Frankreich kommt dieser Tage nicht aus den Schlagzeilen. Waren es in den letzten Jahren die immer weiter wachsenden Ergebnisse des rechtsradikalen Front National, die die öffentliche Wahrnehmung bestimmten, so wurden nach dem 13. November 2015 die Berichterstattung über den islamistischen Terror und die Reaktion des Präsidenten Hollande bestimmend. Dieser schlug eine Richtung ein, die der Vorsitzenden des Front National und deren Wählern das Herz höher schlagen ließ. Die Wahlergebnisse des FN sollten Ende November 2015 davon Zeugnis ablegen. So wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, der elementare verfassungsmäßige Rechte, so zum Beispiel die Gewaltenteilung, außer Kraft setzte. In der Folge konnten Polizei und Staatsanwaltschaft beinahe ungehindert Hausdurchsuchungen und Verhaftungen mit dem Ziel, der Terrorgefahr im Inneren Herr zu werden, vornehmen lassen, ohne das vonseiten der Betroffenen Einspruch hätte erhoben werden können.
Ausnahmezustand und innenpolitische Konflikte
Die Inkraftsetzung des Ausnahmezustandes diente jedoch eher dem Interesse, den wachsenden innenpolitischen Widerstand einzudämmen. So wurde schnell deutlich, dass diese Maßnahme als Einschränkung der Handlungsfähigkeit der Opposition gedacht war – bezeichnend für einen Präsidenten, dessen erneute Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2017 nur noch von 15 Prozent der Franzosen erwünscht wird. Wie ist es sonst zu verstehen, dass die Präfekten und Staatsanwälte keine islamistischen Terroristen, sondern linke Aktivisten und sogar Biobauern ins Visier nahmen, mitunter auch Beteiligte an den Protesten gegen ökonomisch und ökologisch fragwürdige Projekte, wie dem geplanten Großflughafen in der Gemeinde Notre-Dame-des-Landes bei Nantes oder aber ganz besonders die Gegner der Errichtung des Sivens Staudammes im Département Tarn?[1] Projekte, die Hollande und seine Minister samt sozialdemokratischer Akteure der Lokalpolitik seit 2012 bedingungslos, ohne Anhörung der Projektgegner durchziehen wollten. Schon damals wurde vielen Aktivisten dieser ökologischen Bewegungen, die anfangs große Hoffnungen in den ersten nominell linken Präsidenten seit beinahe 20 Jahren gesetzt hatten, klar, dass ein Ausbau demokratischer Mitbestimmung unter Hollande ein Mythos bleiben würde, wenn ökonomische Interessen diesen im Weg standen.
Doch damit nicht genug. Hollande stieß die Linkswähler nur kurz darauf ein weiteres Mal vor den Kopf. So sollten wegen Terrorismus verurteilte französische Staatsbürger, die im Besitz eines weiteren Passes waren, die französische Staatsbürgerschaft verlieren. Schien eine härtere Sanktionspolitik gegen Terroristen damals unter den Wählern der Rechten und der Linken als legitim, verlangte ein derartiges Vorgehen einen Bruch mit dem republikanischen Selbstverständnis, grundlegender Bezugspunkt für alle linken und progressiven Milieus in Frankreich, dass alle Staatsbürger als gleich vor dem Gesetzt erachtet und demzufolge keine ethnischen Abstufungen der staatsbürgerlichen Rechte erlaubt, wie es dagegen die radikale Rechte verlangt. Im Februar 2016 entschied man sich innerhalb der PS sogar dafür, den grundsätzlichen Verlust der Staatsbürgerschaft als Strafe für terroristische Aktivitäten gesetzlich zu verankern. Ein eklatanter Bruch mit der UN-Konvention von 1961. Erst die bürgerlichen Rechtsparteien mit ihrer Mehrheit im Senat stoppten die Regierung! Die Parti socialiste hatte die Ex-Gaullisten und Rechtsliberalen, die „nur“ die Doppelpassbesitzer sanktionieren wollten und in der 2. Parlamentskammer über eine komfortable Mehrheit verfügten, noch rechts überholt.[2]
Das Loi El Khomry und der Bruch zwischen PS und
jüngerer Generation
Diese Debatte gab den rassistischen und identitären Scheinlösungen, die den Ausstoß aller nicht-europäischen Fremden aufgrund ihrer Herkunft und kulturellen Eigenschaften aus der Gesellschaft forderten, neue Legitimität. Doch während die Muslime und Minderheiten als Sündenböcke fungierten, lief von Seiten der Unternehmerverbände und Teilen der Regierung seit Sommer 2015 eine gut orchestrierte Kampagne gegen die Errungenschaft der einst starken und klassenbewussten Arbeiterbewegung, den „Code du travail“ (Arbeitsgesetzbuch) an. Doch heutzutage, im Zeitalter hoher Erwerbslosigkeit und kriselnder Gewerkschaften, wird von den Unternehmerverbänden der gesetzlichen Regulierung von Arbeitszeiten, Löhnen und Gewerkschaftsrechten der Kampf angesagt. Unternehmernah wie eh und je, begann die Regierung deshalb im Frühjahr 2015 mit Überlegungen, hier die Axt anzusetzen.[3]
Diesen Forderungen wurde das Loi El Khomry, vorgestellt im März 2016 und benannt nach seiner Namensgeberin, der Arbeitsministerin Myriam El Khomry, gerecht. Hauptknackpunkt des Gesetzes ist die Streichung der 35-Stunden-Woche, die seit Ende der 1990er Jahre als Regelarbeitszeit festgeschrieben war. In Zukunft sollen Arbeitszeiten von bis zu 60 Stunden in der Woche möglich sein, während Überstundenzuschläge gekürzt und Abfindungen, deren Höhe bisher die Arbeitsgerichte verhandelten, gedeckelt werden sollen – offensichtlich um den Unternehmern finanzielle Planungssicherheit für Entlassungen zu geben. Die Heftigkeit der Proteste gegen dieses Gesetzespaket lässt sich aber nicht nur durch den Widerstand gegen die vorgesehenen Maßnahmen erklären. Viel mehr wird das französische Arbeitsrecht auf den Kopf gestellt. Bisher regelten nationale Gesetze die Arbeitsbedingungen. Tarifverhandlungen ergänzten diese nur, durften aber nicht hinter die gesetzlichen Regelungen zurückfallen. Jetzt wird unter dem Deckmantel des Ausbaus der „Sozialpartnerschaft“ die Ausgestaltung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse fast vollständig auf die Betriebsebene verlagert. Dort werden in Zukunft Interessenvertretungen der Beschäftigten – Gewerkschaftsvertretungen sind in der Privatwirtschaft längst nicht mehr die Regel –, aus Angst vor Arbeitsplatzabbau Verschlechterungen, gerade im Bereich der Regelung der Arbeitszeiten und der Lohnfindung, zustimmen.
Bemerkenswerter Weise waren es junge Menschen, die ohnehin schon unverhältnismäßig viel stärker von Erwerbslosigkeit betroffen bzw. bedroht sind als die älteren Generationen, die sich an die Spitze der Gegenbewegung stellten. So gehen 25 Prozent der 18 bis 25jährigen keiner Erwerbsarbeit nach, während in der älteren Generationen oftmals nur eine von zehn Personen von Erwerbslosigkeit bedroht ist.[4] Und das, obwohl die junge Generation im Verhältnis zur Bundesrepublik überdurchschnittlich qualifiziert ist. So besitzen zwei Drittel der Schulabgänger in Frankreich das Abitur bzw. Fachabitur. Selbst ein folgendes Hochschulstudium ist keine Garantie auf eine sichere Zukunft, da nur knapp mehr als die Hälfte der diplomierten Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen.[5] Viele der Sympathisanten der Sozialdemokratie (aber auch der radikalen Linken) und Wähler Hollandes 2012 stammten aus dieser Generation junger Erwachsener. Sie hatten für sich von der erhofften „Linkswende“ mehr soziale Gleichheit erhofft. Aber nicht nur das. Viele erhofften sich, dass der allgegenwärtigen Ausgrenzungspolitik gegen Muslime, aber auch gegen Roma, ein Ende bereitet würde. Die Desillusionierung über die etablierte Politik ist in dieser Generation besonders hoch. Mit der ultraliberalen Wende auf dem Feld der Wirtschaftspolitik ist nun der entscheidende Bruch zwischen (jungen) Linken und der PS erfolgt.[6]
„Nuit Debout“
Gerade die akademisch geprägte urbanere Fraktion artikulierte ihre Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen zuerst. Dies geschah während der ersten „Nuit Debout“, die vom gleichnamigen Kollektiv unter der Federführung des Ökonomen Frédéric Lordon und des Journalisten und Dokumentarfilmers François Ruffin seit Ende Februar vorbereitet worden war, als sich hauptsächlich junge Menschen zu hunderten auf dem „Place de la République“, einem traditionellen Versammlungsort der politischen Linken im Osten von Paris, zusammenfanden. Die Ziele von „Nuit Debout“ waren bewusst wenig konkret. Ziel sollte es sein, durch die symbolische Inbesitznahme öffentlicher Plätze, die auch als Kritik gegen die zunehmende Privatisierung städtischer Räume verstanden wird, Diskussionsprozesse über die demokratische Wiederaneignung von Staat und Ökonomie in Gang zu setzen.[7] Die Strukturen, die sich dabei entwickelt haben, erinnern stark an die Bewegung der „Empörten“ in Spanien oder der „Occupy“ Bewegung in den USA im Jahre 2011. So führt eine strikte Ablehnung von parteipolitischer Vereinnahmung und der Herausbildung von Ungleichheiten zu strenger Regulierung von Redezeiten auf den Arbeitsgruppentreffen und Vollversammlungen (maximal fünf Minuten), die jedes Zusammentreffen im Rahmen der „Nuit Debout“ einleiten, und zu einem täglichen Wechsel der Moderatoren und Vorbereitungsgruppen der einzelnen Zusammenkünfte. Auch für Yanis Varoufakis, der Mitte April der Pariser „Nuit Debout“ einen Besuch abstattete, wurden diese Regeln nicht außer Kraft gesetzt.[8]
Zwar versuchte die bürgerliche Presse, „Nuit Debout“ relativ schnell als eine Bewegung weltfremder Menschen aus der Mittelschicht darzustellen. Allerdings scheint die Strategie der Eindämmung aufs erste gescheitert, wie die schnelle Ausdehnung dieser Aktionsform bis auf die Ebene mittelgroßer Provinzstädte zeigt.[9] Zugleich bezeugen Umfragen eine unerwartet hohe Zustimmung für die Aktivsten unter jungen Erwachsenen. So können über 80 Prozent dieser Altersgruppe die Beweggründe von „Nuit Debout“ nachvollziehen und gute 60 Prozent würden sich gerne beteiligen.[10] Allerdings dürfte diese vermeintliche Stärke der Bewegung auch eine Schwäche sein. So schön es sein mag, möglichst breite Formen der Beteiligung zu schaffen – ohne die Formulierung eines konkreten politischen Projekts samt Formen seiner Umsetzung dürfte einem dauerhaften Bestand von „Nuit Debout“ Grenzen gesetzt sein.[11] So sind die nicht-akademischen Milieus aus der Unter- und Mittelschicht, im Gegensatz zu „prekären Intellektuellen“, die sich sehr wohl beteiligen, in dieser Bewegung kaum präsent.[12] Nicht umsonst twitterte Marion Maréchal-Le Pen, Nichte von Marine Le Pen und Wortführerin des traditionalistischen und wirtschaftsliberalen Flügels innerhalb des Front national, im April 2016 das Foto eines Bäckers, der sinnbildlich für die echte „Nuit Debout“, also die arbeitende und produktive Fraktion der „Nachtaktiven“ stünde. Die vermeintlichen Utopien der ökonomisch privilegierten (linksradikalen) Akademiker und der „harte Überlebenskampf“ der „geerdeten und vernünftigen“ Arbeiter und Kleinunternehmer, der realistischer und pragmatischer Entscheidungen bedürfe, seien, so wird suggeriert, politisch nicht miteinander vereinbar. Ein Stereotyp, dass die Rechte bewusst bedient, um die Verbindung aller lohnabhängigen Gruppen zu verhindern. Außerdem ist die Beteiligung der von Rassismus, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Armut besonders betroffenen Banlieus im aktuellen Stadium der Proteste nur sehr gering, trotz des Versuchs, Mitte April eine „Nuit Debout“ in St. Denis vor den Toren von Paris durchzuführen.
Wenigstens für einen kurzen Moment scheinen die mediale Dominanz der radikalen Rechten und ihr Plädoyer, die begrenzten Privilegien der ökonomisch abgesicherten Mittelschichten durch Ausgrenzung von Fremden und so genannten „sozial Schwachen“ zu bewahren, gestoppt zu sein. Denn für die „Jungen“ ist die Gefahr des Statusverlusts gering. Ihre Chancenlosigkeit im Bemühen um eine sichere Existenz ist allgegenwärtig. Doch die klassischen (Links-)Parteien mit ihren internen Macht- und Ränkespielen sind den sich politisierenden jungen Menschen in hohem Maße fremd, während die wirklichen Probleme, – wie eklatante soziale Ungleichheit, aber auch die sich anbahnenden Klimakatastrophe – ungelöst bleiben.
Leider fallen aber auch die Gewerkschaften als enger Bündnispartner aus. Betrachten doch viele Aktivisten deren Organisationsstrukturen als besonders hierarchisch. Gerade im selbsterklärten Mutterland des Liberalismus scheint die Überbetonung des Individualismus als Grundnotwendigkeit der politischen Auseinandersetzung maßgebend zu sein. Demzufolge wird offensichtlich in die sozialen Bewegungen, die themenspezifisch und temporär und ohne allzu feste Strukturen auf der „Mikroebene“ arbeiten, hohes Vertrauen gesetzt. Dagegen wird linken politischen Organisationsformen unterstellt, mit ihren grundsätzlichen Transformationsvorstellungen von gesellschaftlichen Strukturen, welche natürlich auch hegemonialer Positionen im Staatsapparat bedarf, autoritäre und freiheitseinschränkende Maßnahmen vornehmen zu wollen. Die neoliberale These, vom Grundwiderspruch zwischen staatlichen Regulierungsanspruch und zivilgesellschaftlicher Autonomie ist den Köpfen der „Nuit Debout“-Aktivisten noch präsent.
Dennoch, „Nuit Debout“ könnte eine ähnliche Entwicklung einleiten, wie wir sie derzeit in den USA erleben. Hier trägt die Generation Occupy einen selbsterklärten Sozialisten, Bernie Sanders, vielleicht nicht zum Sieg in den Vorwahlen der demokratischen Partei. Aber der Überdruss über die Machenschaften zwischen politischem Establishment und der kleinen gesellschaftlichen Elite hat einen massiven Groll unter den Jungen ausgelöst und zu einer Verschiebung des politischen Koordinatensystems nach links beigetragen. Gerade in einem Land wie Frankreich, dessen Gesellschaftsstruktur einen vergleichbaren elitären Charakter besitzt, könnte eine Wahlkampagne wie jene von Sanders auf ähnliche Resonanz stoßen. Ob Jean-Luc-Mélenchon, der schon 2012 als gemeinsamer Kandidat von PCF und Parti de Gauche und mehreren linken Kleinstparteien antrat, diese Rolle nächstes Jahr füllen kann, bleibt jedoch höchst fraglich. Zwar steigen seine Umfragewerte (sie lagen bei Abschluss dieses Beitrags zwischen 12 und 16 Prozent), aber sie steigen derzeit nur auf Kosten Hollandes, während die Rechte einem sicheren Sieg entgegen zu steuern scheint. Zu sehr wird Mélenchon als Ex-Minister und Mitterand-Bewunderer als Teil des politischen Establishments der V. Republik wahrgenommen. Vielleicht ist dies auch Teil der Erklärung dafür, warum kaum „Nuit Debout“-Aktivist_innen den Weg zu PCF oder Parti de Gauche finden.
[1] État d’urgence: perquisitions et assignations dans les milieux zadistes et alternatifs; Le Monde 27.11.2015.
[2] Le Sénat enterre la déchéance de la nationalité; Le Monde 16.3. 2016.
[3] Flexibilité du travail: ce que prépare le gouvernement; Le Parisien 30.3. 2015.
[4] La France en statistique S.4-8; Beilage Maiheft 2016 der Zeitschrift „La Revue du Project“.
[5] Les conditions d`emplois des jeunes diplômés se dégradent; Le Monde 1.10. 2015.
[6] Christophe Aguiton: Nuit debout se nourrit d`une triple rupture gouvernementale; Libération 8.4. 2016.
[7] Que se cache-t-il derrière „Nuit Debout“ ? Les Echos; 5.4.2016.
[8] Nuit Debout“, un mouvement qui se structure; Yahoo Actualité 17.4.2016.
[9] Laut der Homepage von „Nuit Debout“ (Stand 21.4.2016) existieren in Frankreich über 100 lokale Ableger.
[10] Ifop; April 2016 Link: http://www.ifop.com/?option=com_publication&type=poll&id=3361.
[11] Laura Reims: Nuit debout: comment dépasser l`experience citoyenne dans un project politique?; regards.fr. 9.4.2016.
[12] Albert Ogien: Il faut souhaiter que la Nuit debout transforme le rapport de la gauche et des citoyens; regards.fr. 8.4.2016.