Havemann analysiert Alexander Charlamenko die derzeitige ideologische Bedeutung der Religion in Russland. Charlamenko zeichnet nach, wie insbesondere der Kult um den Fürsten Wladimir an konterrevolutionäre russische Traditionen anknüpft und betont, dass diese Zuwendung zur Religion nicht als Ausweis der Stärke des gegenwärtigen russischen Regimes interpretiert werden kann.

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Weltwirtschaft und Finanzmarktkapitalismus: Die Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise von 2008 prägen noch immer die globale wirtschaftspolitische Agenda. Vor dem Hintergrund der internationalen Wirtschaftslage im Frühjahr 2016 vertritt Jörg Goldberg die These, dass der klassische Konjunkturzyklus in den entwickelten kapitalistischen Ländern gestört sei. Hauptmerkmal ist die anhaltende Investitionsschwäche und die damit verbundene Aufblähung der Finanzmärkte. Die derzeit herrschende Niedrigzinsphase ist einerseits eine Folge dieser Aufblähung, wirkt aber andererseits verstärkend auf diese zurück. Der wirtschaftliche Aufstieg der Schwellenländer und deren Emanzipation von der westlichen Dominanz haben neue, globale Akteure auf den Plan gerufen. Dieter Boris schildert die Herausbildung der BRICS-Gruppe und deren Institutionalisierung. Obwohl einige Mitgliedsländer derzeit mit wirtschaftlichen und politischen Krisen zu kämpfen haben, habe die Gruppe sich stabilisiert und beeinflusse die globalen Kräfteverhältnisse. Allerdings ist derzeit noch nicht absehbar, ob dieser Einfluss zur Entwicklung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung beitragen wird. Mohssen Massarrat setzt sich in Abgrenzung zu Hilferdings Verständnis des Finanzkapitals mit dem Begriff des Finanzmarktkapitalismus (FMK) auseinander, den er als eine spezifische historische Kapitalformation schildert, in der Kapitalakkumulation durch Umverteilung im Vordergrund steht. Der FMK blockiere Reformen im Kapitalismus und damit auch postkapitalistische Perspektiven. Daher sollten antikapitalistische Bewegungen den Kampf gegen die den FMK tragenden Teile des Kapitals in den Vordergrund ihrer Anstrengungen stellen und gesellschaftliche Allianzen bilden, die auch den Mittelstand einbeziehen.

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Kapitalismus und Migration II: In Fortsetzung des Schwerpunkts aus Z 105 (März 2016) bringen wir zwei Beiträge von der diesjährigen „Marxistischen Studienwoche“, die demselben Thema gewidmet war. Dominik Feldmann, John Lütten und Patrick Ölkrug zeichnen die Verbindungen zwischen den Widersprüchen des kapitalistischen Weltsystems und den regionalen und globalen Migrationsbewegungen nach. Sie liefern aktuelle quantitative und Struktur-Daten, beleuchten die Klassenfrage in Bezug auf die Zukunft der Geflüchteten in Deutschland und ergründen die häufigsten Fluchtursachen. Maximilian Pichl untersucht die juristische Seite von Migration, Asylpolitik und Grenzregimen auf der europäischen Ebene. Diskutiert wird die Strategie, durch Klagen vor dem europäischen Gerichtshof das „transnationale“ Flüchtlingsrecht über Präzedenzfälle und Musterurteile im Sinne der Menschenrechte mit zu gestalten.

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Weitere Beiträge: Nicht nur für die Kommunisten, für die Linke insgesamt brachte das Jahr 1956 tiefe Einschnitte. Dies gilt insbesondere für den XX. Parteitag der KPdSU und – in der Bundesrepublik – für das Verbot der KPD. Karl-Heinz Gräfe gibt anhand neuerer, insbesondere russischsprachiger Literatur einen Überblick zur „Jahrhundertrede“ Chruschtschows und zu den Massenrepressalien der Stalinperiode. In seiner „rechtlich-politischen Nachbetrachtung“ zum KPD-Verbot behandelt Hans-Henning Adler den historischen Kontext des Kalten Krieges und die Entscheidungsbegründung des Bundesverfassungsgerichtes. Nach den Analysen ausgewählter Streiks in Z 103 (September 2015) wird im vorliegenden Heft ein neues Untersuchungsverfahren („Streikmonitor“) vorgestellt, mit dem in Ergänzung zur bestehenden Berichterstattung verschiedener Institutionen systematisch Informationen über Streiks in der Bundesrepublik gesammelt werden sollen. Lea Schneidemesser und Juri Kilroy erläutern das Verfahren und werten erste Befunde aus. Eine halbjährliche Berichterstattung ist geplant (Förderprojekt der Heinz Jung-Stiftung). K. H. Tjaden und Margarete Tjaden-Steinhauer haben u.a. in dieser Zeitschrift zahlreiche Beiträge zur Weiterentwicklung historisch-materialistischer Gesellschaftstheorie, publiziert – Anregungen, die Georg Fülberth aus gegebenem Anlass resümiert, womit zur Debatte ermuntert werden soll. Es folgen ein weiterer Diskussionsbeitrag zur Innovationsökonomie sowie die Rubriken „Berichte“ und „Buchbesprechungen“.

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Der Abschluss dieses Heftes wurde überschattet vom Tod unseres Freundes, langjährigen Arbeitskollegen und Genossen Hermann Lenke. Er gehörte seit 1986 zum Mitarbeiterkreis des IMSF und hat nach 1990 in der ihm eigenen unprätentiösen Weise die Z-Arbeit in vielfältiger Weise unterstützt. Wie sehr wir ihm zu Dank verpflichtet sind, werden wir erst in Zukunft ermessen können.

Z 107 (September 2016) wird als Schwerpunktthema die aktuelle Debatte um „Transformation des Kapitalismus“ behandeln.