Krisenreaktionen in Europa

Postsozialismus = Kapitalismus Wladimirisierung des ganzen Landes?

Ein Gespräch mit Gudrun Havemann

von Alexander Charlamenko/Gudrun Havemann
Juni 2016

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G. H.: Im vergangenen Jahr jährte sich zum 1000. Male der Todestag von Fürst Wladimir dem Heiligen, der in Russland ungewöhnlich pompös gefeiert wurde. Du hast diesem Vorgang einen langen Artikel gewidmet – warum war dir das die Mühe wert?

A. C.: „Nicht um des Fürsten Wladimir willen“ – möchte ich mit einer Zeile antworten, die aus dem russischen Epos über Ilja Muromez stammt, und so ist auch mein Artikel betitelt.

Denn als im verregneten Juli 2015 in Moskau ein hitziger „Denkmalsstreit“ darüber entbrannte, wo genau die geplante 24 Meter hohe Wladimir-Statue errichtet werden sollte, fragte ich mich zunächst in der Tat, ob die Leute – inmitten von Ukraine-Krise, westlichen Sanktionen, islamistischem Terrorismus – keine anderen Sorgen hatten. Bei näherer Betrachtung lässt sich daran aber ein überaus bezeichnendes Panorama unserer gegenwärtigen Situation skizzieren.

Worum ging es beim Jubiläum? Unter dem Fürsten Wladimir war die Kiewer Rus nach byzantisch-orthodoxer Liturgie christianisiert worden. Dass jener historische Wladimir an dem Ort, wo sich heute Moskau befindet, nie gewesen war, dass damals von Moskau nicht einmal als “Projekt“ die Rede sein konnte, schert unsere frischgebackenen Ideologen kaum. Die Ironie der Geschichte wollte es auch, dass ihm die Orthodoxe Kirche den Titel eines Heiligen erst viel später verlieh – keiner weiß, wann genau, was an sich schon ungewöhnlich ist: Stets wurden doch Könige, Zaren, Fürsten etc., die ihre Länder zum Christentum bekehrt hatten, dafür im Anschluss heilig gesprochen – nicht so in diesem Fall. Aus bestimmten Gründen hielt man das in diesem Fall nicht für angebracht.

G. H.: Inzwischen aber gibt es einen regelrechten Kult um diesen Wladimir. Wer betreibt ihn, wem nützt er?

A. C.: Zum einen muss konstatiert werden, dass die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) in den Jahrzehnten nach dem Fall der UdSSR wieder die Rolle einer Staatskirche beansprucht, obwohl Russland seiner Verfassung nach unbestritten ein weltlicher Staat ist. Dieser Staat versetzt aber de facto die ROK fortlaufend in eine besonders privilegierte Position und belohnt zielgerichtet die Wiedergeburt von Religiosität, vor allem in ihrer orthodoxen Variante. In ganz Moskau werden massenhaft Kirchen gebaut, wie es aussieht mit dem Ziel, dass unbedingt für jeden Moskauer ein orthodoxer Tempel fußläufig zu erreichen sein soll.

Das Gefährliche daran: Klerikalismus geht stets Hand in Hand mit Monarchismus. Seitdem Putin im Jahre 2000 Präsident wurde, bildete sich in seiner Administration eine Gruppierung von – wie ein fortschrittlicher Christ damals sehr treffend bemerkte – „Orthodoxoiden-Monarchoiden“: Sie führten nicht nur das Morgengebet vor Arbeitsbeginn der Regierung ein, und es sind nicht einfach nur Anhänger der besonderen Rolle der ROK, sondern eindeutig orthodoxe, monarchistische Extremisten. Ihnen persönlich haben wir die offizielle Erhebung der „Zarenfamilie“ der Romanows zu „Russländischen Neu-Märtyrern“ im Jahre 2000 zu verdanken, wobei zum Zeitpunkt ihrer Erschießung, die sie zu Märtyrern gemacht habe, der „Zaren“-Zusatz zum Familiennamen unangebracht ist. Außerdem kann für diese Familie nicht bestätigt werden, dass sie im Kampf um ihren Glauben umgekommen wäre – was normalerweise Bedingung für eine Heiligsprechung ist.[2]

G. H.: Inwiefern ist diese Frage von politischer Brisanz?

A. C.: Die radikalsten Monarchisten hatten stets behauptet, dass die Abdankung des Zaren 1917 ungültig sei, weil man den Zaren letztlich dazu gezwungen hätte. Demzufolge sei Russland de jure immer eine Monarchie geblieben.[3] Wenn nun ein Staat mit einer der Verfassung nach republikanischen Regierungsform gerne aktuelle Initiativen zur Anerkennung des besonderen Status des „Russländischen Kaiserhauses“ begrüßt, während jegliche Erwähnung der UdSSR mit dem Zusatz „ehemalig“ versehen wird, ist das sehr bedenklich.

Seit langem erschallen zudem aus Kreisen der Rechten, ob in ihrer nationalistischen, national-orthodoxen oder prowestlich-liberalen Version, Forderungen nach der Entfernung von Lenins Leichnam aus dem Mausoleum und der Grabstätten anderer sowjetischer Persönlichkeiten von der Kremlmauer, nach der Schleifung aller Denkmäler jener Epoche, so wie es in der Ukraine längst passiert. Das alles schafft einen höchst gefährlichen Präzedenzfall für die angestrebte Vertiefung der Entsowjetisierung und Entkommunisierung Russlands, für die Erklärung der gesamten Sowjetperiode zu einer im Grunde kriminellen Machenschaft.

Leider erlaubte sich Präsident Putin am 21. Januar 2016 an Lenins Gedenktag eine völlig zusammenhangslose, wirre Äußerung, die sich für diese gefährlichen Ziele missbrauchen lässt, als er verkündete, dass Lenin Russland gleichsam eine Atombombe untergeschoben hätte. Wie kann man so etwas vom höchsten Staatsposten her verkünden? Wobei das ziemlich unklar formuliert wurde und es womöglich ein Freudscher Versprecher war, weil man Russland gerade vorwirft, einen Atomkrieg zu planen...

Gemeint war offenbar, dass letztlich Lenin schuld am Zerfall der UdSSR sei – und zwar wegen seines Standpunkts, dass es ein Recht auf Loslösung der Republiken von der Union geben müsse (was außerhalb des historischen und argumentativen Kontextes und auch ohne Bezugnahme auf Stalins Position und Rolle gar nicht verstanden und beurteilt werden kann).

Ich halte das insofern für gefährlich, weil es nicht nur ein Zugeständnis an diejenigen ist, die mit Lenin endgültig abrechnen wollen. Gerade im Vorfeld des 100. Jahrestags der Oktoberrevolution wird diese Äußerung darüber hinaus in der Ukraine und in anderen Republiken benutzt werden können, der russischen Regierung vorzuwerfen, dass diese angeblich erneut alle Nachbarn erobern möchte, weil sie nicht die Legitimität ihres Austritts aus der UdSSR anerkennen würde. Dabei hatte ja genau diese Regierung, geführt von Jelzins Hand, bei ihrem Beloweshsker Treffen die Auflösung der UdSSR unterschrieben!

Gerade heute, wo Russland von wem auch immer, der gerade Lust dazu hat, permanent als „Aggressor“ beschimpft, der „Annexion der Krim“ beschuldigt wird, der Besetzung des Donbass usw., wird damit den Extremisten ein fertiges Argument geboten zur Bestätigung für die „Aggressivität Russlands“.

Diese Art Masochismus von Putin kann ich wahrlich schwer nachvollziehen.

Allerdings muss man auch hinzufügen, dass sich sofort nach dieser wirren Äußerung Putins ein Sturm der Entrüstung vor allem durch verschiedene Internetplattformen entfaltete und er selbst schon wenige Tage später, bei einem Treffen der „Volksfront“ in Stawropol, versuchte zurückzurudern: Er würde die Idee des Kommunismus durchaus für positiv halten, sogar seinen Parteiausweis aufbewahrt haben und habe sich auf Lenin und Stalin immer mit Respekt bezogen – offenbar hatte er gemerkt, dass sich die Stimmung massenhaft gegen ihn gekehrt hatte.

Nun ist aber auch dieser Rückwärtsgang erneut so inkonsequent und verwirrend verlaufen, dass das ganze Manöver nur Schaden bringen wird.

Einerseits gibt Putin damit allen Rechten die Möglichkeit, ihn außerdem noch zu beschuldigen, dass er nicht mit der Sowjetära brechen, seinen Parteiausweis aufbewahren, die moralische Überlegenheit des Kommunismus anerkennen würde usw. Zugleich aber verpackte er das wieder in einen Strom zusammenhangloser Phrasen über die Repressalien der ersten Jahre der Sowjetmacht, bei denen angeblich so gut wie alle Geistlichen erschossen worden wären, wobei er eine um Größenordnungen höhere Ziffer nannte, als diejenige, von der selbst die weiße Emigration ausgeht. Außerdem erwähnte Putin in diesem Zusammenhang erneut die Erschießung der „Zarenfamilie“, womit er wirklich einen Sprengsatz in die gegenwärtige russische Republik liefert: Denn, wie gesagt, bedeutet das de facto die Nichtanerkennung der Abdankung des Zaren.

G. H.: Was hat das alles mit dem Fürsten Wladimir zu tun?

A. C.: Nun, niemand in Russland hatte zuvor diesen Fürsten für sonderlich bedeutend gehalten, nicht mal die ROK – mit einer Ausnahme: Die extremen Rechten, vom Schlage der Schwarzhundertschaften, sprachen schon vor der Revolution und in der weißen Emigration buchstäblich von nichts anderem als von dieser Figur. Die Russische Faschistische Partei, geführt von Rodzajewski, die in der 1930er Jahren von weißen Emigranten in der Mandschurei gegründet worden war, benutzte zum Zeichen ihres orthodoxen Glaubens ein Abzeichen mit der Abbildung des Fürsten Wladimir.

G. H.: Du siehst also am Beispiel des neuen Wladimir-Kultes Anzeichen eines schleichenden Rechtsrucks in der russischen Führung? Wen muss man sich unter den russischen Rechten vorstellen?

A. C.: Ich verfüge nicht über die nötigen Details über die verschiedenen Personen aus diesen Kreisen, aber ich kann z.B. eine, viele von uns sehr alarmierende, Tatsache benennen: Im März 2015 fand nicht irgendwo, sondern in St. Peterburg und nicht irgendwann, sondern während der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Sieges über den Faschismus, in Leningrad also, als einer Stadt, die die Blockade überlebt hat, eine Zusammenkunft von rechtsextremen Parteien ganz Europas statt – auf Initiative der Bewegung „Heimat“, die vom gegenwärtigen Vizepremier Dmitrij Rogozin geleitet wird, der früher der offizielle Vertreter Russlands in der NATO war. Er inszeniert sich als vollendeten Patrioten und Nationalisten und lässt keine Gelegenheit aus, um den dekadenten Westen zu beschimpfen, aber sein ganzes politisches Leben konzentriert sich darauf, westliche Bündnispartner unter den Rechtsextremen zu finden. Das alles erweckt großen Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner patriotischen Ambitionen in mir.

Gerade in einer Zeit, wo Russland durch westliche Sanktionen geschwächt wird und mit der Zuspitzung der militärpolitischen Lage seitens der NATO zu kämpfen hat, sucht die russische Regierung nicht etwa nach echten und wichtigen Verbündeten in Westeuropa und der übrigen Welt, die sie unter den Linken finden könnte. Denn es ist Tatsache, dass niemand so sehr die Interessen Russlands in der Frage des Donbass und der Krim verteidigt hat, wie die europäischen Linken und ihre Fraktion im Europäischen Parlament. Übrigens wird dieser Umstand äußerst unwillig von den russischen Medien aufgegriffen. Kontakte zu den europäischen Linken auf Regierungsebene werden nicht gesucht, stattdessen werden beständig Spielchen mit den extremen Rechten gespielt. Deren Einfluss auf die russische Regierung wird allerdings meist überschätzt. Die stärkste unter ihnen, der französische Front National, scheut bisher vor offenen Kontakten zu russischen Regierungskreisen zurück.

Alles zusammen genommen zwingt aber zu der Schlussfolgerung, dass es in der Struktur des herrschenden Regimes selbst Anhänger eines weiteren Rechtsrucks gibt, die insbesondere darauf setzen, aus der gegenwärtigen Sackgasse (in Bezug auf die Ukraine, Syrien u.a.) herauszukommen, indem man die Verständigung mit der künftigen US-Regierung sucht, die – ihrer Hoffnung nach – rechtsrepublikanischen Charakter tragen wird.

G. H.: Was unterscheidet diese Rechten von den prowestlichen Liberalen?

A. C.: Zum einen beschimpfen diese Rechtsextremen und Nationalisten fortlaufend die prowestlichen Liberalen. Zum anderen aber sieht man sie wieder ganz einmütig zusammen demonstrierend auf den Straßen, wo sich inzwischen fast alle Oppositionelle, auch faschistoide Rechtsradikale, die weißen Bändchen der Liberalen anlegen.

Die ganze internationale Erfahrung zeigt, dass ihre Positionen zumindest in der Wirtschaftspolitik faktisch ineinander verschmelzen. Die einen wie die anderen treiben eine neue Etappe von Privatisierungen voran, die einen wie die anderen vertreten angesichts des Erdöl- und Rohstoffpreisverfalls eine Austeritätspolitik auf Kosten der Werktätigen, und auf dieser Basis werden sie tatsächlich ununterscheidbar, wie es z.B. in Argentinien, in Serbien und in vielen anderen Ländern schon passiert ist.

G. H.: Aber kommen wir zum Wladimir-Kult zurück, dir waren noch zwei weitere Aspekte wichtig ...

A. C.: Genau, der zweite wichtige Aspekt: Fürst Wladimir genoss schon lange eine besondere Verehrung in der Ukraine, und zwar seitens der ukrainischen Nationalisten. Unmittelbar nach der Zerstörung der UdSSR, als die Ukraine „selbständig und unabhängig“ wurde, verkündete man von offizieller Seite umgehend, dieser wäre angeblich König Wassilij I. gewesen. Der Name „Wassilij“ war dem Fürsten Wladimir bei seiner Bekehrung verliehen worden. Und dies sei angeblich der König eines Staates „Rus – Ukraine“, was aus historischer Sicht natürlich eine reine Erfindung ist, weil die Bezeichnung „Ukraine“ erst Jahrhunderte später in der Geschichte auftaucht. Unbestritten bleibt, dass in Kiew, wo bis vor kurzem das einzige, noch vor der Revolution errichtete Wladimir-Denkmal stand (das übrigens von niemandem je angetastet oder zerstört worden war, sondern heute immer noch dort steht), die älteste und innigste Verehrung Wladimirs stattfand.

Ich denke, dass mit dem heute in Moskau ausgelösten Wladimir-Kult das Bestreben verknüpft ist, diese Figur nicht allein der Ukraine zu überlassen, mit der man sich nun endgültig überworfen hat. Bis vor kurzem war die Sache ja kaum einer Erwähnung wert, vielleicht, weil man in dieser Bezugsfigur noch irgendein Element einer gewissen nachsowjetischen Gemeinsamkeit mit der Ukraine erblicken konnte. Als man sich nun aber derart mit Kiew überworfen hatte, beschloss man wohl, dieses Symbol wenigstens zum Teil der Ukraine zu entreißen.

G.H.: Mag denn auch Wladimir Wladimirowitsch Putin selbst diese Figur besonders leiden?

A.H.: Selbstverständlich! Man kann sagen, dass der Heilige Wladimir gleichsam den doppelten Schutzherrn für unseren Präsidenten gibt. Und auch Putin, nicht nur die ukrainischen Nationalisten, instrumentalisiert seinen persönlichen Patron zur Rechtfertigung der eigenen politischen Strategie. So fand er in seiner Botschaft an die Föderationsversammlung im Dezember 2014 keinen besser geeigneten historischen Bezug für die Wiedervereinigung der Krim mit Russland als das Taufbecken des Fürsten: „Auf der Krim leben unsere Leute, und das Territorium selbst ist deshalb (!) von strategischer Bedeutung, weil sich genau hier die geistige Quelle der Entstehung einer vielgestaltigen, aber monolithen russischen Nation und eines zentralisierten russischen Staates (!) befindet. Denn genau hier, auf der Krim, im alten Cherson (...) nahm Fürst Wladimir das Christentum an und christianisierte anschließend ganz Russland.“ Das Oberhaupt eines weltlichen Staates dachte dabei nicht einmal daran, seine Zeitgenossen und die ganze Welt an das russische Blut zu erinnern, mit dem die Erde der Krim getränkt ist – von den Feldzügen des Fürsten Swjatoslaw bis zum Sturm des Sapun-Bergs vor 70 Jahren[4]. Dafür verglich er – wobei er wohl die mittelalterlichen Chronisten noch überholen wollte – Sewastopol mit dem Tempelberg von Jerusalem, wahrlich einem beneidenswerten Vorbild für Frieden und Harmonie ...

Und beim feierlichen Gottesdienst in der Moskauer Erlöser-Kathedrale am 28. Juni 2015 betonte Putin vor den anwesenden Vertretern der 15 orthodoxen Kirchen der Welt, dass die „Christianisierung offensichtlich (!) zum Schlüsselereignis der gesamten russischen Geschichte, Staatlichkeit und Kultur“ wurde und es „unsere Pflicht“ sei, „diese schicksalsträchtige Etappe von Russlands Entwicklung zu ehren“ – womit er noch den Patriarchen Kirill übertraf, der lediglich dafür betete, dass „der Heilige Wladimir mit uns sei und unser Volk erleuchten“ möge ...

Kurzum, so nahm die „Wladimirisierung des ganzen Landes“ ihre Fahrt auf, wozu die einflussreichen Speichellecker seiner engsten Umgebung ihr Scherflein beitrugen. Womöglich liegt schon im Zusammenfall der Namen ein Fingerzeig Gottes – wenn schon nicht auf künftige Heiligsprechung, so wenigstens auf seine „fürstliche Regentschaft“ zu Lebzeiten?

Ich möchte aber auch noch einen dritten Aspekt erwähnen, der gerade in den letzten Tagen hoch aktuell wurde, nämlich die sich gerade verändernden Beziehungen zur katholischen Kirche. Wladimir wurde nämlich als Heiliger nicht nur von den Orthodoxen, sondern auch von den Katholiken verehrt. Die Christianisierung Russlands unter Wladimir vollzog sich einige Jahrzehnte vor dem endgültigen Schisma der beiden großen christlichen Kirchen im Jahre 1054. Und die katholische Kirche erkennt Wladimir bis heute als Heiligen und Schutzherren – und zwar vor allem der Katholiken der Ukraine und Russlands – an. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass es früher nur ein recht unterkühltes Verhältnis des russischen Staates und der ROK zur Figur des Wladimir gab – vor wie nach der Revolution.

Inzwischen aber verdankt sich die Hochschätzung dieser Gestalt, wie es aussieht, auch Versuchen der Annäherung zwischen der ROK und dem Vatikan. Diese Annäherung findet natürlich mit Segen der russischen Regierung statt. Die ROK ist bekanntlich von allen in der Welt existierenden Kirchen in der Welt diejenige, die sich stets am stärksten der weltlichen Macht unterworfen hat. Niemals in der Geschichte hat sie je auch nur den minimalsten Ansatz zu politischer Eigenständigkeit gewagt.

Am 5. Februar 2016 wurde nun das Treffen zwischen dem römischen Papst Franziskus und dem Patriarchen der ROK Kirill auf Kuba angekündigt – zum ersten Mal seit dem Großen Schisma von 1054!

G. H.: Welche Perspektiven könnten sich aus dem Treffen für Russland ergeben?

A. C.: Bisher lässt sich das nur ganz vage vermuten! Das ist ebenfalls eine komplexe Gemengelage: Einerseits genießt Papst Franziskus, seiner Herkunft nach Argentinier, eine ziemlich fortschrittliche Reputation vor allem in Lateinamerika. Er äußerte öffentlich klare Kritik am Kapitalismus, an der Gefahr eines Atomkriegs und bemerkte neulich sogar, dass seiner Meinung nach ein neuer Weltkrieg bereits im Gang ist. Er verurteilt das Blutvergießen im Nahen Osten und an anderen Orten und wird dafür von den extremen Rechten angegriffen. Von dieser Warte aus könnte eine Annäherung zwischen ihm und dem Patriarchen der ROK, aber auch dem offiziellen Russland insgesamt, ein positives Zeichen setzen.

Doch zugleich setzte in den vergangenen Monaten in Lateinamerika eine Offensive der Rechtskräfte ein. Diese nahm genau in Argentinien ihren Anlauf, also im päpstlichen Heimatland, als Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen siegte. Das ist m. E. nicht unerheblich auch darauf zurückzuführen, dass der Vatikan im letzten Moment die Fronten wechselte. Fast bis Ende des Wahlkampfes hatte Franziskus faktisch Cristina Fernandez unterstützt. Sie hatte selbst den Vatikan besucht, sie war nach Kuba gereist, als der Papst dort zu Besuch war und hatte sich seinen Segen geholt, und es war allgemein anerkannt, dass der Vatikan auf ihrer Seite steht, also auf Seiten der „Front für den Sieg“, wie die Partei von Cristina Fernandez und ihres verstorbenen Ehemanns und Beraters Nestor Kirchner heißt. Doch im allerletzten Moment unterstützte der Vatikan plötzlich die Korruptionsvorwürfe der Rechten gegen die Führung der „Front für den Sieg“, was durchaus zu dem kleinen Vorsprung für die Opposition im zweiten Wahldurchgang und zum Wahlsieg von Macri beitrug.

Inzwischen verkündet nun der Wahlsieger Macri, dass er durchaus nicht beabsichtige, die Beziehungen zu Russland einzufrieren. Während er noch vor seiner Wahl davon sprach, dass er auf die Beziehungen zu den USA, und nicht auf die zu Russland und China setzen wird, betont er nun die Möglichkeit des Erhalts gegenseitig vorteilhafter Handelsbeziehungen mit Russland. Das Treffen der beiden Kirchenhäupter auf Kuba könnte durchaus auch damit zusammenhängen, was aber, wie ich befürchte, eher wenig erfreuliche Folgen verheißt, weder für Lateinamerika, noch für Russland.

G. H.: Warum?

A. C.: Man schaue sich nur an, welche Präsidenten der Amtseinführung von Macri beiwohnten, z.B. Serbiens Präsident, Tomislaw Nikolič, den die orthodoxen Nationalisten Russlands sehr lieben und für einen großen serbischen Patrioten halten. Ich kann mich übrigens deutlich daran erinnern, wie man ihn vor zwei Jahren gewählt hatte: Alle westlichen Staatsoberhäupter erklärten ihre Anerkennung seines Wahlsieges bereits auf der Grundlage von exitpoll, also von Wählerbefragungen nach Verlassen der Wahlkabinen, nicht etwa auf Basis wenigstens einer vorläufigen Stimmauszählung – ein bis dato beispielloser Fall: So eine Schmach, ja Unverschämtheit hatte es bisher noch nie gegeben.

Jedenfalls genießt offenbar diese Figur eine große Unterstützung im Westen, bei all ihrer orthodox-nationalistischen Phraseologie. Und ausgerechnet dieser Nikolič erscheint nun anlässlich der Amtseinführung in Argentinien – m.E. ein Zeichen für die Vernetzung und Vertiefung der Beziehungen zwischen den Rechten Osteuropas und Russlands einerseits und den Rechten Lateinamerikas andererseits. Und genau damit könnte auch der Orientierungswechsel des Vatikans zusammenhängen.[5]

Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund bedeutender Machtverschiebungen im Weltmaßstab statt, die von der russischen Propaganda und leider selbst von der russischen Opposition vollkommen verschwiegen werden: Ich meine die am 4. Februar vollzogene Gründung der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) der USA, Kanada, eine Reihe von lateinamerikanischen Staaten rechter Orientierung mit einer Reihe von Ländern Ostasiens, Australien und Neuseeland, die den weltweit größten wirtschaftlichen Mega-Block darstellt, sowie die Vorbereitung einer analogen Vereinbarung zur Transatlantischen Partnerschaft für Handelsinvestitionen (TTIP), die letztlich zum Aufgehen der Europäischen Union in einer noch größeren imperialistischen Vereinigung führen wird.

Ich befürchte, dass diese Verschiebungen von Russland bis Lateinamerika, den Vatikan eingeschlossen, davon unmittelbar beeinflusst sind. Und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob diese Tendenzen eine Perspektive für die Festigung des jetzigen Regimes in Russland bedeuten. Wenn dem so wäre, wenn man einen neuen Kompromiss mit Putin anstreben würde, dann würde man ihn nicht auf der ganzen Linie derartig ausfällig beschimpfen und bekämpfen, wie es gerade der Fall ist. Dann hätte es nicht diese ganzen Stories mit Litvinenko, mit Kaczynski, mit dem Raketenstart in der KVDR gegeben, und man würde ihn nicht buchstäblich für alles verantwortlich machen, was gerade schief läuft in der Welt. Ich befürchte, dass es sich hierbei um den Versuch handelt, die serbische Geschichte in Russland zu wiederholen: Milošević wurde seinerzeit von der Hand serbischer Nationalisten gestürzt, also nicht von der Hand prowestlicher Liberaler, sondern von denen, die danach Nikolič zum Präsidenten erhoben.

Und vor diesem Hintergrund könnte der gegenwärtig in Lateinamerika zu beobachtende Rechtsruck Folgen zeitigen, die nicht nur auf Lateinamerika beschränkt bleiben. Es handelt sich hier um Prozesse von planetarem Ausmaß, wenn man die Dimensionen der realen Transnationalisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft und Politik berücksichtigt – davon bin ich schon lange überzeugt.

[1] Das Gespräch fand am 8. Februar 2016 im Lateinamerika-Institut der Akademie der Wissenschaften in Moskau statt. (G.H.: Gudrun Havemann; A.C.: Alexander Charlamenko).

[2] Die katholische Kirche hat bekanntlich weder Ludwig XVI. heilig gesprochen, noch Marie Antoinette, und auch nicht den erfolglosen Maximilian I. von Habsburg, Kaiser von Mexiko – obwohl sie alle damals die Unterstützung der katholischen Kirche genossen. Selbige vermag aber offenbar eine Grenze zu ziehen zwischen Menschen als Opfer politischer Kämpfe und Menschen als Opfer religiöser Verfolgung. So wurde Thomas Morus, Autor der „Utopia“, letztlich heilig gesprochen, weil er sich geweigert hatte, die königliche Reformation anzuerkennen und sich vom katholischen Glauben abzuwenden. Dagegen werden Opfer politischer Verfolgungen in der Regel nicht kanonisiert.

[3] In der jüngeren europäischen Geschichte gibt es schon ähnliche Präzedenzfälle. Z.B. wurde nach Francos Tod in Spanien die Monarchie der Bourbonen wiederhergestellt. Auch die faschistische Horthy-Diktatur in Ungarn war offiziell als „Regentschaft“ aufgetreten, obwohl sie keineswegs vorhatte, zu den Habsburgern zurückzukehren, doch das Land galt dadurch als Monarchie. Das heißt, diese Methode wurde leider schon in der Tat und mit reaktionärster Zielsetzung praktiziert und ist etwas, was einen Sprengsatz in die gegenwärtige russische Gesellschaft werfen könnte!

[4] An diesem Berg fand im 2. Weltkrieg die berühmte Schlacht um Sewastopol und um die Krim statt.

[5] Inzwischen kann man an der Gemeinsamen Erklärung der beiden Kirchenoberhäupter erkennen, dass sich diese Befürchtung wohl leider bewahrheitet: Das Pathos des ganzen Pamphlets richtet sich gegen Atheismus und Säkularisierung, die als Hauptquellen allen Übels in der Welt gesehen werden, während die Kapitalismus-Kritik auf das Bedauern über Konsumdenken und Gier der Reichen eingedampft ist, kein Wort fällt über die Blockade gegen Kuba; und die Phrasen über die Rettung der Institution der Familie sprechen für sich – alles in allem ein zutiefst rechtskonservatives Machwerk. (Nachtrag des Autors v. 22. 2. 2016, vgl. http://www.katholisches.info/2016/02/13/kuba-hauptstadt-der-einheit-14-punkte-der-gemeinsamen-erklaerung-von-franziskus-und-kyrill/)