In der Vergangenheit konnten sich kritische Beobachter der wirtschaftlichen Entwicklung darauf verlassen, dass Produktion, Arbeits- und Kapitalmärkte im Kapitalismus dem Auf und Ab der Konjunktur folgen. Phasen beschleunigten Wirtschaftswachstums folgten Perioden, in denen die Produktion stagnierte oder gar zurückging – der Wechsel von Konjunktur und Krise in einem langfristig aufwärts gerichteten Trend der Wirtschaftsaktivitäten kann als eine der beständigsten Erscheinungen der entwickelten Industrieländer seit dem 19. Jahrhundert angesehen werden. Die zyklischen Krisen hatten dabei eine wichtige Funktion, weil sie dazu beitrugen, im Aufschwung notwendig auftretende Disproportionen zumindest zeitweilig zu bereinigen.
Verschwindet der Konjunkturzyklus?
Betrachtet man die weltwirtschaftliche Entwicklung der letzten 15 bis 20 Jahre, so kommen dies bezüglich Zweifel auf: Die Produktion in den entwickelten kapitalistischen Ländern folgte auch nach dem Zweiten Weltkrieg einem zyklischen Muster, wobei es alle sieben bis zehn Jahre – bei einem gewissen Vorlauf der USA – zu mehr oder weniger ausgeprägten Krisen kam. Den älteren Leserinnen und Lesern dürften noch die Jahre 1973/75, 1980/82, 1991/93 und vielleicht noch 2001/2003 als ‚zyklische‘ Krisenjahre in Erinnerung sein.[1]Angetrieben wurde der Krisenzyklus in den meisten Fällen durch einen starken Rückgang der Investitionen, die im Kapitalismus besonders unstetig sind: In den Krisenjahren gehen die Investitionen deutlich zurück, um anschließend wieder kräftig anzusteigen. Empirisch zeigt sich das an zyklischen Schwankungen der Investitionsquoten, dem Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dies ist kaum überraschend: Sehen die Unternehmen, dass ihr Absatz stagniert bzw. zu sinken droht, dann werden sie aufhören, ihren Produktionsapparat zu erweitern, werden fällige Ersatzinvestitionen zurückstellen, bis sich die Situation geklärt hat.
Für die jüngste Vergangenheit aber erscheint der Konjunkturzyklus gestört: Die Krise von 2008/2009 ist nicht nur jedermann noch im Gedächtnis; die meisten Beobachter sind sich einig, dass sie bis heute noch nicht überwunden ist. Zunächst fällt auf, dass sie zeitlich relativ dicht auf die Rezession von Anfang der 2000er Jahre folgte: Die USA, die die Rezession 2001/2002 gerade erst überwunden hatten, begannen bereits 2007 wieder in die Krise zu rutschen. Deutschland, das 2003 in eine Rezession abgeglitten war, sah sich bereits 2008 einem neuen, tiefen Produktionseinbruch gegenüber. Ähnliches gilt für die anderen großen Industrieländer, mit Ausnahme von Japan: Dieses Land steckt seit Anfang der 1990er Jahre in einer Stagnationsperiode, aus der es sich bis heute nicht hat lösen können. Es dauerte in den meisten großen Industrieländern nach dem schweren Einbruch 2008/2009 vier bis fünf Jahre, bis der Vorkrisenstand wieder überschritten werden konnte. Einige südeuropäische Krisenländer haben das bis heute nicht geschafft. Einen länger anhaltenden Aufschwung hat es seither nicht mehr gegeben, was den Internationalen Währungsfonds (IWF) dazu veranlasst, den Wirtschaftsausblick (WEO) vom April 2016 mit „Zu lange zu langsam“ (too slow for too long) zu betiteln. Seither wird immer wieder darüber spekuliert, ob nicht eine erneute Rezession bevorsteht.
Tabelle 1: Veränderung der Weltproduktion 2015/2017 in Prozent, Vorausschätzung
Region/Land
2015
2016
2017
Welt
+ 3,1
+3,2
+3,5
Fortgeschrittene Länder
+ 1,9
+ 1,9
+ 2,0
- USA
+ 2,4
+ 2,4
+ 2,5
-Japan
+ 0,5
+ 0,5
- 0,1
Eurozone
+ 1,6
+ 1,5
+ 1,6
- Deutschland
+ 1,5
+ 1,5
+ 1,6
Schwellen- und Entwicklungsländer
+ 4,0
+ 4,1
+ 4,6
- Russland
- 3,7
- 1,8
+ 0,8
- China
+ 6,9
+ 6,5
+ 6,2
- Indien
+ 7,3
+ 7,5
+ 7,5
- Brasilien
- 3,8
- 3,8
0,0
Subsaharisches Afrika
+ 3,4
+ 3,0
+ 4,0
- Nigeria
+ 2,7
+ 2,3
+ 3,5
- Südafrika
+ 1,3
+ 0,6
+ 1,2
Quelle: IMF, World Economic Outlook, April 2016, S. 2
Der klassische Konjunkturzyklus erscheint jedenfalls in den entwickelten kapitalistischen Ländern der ehemaligen ‚Triade‘, den Regionen Nordamerika, Westeuropa und Japan, seit der Jahrtausendwende nachhaltig gestört. Christine Lagarde, Direktorin des IWF, sprach in einem Vortrag an der Frankfurter Universität am 5. April 2016 von der Gefahr, in die Falle einer „Neue Mittelmäßigkeit“ („new mediocre“) zu geraten, worunter sie eine lang anhaltende Periode geringen Wachstums bzw. von Stagnation versteht. Die wenig später veröffentlichte Projektion des IWF, die vorherige Wachstumsprognosen für 2016 und 2017 erneut absenkte, beschwört mehrfach die Gefahr, dass die Weltwirtschaft „in eine verbreitete säkulare Stagnation“ (S. xiii) verfallen könnte. Seit 2011 hat der IWF ausgesprochenes Pech mit seinen Prognosen: Regelmäßig muss er konstatieren, dass der prognostizierte Aufschwung ausgeblieben ist, um gleich fürs nächste Jahr wieder eine Belebung vorherzusagen, die dann aber leider wieder nicht eintritt.
Auch die aktuelle Projektion folgt diesem Muster: Für fast für alle Regionen der Welt wurden die Wachstumsprognosen vom letzten Herbst bzw. Winter erneut nach unten korrigiert. Trotzdem geht der IWF in seiner Basisvorausschätzung davon aus, dass die lange erhoffte Belebung nun endlich 2017 eintreten wird (Tab. 1).
Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Korrekturen der Wachstumsschätzungen für 2016: Die US-Wirtschaft hat sich nicht beschleunigt, die Stagnation in Japan kann nicht überwunden werden. Vor allem aber sind die Krisen in Russland und Brasilien länger und tiefer als noch im Oktober letzten Jahres erwartet. Im subsaharischen Afrika verlängert sich die Abschwächung. Anders dagegen Asien: Die relativ optimistischen Prognosen für China und Indien werden bestätigt, teilweise sogar leicht übertroffen: Das „Wachstum in Ostasien ist im Allgemeinen stabil geblieben“, fasst der Ostasien-Ausblick der Weltbank (S. XX) zusammen.
Zweiteilung im Süden
Dies verweist auf eine der wichtigsten strukturellen Veränderung der Weltwirtschaft, die den veränderten Konjunkturverlauf in den entwickelten kapitalistischen Ländern teilweise erklären könnte: den Aufstieg der Länder des Südens, der ehemaligen kapitalistischen Peripherie. Diese Länder sind inzwischen zu wichtigen und eigenständigen weltwirtschaftlichen Akteuren geworden (vgl. Dieter Boris in diesem Heft). Zwar erfolgt dieser Aufstieg unter kapitalistischen Vorzeichen; als Länder nachholender Entwicklung, deren Kapitalismus sich zudem in einem ganz anderen historischen Milieu herausbildet als dies bei den klassischen Industrieländern des Westens der Fall war, unterliegen sie bislang nicht dem Zyklus von Konjunktur und Krise, wie er für die entwickelten Kapitalismen typisch war. Die aufstrebenden Länder des Südens sind aber nicht nur zunehmend in die Weltwirtschaft integriert, auf sie entfallen inzwischen fast 60 Prozent der Weltproduktion.[2] Gemessen zu Kaufkraftparitäten hat das BIP Chinas inzwischen das der USA überholt.
Das bedeutet zwar nicht, dass China ökonomisch stärker wäre als die USA, es ist aber für die konjunkturelle Entwicklung bedeutsam: Angesichts der hohen internationalen Verflechtung wird die kurz- und mittelfristige konjunkturelle Entwicklung der einzelnen Länder stark vom Außenhandel beeinflusst; und da die Nachfrage der Schwellen- und Entwicklungsländer nicht vom klassischen Konjunkturzyklus bestimmt wird, verliert dieser den entwickelten kapitalistischen Ländern immanente Mechanismus an Bedeutung, wird von den anderen Gesetzmäßigkeiten folgenden Entwicklungen in den Ländern der ehemaligen Peripherie überlagert. Daher steht bei allen Konjunkturanalysen und -prognosen in den westlichen Ländern heute oft weniger die innere Verfasstheit der betreffenden Ökonomien und mehr die Situation in den aufstrebenden Ländern im Vordergrund, wobei vor allem China Beachtung findet. Es gibt heute kaum eine Prognose, die Krisenerscheinungen in den entwickelten Ländern nicht mit dem Einfluss der aufstrebenden Länderbegründet, als gäbe es im Westen keine inneren Widersprüche mehr.[3] China scheint heute die Weltkonjunktur zu dominieren – eine übertriebene Darstellung, die allerdings das berühmte Körnchen Wahrheit enthält. Dieses Körnchen besteht darin, dass sich die Weltwirtschaft ohne den lang anhaltenden chinesischen Aufschwung, der einer erfolgreichen staatlichen Steuerung zu verdanken ist, noch in einer ungleich schlechteren Lage befände. Dies ist der Tatsache zu verdanken, dass die chinesische Führung den marktradikalen ‚Reformrezepten‘, die von Weltbank bis Schäuble propagiert werden, zu keinem Zeitpunkt Folge geleistet hat.
Die staatliche Steuerungsfähigkeit Chinas ist gegenwärtig von besonderer Bedeutung: Die chinesische Wirtschaft befindet sich seit einigen Jahren in einem tief greifenden Strukturwandel. Ausgangspunkt ist eine Situation, die man als klassische Überakkumulation bezeichnen könnte: Mehr noch als durch Exporte war das chinesische Wirtschaftswachstum in den letzten Jahrzehnten durch massive industrielle Investitionen gekennzeichnet. Bis 2013 nahmen die Investitionen regelmäßig schneller zu als die Gesamtwirtschaft, seit 2003 lag der Anteil der Investitionen am BIP regelmäßig deutlich über 40 Prozent, im Zeitraum 2010 bis 2013 wurde eine Investitionsquote von 48 Prozent verzeichnet. Schon seit mehreren Jahren haben sich in der Schwerindustrie und in der Bau- und Immobilienwirtschaft Überkapazitäten herausgebildet, verbunden mit einer hohen Verschuldung der betroffenen (oft staatlichen) Unternehmen. Überkapazitäten prägen weite Teile der Industrie, der Anteil der industriellen Produktion am BIP erreichte 2006 mit 48 Prozent einen Höhepunkt. Seither verlangsamt sich das industrielle Wachstum, sein Anteil am BIP ging bis 2015 auf 41 Prozent zurück, während die Dienstleistungen zunehmen. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen würden die industriellen Überkapazitäten durch Unternehmenszusammenbrüche, Schuldenkrisen und Massenentlassungen bereinigt werden – ein Szenario, das nicht nur die chinesische Führung, sondern die gesamte Weltwirtschaft fürchtet: Dies wäre die gefürchtete „harte Landung“, die eine weitere Weltwirtschaftskrise nach sich ziehen würde. Die Steuerungsfähigkeit des chinesischen Staates reicht aber bis heute aus, um den Abbau der Überkapazitäten und den wirtschaftlichen Strukturwandel ohne große Brüche zu bewältigen. Während marktradikale Ideologen China neoliberale „Reformen“ empfehlen, setzen die Wirtschaftspolitiker des Westens in Wirklichkeit darauf, dass der chinesische Staat den notwendigen Strukturwandel planmäßig bewältigt: Es ist zu erwarten, schreibt die Weltbank, dass „gezielte Maßnahmen ergriffen werden, die sicherstellen, dass es nur zu einer graduellen Wachstumsverlangsamung kommen wird.“ (S. XX). Dazu gehört eine kontrollierte Restrukturierung der Industrie, wozu die Regierung einen Fonds eingerichtet hat, um den Abbau von industriellen Arbeitsplätzen und die Schaffung von neuen Stellen im Dienstleistungsbereich zu steuern. Bei Vorlage des 13. Fünfjahresplans 2016/2020 wies die Regierung im Übrigen darauf hin, dass der chinesische Strukturwandel sich u.a. deshalb schwierig gestaltet, „weil sich die Weltwirtschaft nur langsam erhole und Rückschläge drohten“ (NZZ v. 8.3.2016). Obwohl westliche Wirtschaftspolitiker die immer noch rasch, wenn auch langsamer als früher wachsende chinesische Wirtschaft für die weltwirtschaftlichen Verwerfungen verantwortlich machen, wird in Wirklichkeit eher umgekehrt ein Schuh daraus: Es sind vor allem die anhaltenden Stagnationserscheinungen in Japan, in Westeuropa und in den USA, welche die globale Ökonomie belasten (dazu mehr weiter unten).
Während sich die Ökonomien Chinas, Indiens und anderer asiatischer Länder in einer vergleichsweise robusten Verfassung befinden, sind andere Schwellen- und Entwicklungsländer in teilweise tiefe Krisen abgerutscht. Dazu gehören vor allem Russland und Brasilien. Obwohl in beiden Ländern politische Faktoren (westliche Sanktionen gegen Russland, der Rechtsputsch in Brasilien) die Krise verschärfen, wird die konjunkturellen Zweiteilung in den Schwellen- und Entwicklungsländern vom Verfall der Rohstoffpreise verursacht. Dies verweist auf die an anderer Stelle beschriebene Tatsache, dass der vielfach als einheitlicher Prozess dargestellte Aufstieg des Südens unterschiedliche Triebkräfte hat (Goldberg 2015, S. 33). Vor allem die lateinamerikanischen und afrikanischen Schwellen- und Entwicklungsländer und Russland hängen ökonomisch stärker denn je am Export von Rohstoffen. Angeführt vom Rohöl sank der HWWI-Rohstoffindex (2010 = 100, Dollarbasis) von 125 Punkten im Juli 2014 auf knapp 50 Punkte im Januar 2016. Seither steigt er wieder an, es ist aber unklar, ob dies bereits die erwartete Trendwende ist. Erneut zeigt sich, dass rohstoffabhängige Ökonomien den Schwankungen der Weltmarktpreise ausgeliefert sind. Ursache des Preisverfalls vor allem bei Energierohstoffen und Metallen ist einerseits die Verlangsamung der globalen Nachfrage, andererseits ein überdimensioniertes Angebot. Außerdem spielen politische Faktoren eine Rolle: Der Verfall der Rohölpreise – von Juni 2014 bis Januar 2016 sank der Preis je barrel (159 Liter) von 140 auf 30 US$, stieg bis April 2016 allerdings wieder auf 45 US$ an – hängt u.a. mit den Bemühungen Saudi-Arabiens zusammen, seinen Marktanteil zu verteidigen: Hatten die ölreichen Ökonomien am arabischen Golf früher immer versucht, Preisrückgänge durch Produktionsbeschränkungen zu verhindern, haben diese seit 2014 ihre Produktion rücksichtslos ausgedehnt. Außerdem möchte Saudi-Arabien verhindern, dass der Iran als Gegner im Kampf um regionale Vorherrschaft von der Aufhebung der Sanktionen des Westens profitiert.
Natürlich wird auch in diesem Fall mit dem Finger auf China gezeigt – Wachstumsverlangsamung und Umstrukturierung weg von der Schwerindustrie hätten den Preisverfall der Rohstoffe ausgelöst. Tatsächlich war aber nicht zu erwarten, dass sich das chinesische Wachstum im alten Tempo und ohne Strukturwandel über längere Zeiträume fortsetzen würde – eine Konsolidierung wird in China bereits seit mehr als fünf Jahren angekündigt und angestrebt. Davon hatten die Märkte allerdings keine Notiz genommen – die hohe, durch Finanzspekulationen verstärkte Volatilität der Rohstoffpreise und ihr aktueller Verfall ist Ausdruck klassischen Marktversagens. Es rächt sich, dass die längst fällige Schaffung stabiler globaler Rahmenbedingungen für den internationalen Rohstoffhandel verschlafen wurde. Außerdem haben es die Rohstoffländer versäumt, ihre Wirtschaft stärker zu diversifizieren. Dies wäre nur möglich gewesen, wenn deren Regierungen massiv auf industriepolitische Maßnahmen gesetzt hätten – das Gegenteil der neoliberalen ‚Reformen‘, die überall empfohlen und teilweise sanktionsbewehrt aufgezwungen wurden.
Stagnationstendenzen und Investitionsschwäche
Davon abgesehen leiden die Rohstoffmärkte vor allem unter stagnativen Tendenzen, die in den entwickelten Ländern seit dem Beginn der 2000er Jahre überwiegen und die durch steigende Nachfrage aus den Schwellen- und Entwicklungsländern lediglich überdeckt wurden. Wichtigstes Merkmal dieser Fehlentwicklung ist weniger das niedrige bzw. fehlende Wirtschaftswachstum. Im Mittelpunkt steht die rückläufige Investitionstätigkeit. Dies ist das entscheidende Merkmal der Situation in den Ländern des ehemaligen Zentrums. Der Weltwirtschaftsausblick des IWF vom April spricht denn auch von einer weltweiten Investitionsschwäche („depressed investment worldwide“) (IWF 2016, S. 4), was aber, wie Tabelle 2 zeigt, nicht für die Schwellen- und Entwicklungsländer zutrifft, deren Investitionen sich auf einem hohen Niveau bewegen. Es trifft aber seit den 1990er Jahren für die fortgeschrittenen Länder zu, seit der Krise 2008/09 auf dramatische Weise.
Tabelle 2: Globale Investitionsquoten in Prozent
Region
1980/89
1990/09
2000/09
2010/16
Welt
24,9
24,0
23,7
24,9
Fortgeschrittene Länder
24,9
23,8
22,4
20,7
Schwellen- und Entwicklungsländer
24,7
25,0
27,0
31,8
G 7 Länder
24,7
23,3
21,6
19,8
Quelle: IMF, World Economic Outlook, April 2016, Berechnet nach Database
Die Entwicklung der Investitionsquoten vor allem in den G7-Ländern belegt noch deutlicher als die Wachstumsraten (Tab. 1) die Verschiebung der wirtschaftlichen Dynamik im Weltmaßstab. Während die Investitionstätigkeit in den Schwellen- und Entwicklungsländern im Verhältnis zum BIP hoch ist und teilweise noch zunimmt, schwächt sie sich in den alten Führungsmächten immer stärker ab. Dass die Investitionsquoten in Ländern nachholender Entwicklung höher sind als in entwickelten Industrieländern liegt dabei in der Natur der Sache – in den ersteren muss noch ein Kapitalstock aufgebaut werden. Dies erklärt aber nicht die nachlassende Investitionsdynamik in den letzteren, in denen der Ersatzbedarf hoch ist. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die in Tabelle 2 dargestellten Bruttoinvestitionsquoten alle Investitionen umfassen, also auch Ersatzinvestitionen. Sie sind um Abschreibungen und den Abgang alter Anlagen nicht bereinigt. In den fortgeschrittenen Ländern ist eine Bruttoinvestitionsquote von 16 bis 17 Prozent des BIP notwendig, nur um den Verschleiß und den Abgang bestehender Anlagen zu ersetzen. Fällt sie – wie in den südeuropäischen Krisenländern der EU und in Japan – unter diese Marke, dann findet in Wirklichkeit Desinvestition statt, der Wert des gesamtwirtschaftlichen Anlagevermögens sinkt, Kapital wird freigesetzt. Die Nettoinvestitionen, also das Tempo der Erweiterung des Anlagevermögens, hat sich in den G7-Staaten mehr als halbiert: Geht man von einer zur Erhaltung des bestehenden Anlagevermögens notwendigen Bruttoinvestitionsquote von 16 Prozent aus, dann ist die Nettoinvestitionsquote im betrachteten Zeitraum von knapp 9 Prozent auf weniger als vier Prozent zurückgegangen. Genauere Angaben sind für Deutschland verfügbar: Hier ist der Anteil der Nettoanlageinvestitionen am BIP zwischen 1991 und 2015 von 9,3 auf 2,5 Prozent zurückgegangen. Wurden in den 1990er Jahren in Deutschland netto, d.h. nach Abzug der Abschreibungen, noch Anlageinvestitionen in Höhe von etwa 130 Milliarden jährlich getätigt, so waren es 2015 nur noch 75 Milliarden (Statistisches Bundesamt 2016, S. 11). Immer weniger Kapital fließt in die Erweiterung des Produktionsapparats. Für den Zeitraum 2003 bis 2012 errechnet das Münchener Ifo-Institut auf der Grundlage von OECD-Statistiken für die Eurozone eine Nettoinvestitionsquote von 6,5 Prozent – Japan verzeichnet mit 0,7 Prozent fast keine Nettoinvestitionen, Deutschland liegt mit 3,5 Prozent auf dem vorletzten Platz. Die neoliberale „Reformpolitik“, die doch die Investitionen beleben sollte, hat tatsächlich das Gegenteil bewirkt. Dies reflektiert eine in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern seit mehreren Jahrzehnten zu beobachtende Umschichtung der Kapitalanlagen vom Realkapital ins Finanzkapital (vgl. Mohssen Massarrat in diesem Heft).
Finanzmärkte und die „Great Moderation“
Entscheidend zum Verständnis der langfristig schwachen Entwicklung in den fortgeschrittenen Industrieländern des Westens, also des vom IWF konstatierten „too slow for too long“ sind Entwicklungen, die nach der Krise von 1973/75 begonnen hatten. Diese „große“ Krise (vgl. die entsprechenden Beiträge in Z 100) beendete einen Typ kapitalistischer Entwicklung, der sich nach der Weltwirtschaftskrise von 1929/32 allmählich herausgebildet und zu den Wachstumserfolgen nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hatte. Hohe Wachstumsraten, der Ausbau des Wohlfahrtstaats, die Zunahme der Realeinkommen der Lohnabhängigen, starke Gewerkschaften und die ‚freundliche‘ institutionelle Einbindung der Arbeiterbewegungen in den Kapitalismus waren Merkmale dieser Entwicklungsphase, die zudem durch Systemkonkurrenz zu den sozialistischen Ländern begünstigt wurde. Kehrseite dieser Entwicklung waren – vom Standpunkt der Einzelkapitale aus – steigende Lohnquoten, rückläufige Kapitalrentabilität und die Beschränkung der unternehmerischen Bewegungsfreiheit durch sozialstaatliche Regulierung. Die Krise von 1973/75 war der Ausgangspunkt, um – begünstigt durch Massenarbeitslosigkeit – die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit nachhaltig zu korrigieren. In Großbritannien und in den USA war diese Wende mit den Namen Thatcher und Reagan verbunden, in Deutschland mit Helmut Schmidt. Die Folge war zwar, wie Mohssen Massarrat in seinem Beitrag schildert, eine deutliche Steigerung der Gewinnquoten und seit dem Beginn der 1980er Jahre zunächst eine Verbesserung der Rentabilität des Realkapitals. Es kam zu einer Phase der wirtschaftlichen Stabilisierung bei anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit, verschiedentlich als „Great Moderation“ bezeichnet. Weil aber die Absenkung der Reallöhne und der Sozialabbau gleichzeitig die Binnennachfrage in den entwickelten kapitalistischen Ländern beschränkte, kam es zu einer Abschwächung der Investitionstätigkeit und einer Stagnation der Renditen auf das Realkapital (Schmid/Schuhler 2016, S. 6). Der dadurch bedingte Nachfrageausfall konnte teilweise über den Außenhandel kompensiert werden: Der sich nach der Jahrtausendwende beschleunigende Aufstieg der Schwellenländer schuf neue Absatzmärkte und trug dazu bei, die depressiven Tendenzen in den entwickelten Ländern abzufedern. Dieser Effekt lässt seit 2014 nach, was – wie oben gezeigt – in der Perspektive der westlichen Konjunkturbeobachter dazu führt, die nachlassende Dynamik in den Schwellenländern als Ursache für Krisenerscheinungen in den entwickelten Ländern zu interpretieren. In Wirklichkeit geht es aber nur darum, dass die in den entwickelten Ländern schon lange wirkenden immanenten depressiven Faktoren wieder in den Vordergrund treten. Dies wird vom IWF zumindest teilweise erkannt – schon seit einigen Jahren empfiehlt dieser den starken kapitalistischen Ländern (vor allem USA und Deutschland) eine expansivere Wirtschaftspolitik zu betreiben, die extreme Sparpolitik zu beenden und staatlicherseits mehr in den Ausbau der Infrastrukturen, in Bildung, Forschung und Entwicklung zu investieren.
Die Niedrigzinsphase
Ob dies ausreichen würde, die stagnativen Tendenzen zu überwinden, muss bezweifelt werden. Denn gleichzeitig werden weiter jene „Reformen“ zu Lasten des Sozialstaats unterstützt, die zur Senkung der Lohnquote, zu Niedriglöhnen, steigender sozialer Unsicherheit und damit zur Schwächung der Gewerkschaften geführt haben. Allein durch höhere öffentliche Ausgaben – so wünschenswert und notwendig diese auch wären – kann das herrschende Akkumulationsmodell nicht überwunden werden. Dieses ist durch die Dominanz der Finanzmärkte über die produzierende Wirtschaft gekennzeichnet. Das spektakulärste und für alle sichtbare Krisenmerkmal ist die schon seit längerem virulente, aber erst seit der Krise 2008/09 ins öffentliche Bewusstsein getretene Niedrigzinsphase. Die Zinsentwicklung seit 2008 zeigt wohl am deutlichsten, dass der ‚normale‘ Krisenzyklus, der Wechsel von Krise und Aufschwung, nachhaltig gestört ist, dass die Krise von 2008/09 nicht vorbei ist. Die langfristigen Zinssätze, definiert als Restzinsen für 10-jährige Staatsanleihen, sind seit den 1990er Jahren in den großen OECD-Ländern fast kontinuierlich gesunken, ein Zusammenhang zur Konjunktur ist kaum noch festzustellen. Dies ist insofern bedeutsam, als diese Zinssätze auch die Kosten definieren, zu denen Unternehmen Kredite aufnehmen können.
Tabelle 3: Langfristige Zinssätze in großen OECD-Ländern
Tabelle siehe PDF !
*Prognose der OECD, März 2016; Quelle: OECD-Data, Long-term interest rates
Die niedrigen Kreditzinsen müssten eigentlich Regierungen und Unternehmen willkommen sein. Für die Regierungen sind sie es, weil damit die Zinslasten der öffentlichen Haushalte sinken. Im April 2016 ‚rentierten‘ zehnjährige deutsche Staatsanleihen (bei einer Inflationsrate von 0,3 Prozent) gerade noch mit 0,1 Prozent, die Durchschnittsrendite der öffentlichen Anleihen sank auf 0 Prozent. Schäuble und andere Finanzminister außerhalb der Krisenstaaten des europäischen Südens verdanken den niedrigen Zinsen die „schwarze Null“ bzw. sinkende Haushaltsdefizite. Die meisten von ihnen könnten derzeit langfristige Kredite zum Nulltarif aufnehmen, um notwendige Investitionen zu finanzieren; das Dogma der Sparpolitik, das – wie Massarrat zeigt – in der EU Verfassungsrang errungen hat, verhindert dies aber. Die Unternehmen dagegen, die unter niedriger Kapazitätsauslastung und unzureichender Nachfrage leiden, sehen keinerlei Veranlassung, Kredite aufzunehmen, und seien diese auch noch so billig.
Viele Beobachter machen die Notenbanken für die Niedrigzinsen verantwortlich. Diese betreiben seit 2008 eine extrem expansive Geldpolitik, haben Leitzinsen auf Null gebracht und versuchen, durch Kauf von Wertpapieren die Marktzinsen zu drücken. Zudem wird versucht, die Geschäftsbanken mit negativen Zinsen dazu zu bringen, mehr Kredite an die private Wirtschaft auszulangen – vergeblich. Die Kreditnachfrage stagniert weiter. Zwar ist es nicht so, dass die Notenbanken nichts mit den niedrigen Zinsen zu tun haben bzw. dass sie lediglich Marktentwicklungen nachvollziehen. Der Zusammenhang zwischen Notenbankzinsen, Marktzinsen und Kreditnachfrage ist aber komplizierter, als Kritiker der EZB-Politik wie Bundesfinanzminister Schäuble und Bundesbankpräsident Weidmann glauben machen möchten.
Wie Tabelle 3 zeigt, ist der Rückgang der Zinsen und ihre Loslösung von der Entwicklung in der produzierenden Wirtschaft eine langfristige Erscheinung. Ihr Hintergrund ist die Politik der Umverteilung zugunsten der Gewinne und die damit verbundene Beschränkung der Binnennachfrage, welche zum oben skizzierten langfristigen Rückgang der Investitionen geführt hat. Höhere Gewinne und drastisch sinkende Nettoinvestitionen führten dazu, dass exponentiell zunehmende Kapitalmassen auf die Finanzmärkte strömten. Die Zentralbanken aber, verblendet durch die dominierende Theorie der effizienten Märkte (Vogl 2010, S. 97), sahen dem damit verbundenen Anstieg der Vermögenswerte, d.h. der Immobilienpreise, der Aktienkurse und der Ausbreitung neuer, komplizierter Finanzprodukte, bewusst untätig zu. Sie blickten lediglich auf die Inflationsraten bei den Konsumentenpreisen und übersahen die Inflation der Vermögenswerte. Als nun – mit einer Immobilienblase zuerst in Japan, dann 2000 mit der DotCom-Blase in den USA und Westeuropa – Spekulationsblasen zu platzen begannen, reagierten die Zentralbanken mit weiteren Zinssenkungen. Dadurch konnten zwar die weitere Ausbreitung von Finanzkrisen und größere Zusammenbrüche von Finanzinstitutionen zunächst verhindert werden, allerdings nur um den Preis einer weiteren Verschärfung der Vermögenspreisinflation. Denn die Anleger, die im Zuge steigender Immobilienpreise, Aktienkurse und Finanzrenditen sahen, dass ihr Anlagekalkül aufging, nutzten die sinkenden Zinsen, um ihre Finanzgeschäfte mit Fremdkapital weiter aufzublasen. Eine Analyse der Verschuldung macht deutlich, dass ein großer Teil der privaten Kredite in den Immobiliensektor geflossen ist, die Grundstückspreise hochgetrieben (Verdoppelung seit Ende der 1980er Jahre) und den gesamtwirtschaftlichen Verschuldungsgrad hat explodieren lassen (Jorda u.a. 2016, S. 26/27) Außerdem nutzten – vor allem in angelsächsischen Ländern – auch Konsumenten die günstigen Kredite, was die unter Nachfragemangel leidende Realwirtschaft stützte. Dies setzte die Notenbanken wiederum unter Zugzwang – jedes kleine Anzeichen für ein Erlahmen der schwachen Expansion musste durch weitere Zinssenkungen und Krediterleichterungen bekämpft werden. Dies gilt im Kern auch für die Finanzmarktkrise 2008/2009, die nur durch weitere Lockerung des geldpolitischen Rahmens und durch die Rettung eigentlich bankrotter Finanzinstitute, d.h. letzten Endes durch weitere Expansion der Finanzmärkte, begrenzt werden konnte.
Jeder noch so bescheidene Versuch, sich aus dieser geldpolitischen Klemme zu befreien – so die kaum mehr als symbolische Erhöhung der Leitzinsen in den USA auf 0,25 bis 0,50 Prozent im Dezember 2015 – befeuert neue Krisenängste, die durch die jüngsten, pessimistisch gestimmten Wirtschaftsprognosen bestärkt werden. Die OECD-Prognose vom März 2016, die für 2017 mit einem allmählichen Anstieg der langfristigen Zinsen gerechnet hatte (Tabelle 3), dürfte im Lichte der jüngsten Konjunkturentwicklungen kaum noch realistisch sein. Letzten Endes ruhen alle Hoffnungen der westlichen Wirtschaftsbeobachter auf der Entwicklung in den Schwellenländern, vor allem in China: Diese sollen für die notwendige Belebung der globalen Nachfrage sorgen, die Rohstoffpreise stabilisieren und so die alten Industrieländer aus der Klemme befreien, in die sie sich mit ihrer Austeritätspolitik selbst gebracht haben. Ob diese Variante einer globalen beggar-my-neighbour-Politik aufgehen wird ist höchst fraglich.
Literatur
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Gemeinschaftsdiagnose, Aufschwung bleibt moderat – Wirtschaftspolitik wenig wachstumsorientiert, München, Frühjahr 2016
Goldberg, Jörg, Die Emanzipation des Südens, Köln 2015
Ifo-Institut, Center for Economic Studies, Wirtschaftsdaten: Internationale Konjunktur, Nettoinvestitionsquoten (http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/facts/ Time- series-and-Diagrams)
IMF, World Economic Outlook, Too slow for too long, Washington D.C., April 2016
IMF, World Economic Outlook, April 2016, Database
Jorda/Schularick/Taylor, Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts, Cambridge 2016
Schmid, Fred/Schuhler, Conrad, Bilanz 2015 – Ausblick 2016. ISW-Wirtschaftsinfo 50, München, April 2016
Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Arbeitsunterlage Investitionen, 4. Vierteljahr 2015, Wiesbaden 2016
Vogl, Joseph, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010
World Bank, East Asia and Pacific Economic Update, Growing Challenges, April 2016, Washington D.C.
[1] Das US-amerikanische National Bureau of Economic Research, das sich intensiv mit „businesscycles“ befasst, nennt für die USA folgende Quartale als Tiefpunkte: I/1975, III/1980 bzw. IV/1982; I/1991, IV/2001, II/2009 (www.nber.org/cyclesmain.html)
[2] Der IWF unterscheidet in seiner Klassifikation der Ökonomien zwischen „fortgeschrittenen Ökonomien“ (39) (Advanced Economies) und „Schwellen- und Entwicklungsländern“ (152) (Emerging Market and Developing Economies). Auf letztere entfielen 2015 rund 85 Prozent der Weltbevölkerung, 58 Prozent der Weltproduktion und 37 Prozent der Weltexporte (WEO, April 2016, S. 147).
[3] Die Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute vom April 2016 beginnt mit der Feststellung, dass sich die Weltwirtschaft abgeschwächt habe, was aber auf den Strukturwandel in China zurückgeführt wird: „Dieser Schrumpfungsprozess birgt erhebliche Konjunkturrisiken und geht mit einer abnehmenden Bedeutung des Außenhandels für China sowie einer schwächeren Nachfrage nach Rohstoffen einher.“