Spätestens die zweite internationale Finanzkrise 2008 hat offenbart, dass das Finanzkapital in den letzten Dekaden einen dramatischen Funktionswandel erfahren hat. Experten verschiedener Couleur beschrieben diesen Funktionswandel auf unterschiedliche Weise. Der Global Wealth Report 2014 der Unternehmensberatung Boston Consulting hob deshalb „eine gefährliche Fehlentwicklung“ hervor, die „im zentralen Maschinenraum des Kapitalismus“ stattgefunden hat. „Früher sorgten“ so der Report „Banken, Fonds und Investmentgesellschaften dafür, die Ersparnisse der Bürger in technischen Fortschritt, Wachstum und Arbeitsplätze zu verwandeln. Heute organisieren sie die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, was nicht zuletzt Angehörige der Mittelschicht trifft. Viele Normalverdiener erleben seit Jahren, dass ihr Wohlstand nicht mehr wächst, sondern schrumpft.“[1] Der Finanzwissenschaftler Rudolf Hickel konstatierte in diesem Zusammenhang, „dass sich Aktivitäten auf den Finanzmärkten stark von der dienenden Funktion seit Anfang der neunziger Jahre im letzten Jahrhundert entkoppelt haben“. Dahinter verberge sich, so Hickel, die Verschiebung der Rangordnung der Märkte in „Richtung einer machtvollen Dominanz der Akteure auf den Finanzmärkten“[2].
Die außerordentlich schädlichen Folgen dieses Funktionswandels lassen sich auch empirisch veranschaulichen. Dazu gehört vor allem eine überproportionale Ausdehnung des Finanzvolumens in nahezu allen kapitalistischen Industrieländern. So erhöhte sich das Verhältnis der Bilanzsumme inländischer Banken zum BIP zwischen 1990 und 2013 in Deutschland von 170 auf 280, in Frankreich von 210 auf 325, in den Niederlanden von 215 auf 445 und in Groß-Britannien von 210 auf 540 Prozent.[3] Eine parallele Entwicklung ist auch für die gesamte Weltwirtschaft festzustellen. 2003 waren die Aktien, Anleihen und Bankanlagen der Welt 100.000 Milliarden Dollar wert, 2013 rund 270.000 Milliarden Dollar – das Vierfache der Weltwirtschaftsleistung.[4] Mit der überproportionalen Zunahme des Finanzsektors wächst ein Bereich, der selbst keine Werte schafft, also unproduktiv ist, jedoch einen Großteil des hoch qualifizierten Fachkräftepotentials der Gesellschaft absorbiert. Der US-Experte Gautam Mokunda bringt diese Misere in Harvard Business Review so auf den Punkt: „Die Großbanken, die ein fantastisches Wachstum des Finanzvolumens verursachten, stellen im Grunde genommen das Herz der Finanzordnung dar. Aber wenn ein Herz zu groß wird, wird es den Körper schädigen. Das Herz, das den Körper schützen sollte, könnte mit Leichtigkeit den Körper an der Erfüllung seiner Aufgaben hindern. Die US-Ökonomie leidet unter einem zu groß gewordenen Herzen.“[5]
Mit dieser Entwicklung finden wir auf jeden Fall einen Kapitalismus mit einer neuen Qualität vor, in dem sich der produktive und Werte schaffende Teil dem spekulativen und unproduktiven Teil unterordnet. In der kapitalismuskritischen Literatur wird mit den Begriffen „Finanzialisierung“, „Finanzgetriebener Kapitalismus“ oder noch genauer „Finanzmarktkapitalismus“ der neuen Qualität des Kapitalismus Rechnung getragen. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, den spezifischen Triebkräften, Akkumulations- und Verteilungsmechanismen des neuen Kapitalismus sowie den gesellschaftlichen Kräften, die sich dahinter verbergen, auf den Grund zu gehen. Eine so formulierte analytische Zielsetzung ist m. E. aus zwei Gründen längst fällig: Erstens, weil die Analyse gesellschaftlicher Kräfte des Finanzkapitals die Voraussetzung liefert, realitätsnahe Schritte und Strategien zur Bändigung und langfristig auch zur Überwindung des Kapitalismus zu beschreiben. Zweitens, weil die mit dem Namen Hilferding verbundenen Konzepte und Begrifflichkeiten zum Finanzkapital, auf die sich nahezu alle kapitalismuskritischen Analysen des Finanzkapitals in der Vergangenheit und heute beziehen, wie unten begründet wird, eine differenzierte Analyse des Finanzkapitals und seiner sozialen Träger eher blockieren.
Finanzkapital als überschüssiges Kapital
Hilferdings Werk Das Finanzkapital[6] war nach Marxens Kapital zweifellos das wichtigste marxistische Werk mit großem Einfluss auf die späteren klassischen Imperialismustheorien von Bucharin, Luxemburg und vor allem Lenin. Es wurde daher auch oft als vierter Band des Kapitals von Marx tituliert.[7] Es ist in der Tat auch heute noch ein wichtiges Lehrbuch für ein umfassendes Verständnis des Bank- und Finanzwesens. Seine Theorie des Finanzkapitals beruht im Kern auf der Verknüpfung von zwei realen Entwicklungen: Erstens der von Marx vorausgesagten und am Ende des 19. Jahrhunderts sichtbar gewordenen Konzentration und Zentralisation des Kapitals und zweitens der Verflechtung des Bankkapitals mit dem Industriekapital. Am deutlichsten formuliert Hilferding beide Phänomene bei der Behandlung kapitalistischer Monopole, im 14. und 15. Kapitel. Im Finanzkapital, so Hilferding „erlischt der besondere Charakter des Kapitals. Das Kapital erscheint als einheitliche Macht, die den Lebensprozess der Gesellschaft souverän beherrscht, als Macht, die unmittelbar entspringt aus dem Eigentum an den Produktionsmitteln, an Naturschätzen und der gesamten akkumulierten vergangenen Arbeit, und die Verfügung über die lebendige Arbeit, als unmittelbar entspringend aus den Eigentumsverhältnissen. Zugleich erscheint das Eigentum, konzentriert und zentralisiert in der Hand einiger großer Kapitalassoziationen, unmittelbar entgegengesetzt der großen Masse der Kapitallosen.“[8] „Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andererseits muss die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital […]. Das Finanzkapital entwickelt sich mit der Entwicklung der Aktiengesellschaft und erreicht seinen Höhepunkt mit der Monopolisierung der Industrie.“[9] „Mit der Kartellierung und Trustierung erreicht das Finanzkapital die höchste Stufe seiner Macht, während das Handelskapital seine tiefste Erniedrigung erlebt.“[10]
Im Grunde beschreibt Hilferding die Erscheinungsformen der realen Entwicklung des Kapitalismus seiner Ära, indem er die Kartellbildung, die monopolistischen Tendenzen und die Verflechtung des Bankkapitals mit dem Industriekapital hervorhebt. Ob er jedoch damit ein begriffliches Instrument zur Analyse jenes Finanzkapitals geschaffen hat, das sich erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat und das in den letzten vier Dekaden erneut und in voller Montur aufgetaucht ist, muss bezweifelt werden. Im Einzelnen können folgende Kritikpunkte gegen Hilferdings Konzept des Finanzkapitals angeführt werden:
1. Hilferding geht grundsätzlich von einer linearen Stufenentwicklung des Kapitalismus aus, die aus den inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zwangsläufig die Stufen Freihandel und Konkurrenz, dann Monopol und Finanzkapital durchläuft. Lenin fügt noch den Imperialismus als eine weitere Stufe, sozusagen „als letztes Stadium des Kapitalismus“, hinzu, das ebenso linear zwangsläufig zum Sozialismus führe. Doch widerspricht die reale Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert bis heute, die einen ständigen Strukturwandel durchlaufen hat, der Hilferding-Leninschen Annahme der linearen Entwicklung. Denn das Monopol zementiert in der Regel die Beharrungskräfte im Kapitalismus und blockiert jene der Konkurrenz eigentümliche Dynamik, die zwangsläufig Veränderungen hervorruft. Insofern ist das Monopol der Garant für den kapitalistischen status quo in jeder Hinsicht und es verhindert im Grunde jeglichen Strukturwandel. Der historische Strukturwandel mit seinen spezifischen technisch-stofflichen Besonderheiten hätte ohne Konkurrenz nicht stattgefunden: Zunächst dominierten Eisen-, Stahl- und Kohle-Konzerne im 19. Jahrhundert in der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte, dann waren es Ölkonzerne und die Kraftfahrzeugindustrie, die im 20. Jahrhundert im Vordergrund standen. Und schließlich dominierten die IT-Konzerne, die die heutige Weltwirtschaft prägen. Dies beweist aber, dass nicht das Monopol, sondern die Konkurrenz die treibende Kraft der kapitalistischen Entwicklung in den letzten Jahrhunderten war. Die Konkurrenz generierte ständige Produktivitätssteigerungen, somit auch eine Kapitalentwertung, nicht zuletzt auch bei den als Folge der zu starken Kapitalkonzentration weniger produktiven Unternehmen. Konzentration und Dezentralisation von Kapital sind die zwei Seiten einer und derselben Medaille und im Übrigen immer wiederkehrende Tendenzen, die – durch Konkurrenz und Kapitalbewegung hervorgerufen – zur Entstehung von neuen innovativen Unternehmen und Wirtschaftssektoren führen und letztlich dem historischen Strukturwandel im Kapitalismus zum Durchbruch verhelfen. Diese unbestreitbar die Realität des Kapitalismus widerspiegelnde Tatsache wurde von Hilferding, Lenin und weiteren Imperialismustheoretikern offensichtlich in ihren Analysen ausgeblendet.
2. Das Finanzkapital kann nicht auf die Verflechtung von Banken- und Industriekapital reduziert werden. Die Verflechtung des Bankenkapitals mit dem Industriekapital, die Hilferding als Finanzkapital interpretierte, resultiert tatsächlich aus der Entstehung von Aktienmärkten und Börsen, ist somit Ausdruck der vollen Entfaltung des Kapitalismus und der Konkurrenz. Durch die Verflechtung bleibt das Bankenkapital eher an das Industriekapital gebunden und kann daher im Verhältnis zum letzteren nicht überproportional wachsen. Hingegen ist die überproportionale Ausdehnung des Geldkapitals und das Ausufern eines neuen unproduktiven Sektors, wie wir ihn vor der ersten Weltfinanzkrise und heute beobachten können, ein herausragendes Indiz für eine spezifische Kapitalform, die wir Finanzkapital nennen, und die die Tendenz hat, sich von der Realwirtschaft abzukoppeln und diese unter die eigenen Bewegungsgesetze zu subsumieren. Insofern hat Hilferding dieses Finanzkapital eigentlich nicht im Blick gehabt.
3. Das Kapital und das Finanzkapital bilden keine Einheit, wie Hilferding und übrigens nahezu alle zeitgenössischen Kapitalismuskritiker unterstellen, weil sie, wie noch unten ausführlicher zu zeigen sein wird, völlig verschiedenen Quellen entspringen und letztlich auch unterschiedlichen Akkumulationslogiken folgen. Eine Verflechtung von Banken- und Industriekapital (also Finanzkapital nach Hilferdings Verständnis) wäre per se eigentlich kein Grund für schwerwiegende Finanzkrisen, wie sie 1929 und 2008 entstanden sind. Dagegen entspringt die Krise 2008 (aller Wahrscheinlichkeit auch die Finanzkrise 1929) daraus, dass das der Realwirtschaft entzogene Kapital, das fortan dem unproduktiven und spekulativen Finanzsektor zugeführt wird, den ökonomischen Hintergrund der Finanzkrisen darstellt. Dieses überschüssige Kapital mit spezifischen Eigenschaften, das den Kapitalismus deformiert, kann als Finanzkapital bezeichnet werden. Um diese These ausführlicher zu begründen, wird zunächst der Frage nachgegangen, woher eigentlich das überschüssige Kapital kommt.
Quellen des Finanzkapitals
Man kann drei unterscheidbare Quellen des Finanzkapitals und seines astronomisch wachsenden Volumens identifizieren, die historisch zur Entstehung des Finanzsektors geführt haben. Erstens die Grundrenten aus Grundeigentum für Immobilien, die sich Grundeigentümer aneignen. Zweitens die bei der Öl- und insgesamt der Rohstoffproduktion entstehenden Differentialrenten und drittens die durch Lohndumping von der Arbeits- zur Kapitalseite umverteilten Geldeinnahmen.
Renten aus Grund und Boden und Immobilieneigentum
Die im Feudalismus mächtigste Klasse der Grundeigentümer verlor mit dem Aufkommen des Kapitalismus zwar ihre Herrschaft, sie verschwand jedoch nicht gänzlich. Im Kapitalismus verwandelte sie sich in eine weiterhin einflussreiche soziale Klasse, die dank ihres Monopols an landwirtschaftlichem Grund und Boden sowie an Immobilieneigentum in der Lage war und auch weiterhin ist, sich Jahr für Jahr einen Teil der geschaffenen Wertschöpfung als Grundrente anzueignen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen (leistungsloser Kapitalstrom). Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Rentiers nur einen kleinen Teil ihrer Renteneinnahmen selbst verkonsumieren und dass sie den deutlich größeren Teil als Überschuss in den Finanzmarkt investieren. In Deutschland, um eine Vorstellung vom Umfang dieses Kapitalüberschusses zu erhalten, beträgt die Summe der Grundrenten (sonstige Zinseinahmen und Pacht) jährlich rund 60 Milliarden Euro.[11] Bei einer Übertragung dieser Größe auf alle OECD-Staaten betrügen die OECD-Immobilienrenten grob geschätzt ca. 21.000 Milliarden Euro, so dass davon ausgegangen werden kann, dass dieser Betrag in den letzten 50 Jahren in den Finanzsektor investiert worden ist.
Renteneinnahmen aus Bodenschätzen
Analog zu der oben genannten Form partizipiert eine noch mächtigere Gruppe von Privat- und Staatseigentümern, auch hier dank des Monopols an Kohle- und Ölquellen und zahlreichen anderen Bodenschätzen, an den Differentialrenten.[12] Allein die angeeigneten Ölrenten durch die Ölkonzerne und die Ölstaaten seit Beginn der Ölproduktion auf dem Planeten dürften mehrere tausend Billionen US-Dollar betragen. Es muss davon ausgegangen werden, dass der größte Anteil dieser Renten als überschüssiges Kapital den Weg in den Finanzsektor eingeschlagen hat, weil angenommen werden kann, dass die Absorptionsfähigkeit produktiver Sektoren deutlich langsamer wächst als die Renteneinnahmen. Der besonders markante Anstieg des weltweiten Finanzvolumens seit 2000 resultiert aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem rapide steigenden Ölpreis, der im Zeitraum 2001-2005 von 40 auf 120 und mehr US-Dollar/Barrel angestiegen ist. Tatsächlich sind Saudi-Arabien und andere Ölstaaten am Persischen Golf auch die größten Gläubiger auf den Finanzmärkten. Der Umfang der Öl-Differentialrente, die weltweit kumulativ in der Zeit von 1965 bis 2014 entstanden ist, beträgt schätzungsweise 25.000 MilliardenUS-Dollar, ca. 1,7 Prozent des Weltsozialprodukts im selben Zeitraum.[13] Zwar ist ein Teil dieser Summe in die Realwirtschaft, z. B. der Ölstaaten selbst, investiert worden, ein beträchtlicher Teil davon dürfte jedoch als überschüssiges Kapital in den Finanzsektor geflossen sein. Diese hier grob geschätzte Kapitalgröße als eine wichtige Quelle des Finanzkapitals müsste im Grunde um die Summe der bei sämtlichen Rohstoffen angeeigneten Differentialrenten erweitert werden, die in beträchtlichem Umfang ebenfalls in den Finanzsektor umgeleitet wurden.
Umverteilung von Arbeit zum Kapital
Diese Quelle des Finanzkapitals resultiert aus der Unterbezahlung der Arbeit (Lohndumping). Dies ist möglich entweder wegen der überschüssigen Bevölkerung, wie wir sie im 19. Jahrhundert vorfinden, oder aber sie entsteht unter den Bedingungen einer anhaltend hohen Massenarbeitslosigkeit von 3 bis 5 Prozent und mehr, wie wir sie im neoliberalen Finanzmarktkapitalismus seit dem Beginn der 1970er Jahre in den großen kapitalistischen Ländern beobachten können. Der Systemwechsel vom Keynesianischen (bzw. Rheinischen) zum Finanzmarktkapitalismus wurde bekanntlich zunächst durch den Thatcherismus und Reaganismus durchgesetzt und dann durch die Blair/Schröder-Reformen vertieft. Der Kern dieses neuen Systems besteht, in Anlehnung an neoliberale Konzepte vor allem von Hayek und Friedman, vereinfacht gesagt darin, die Rahmenbedingungen der Unternehmer zur Gewinnsteigerung nach Möglichkeit zu verbessern. Diese neue Strategie der Kapitalakkumulation wurde durch signifikante Steuersenkungen für Unternehmer und die Senkung der Lohnkosten durch Deregulierung der Arbeitsmärkte (sprich Schwächung oder gar Zerschlagung der Gewerkschaften) auch tatsächlich umgesetzt. Dementsprechend sanken in den vier letzten Dekaden die Lohnquoten.
Pikettys umfangreiche Langzeitstudien belegen, dass sowohl im 19. wie im 20. Jahrhundert die Lohnquoten jeweils vor den Finanzkrisen 1929 und 2008 gesunken sind. Demnach ist die Lohnquote z. B. in Großbritannien von ca. 66 Prozent im Jahre 1790 auf 57 Prozent 1850 und von 68 Prozent 1890 auf 63 Prozent 1910 gefallen.[14] Auch in Frankreich sank die Lohnquote von 74 Prozent 1890 auf 66 Prozent 1910.[15] Für das Deutschland des 19. Jahrhunderts kann Piketty zwar mangels zuverlässiger Daten keine Berechnung vorlegen, die verfügbaren Indizien zeigen aber, dass auch hier die Reallöhne vor der ersten Weltfinanzkrise stark gesunken waren. So blieb das Realeinkommen der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland zwischen 1821 und 1880 auf dem gleichen Niveau,[16] während das Nettosozialprodukt in realen Größen schätzungsweise weit über das Fünffache angestiegen war.[17] Wirtschaftsgeschichtliche Quellen bestätigen diese Entwicklung. Demnach betrug in Deutschland im Zeitraum 1780-1800 die Lohnquote 88 Prozent, sie sank in den Jahren 1910/1913 jedoch drastisch auf 70 Prozent.[18]
Viel genauer sind sinkende Reallöhne in allen kapitalistischen Industrieländern für den Zeitraum ab 1970 dokumentiert, wie Piketty berechnet hat (s. Grafik 1). Demnach betrug 1970 die Lohnquote in den wichtigsten OECD-Staaten zwischen 85 und 75 Prozent, sie sank im Zeitraum 2000 und 2010 jedoch um 10 Punkte auf durchschnittlich 75 bis 65 Prozent.[19] Piketty ermittelt hier zwar den Anteil der Kapitaleinkommen, also die Gewinnquote; sie spiegelt jedoch im Umkehrschluss den Verlauf der Lohnquote wider.
Grafik 1: Der Anteil des Kapitals in den reichen Ländern, 1975-2010
Quelle: Piketty, 2014: S. 294, Grafik 6.5
Tatsächlich ist im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus auch die Massenerwerbslosigkeit dramatisch gestiegen, die Gewerkschaften sind massiv geschwächt oder gar zerschlagen worden. Daraus folgten ganz im Sinne der Marktgesetze sinkende Löhne und Lohnquoten sowie eine Umverteilung von der Lohn- zur Kapitalseite. Dadurch erlangten die Unternehmer, vor allem die großen multinationalen Konzerne, einen beträchtlichen Kapitalüberschuss: Denn in diesem neuen System mit dauerhafter Massenarbeitslosigkeit gehen sinkende Lohnquoten unter normalen Bedingungen mit schrumpfender Binnenkaufkraft und folglich abnehmender Absorptionsfähigkeit von produktiven Investitionen einher. Diese kausale Beziehung, die sich in sinkenden Investitionsquoten widerspiegelt, ruft zwangsläufig einen Kapitalüberschuss hervor. So sind in den USA, in der EU und in Japan die Investitionsquoten, wie die folgende Grafik 2 darstellt, tatsächlich drastisch geschrumpft, und zwar von 24 Prozent 1973 auf 18 Prozent 2010.
Grafik 2
Quelle: Atlas der Globalisierung, Berlin 2015, S. 20.
Zwar fehlt das Datenmaterial über die Investitionsquoten für den Zeitraum vor der ersten Weltfinanzkrise. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass auch damals durch sinkende Lohnquoten und eine massive Umverteilung von unten nach oben gleichzeitig eine sinkende Binnennachfrage und sinkende Investitionsquoten hervorgerufen wurden. Denn sinkende Lohnquoten bedeuten stets auch eine sinkende Binnennachfrage.
Der durch die Umverteilung von der Arbeits- zur Kapitalseite ständig entstehende Kapitalüberschuss fließt wie die anderen zwei Quellen – die Immobilienrenten und die Bodenschatz-Differentialrenten – in den internationalen Finanzsektor und bläst dessen Volumen enorm auf. Diese von der Realwirtschaft zum Finanzsektor umverteilte Kapitalmenge betrug, um sich von deren Dimension eine halbwegs realistische Vorstellung machen zu können, allein in Deutschland im Zeitraum 1991-2012 ca. 1.500 Milliarden Euro.[20] Wollte man die im genannten Zeitraum für Deutschland ermittelte Summe auf alle OECD-Staaten im Zeitraum 1980 bis 2012 übertragen, so ergäbe sich der astronomische Betrag von 30,3 Billionen US-Dollar.[21] Im Unterschied zu den anderen zwei Quellen des Finanzkapitals wird diese dritte Quelle im Grunde zum Schlüssel des Systemwechsels, eben zum Finanzmarktkapitalismus, der entsteht, weil sich durch die Herstellung dauerhaft ungleicher Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit das Koordinatensystem des Kapitalismus von der Kapitalakkumulation durch Mehrwertproduktion in Richtung Kapitalakkumulation durch Umverteilung verschiebt.
Alle drei oben analysierten Quellen des Finanzkapitals sind durch folgende zwei Wesensmerkmale gekennzeichnet: Erstens handelt es sich bei dem in den Finanzsektor umgeleiteten Geldkapital (Immobiliengrundrente, Differentialrente der Ölgrundeigentümer[22] und der Arbeit vorenthaltene Lohnanteile) um „leistungslose“ Bestandteile der Wertschöpfung, die einseitig, d. h. ohne Gegenleistung, der Wertschöpfungskette entzogen und dem Finanzsektor zugeführt werden. Und zweitens ist der Hebel dieser Umverteilung stets die gesellschaftliche Macht: a) die Macht der Immobilieneigentümer, die darin besteht, qua ihres Monopols an Grund und Boden über die von Nutzern gezahlte Grundrente (dies gilt entsprechend auch für landwirtschaftlichen Grund und Boden) zu verfügen; b) die Macht der Öleigentümer (und Eigentümer sonstiger Bodenschätze), die sich teilweise beträchtliche Differentialrenten von Öl und Bodeschätzen aneignen und sie im Finanzsektor anlegen und c) das zusätzliche Machtpotential der Unternehmer, das über die „normale“ Eigentümermacht im gegenwärtigen Kapitalismus hinaus entsteht, weil sich wegen der Massenarbeitslosigkeit die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zu Gunsten des Kapitals verschieben. Dieser Machtvorsprung versetzt die Unternehmer in die Lage, über den „normalen“ Durchschnittprofit hinaus zusätzlich durch Umverteilung von der Lohn- zur Kapitalseite einen Extraprofit zu erzielen, der letztlich in Gestalt von überschüssigem Kapital in den Finanzsektor fließt. Gerade diese letztgenannte Quelle des Finanzkapitals unterscheidet sich aus mehreren Gründen wesentlich von den anderen Quellen, weil sie an einen für die Zukunft der Menschheit fundamentalen Systemwechsel gekoppelt ist, der die innerkapitalistische Evolution massiv blockiert und das Potential hat, sämtliche positive Errungenschaften des historischen Kapitalismus zunichte zu machen.
Allianz der Reichen als Träger des Finanzmarktkapitalismus
Die Grundeigentümer (Immobilien und Bodenschätze) waren im Kapitalismus schon immer die gesellschaftliche Basis des traditionellen Finanzsektors, und die durch sie angeeigneten Grundrenten fanden im Kapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts den Weg in den Finanzsektor. Die Beteiligung der Unternehmerklasse mit ihrem überschüssigen Kapital an der Expansion des Finanzsektors setzt jedoch, wie erwähnt, den Systemwechsel und einen qualitativen Sprung zum Finanzmarktkapitalismus voraus. In diesem neuen System findet eine rückwärts gewandte Revolution durch eine zweifache Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse statt: Zum einen bei dauerhafter Massenarbeitslosigkeit zu Lasten der lohn- und gehaltsabhängig Arbeitenden, die – wie wir noch sehen werden – den Kapitalismus selbst verändert. Und zum anderen zu Gunsten der parasitären Grundeigentümerklassen, der Rentiers, weil die mächtigen Großkonzerne und mit ihnen ein Teil der gierigen Mittelschichten, die in den Besitz des überschüssigen Kapitals gelangen, mit den Grundeigentümern im Finanzsektor de facto eine unheilige Allianz eingehen und sich gegen den Rest der Gesellschaft stellen. Namhafte Analytiker, wie beispielsweise David Harvey[23] und Thomas Piketty[24], erkennen zwar die wachsende Macht der Rentiers, übersehen aber ihre Allianz mit einem Teil der Kapitalisten im Finanzsektor und dadurch auch den Finanzmarktkapitalismus als selbständiges System einer insgesamt rückwärtsgewandten Kapitalformation. Dieses neue gesellschaftliche Bündnis ist aber, mit dem alles beherrschenden Finanzsektor im Rücken, in der Lage, erstens den Hauptwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital in Richtung eines Widerspruchs zwischen Arm und Reich zu verschieben und zweitens ein neues Modell der Akkumulation durch Umverteilung zu etablieren, das sich vom originär kapitalistischen Modell der Akkumulation durch Mehrwertproduktion grundsätzlich unterscheidet.
Imperialismus und ökonomische Stagnation statt Kreativität und Ausgleich
Marx ist unter anderem auch für manche kapitalismusfreundlichen Aussagen bekannt. Dazu gehört, dass der Kapitalismus trotz seines ausbeuterischen Wesens der Menschheit, historisch gesehen, einen Fortschritt gebracht, ja sogar einen unvergleichbaren revolutionären Prozess entfacht hat. Tatsächlich hat er, der Kapitalismus, die rückwärtsgewandten feudalen Grundeigentümer und ihre Diktatur in Europa beseitigt und den Weg für eine Industrialisierung, für Freihandel, für soziale Emanzipation und politische Freiheit der Besitzenden, zunächst vor allem für Kapitaleigentümer, geebnet. Die Erben der feudalen Grundeigentümer haben es jedoch geschafft, sich den neuen bürgerlichen Gesellschaften anzupassen und ihr Monopol an Grund und Boden sowie Bodenschätzen in Gestalt von „Naturkapital“[25] mit einer unscheinbaren aber sehr einflussreichen Macht zu reproduzieren. Ihre (oben geschätzten) Einnahmen stellen im Grunde einen Abzug von der Wertschöpfung dar, der zu einem guten Teil nicht in die Realwirtschaft als Ort der Wertschöpfung zurückfließt und stattdessen jenen parasitären Finanzsektor erzeugt, der sich im Finanzmarktkapitalismus die Realwirtschaft und die gesamte Gesellschaft unterwirft.
Hatte sich das Kapital im 19. und 20. Jahrhundert bemüht, den Einfluss dieser parasitären Schichten zu beschneiden, weil sie mit der Aneignung eines Teils der Wertschöpfung die Kapitalakkumulation, also den Hauptzweck der Profitmaximierung, massiv blockierten und ökonomische Stagnation und gesellschaftlichen Stillstand förderten, so bedeutet das neue Bündnis des mächtigen Teils der Unternehmerklasse mit den Grundeigentümern im Finanzmarktkapitalismus eine Renaissance von feudalistischen Machtstrukturen und einen historischen Rückschritt. In diesem System tritt neben Wertschöpfung und Produktivität eine erschreckend starke Tendenz zur permanenten Umleitung des Kapitals, wie wir bereits wissen, von der produktiven Realwirtschaft zum unproduktiven Finanzsektor.
In diesem System treten an die Stelle von Kreativität und Abbau von Ungleichheiten in allen gesellschaftlichen Bereichen Stagnation, Korruption und die Tendenz zu Imperialismus und Krieg. Die Vereinigten Staaten mit der stärksten Machtallianz der reaktionären Kräfte und dem eigentlichen Herz des internationalen Finanzkreislaufs sind längst dazu übergegangen, sich globale Reichtümer imperialistisch anzueignen. Ganz im Interesse kurzfristiger Bereicherung der großen Rüstungs- und Rohstoffkonzerne sowie der Grundeigentümerklasse investieren die Vereinigten Staaten in den Militärisch Industriellen Komplex und zahlreiche Kriege und folgen so der Machtlogik dieser Allianz. Diese Politik stellt, wie wir aktuell im Mittleren Osten beobachten können, eine große Gefahr für den Weltfrieden dar, und sie schadet obendrein auch den langfristigen Interessen der eigenen kreativen Kapitalfraktionen.[26]
Auch innerhalb der EU dominiert bei mächtigeren EU-Staaten die Tendenz, sich durch eine Politik von Lohndumping und Exportüberschüssen zu Lasten der schwachen südeuropäischen Staaten zu bereichern. Die Griechenlandkrise führt vor Augen, wie große EU-Staaten allein durch ihre Macht ein europäisches Volk und eine sozial orientierte Reformregierung offen imperialistisch und um den Preis der Entwertung demokratischer Entscheidungen in die Knie zwingen können. Die ökonomisch vernünftige Alternative zu diesem finanzmarktkapitalistischen Unsinn wäre eine auf Solidarität beruhende Politik der Ausgleichszahlungen innerhalb der EU. Auf diesem Weg würde die Gesamtnachfrage im Interesse aller EU-Staaten gesteigert, um nicht nur die Ökonomie der reichen EU-Staaten anzukurbeln, sondern auch südeuropäischen Staaten wie Griechenland innerhalb der EU eine menschenwürdige Perspektive zu sichern.[27]
Wachsende Einkommensungleichheit
Wie folgende Grafik aus Pikettys Studie veranschaulicht, beobachten wir überraschenderweise seit 1900 bis heute in den kapitalistischen Hauptländern zwei Perioden mit extremer Einkommensungleichheit, nämlich die Zeiträume
Grafik 3 siehe PDF!
Quelle: Piketty 2014, S. 429.
1910-1930 und ab 1970 bis heute. In der ersten Periode bewegen sich die Anteile des reichsten Dezils am Nationaleinkommen in den Vereinigten Staaten und in Europa zwischen 40 Prozent und 45 Prozent. Dieser Anteil sinkt danach in den USA bis 1970 auf 33 Prozent und in Europa bis 1980 auf ca. 29 Prozent, um anschließend, wie Piketty zeigt, erneut auf 47 Prozent bzw. 35 Prozent zu explodieren.[28] Überraschend ist dieser Befund deshalb, weil diese beiden Perioden mit der Dominanz des Finanzkapitals, d.h. mit dem Finanzmarktkapitalismus, zusammenfallen. Das ist aber, wie ich weiter unten näher begründen werde, durchaus nicht zufällig. Wie erklärt aber Piketty, in dessen weltweit anerkannte Studie die Frage der Einkommensverteilung und Einkommensungleichheit in der Geschichte des Kapitalismus eine zentrale Rolle spielt, dieses Phänomen?
Zunächst beschäftigt sich Piketty mit der neoklassischen Lehre, die die Lohnungleichheit auf Ungleichheit von Grenzproduktivitäten der Lohn- und Gehaltsempfänger zurückführt. Im Kern besagt diese Theorie, dass die Unternehmer zur Erzielung von Maximalprofiten ihre Produktion solange ausdehnen, bis durch den Einsatz des letzten Arbeiters der Profit auf Null sinkt. Dieser Punkt sei, so die Lehre, unter Bedingung vollkommener Konkurrenz identisch mit dem Preis der eingesetzten Produktionsfaktors Arbeit. Demnach soll der Faktorpreis der Arbeit, also der Lohn, gleich der Grenzproduktivität der Arbeit oder dem Grenzlohn sein. Bei näherem Hinsehen handelt es sich bei dieser Theorie, die als allgemeingültige Theorie der Einkommensverteilung angesehen wird, im Grunde um eine Tautologie. Denn die Grenzproduktivität ergibt sich nach dieser Theorie bei einem Mengen-Preis-Diagramm aus dem Schnittpunkt zwischen Angebotskurve der Produktionsmenge mit dem Lohnniveau. Somit wird der Lohn selbst, der durch die Grenzproduktivität erst erklärt werden soll, zur Voraussetzung für die Bestimmung der Grenzproduktivität. Im Grunde erklärt diese Theorie keineswegs den Lohn, weil sie ihn als schon bekannt voraussetzt. Tatsächlich ergeben sich aber Lohn und Lohnniveau aus den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit. Insofern ist die Grenzproduktivitätstheorie hinsichtlich der Einkommensverteilung eine willkürliche Konstruktion und keine belastbare Theorie.[29]
Piketty äußert zu Recht Zweifel an der einkommenstheoretischen Aussagekraft der Grenzproduktivitätstheorie, ist allerdings mit viel Aufwand und in einem längerem Abschnitt seines Buches bemüht, deduktiv und empirisch eine Theorie zu widerlegen, die eigentlich gar keine ist.[30] Auf die von ihm selbst gestellte Frage, wie sich die Explosion der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten erklären lässt, verweist Piketty auf die im Wesentlichen subjektiven, kulturellen und sozialen Normen und Empfindungen, worüber, wie er selbst sagt, „die größte Ungewissheit herrscht“[31]. Die subjektiven Faktoren, die Piketty heranzieht, mögen tatsächlich die exorbitanten Spitzenvergütungen beeinflusst haben. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, letztlich der wichtigste Hebel der Einkommensverteilung, kommen bei Piketty jedoch gar nicht oder nur andeutungsweise vor.[32]
Steuerentlastung und Staatsverschuldung
Wie Grafik 3 zeigt, finden sich extreme Einkommensungleichheiten in den Vereinigten Staaten, Europa, Japan und in allen OECD-Staaten in zwei Epochen, erstens am Anfang des 20. Jahrhunderts und zweitens ab 1970 in den USA bzw. ab 1980 in anderen Regionen, also in beiden Epochen der Dominanz des Finanzkapitals und des Finanzmarktkapitalismus. Die Voraussetzungen für den Übergang zu dieser speziellen Form des Kapitalismus sind aber, wie oben dargelegt, veränderte Kräfteverhältnisse zu Gunsten der Kapitalseite mit der Folge, dass ein mächtiger, die Realwirtschaft dominierender Finanzsektor entsteht, der fortan alle Politikbereiche und Institutionen einschließlich staatlicher Bereiche manipulativ beeinflusst oder gar steuert, ganz im Interesse der reichen Elite der Gesellschaft. In einem solchen System bildet sich eine Elite, oder genauer eine Parallelgesellschaft, heraus, die aus Spitzenmanagern der großen Konzerne und Finanzinstitutionen sowie sonstigen Superreichen zusammengesetzt ist und die für sich und jenseits von demokratischen Institutionen Sonderrechte beansprucht. In diesem System breitet sich auch eine Kultur aus, die es als selbstverständlich erscheinen lässt, dass Spitzenmanager ihre eigenen Gehälter und Boni selbst festlegen.
Diese Parallelgesellschaft kann in einer Demokratie natürlich politisch nicht legitimiert und auch nicht geschützt sein. Die Festigung der Herrschaft der finanzgeführten Machtallianz erfolgt im Rahmen eines bewährten neoliberalen Konzepts, das darin besteht, Steuerentlastungen für Unternehmen und Reiche als ein immer sinnvolles Muss zu propagieren und die dadurch entstehenden Haushaltsdefizite zunächst mittels Neuverschuldung auszugleichen. Dazu gehört aber auch, die so steigende Staatsverschuldung gleichzeitig massiv zu tabuisieren, um dann Sozialabbau als ökonomisch einzige Alternative erscheinen zu lassen. Dieses Muster lässt sich bei den meisten wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen der wichtigsten kapitalistischen Länder seit Thatcherismus und Reaganismus der 1970er und 1980er Jahre dokumentieren. Dieses Konzept, nennen wir es Steuerentlastungs-Staatsverschuldungssenkungskonzept, das zweifelsohne eine Strategie für eine reiche und superreiche Minderheit in den kapitalistischen Staaten ist, erscheint als ein im Interesse des Gemeinwohls unabdingbares und alternativloses Konzept. Wenn diese Argumentation, die von allen Kapitalfraktionen im Finanzsektor und den ihnen nahestehenden Wissenschaftlern und Medien tagein tagaus verbreitet wird, tatsächlich eine Funktion hat, dann allein die, um die Herrschaft der finanzgeführten Machtallianz im Finanzmarktkapitalismus zu legitimieren und die Partikularinteressen der reichen Minderheit als Gemeinwohl der gesamten Gesellschaft hinzustellen. Skandalös und dazu noch dreist ist es jedoch, den Mechanismus dieser Umverteilung, nämlich die Schuldenbremse, in der Verfassung festzuschreiben. Tatsächlich ist dies inzwischen ein den meisten Verfassungen kapitalistischer Staaten, aber auch in der EU-Verfassung, fest verankert – mit der Begründung, die Staatsverschuldung im Interesse künftiger Generationen begrenzen zu müssen,. Indem aber einem ökonomischen Hebel, der die Einkommensverteilung zu Gunsten der Kapitalseite auf verdeckte Weise reguliert, Verfassungsrang verliehen wird, wird der Widerspruch zwischen den Interessen einer Minderheit und der überwältigenden Mehrheit geschickt verschleiert.
Pikettys Langzeitstudie liefert auch hier den empirischen Beleg dafür, dass die Steuersenkung für die reiche Elite in beiden Perioden der Dominanz des Finanzmarktkapitalismus ein unverzichtbares Element ist. Piketty selbst geht es nicht um die Analyse des Systemwechsels vom Kapitalismus zum Finanzmarktkapitalismus. Ihm ist dieses Phänomen im Grunde auch gar nicht bewusst. Vielmehr interessiert ihn der Zusammenhang zwischen einer schichtspezifischen Steuersenkung und der Einkommensungleichheit.[33] Demnach bewegten sich die Steuersätze der Spitzenverdiener im Zeitraum 1900 bis 1920 für die großen kapitalistischen Länder USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich knapp über Null. Danach stiegen sie in den USA und Großbritannien sehr drastisch auf 80 bis 90 Prozent und in Deutschland und Frankreich auf ca. 50 Prozent. Erst nach 1980 bzw. 1990 werden in den USA und Großbritannien, in der Ära von Thatcher und Reagan, diese Steuern erneut drastisch gesenkt, in den USA auf 50 und in Großbritannien auf 40 Prozent, in den beiden letztgenannten Ländern Deutschland und Frankreich um ca. 15 Prozent.[34]
Diesen Befund unterstreichen folgende Fakten: In beiden kapitalistischen Epochen, am Anfang und am Ende des 20. Jahrhunderts, wird eine zu dramatischer Einkommensungleichheit führende Steuerpolitik praktiziert, die für finanzmarktkapitalistische Verteilungspolitik typisch ist. In unserer Gegenwart ist das Ende dieser skandalösen Ungleichheitsentwicklung offensichtlich immer noch nicht erreicht. Laut einer aktuellen Oxfam-Studie besitzen inzwischen 62 Superreiche zusammen so viel wie die arme Hälfte der Weltbevölkerung. Vor fünf Jahren waren es 388 Milliardäre.[35] Das durch Umverteilung rasant angewachsene Finanzkapital – im Unterschied zum Bankenkapital, das ein vernachlässigbarer Bruchteil von diesem ist – wird insgesamt zu einem unproduktiven und parasitären Sektor, da es weder direkt noch indirekt zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beiträgt. Ganz im Gegenteil behindert es massiv die Neuwertschöpfung, in dem es völlig falsche Anreize für die Umleitung von Ressourcen (Geldkapital und bestens ausgebildete Fachkräfte) in den Finanzsektor schafft.
Finanzkapital als Macht
Oben wurde dargestellt, dass das Hauptmerkmal des Finanzmarktkapitalismus darin besteht, dass sich das Kapital in zwei unterschiedliche Modelle der Kapitalakkumulation spaltet: Kapitalakkumulation durch Mehrwertproduktion (produktiver Sektor) und Kapitalakkumulation durch Verteilung (unproduktiver Sektor). Im letzteren Sektor beruht die Umverteilung ausschließlich auf Macht, also auf einem außerökonomischen Faktor. Somit besteht kein Zweifel, dass Kapitalakkumulation und Reichtumsansammlung im Finanzsektor ausschließlich der Logik der Macht folgen. Letzteres bedarf näherer Erläuterungen.
Macht hat in allen Gesellschaften, also auch in kapitalistischen Gesellschaften, eine eigenständige Existenzweise, allein schon deshalb, weil sie einer anderen Logik folgt als der des Kapitals. Macht folgt der Logik des Monopols, der Logik des Beharrens und des Konservierens bestehender Verhältnisse. Monopol ist ein Zustand, der nur mit Macht, militärischer eingeschlossen, aufrechterhalten werden kann. Und umgekehrt wohnt der Macht die Eigenschaft inne, monopolistische Zustände herzustellen. Mächtige Individuen oder gesellschaftliche Gruppen, die mit Machtressourcen ausgestattet sind, neigen zu allererst dazu, Monopole zu errichten. Und umgekehrt sind Monopolisten gleichzeitig auch die Mächtigen. Macht ist also ein Instrument zur Privilegierung weniger und zur Ausgrenzung und strukturellen Benachteiligung vieler. Als solche ist sie so auch ein wirkungsmächtiger Hebel der Umverteilung (Nullsummenspiel), jedoch nicht ein Mittel zur Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums (Plussummenspiel). Da Monopol auf Ausgrenzung beruht, setzt monopolistische Aneignung Ausgrenzung voraus. Daher mangelt es dem Monopolisten strukturell an der gesellschaftlichen Legitimation, mehr noch: er ist der permanenten Gefahr ausgesetzt, durch Ausgegrenzte delegitimiert und beseitigt zu werden. Um der Selbstbehauptung willen bleibt dem Monopolisten nur die Alternative der Machtvermehrung übrig. Noch mehr Macht, um das geschaffene Machtpotential zu sichern, die grenzenlose Machtakkumulation wird zur treibenden Kraft als Ersatz für die Legitimationslücke. Machtakkumulation steht also im direkten Verhältnis zu sinkender Legitimation. Die akkumulierte Macht in materialisierter Form ist aber nichts weiter als die quantitative Vermehrung der monopolisierten Ressourcen (z. B. Vermehrung von Eigentumsrechten bzw. territoriale Ausdehnung des Besitzes) bei gleichzeitiger Vermehrung von Machtinstrumenten (Waffenarsenalen etc.).[36] Schöpferische Tendenzen gehen nur insofern mit der Reproduktion von Macht einher, wie sie zur Absicherung des Monopols (und des Herrschaftssystems) erforderlich sind, das seinem Wesen nach jedoch keine andere Perspektive als gesellschaftliche Stagnation zulässt.
Im Finanzsektor haben sich vor der ersten Weltfinanzkrise am Anfang des 20. Jahrhunderts, jedoch viel expansiver und systematischer als in den letzten vier Dekaden, alle Voraussetzungen entwickelt, um dem Finanzsektor als Ganzem einen monopolistischen Status gegenüber dem Rest der Gesellschaft zu verleihen. Das Finanzkapital fungiert im Finanzmarktkapitalismus als Macht, es hat die Tendenz, sich die Realwirtschaft und die Gesellschaft insgesamt unterzuordnen. Um diese sicherlich überraschende These näher zu untermauern, werden im Folgenden die wichtigsten institutionellen und funktionellen Hebel der Macht im Finanzsektor skizziert.
Konzentration im Finanzsektor
Der Finanzsektor ist einzigartig stark konzentriert. „Hier dominiert ein Netz von megamächtigen Anbietern und Nachfragern“, meint Hickel. „Nach einer aktuellen Untersuchung aus der Schweiz gibt es weltweit ein kleines, geschlossenes System von im weiteren Kreis hundertvierzig, im engeren Kreis dreißig Finanzgruppen, Banken, Hedgefonds, Private-Equity-Fonds, Finanzinvestitionsfonds und Pensionsfonds“[37]. Hinzu kommt die personelle Verflechtung des Finanzsektors mit internationalen Finanzinstitutionen und Regierungen. Sie dient dazu, wichtige finanzpolitische Entscheidungen im Sinne des Machterhalts des Finanzsektors zu kontrollieren und politische Entscheidungen, wie z.B. die Deregulierung der Finanzmärkte, durchzusetzen. Dafür steht das globale Netzwerk von Goldman Sachs: Etwa 25 US-amerikanische und europäische Spitzenfinanzmanager von Goldman Sachs, darunter John Whitehead, Robert Rubin, Henry Fowler, Lawrence Summers, Robert Zoellik, Josh Bolton, Gary Gensler, Mario Draghi, Romano Prodi, Mario Monti, Otmar Issing, Christoph Brand und andere übernahmen in den letzten Dekaden den Posten des Finanzministers bei diversen US-Regierungen von Reagan bis Obama, sie fungierten als Berater derselben, wechselten zur Weitbank, zum IWF, zur US- und zu den europäischen Zentralbanken, zu Mitgliedern der Parlamentsausschüsse in wichtigen Ländern und zu Beratern in EU-Expertengruppen.[38] Durch diese netzwerkartig verwobene Beziehung unter den Topmanagern des internationalen Finanzsektors kann auf die Politik der Regierungen und sogar auf die Gesetzgebung souveräner Staaten direkt Einfluss ausgeübt und dem Finanzkapital zu größtmöglichen Freiheiten verholfen werden.
Komplexe Finanzprodukte
Komplexe Finanzprodukte werden durch hoch bezahlte und beste Mathematiker und Finanzspezialisten der Welt ausgeheckt, um deren Risiken verstecken zu können, damit Anleger außerstande sind, diese zu erkennen. Die aus dieser Komplexität herrührende Macht der großen Finanzunternehmen öffnet betrügerischen Manipulationen Tür und Tor. Erfindungsreiche Spezialisten verpacken und verschachteln klassische Anlageformen wie Aktien, Anleihen, Rohstoffe zu Derivaten und verkaufen sie mit allen darin versteckten Risiken weiter. „Die größere Komplexität der Verkettung innerhalb und zwischen Finanzsystemen macht inzwischen sogar einem Mann Angst, der von Berufs wegen eigentlich den Durchblick haben müsste.“[39] Der 2008 amtierende Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean Claude Trichet, beklagte in einem Vortrag an der New Yorker Universität die „Obskurität und Wechselwirkungen vieler Finanzinstrumente“, „die oft mit hohem Verschuldungsgrad gepaart sind“[40]. Das gigantische Volumen der Kapitalüberschüsse, die zwecks Renditen angelegt werden müssen, zwingt die Banken, ihre Kunden um weniger abgesicherte Kreditnehmer (Quelle der faulen Kredite) zu erweitern. Um jedoch das Risiko derartiger Kredite zu verschleiern, bedienen sich die Banken neuer Finanzprodukte, wie beispielsweise der Kreditausfall-Swaps, die als die gefährlichsten Derivate bezeichnet werden. Darin sind gute wie weniger gesicherte Kredite neu verbrieft; Finanzinvestoren, die unter dem Druck ihrer Rendite suchenden Anleger stehen und an Einnahmen durch Handelsgebühren interessiert sind, investieren in dieses neue Finanzprodukt in der Hoffnung, Spekulationsgewinne einzustreichen.[41] Spekulationsgewinne sind die Antriebskraft des Handels, der durch weitere Verbriefung solange fortgesetzt wird, bis die dadurch entstandene Blase platzt. Ratingagenturen können mit einer positiven Bewertung des Finanzprodukts zum wachsenden Volumen dieser Art des Derivatehandels erheblich beitragen. Im Frühjahr 2010 war das Volumen der Derivategeschäfte zehn Mal höher als das Weltsozialprodukt.[42] Der Betrug beginnt damit, dass die Verbriefung die Beziehung zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer zerreißt.[43] Dadurch können tatsächliche Risiken des Produktes versteckt werden, Marktteilnehmern fehlt einfach die Möglichkeit, die Verkettung transparent zu machen und sich die nötigen Informationen für die Risikoermittlung zu beschaffen. Im Grunde wird so der Wettbewerb, der auf vollständigen Informationen beruht, ausgehebelt. Gewinner des Kasinos sind in diesem Spiel mächtige Finanzinvestoren, die in der Lage sind, sich quasi monopolistisch die nötigen Informationen zu beschaffen oder aber diese mit Hilfe von Ratingagenturen selbst herzustellen. Den weniger mächtigen Anlegern, wie in Deutschland den Landesbanken, wurde dieser Betrug erst bewusst, nachdem sie viel Geld verloren hatten. Spezialistentum generiert bekanntlich die monopolistische Macht eines winzigen Insiderkreises gegen die Masse der ahnungslosen Mitwirkenden auf den Finanzmärkten. Nicht Leistung, sondern Täuschung wird zur Hauptquelle des Erfolges.
Ratingagenturen
Dies sind von großen Finanzunternehmen geschaffene Institutionen, die mit Hilfe zweifelhafter Kriterien die Risiken von Finanzprodukten, die Kreditwürdigkeit ganzer Staaten und Geldinstitutionen je nach Bedarf negativ oder positiv einstufen und dadurch die Existenz dieser von der Spekulationslaune der Finanzmärkte abhängig machen. Ratingagenturen sind privatwirtschaftliche Unternehmen, sie verdienen ihr Geld nicht durch Aufträge seitens einer unabhängigen Institution, sondern durch Anbieter von Finanzprodukten, sind somit abhängig von jenen Marktakteuren, die bewertet werden wollen. Die Finanzmärkte erzeugen durch komplizierte Finanzprodukte erst Informationsdefizite, um dann die Ratingagenturen mit der Erstellung von „benötigten“ Marktinformationen zu beauftragen. „Die Ratingagenturen,“ konstatiert der US-Ökonomie-Nobelpreisträger Stiglitz, „die die Zunahme der toxischen Instrumente hätten eindämmen sollen, bestätigten ihre Unbedenklichkeit, was andere in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern dazu ermunterte, sie zu kaufen – darunter auch Pensionsfonds, die nach sicheren Anlagen für die Gelder suchten, die Arbeitnehmer für ihre Altersversorgung beiseitegelegt hatten.“ Dem Markt unterlief auch ein Fehler, sagt er weiter, „als er den Ratingagenturen und Investmentbanken vertraute, als sie die zweitklassigen Hypotheken in neue Produkte umwandelten und diesen neuen Produkten den höchsten Bonitätsgrad zuerkannten.“[44]
Um die Macht des Finanzkapitals mit Hilfe dieser Unternehmen deutlich zu machen, wird das Beispiel der Herabsetzung des griechischen Kreditratings genannt, die sich die Agentur Standard & Poor’s am 27. April 2010 vorgenommen hat. „Die Märkte reagierten, als habe eine Bombe eingeschlagen. Die Aktienkurse purzelten weltweit, der Euro sank, griechische Anleihen wurden mit 20 bis 25 Prozent Abschlag gehandelt. Das Szenario wiederholte sich tags darauf, als auch die Schuldenpapiere von Portugal und Spanien herabgestuft wurden.“[45] Dabei war an diesen zwei Tagen weder in Griechenland noch in Portugal und Spanien etwas Besonders passiert. Vielmehr waren sämtliche Informationen zur Zahlungsfähigkeit und -willigkeit aller drei Länder längst öffentlich bekannt und wurden auch von den Medien wöchentlich verbreitet. Allein die Tatsache, dass eine Ratingagentur durch eine simple Pressemitteilung die gewaltigen Kursbewegungen zu Lasten dieser Staaten auslöste und skrupellos Jobverluste für Millionen Menschen in den drei Volkswirtschaften in Kauf nahm, belegt die ungeheure Macht, die der Finanzsektor besitzt und die er gegen die Gesellschaft und die demokratisch legitimierten Regierungen gezielt einsetzen kann.
Weltwirtschafts- und Finanzkrisen 1929 und 2008
Im Finanzmarktkapitalismus ist Instabilität angelegt. Unter den monopolistischen Voraussetzungen, wie sie oben beschrieben wurden, können durch die Finanzkapitalinstitutionen für die Finanzakteure horrende und sich von der Realwirtschaft abhebende Renditen von, wie Joseph Ackermann postulierte, 25 Prozent und mehr erzielt und mit falschen Anreizen immer mehr Geldkapitalmassen und andere Ressourcen von der Realwirtschaft abgezogen und in den spekulativen Finanzsektor umgeleitet werden. Hohe Renditen im Finanzsektor sind deshalb möglich, weil das angelegte Kapital, das quasi „leistungslos“ erworben wurde, die Kapitaleigner zu höherer Risikobereitschaft und Spekulation animiert und so den Finanzsektor zu einem Kasino im Kapitalismus verwandelt. So wird im Grunde der Kapitalismus nunmehr unter Mitwirkung eines Teils der Industriekapitalisten auf den Kopf gestellt, indem sich der Finanzsektor dank seiner wachsenden gesellschaftlichen Macht über die produktive Realwirtschaft erhebt, die Regierungen zu seinem Erfüllungsgehilfen degradiert und die Akkumulationsbedingungen des Realkapitals den eigenen irrationalen Akkumulationstriebkräften subsumiert. Es entsteht damit ein Kreislauf der Umleitung des Kapitals von der Realwirtschaft zum Finanzsektor, weil hohe Renditen im Finanzsektor die Unternehmen der Realwirtschaft dazu animieren, die Produktion einzuschränken und ebenfalls in den Finanzsektor zu investieren. Dieser Prozess kann sich, solange im Finanzsektor höhere Renditen erzielt werden können, fortsetzen. Das Ergebnis ist, dass am Ende des Tages die Massenkaufkraft und der allgemeine Lebensstandard zu Gunsten neuer Umverteilungen von unten nach oben weiter sinkt, dass sich die Tendenz der Umleitung des Kapitals aus der Realwirtschaft in den Finanzsektor verstärkt und sich dieser menschenfeindliche Prozess letztlich als ein Dauerzustand ohne Alternative festsetzt.
Die rapide ansteigende Macht des Finanzsektors drückt sich statistisch u. a. dadurch aus, dass das globale Finanzvermögen von 54.000 Milliarden Dollar 1990 bis 2010 auf 212.000 Milliarden Dollar, also um das Vierfache, angewachsen ist,[46] während im selben Zeitraum das Weltsozialprodukt deutlich langsamer von 22.300 Milliarden Dollar auf 66.600 Milliarden Dollar, um knapp das Dreifache, angestiegen ist. Noch deutlicher zeigt sich dieser Trend in den kapitalistischen Industriestaaten. In Deutschland sank sogar das Realvermögen der Unternehmen zwischen 1981 und 2011 von ca. 260 auf ca.170 Prozent der Nettowertschöpfung, während im selben Zeitraum das Finanzvermögen der Unternehmen von ca. 85 auf beinahe 200 Prozent der Nettowertschöpfung stieg.[47]
Diese Entwicklung zeigt zudem auch die eindeutig negative Wirkung des wachsenden Finanzvolumens auf die Realwirtschaft. In dem Maße, wie Geldkapitaleigentümer ihr Geldkapital aus der Realwirtschaft in den Finanzsektor umleiten, müssen sich Unternehmen, Haushalte und Staat verschulden. So ist die globale Verschuldung dieser Akteure im Zeitraum 2000 bis 2014 von 87.000 auf 199.000 Milliarden Dollar gestiegen.[48] Auch die vielerorts vertretene Hypothese der Abkoppelung des Finanzsektors von der Realwirtschaft[49] findet hier ihre soziologische Begründung: Das produktive Kapital (die Realwirtschaft) und das unproduktive, weil parasitäre Finanzkapital, folgen wie oben dargelegt unterschiedlichen Logiken, der Logik der Mehrwertproduktion und der Wertschöpfung einerseits und der Logik der Umverteilung durch Macht andererseits. Ihre Abkoppelung voneinander ist in diesen Kapitalformen in ihren unterschiedlichen Funktionen angelegt.
Jede große Krise, so die Weltwirtschafts- und Finanzkrisen 1929 und 2008, resultiert daraus, dass mehrere Strukturprobleme des Kapitalismus zeitlich zusammenfallen oder sich gegenseitig verstärken. Um die komplexen Zusammenhänge der genannten Krisen möglichst realitätsnah herauszuarbeiten, kommt es also darauf an, erstens Ursache und Wirkung auseinander zu halten, und zweitens die Hauptstränge des Ursachenkomplexes ganzheitlich, d.h. in ihrem Entstehungszusammenhang, zu erfassen. Die Krise von 2008 ist mittlerweile aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht worden. Dabei überwiegen Analysen, die selektiver Natur sind und daher kaum zum Verständnis dieser Krise beitragen. Der Vorteil von selektiven Analysemethoden ist bekanntlich, dass man mit ihnen alles beweisen und auch alles widerlegen kann. Ihr Nachteil ist, dass nichts dabei herauskommt. Neoliberale Ökonomen können beispielsweise mit diesen Methoden Staatsversagen für die Finanzkrisen verantwortlich machen. Nur beweisen sie damit im Grunde, was sie eigentlich schon vorher wussten. Keynesianische Krisenanalysen kommen der Realität viel näher. Joseph Stiglitz hebt immerhin die Deregulierung des Finanzsektors mit den neu „ausgetüftelten“ und hoch riskanten Finanzprodukten und den Ratingagenturen, die oft die Risiken der Finanzprodukte falsch bewerteten, als Krisenursache hervor. Schließlich haben diese Faktoren zum „Freien Fall“ des Systems geführt.[50] Paul Krugman fügt darüber hinaus die global fehlende Nachfrage und die, wie er sagt, durchgeknallten Banker sowie die Einkommensungleichheit zu den von Stiglitz herausgestellten Aspekten hinzu.[51] Max Otte, um einen viel zitierten deutsch-amerikanischen Ökonomen zu nennen, führt „ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit“[52] aller Finanzinstitutionen als Ursache an, die in Verbindung mit Regierungsentscheidungen in den USA und in der EU, zusammen mit Immobilienkäufern und Wirtschaftsprüfgesellschaften sowie tendenziös arbeitenden Ökonomen, sozusagen kollektiv die Finanzkrise ausgelöst haben.
Mit größerem Tiefgang als keynesianische Ökonomen gehen einige kapitalismuskritische Ökonomen der Krisenursache auf den Grund. Jörg Huffschmid, der leider verstorbene deutsche Ökonom, bescheinigte dem Finanzsektor auf Grund der Erfahrungen mit der Asienkrise bereits acht Jahre vor der Krise 2008, ein Hort der ökonomischen Korruption zu sein. „Die Wirtschaftprüfer erweisen sich“, schrieb er in einer deutlichen Sprache, „als Komplizen des Betrugs, Analysten und Ratingagenturen hatten sich schon in der Asienkrise auf Grund ihrer völligen Ahnungslosigkeit blamiert. Jetzt ist auch ihr moralischer Ruf ramponiert, nachdem bekannt wurde, dass sie enthusiastisch Kaufempfehlungen für Unternehmeraktien gaben, die sie intern als ‚Stück Scheiße‘ bezeichneten.“[53] Umfassender und aktueller als Huffschmid arbeitete Rudolf Hickel so gut wie alle wichtigen ökonomischen und politischen Ursachen der „entfesselten Finanzmärkte“, heraus, die, wie er meint, als „massives Politikversagen wahrgenommen werden.“[54] Wie Paul Krugman führt auch Hickel die Einkommensungleichheit als Folge der „gigantischen Vermögenskonzentration“ als einen „entscheidenden Grund“ der „expandierenden Finanzmärkte“[55] an
Bei aller Differenziertheit und Ausführlichkeit der bisherigen Analysen, die hier nicht ausführlicher rezipiert werden können, ist hervorzuheben, dass sie alle den Hauptgrund für die Finanzkrise gänzlich ausblenden oder ihn bestenfalls nur beiläufig erwähnen: das überschüssige Kapital und seine Quellen. Zwar führt Krugman in einem Szenario zur Erklärung der Immobilienblase an, dass am Anfang „amerikanische Unternehmen ihre Überschüsse an Banken verliehen haben, die damit wiederum Hypothekenkredite vergaben.“[56] Wie dieses überschüssige Kapital aber entstand, thematisiert er genauso wenig wie Hickel, der die Vermögenskonzentration als Ursache der Finanzkrise für entscheidend hält, jedoch die Frage nicht weiterverfolgt, was sich eigentlich dahinter verbirgt. Dabei sind die historischen Finanzquellen für die Art und Weise der Entstehung des Finanzsektors sowohl Anfang des 20. Jh. wie ab den 1970er Jahren für die Wesensmerkmale dieses Sektors wie für die jeweiligen Finanzmarktkapitalismen und Finanzkrisen fundamental und konstitutiv. Wie oben dargestellt, sind in beiden Weltwirtschafts- und Finanzkrisen sinkende Lohnquoten und massive Umverteilung von der Lohn- zur Kapitalseite ein wichtiges gemeinsames Merkmal, das in doppelter Weise krisenverursachend wirkt, weil diese Umverteilung einerseits das überschüssige Kapital entstehen lässt und anderseits die Binnennachfrage massiv einschränkt. Hinzu kommen die gigantischen Öldifferentialrenten als Folge der dramatischen Ölpreissteigerung am Anfang der 2000er Jahre, die das Volumen des Finanzkapitals abermals steigerten. Auf dieser bisher bei allen Analysen systematisch ausgeblendeten Grundlage der Kapitalüberschussexplosion soll der Prozess und der Verlauf beider Krisen, zunächst die jüngere Finanzkrise 2008 und dann die erste Finanzkrise 1929, knapp nachgezeichnet werden.
Finanzkrise 2008
Ausgangspunkt der Finanzkrise 2008 war der Immobiliensektor. Das überschüssige und anlagesuchende Kapital in den USA floss über US-Banken zu einem großen Teil ohne genaue Überprüfung der Bonität der Kreditnehmer in den Bausektor. Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Europa statt. Hier landete dieses Kapital über die spanischen Banken in Spaniens Immobiliensektor, ebenso ohne genaue Überprüfung der Bonität der Kreditnehmer. Die Vorstände der Banken und sonstiger Finanzinstitute hätten wissen müssen, dass die zu erwartenden Kreditausfallraten bei Kreditnehmern mit faulen, d.h. nicht hinreichend abgesicherten Krediten, mittel- und langfristig große Risiken in sich bergen. „Tatsache ist, dass die Banken es nicht wissen wollen“, sagt Joseph Stiglitz.[57] Die Gehälter und Boni eben dieser Vorstände waren an kurzfristige Aktienkurse gekoppelt. Durch die angeblich innovativen Finanzprodukte, d. h. durch Verschleierung riskanter Hypotheken und ihre Verbriefung, handelten diese Banken dank der Deregulierung – d. h. dem Fehlen hinreichender Kontrollen analog zum Prinzip „nach mir die Sintflut“ – fahrlässig, bescherten sich selbst und ihren Klienten jedoch märchenhafte Renditen. Steigende Immobilienpreise als Folge steigender Nachfrage nach Eigenheimen bzw. Immobilien als Kapitalanlage führten zu steigenden Renteneinnahmen bei den Grundeigentümern, letztlich also abermals zur Aufblähung des Kapitalvolumens auf den Finanzmärkten. Außerdem strömten astronomische Kapitalmassen als Folge der steigenden Ölpreise und Öldifferentialrenten auf die globalen Finanzmärkte und stärkten massiv den Druck, neue Märkte und Kreditnehmer zu erschließen. Vor allem freuten sich die US-Amerikaner über billige und kaum abgesicherte Konsumentenkredite und kurbelten die US-Ökonomie künstlich an. Dieses Geschäftsmodell wurde bald global. Die USA hatten die Deregulierung und ihre riskanten Finanzprodukte längst exportiert. Doch als sich Kreditausfälle durch zahlungsunfähige Kreditnehmer mehrten, geriet das Modell ins Stocken. Die Banken bremsten ihre bisher verantwortungslose Kreditpraxis und sorgten dadurch erst recht dafür, dass die enorm aufgestaute Finanzblase platzte. „Zu guter Letzt “ schreibt Stiglitz „tappten die Banken dann in ihre eigene Falle. Die Finanzinstrumente, die sie entwickelt hatten, um die Armen auszubeuten, wandten sich gegen die Finanzmärkte und zogen sie in den Abgrund.“[58] Die Konsumenten in den USA reduzierten drastisch ihren Konsum, die Unternehmen investierten nicht mehr und der Immobilienmarkt kollabierte. Schließlich brach mit dem Konkurs der US-Großbank Lehman Brothers das Kreditsystem komplett zusammen. Sowohl in den USA wie in Europa schrumpfte das Brutto-Sozialprodukt und stieg die Massenarbeitslosigkeit spürbar. Dank gigantischer Bankenrettungsprogramme (nach Spiegelonline im Umfang von 10.000 Milliarden Dollar[59]) und einem koordinierten Vorgehen von öffentlichen Finanzinstitutionen wie dem IWF, den Notenbanken sowie übergeordneten Konsultationen gelang es, ein protektionistisches Gegeneinander und letztlich den völligen Zusammenbruch des Handels und damit eine Weltwirtschafts- und Finanzkrise, wie sie 1929 stattfand, zu verhindern. Dafür wurden neue Staatsschulden und die Abwälzung der Krisenkosten auf untere und mittlere Einkommensgruppen in Kauf genommen.
Finanzkrise 1929
In der wirtschaftshistorischen Literatur gibt es eine breite Übereinstimmung über den Hergang der Finanzkrise, die mit dem New Yorker Börsenkrach am 24. Oktober 1929 (Schwarzer Donnerstag) begann und die erste Weltwirtschafts- und Finanzkrise auslöste. Auch die Krisen begünstigenden Ausgangsbedingungen, vor allem das durch den ersten Weltkrieg am Boden liegende Europa, werden als Krisenursache angeführt. Dazu gehören die hohe Staatsverschuldung Großbritanniens, Frankreichs und vor allem Deutschlands bei den Vereinigten Staaten als Folge der Rüstungsausgaben im ersten Weltkrieg. Dazu gehören auch die besonders hohen Reparationszahlungen, die Deutschland wegen Kriegsschäden im Vertrag von Versailles auferlegt worden waren.
Tatsächlich herrschte seit Anfang des Jahrhunderts zwischen allen kapitalistischen Staaten ein Klima der militärischen und imperialistischen Konkurrenz zur Erweiterung der eigenen kolonialen Gebiete nach außen und zur nationalistischen Abschottung durch Protektionismus nach innen. Letzteres blockierte die Abtragung von Europas Schulden an die USA erst recht. Alles in allem befand sich die kapitalistische Weltwirtschaft Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in einem strukturellen Umbruch: Die Ära des Freihandels, des freien Kapitalverkehrs und der zaghaften innereuropäischen Kooperation war durch eine neue Ära des Protektionismus und der Konfrontation abgelöst worden. Hinzu kamen ungleichgewichtige Handels- und Kapitalbeziehungen mit einem gefährlich überschuldeten Europa, das den ökonomisch boomenden und mit wachsenden Kapitalüberschüssen gesegneten USA gegenüberstand. Diese krassen Ungleichgewichte führten dazu, dass der New Yorker Börsenkrach wie ein Funke in einem vollständig ausgetrockneten Wald einen Flächenbrand auslöste.
Insofern unterscheiden sich die historischen Ausgangsbedingungen der ersten und der zweiten Weltfinanzkrise in einigen Punkten. Was aber diese beiden Krisen durchaus, und zwar in entscheidenden Punkten, vergleichbar macht, sind die Kapitalüberschüsse, die sich vor allen nach dem ersten Weltkrieg in den USA aufgetürmt hatten und auch wie diese Überschüsse entstanden waren. In der Literatur wurde dieser Aspekt der auf den Finanzmärkten Rendite suchenden Kapitalüberschüsse bisher als Krisenursache weitgehend ausgeblendet. Die Quelle dieser Überschüsse waren jedoch ähnlich wie im 20. Jahrhundert auch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert außer Renten der Grundeigentümer und Differentialrenten der Bodenschätze, wie oben gezeigt wurde, vor allem stagnierende bzw. sinkende Löhne in den USA und ganz besonders in Europa. Die Massenarbeitslosigkeit und die daraus resultierende erbarmungslose Konkurrenz ließ den Beschäftigten keine andere Alternative, als Lohnsenkungen hinzunehmen. Mit der doppelten Wirkung von sinkenden Löhnen, die unweigerlich mit sinkender Binnennachfrage einhergehen, türmten sich die überschüssigen Gewinne der Unternehmer in Europa auf den Finanzmärkten ähnlich wie vor der Finanzkrise 2008. Dieses überschüssige Kapital erhöhte massiv den Druck auf die Banken, Konsumentenkredite auszuweiten. Betrugen 1919 die Konsumentenkredite in den USA – um die rasche Expansion dieser Kredite zu veranschaulichen – noch 100 Millionen Dollar, stiegen sie bis 1929 um das Siebzigfache auf 7 Milliarden Dollar.[60]
Die speziellen Bedingungen der Bankenkredite dieser Zeit sind leider nicht so umfassend und detailliert wie für den Zeitraum vor der Finanzkrise 2008 untersucht worden. Wäre es aber dennoch zu weit hergeholt davon auszugehen, dass auch vor 100 Jahren der Druck des überschüssigen Kapitals die Banken zu rigoros riskanten Krediten veranlasste und damit, ähnlich wie Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts, eine Spekulationsblase nach der nächsten erzeugt und die Finanzkrise ausgelöst wurde? Es dauerte jedenfalls weniger als zwei Jahre bis der New Yorker Börsenkrach auf Europa, letztlich auch auf ein besonders fragiles und noch hoch verschuldetes Deutschland, überschwappte. Im Juni 1931 brachen das deutsche Bankensystem und damit auch große Teile der Realwirtschaft in Deutschland und ganz Europa zusammen. Viele Indizien sprechen dafür, dass bereits in jener Epoche erstmals in der Geschichte des Kapitalismus mit der Dominanz des Finanzkapitals über die Realwirtschaft ein Finanzmarktkapitalismus entstanden war, wie wir ihn auch Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts erleben: Private Vermögenskonzentration und Einkommensungleichheit unvorstellbaren Ausmaßes, massiv steigende öffentliche Verschuldung und Massenarbeitslosigkeit, diese und andere Erscheinungen sind Indizien mit verblüffender Ähnlichkeit vor den beiden Weltwirtschafts- und Finanzkrisen 1929 und 2008. Auch Thomas Piketty fällt auf, dass es zwischen der Einkommensungleichheit und den beiden Finanzkrisen einen kausalen Zusammenhang geben muss. Auf die Frage, ob „der Anstieg der amerikanischen Ungleichheiten zur Entfesselung der Finanzkrise von 2008 beigetragen“ hat, schreibt er, „fällt es schwer, diese Frage nicht zu stellen“, wenn man bedenkt, „dass der Anteil des obersten Dezils am amerikanischen Nationaleinkommen zweimal Höchststände erreicht hat, einmal 1928 (am Vorabend der Krise von 1929) und einmal 2007 (am Vorabend der Krise von 2008)“.[61] Ein weiterer „vielleicht noch ausschlaggebenderer“ Grund als die „Ungleichheit in den Vereinigten Staaten“ ist nach Piketty „der strukturelle Anstieg des Kapital-Einkommens-Verhältnisses (namentlich in Europa), begleitet von dem enormen Anstieg internationaler Bruttovermögenspositionen.“[62] Pikettys Untersuchungsergebnisse veranschaulichen in zahlreichen Grafiken, wie frappierend ähnlich die Vermögenskonzentration und die ungleiche Einkommensentwicklung vor 1929 und 2008 sowohl in den USA wie in Europa waren.[63]
Ungeachtet ihres unterschiedlichen Hergangs hinsichtlich des Auslösers, des Ablaufs und der Dauer sind beide Finanzkrisen, 1929 und 2008, ihrem Wesen nach Ausdruck eines Systemwechsels innerhalb des Kapitalismus – von der Dominanz der Realwirtschaft hin zur Dominanz des Finanzkapitals, eben zum Finanzmarktkapitalismus. Im ersten Fall führte die Marktanarchie und eine nationalistisch und Macht gesteuerte Politik der einzelnen Staaten in der Weltwirtschaft zu Protektionismus, Chaos, Massenelend und Faschismus sowie letztlich auch zum zweiten Weltkrieg. In der gegenwärtigen Weltwirtschafts- und Finanzkrise gelang es den Regierungen kapitalistischer Staaten, den Protektionismus weitgehend zu vermeiden und durch gigantische Bankenrettungspakete der Menschheit einen vollständigen Zusammenbruch der Banken und der Wirtschaft, einschließlich eines Dritten Weltkriegs, zu ersparen. Die massiven Kosten der Rettungsmaßnamen gingen jedoch durch umfangreiche Kürzungen zu Lasten der Renten, der Bildung und der Gesundheit.
Jenseits des Finanzmarktkapitalismus
Der Finanzmarktkapitalismus hat sich nach der obigen Analyse als großes Hindernis für sozialen Fortschritt im Kapitalismus erwiesen. Der keynesianisch regulierte Kapitalismus stellte im Grunde einen zivilisatorischen Höhepunkt in der Geschichte des Kapitalismus dar. Er beinhaltete Potentiale und gesellschaftliche Träger einer Perspektive hin zur postkapitalistischen Gesellschaft. Diese nach dem zweiten Weltkrieg bis zum Anfang der 1970er Jahre weltweit dominierende Form des Kapitalismus konnte sich über weite Strecken durch Wohlstandsvermehrung, durch Anpassung an demokratische Entwicklungen und durch ein Maß an sozialer Gleichheit, die der Kapitalismus überhaupt zulassen kann, legitimieren. In dieser Epoche konzentrierte sich der Finanzsektor im Wesentlichen auf geld- und kreditwirtschaftliche Aufgaben, die für das Funktionieren einer wachsenden Realwirtschaft unabdingbar sind. Hier gelang es den arbeitenden Menschen, vielleicht erstmalig in der Geschichte des Kapitalismus, den tatsächlichen Wert ihrer Arbeitskraft zu realisieren. Die Gewerkschaften konnten wie nie zuvor eine Stärke gewinnen, die ein ordentlich funktionierender gleichgewichtiger Kapitalismus benötigt. Ein strukturell überschüssiges Kapital, das der Realwirtschaft den Rücken kehrt, konnte erst gar nicht entstehen. Selbst die im Prinzip parasitären Rentierklassen investierten einen Teil ihrer Renditen in die Realwirtschaft. Auch der Imperialismus wurde in dieser Ära nahezu an den Rand gedrängt und jenen Kräften (besonders im EU-Agrarbereich) überlassen, die ihre Stellung auf den Weltmärkten durch monopolistische Sonderregeln und Machthebel hielten. Die Gewerkschaften waren stark genug, um über tarifpolitische Fragen hinaus soziale und demokratische Reformen anzustoßen und auch voranzubringen. In jener Epoche waren die Gewerkschaften sogar in der Lage, Arbeitszeitverkürzungen durchzusetzen, damit die Früchte der Produktivitätsentwicklung auch den arbeitenden Menschen zugutekommen. Über Jahrzehnte war Vollbeschäftigung kein Tabu, sondern das Wunschziel aller Regierungen. Die Annahme, dass der keynesianische Kapitalismus auf dem eingeschlagenen Weg der Arbeitszeitverkürzung im Begriffe war, die Voraussetzungen für eine neue postkapitalistische Ära zu begünstigen, ist kein Hirngespinst, sondern ein historisches Erfordernis und übriges auch ein durchaus realistisches.
Doch haben linke Reformer jener Zeit leider übersehen, dass klassische keynesianische Regulierungsinstrumente nur unter den Bedingungen von hinreichend verfügbaren Wachstumsreserven zu mehr Wohlstand führen. Zudem haben sie auch nicht begriffen, dass bei einer Erschöpfung der Wachstumsreserven steigende Staatsausgaben eher zu Inflation, Stagnation, Arbeitslosigkeit und Armut führen können. Leider haben sie auch versäumt, sogar ganz im Sinne von Keynes selbst, durch einen radikalen Paradigmenwechsel statt auf Wachstum konsequent auf weitere Arbeitszeitverkürzungen zu setzen, um sowohl die drohende Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden als auch den Zeitwohlstand zu vermehren.[64] Genau auf diesen historischen Fehler der europäischen und amerikanischen Reformbewegungen hatten Hayek und andere Neoliberale gewartet. Quasi über Nacht haben liberalkonservative Parteien überall Reformregierungen abgewählt und, möglicherweise auch aus Angst, dass weitere Reformen am Ende des Tages den Untergang des Kapitalismus befeuern könnten, mit voller Wucht und dem Neoliberalismus als Ideologie im Rücken das Ruder übernommen. Neoliberale Scheinalternativen und das Versprechen, durch Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, durch Deregulierung der Finanzmärkte, durch Liberalisierung der Weltmärkte und durch Privatisierung der Dienstleistungen Arbeitsplätze und Wohlstand erzielen zu können, führten – wie wir überall sehen können – für die Menschen zu einer sozialpolitischen Katastrophe, für den Kapitalismus jedoch zur Entstehung des Finanzmarktkapitalismus.
In diesem System verliert das Kapital seinen ihn legitimierenden zivilisatorischen Auftrag, weil hier die arbeitenden Menschen ihrer Autonomie und Kreativität beraubt werden und ihnen stattdessen der Status einer ständig in der Defensive gehaltenen und um ihre Zukunft bangenden Klasse der Besitzstandbewahrer zugewiesen wird. Von zentraler Bedeutung ist dabei die dramatische Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Lasten der arbeitenden Klassen durch die bewusste Zerschlagung von Gewerkschaften einerseits und durch die neue Allianz der – wie oben ausführlich dargelegt – im Finanzsektor beheimateten Rentierklassen mit einem beträchtlichen Teil der in der Realwirtschaft tätigen Großkonzerne andererseits. Das Ergebnis dieser Machtverschiebung lässt sich beispielsweise in der EU ablesen. Zahlreiche Errungenschaften der Arbeiterbewegung wie Kündigungsschutz und Flächentarifverträge wurde dramatisch abgeschwächt oder ganz abgeschafft, Feiertage gestrichen und Lohnstopp verhängt. Die Liste von Maßnahmen, die darauf ausgerichtet waren, die Konkurrenz der arbeitenden Menschen untereinander auf ein möglichst hohes Maß zu steigern und deren Kampfkraft auf ein möglichst niedriges Niveau zu senken, ist lang und bisher auch längst nicht voll abgearbeitet. In Großbritannien ist beispielsweise ein Gesetz in Vorbreitung, das bei Urabstimmungen den Anteil der Streikbefürworter auf die Hälfte der Abstimmungsberechtigten erweitern und damit die Schwelle von Urabstimmungen für Streikbeschlüsse anheben soll. Demnach soll es auch Unternehmern leichter gemacht werden, bei Streiks Zeitarbeiter einzusetzen. Zudem sollten Gewerkschaften zwei Wochen vor den Streiks die Polizei über geplante Aktivitäten informieren. Auf EU-Ebene, um ein anderes Beispiel zu nennen, sind Bestrebungen im Gang, die Kommission zu ermächtigen, sich bei Bedarf in die nationale Lohnfindung einzuschalten.[65]
Um es schon an dieser Stelle auf den Punkt zu bringen: Der Finanzmarktkapitalismus ist buchstäblich zu einem Bollwerk geworden, das eine emanzipatorische Perspektive über den Kapitalismus hinaus nahezu unmöglich macht. Im Finanzmarktkapitalismus ist die Herstellung von Angst und existenziellen Bedrohungen Dreh- und Angelpunkt der Herrschaft und der Überlebensstrategie der herrschenden Klassenallianz geworden: Angst der arbeitenden Menschen vor Entlassung in die Arbeitslosigkeit, Angst vor einem sozialen Absturz, Angst vor einem Leben ohne Würde, letztlich auch Angst vor einer aussichtlosen Zukunft der eigenen Kinder. Wachsende Langzeitarbeitslosigkeit und Aufrechterhaltung derselben ist ein zentrales Element, ja sogar ein Schlüssel des Erfolges dieser Strategie, die nicht nur Angst reproduziert, sondern gleichzeitig auch alle anderen erwünschten Zustände und Tendenzen (Absenkung des Lohnniveaus, Anpassungsbereitschaft der arbeitenden Menschen, Abschaffung der Tarifautonomie etc.) beinahe von selbst erzeugt.
Der Finanzmarktkapitalismus ging auch außenpolitisch zu einer offen aggressiven imperialistischen Strategie über. Er verstärkte massiv die bereits vorhandenen Bedrohungsängste und Feindbilder, bauschte den Islam zur neuen Bedrohung für den Westen auf (siehe Huntingtons „Krieg der Zivilisationen“) und machte diese Strategie anstelle von Gewaltfreiheit und Kooperation zur Richtschnur der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, um analog zur nationalen Politik der Umverteilung von unten nach oben auch international das Modell Akkumulation durch Umverteilung von Reichtümern zu Lasten anderer Völker zu vervollständigen. Daraus folgten, wie wir weltweit beobachten können, Imperialismus, Chaos und Terrorismus, Wiederbelebung des Nationalismus, Kriege und globale Flüchtlingsbewegungen, die an dramatische Fluchtbewegungen des zweiten Weltkrieges erinnern. Die zwei Weltkriege und der Faschismus scheinen nach dieser Lesart der Geschichte der Ausdruck finanzmarkkapitalistischer Konterrevolution am Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein. Angesichts der nuklearen Vernichtungskapazitäten von heute vermag man sich nicht vorzustellen, wohin eine neue finanzmarktkapitalistische Katastrophe führen könnte.
Gleichzeitig ist diese menschenfeindliche Strategie das Fundament einer Überlebensstrategie jener rückwärtsgewandten finanzgetriebenen Klassenallianz, die sich – offensichtlich von ihrem Egoismus verblendet – über die geschichtlichen Erfahrungen des zweiten Weltkrieges und des Faschismus hinwegsetzt. Das gemeinsame Klasseninteresse am Überleben des Kapitalismus mag erklären, warum auch ein Teil der von produktiver Wertschöpfung lebenden Kapitalisten bereit ist, die Dominanz des von Umverteilung zehrenden unproduktiven Finanzkapitals stillschweigend hinzunehmen. Dazu gehört übrigens auch die Ignoranz gegenüber der schleichenden Entdemokratisierung und Entsolidarisierung in nahezu allen kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart.
Im Finanzmarktkapitalismus – dank der geballten Macht des Finanzkapitals – unterwirft sich der unproduktive Finanzsektor sämtliche Gesetzmäßigkeiten der produktiven Realwirtschaft und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, einschließlich der Weltordnung. Allein dieser Sachverhalt der Herrschaft der Irrationalität über die rationalen Erfordernisse im realen Leben macht das System zu einer Zeitbombe und zu einer großen Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden. Dieses System ist alles andere als stabil, es produziert periodisch gesellschaftliche Tsunamis, die immer wieder zu neuen Erschütterungen führen: Eine Finanzblase schwappt über zur nächsten, ein Krieg löst den nächsten ab, eine Umweltkatastrophe ruft die nächste hervor, eine Flüchtlings- und Armutskrise folgt der nächsten. Die Elite dieses Systems ist – offensichtlich von der Angst des eigenen Untergangs getrieben – sichtbar bestrebt, dieses System von oben nach unten und an den Menschen vorbei in den Institutionen, in den Verfassungen und den Verträgen für alle Ewigkeit zu verankern. Die im Vertrag von Maastricht, um ein Beispiel zu nennen, festgeschriebene Schuldenbremse macht es möglich, dass die EU-Kommission demokratisch beschlossene sozialpolitische Maßnahmen eines EU-Staates blockieren kann. Wie im Falle Griechenlands im Sommer 2015 vorexerziert, mobilisierten die finanzmarktkapitalistischen Eliten ihre geballte politische und institutionelle Macht, um – mit Verweis auf „die Einhaltung von gemeinsamen Regeln“, die sie selbst nach neoliberalen Messlatten schufen – jegliche Alternative zum gescheiterten neoliberalen Politikmuster rücksichtslos im Keim zu ersticken. Auch TTIP muss als weiterer Versuch des Finanzmarktkapitalismus aufgefasst werden, um im globalen Rahmen alle Standards und letztlich Projekte, die strategisch dem Finanzkapital abträglich sind, zur Strecke zu bringen.
Kurzum: der Finanzmarktkapitalismus lässt postkapitalistische Perspektiven in eine Zukunft verschieben, die so gut wie nie erreichbar sein soll. Deshalb, so meine Schlussfolgerung der obigen Analyse, stehen kapitalismuskritische Bewegungen und Parteien vor neuen gewaltigen Herauforderungen: Dazu gehört zuerst die Erkenntnis, dass postkapitalistische Perspektiven erst dann auf der Tagesordnung stehen, wenn das größte Hindernis, eben der Finanzmarktkapitalismus, überwunden ist. Demnach muss es das Ziel der kapitalismuskritischen Bewegungen und Parteien sein, die eine Zukunft frei von Ausbeutung, frei von der Herrschaft einer Minderheit der Reichen und Mächtigen aufbauen wollen, eine evolutionäre Strategie zu entwickeln, die aus zwei klar unterscheidbaren Etappen besteht. Dies ergibt sich daraus, dass der Finanzmarktkapitalismus eine selbstständige und vom gleichgewichtigen (keynesianischen) Kapitalismus unterscheidbare Kapitalformation ist, die – wie oben dargelegt – aus einer in sich widersprüchlichen Allianz aus parasitären Rentierklassen einerseits mit einer von der Wertschöpfung zehrenden Kapitalfraktion andererseits besteht. In diesem Modell richtet sich die Politik der herrschenden Allianz nicht nur gegen die arbeitenden Menschen, sondern auch gegen die Interessen des Mittelstandes und insgesamt gegen jene Unternehmer, die selbst Opfer der Politik der Akkumulation durch Umverteilung geworden sind und daher auch Teil einer gegnerischen Allianz für einen nach vorne gerichteten Kapitalismus sein könnten.
Die obige Analyse führt jedenfalls zur politischen Schlussfolgerung, dass eine Strategie, die ernsthaft auf emanzipatorische und solidarische Verhältnisse jenseits des Kapitalismus aus ist, zwei klar unterscheidbare Etappen auseinanderhalten muss:
Das politische Ziel in der ersten Etappe muss die Überwindung des Finanzmarktkapitalismus sein, ein Ziel, das in den Vordergrund zu stellen ist, da erst dann politische Rahmenbedingungen zu erwarten sind, die für einen fairen Wettstreit um gesellschaftliche Alternativen unabdingbar sind. Ein fairer Wettstreit um eine bessere Zukunft wäre unter den Bedingungen der absoluten Dominanz des mächtigen Finanzkapitals, das über sämtliche materiellen und kulturellen Ressourcen verfügt, ohnehin so gut wie chancenlos. Anders verhielte sich der Sachverhalt, wenn in dieser Etappe die Austrocknung der Quellen des Finanzkapitals und die Schwächung der im Finanzmarktkapitalismus führenden Elite erfolgreich stattfände, indem die zum Himmel schreienden und noch nie da gewesenen Ungleichheiten beseitigt und die Demokratie weiterentwickelt würde. In der Perspektive der Überwindung des Finanzmarktkapitalismus setzt sich der soziale Träger aus einer breiten Allianz zusammen, die Hauptverlierer dieses System sind. Nach all den obigen Überlegungen gehört zu dieser Allianz, außer den arbeitenden Menschen, jener Teil der Kapitalfraktionen, die in der Realwirtschaft von der Mehrwertproduktion leben, aber kein überschüssiges Kapital erzielen, vielmehr im Konkurrenzkampf mit dem Finanzkapital um das eigene Überleben bangen und allmählich, aber unaufhaltsam, ihr Vermögen verlieren.
Erst dann und in einer zweiten Etappe wären kapitalismuskritische Kräfte gefordert, die Menschen für bessere Alternativen jenseits des Kapitalismus zu gewinnen. Nur wenn Menschen die Chance hätten, sich selbst von besseren Alternativen in ihrer Lebenspraxis überzeugen zu können, dann bestünde auch die Hoffnung, dass eine bessere Welt sich mehr oder weniger von selbst durchsetzt. Diese zweite Phase böte die Möglichkeit und günstigere Bedingungen, um für bessere Alternativen den theoretischen und praktischen Beweis zu erbringen. Zudem stünden antikapitalistische Kräfte bei den neuen, von parasitären und krankhaft gierigen Schichten befreiten Mächten politisch ganz anders da, um den Emanzipationsprozess vorantreiben.
Insofern hat die obige Etappenteilung auch den politisch pragmatischen Vorteil, emanzipatorisches Kräftepotential optimal einzusetzen, zuerst, auf der Basis einer breiten Allianz, den Finanzmarktkapitalismus zu überwinden, um dann den emanzipatorischen Weg fortzuführen. Man stelle sich nun vor, man entschiede sich dafür, mit dem zweiten Schritt vor dem ersten zu beginnen, d. h. also den Finanzmarktkapitalismus wegzuzaubern, um dann gleich die Überwindung des Kapitalismus in den Vordergrund zu stellen: Dann wäre doch klar, dass man dadurch nur das Kunststück vollbrächte, sämtliche per se nicht antikapitalistischen Kräfte – und diese sind bei weitem mehr als nur die Kapitalisten selbst – in das Lager des Finanzkapitals zu treiben. Ich möchte an dieser Stelle behaupten, dass antikapitalistische Strömungen und Theoretiker, mit Ausnahme von Antonio Gramsci, seit über einem Jahrhundert genau dieser selbst blockierenden Verwechslung des zweiten mit dem ersten Schritt unterliegen.[66] Dies gilt auch für heute. Im linken, antikapitalistischen Lager dominieren Vorstellungen, die ausschließlich ein Ziel kennen und von Etappen zur Überwindung des Kapitalismus nichts wissen wollen. Trotz umfassender und aufschlussreicher Kritik am Finanzmarktmarktkapitalismus wurde bisher fast flächendeckend die Tatsache, dass dieses System als selbständige Kapitalformation mit einem qualitativ unterscheidbaren Akkumulationsmodell zu sehen ist, nicht einmal in Betracht gezogen. Stattdessen florieren postkapitalistische Debatten, in denen schon jetzt antikapitalistische Strategien im Vordergrund stehen. Mit einer solchen Vorstellung gäbe man doch freiwillig die historische Chance aus der Hand, zusammen mit dem humanistischen Teil der Unternehmer eine breite Allianz zu schmieden, die gewillt ist, dem Finanzkapital den Boden unter den Füßen zu entziehen und die zahlreichen unmenschlichen finanzmarktkapitalistischen Projekte zu stoppen. Diese Sicht analytisch transparent zu machen und angemessen darzustellen, stellte die Hauptmotivation für diese Analyse dar.
Gegenstrategien
Ein gesellschaftliches Bündnis mit der Perspektive der Zerschlagung des Finanzsektors und dessen Reduktion auf originär geld- und kreditpolitische Aufgaben in der Volkswirtschaft braucht politische Projekte, die geeignet sind, die neoliberalen Politikmuster und das System Finanzmarktkapitalismus zu delegitimieren. Folgende zwei Projekte lassen sich aus der obigen Analyse ableiten:
1. Austrocknung der Quellen des Finanzkapitals
Hier geht es vor allem um die Renten der Eigentümer an Grund und Boden und der Eigentümer an natürlichen Rohstoffen. Die langfristige und radikalste Lösung für Renteneinnamen als Quelle des Finanzkapitals ist die universale Vergemeinschaftung sämtlicher Eigentumstitel an der Natur. Die Natur und ihre Gaben sind im ethisch-philosophischen Sinn das Erbe der Menschheit und können weder Eigentum von Individuen noch von Staaten sein. Individuen und Staaten sind alle Nutzer und müssten an die Weltgemeinschaft Pachtgebühren entrichten. Kurzfristig müssten die gegenwärtig erzielten Differentialrenten (Sondereinnahmen bei der Produktion fossiler Energieträger und sonstiger Rohstoffe) überproportional zu Gunsten globaler Fonds besteuert werden, z. B. für den Ausbau von regenerativen Energien in weniger entwickelten Ländern und für die globale Energiewende in ihrer Gesamtheit.
2. Systematische Unterbindung einer Umverteilung von unten nach oben
Dies kann und soll durch schrittweise Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Herstellung von Vollbeschäftigungsverhältnissen erreicht werden. Nur dadurch könnten die Löhne auf das Niveau der tatsächlichen Werte der Arbeitskraft gehoben werden, wodurch auch eine Umverteilung von der Arbeits- zur Kapitalseite und die Entstehung überschüssigen Kapitals, das in den Finanzsektor fließt, unterbunden würde. So ist der Kampf für schrittweise Arbeitszeitverkürzung der sozialpolitische Schlüssel zur Herstellung neuer gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und zur Zerschlagung des Finanzmarktkapitalismus. Deshalb haben die Eliten des Systems die größte Angst vor diesem sozialpolitisch richtungweisenden Projekt. Nicht von ungefähr definiert die EU in der Praxis ziemlich willkürlich die Höhe einer „hinnehmbaren strukturellen Arbeitslosenrate“ als normal, um keine beschäftigungspolitische Maßnahmen vornehmen zu müssen.[67]
Während die Austrocknung der Quellen des Finanzkapitals durch die Besteuerung der Differentialrenten der Grundeigentümer ein globales Projekt ist und aller Wahrscheinlichkeit nach auch von Kapitalisten in der Realwirtschaft mitgetragen werden dürfte – weshalb diese für eine breite Allianz gegen den Finanzmarktkapitalismus gewonnen werden müssten – ist die Arbeitszeitverkürzung zunächst ein national oder EU-weit zu realisierendes Projekt und müsste auch von einer gesellschaftlichen Allianz ohne Kapitalfraktionen erkämpft werden. Langfristig müsste so oder so die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich in Abhängigkeit von der Produktivitätssteigerung in der Verfassung festgeschrieben werden. Die Beschäftigten hätten so einen handfesten Anreiz, die Produktivitätssteigerung in den Betrieben zu unterstützen, dafür hätten sie die Gewissheit, dass sie ihren Zeitwohlstand vermehren.
[1] Der Spiegel 43/2014, Das Zombie-System.
[2] Frankfurter Rundschau v. 30.09.2015.
[3] Der Spiegel, a. a. O., S. 67.
[4] Frankfurter Rundschau v. 27./28.09.2013, Finanzmärkte dominieren die Realwirtschaft.
[5] Gautam Mokunda, The Price of Wall Street’s Power, in: Harvard Business Review, June 2014.
[6] Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Frankfurt a. Main 1968.
[7] So der Herausgeber der 1968 erschienenen Neuauflage des Finanzkapitals, Eduard März, a.a.O., S. 5.
[8] Hilferding, a.a.O., S. 323.
[9] Ebenda, S. 309.
[10] Ebenda, S. 310.
[11] Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 2014.
[12] Da sich die Marktpreise von Rohstoffen auf der Grundlage der Produktionskosten unter ungünstigsten natürlichen Förderbedingungen bilden, beziehen alle anderen Produzenten, über normale Profite hinaus, zusätzliche Einnahmen, die als Differentialrenten bezeichnet werden.
[13] Eine genaue Berechnung dürfte kaum möglich sein. Um eine Vorstellung von dieser Quelle des Finanzkapitals zu vermitteln, wurde diese Kapitalsumme mit Hilfe folgender Annahmen ermittelt: a) weltweite Ölproduktion im Zeitraum 1965 bis 2014 und b) eine durchschnittliche Differentialrente, in Preisen von 2014, von 20 Dollar/Barrel.
[14] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 267, Grafik 6.1.
[15] Ebenda, Grafik 6.2.
[16] Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen, Bonn 1990.
[17] Carlo M. Cipolla/Knut Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte, Band 3, Stuttgart 1985, S. 138.
[18] Friedrich-Wilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914, Paderborn, München, Wien, Zürich 1995, S. 30.
[19] Piketty, der die Zeitreihen zur Lohnquote berechnete, verfolgte freilich andere inhaltliche Ziele. Indem er aber bei der Untersuchung der Entwicklung der Ungleichheit am Beispiel der USA explizit die Frage stellt, ob „womöglich der Anstieg der amerikanischen Ungleichheiten zur Entfesselung der Finanzkrise von 2008 beigetragen“ hat, stellt er indirekt auch einen Zusammenhang zwischen Lohnsenkung und Finanzkrise her. „Bedenkt man,“ schreibt er weiter, „dass der Anteil des obersten Dezils am amerikanischen Nationaleinkommen zweimal Höchststände erreicht hat, einmal 1928 (am Vorabend der Krise von 1929) und einmal 2007 (am Vorabend der Krise von 2008), fällt es schwer, die Frage nicht zu stellen.“ Piketty, 2014, S. 391.
[20] Mohssen Massarrat, Der Skandal der Massenarbeitslosigkeit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2013, S. 30.
[21] Die obige Schätzung ergibt sich aus der Relation von 1.500 Milliarden Euro zu Deutschlands Nationaleinkommen in diesem Zeitraum, die durchschnittlich 3,8 Prozent beträgt, und ermittelt dann die absolute Summe aus der Relation von 3,8 Prozent zum OECD-Nationaleinkommen im Zeitraum 1980 bis 2012.
[22] Zu dieser Kategorie gehören auch internationale Ölkonzerne, die nach dem zweiten Weltkrieg auf Grund von neokolonialistischen Verhältnissen einen großen Teil der Ölrenten für sich selbst angezapft und in den Finanzsektor umgeleitet haben. Vgl. dazu Mohssen Massarrat, Weltenergieproduktion und Neuordnung der Weltwirtschaft, Frankfurt a. Main 1980, S. 185 ff.
[23] David Harvey, Katastrophenkapitalismus, Teil II, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8/2015, S. 65f. Harvey führt in manchen seiner Beiträge sämtliche übermäßigen Profite offensichtlich intuitiv und ohne analytische Begründung mehr oder weniger nebulös auf eine „Akkumulation durch Enteignung“ zurück. Die hier dargestellte „Akkumulation durch Umverteilung“ mag Harveys begriffliche Unklarheit gewissermaßen beseitigen.
[24] Piketty, a.a.O., S. 562f. Piketty scheint allerdings weder eine klare Vorstellung vom Umfang der Rente im Kapitalismus von heute noch ihrer Bedeutung für den Finanzsektor zu haben. „Der Landbesitz ist zum Immobilien-, Industrie- und Finanzkapital geworden, aber dadurch hat sich an dieser elementaren Realität nichts geändert.“ Ebenda, S. 564.
[25] Ein populärer Begriff für Grund und Boden und Naturschätze im Kapitalismus, der insofern missverständlich ist, weil er die Nichtreproduzierbarkeit der Natur verschleiert.
[26] Ausführlicher dazu siehe Mohssen Massarrat, Chaos und Hegemonie. Wie der Dollarimperialismus die Welt dominiert, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2014.
[27] Viele Indizien sprechen dafür, dass der Imperialismus am Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage jenes um die Jahrhundertwende entstandenen Finanzmarktkapitalismus (Dominanz des unproduktiven Finanzsektors, sinkende Binnennachfrage, wachsende Einkommensungleichheit sowie monopolistische Machtstellung einer rückwärtsgewandten Allianz der Superreichen) entfesselt worden ist und nicht aus der linearen Entwicklung des Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus resultierte, wie Lenin und andere Klassiker meinten.
[28] Piketty 2014, a.a.O., S. 415 ff.
[29] Hingegen erteilt die Grenzproduktivität Anhaltspunkte über die Verteilung von Produktionsfaktoren in der Volkswirtschaft und ist somit eine Allokationstheorie.
[30] Vgl. dazu Piketty, a. a. O, S. 415 ff.
[31] Ebenda, S. 441.
[32] Ebenda, S. 440.
[33] Ebenda, S. 686.
[34] Ebenda, S. 670.
[35] Frankfurter Rundschau vom 18. Januar 2016.
[36] Vgl. ausführlicher Mohssen Massarrat, Macht im Kapitalismus, in: Z 93 (März 2013), S. 48-65; ders., Umverteilung im Kapitalismus. Theorie und Mechanismen, in: Sozialismus 3/2013.
[37] Rudolf Hickel, Zerschlagt die Banken – entmachtet die Finanzmärkte, Berlin 2012, S. 39.
[38] Detaillierte Ausführungen dazu: Gisela Schmalz, Götter der Gerissenheit, in: Cliquenwirtschaft, München 2014, und: Conrad Schuhler, Das Anschwellen der Finanzmärkte oder die Finanzialisierung des globalen Kapitalismus, in: Umbruch im globalen Kapitalismus, ISW Report 100/101, München 2015.
[39] Der Spiegel 40/2008, Der Offenbarungseid, S. 28.
[40] Ebenda.
[41] Heinz-J. Bontrup, Zur größten Finanz- und Weltwirtschaftskrise seit achtzig Jahren, DGB-Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt, Hannover 2012.
[42] Hickel, a. a. O., S. 59.
[43] Joseph Stiglitz, Im Freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, München 2012, S. 42.
[44] Ebenda, S. 33f.
[45] Werner Vontobel, Stammeln statt Denken, in: Freitag v. 6. Mai 2010.
[46] Atlas der Globalisierung, Berlin 2015, S. 21.
[47] Ebenda.
[48] Conrad Schuhler, a. a. O., S. 43.
[49] So sehr frühzeitig bei Elmar Altvater in zahlreichen Beiträgen, u. a. im mit Birgit Mahnkopf verfassten Werk „Grenzen der Globalisierung“, Münster 1996, S.129ff.; Lukas Menkopf/Norbert Tolksdorf, Finanzmärkte in der Krise? Zur Abkopplung des Finanzsektors von der Realwirtschaft, Stuttgart 1999.
[50] Joseph Stiglitz, Im freien Fall, vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, München 2010, S. 27ff.
[51] Paul Krugman, Vergesst die Krise. Warum wir jetzt Geld ausgeben müssen, Frankfurt/New York, 2012, S. 37, 68 und 88f.
[52] Max Otte, Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 59/202, S. 10.
[53] Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, Hamburg 2000, S. 13.
[54] Rudolf Hickel, a.a.O..
[55] Ebenda, S. 35.
[56] Paul Krugman, a.a.O., S. 43.
[57] Stiglitz, a.a.O., S. 42.
[58] Stiglitz, a.a.O., S. 44.
[59] Nach Berechnung der Experten von Commerzbank, Spiegelonline 29.08.2009.
[60] Florian Pressler, Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der Großen Depression, München 2013.
[61] Piketty, a. a. O., S. 391
[62] Ebenda, S. 393.
[63] Ebenda, S. 395-431.
[64] Norbert Reuter, Ökonomik der „Langen Frist“. Zur Evolution der Wachstumsgrundlagen in Industriegesellschaften, Marburg 2000; Karl Georg Zinn, Die Keynessche Alternative, Hamburg 2008, S. 40.
[65] Ausführlicher siehe Sebastian Borger, Stephan Kaufmann, Eva Roth: Im Reich der Wettbewerbsfähigkeit, in: Frankfurter Rundschau v. 9./10. Januar 2016.
[66] Ich habe den Verdacht, dass im Finanzmarktkapitalismus von der Jahrhundertwende 19. zum 20. Jahrhundert Kommunistische Parteien und Bewegungen genau dieser Illusion verfielen und statt mit der Sozialdemokratie gegen Imperialismus, Krieg und Faschismus zu kämpfen, die Sozialdemokratie zu einem gefährlicheren Gegner kürten und den Weg für die faschistische Machtergreifung ebneten, eine These, die allerdings empirisch erhärtet werden müsste.
[67] Aus der Sicht der EU-Kommission „liegt eine Krise vor […], wenn die aktuelle Arbeitslosenrate weit über dem liegt, was man strukturelle Arbeitslosenrate nennt. […] Die EU schätzt die strukturelle Arbeitslosenrate so, dass sie immer der tatsächlichen folgt, starke Abweichungen werden weggeschätzt, damit auch die Krise!“ Derzeit liegt diese Rate in der Eurozone bei zehn Prozent. „Die EU geht davon aus, dass die Arbeitslosenquote auch dann zehn Prozent beträgt, wenn die Wirtschaft normal läuft.“. Und deshalb dürften bei dieser Rate „Staaten nicht mehr Geld ausgeben, um die Wirtschaft anzukurbeln, damit neu Jobs entstehen. Diese Arbeitslosen hat die EU abgeschrieben und für derzeit nicht brauchbar erklärt.“ Stephan Schulmeister, „Der nächste Crash kommt“, Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ v. 2./3. Januar 2016.