Pegida und AfD bilden Beispiele dafür, wie ein nicht zu verachtender Teil der deutschen Bevölkerung den Nationalismus als richtige und adäquate Reaktion auf steigende Zahlen von Geflüchteten in Deutschland betrachtet. Dies illustriert eine Haltung, welche es in jeder Hinsicht verfehlt, einen grundsätzlichen Zusammenhang zu enttarnen: Die Ausbeutung durch den Kapitalismus und dadurch entstehendes Leiden, soziale Schieflagen sowie Armut auf dieser Welt, die sich u.a. in den momentan viel diskutierten Migrationsbewegungen äußern. Da die kapitalistische Wirtschaftsweise und Migrationsbewegungen auf vielfältige Weise miteinander in Verbindung stehen, versucht dieser Beitrag entgegen der in den öffentlichen Diskursen stattfindenden Beschränkung auf das Erreichen zahlreicher MigrantInnen Deutschlands (Europas) einen Querschnitt möglichst vieler Aspekte von Migration in ihrer Entstehung, in den Migrationsströmen und der Situation im Zielland darzulegen. Dazu werden nach einer terminologischen Differenzierung der im Kontext Migration verwendeten Begriffe (Kapitel 1) die zentralen Motive für Migration dargestellt (Kapitel 2). Anschließend werden verschiedene Ströme von Migration, welche der europäisch- und deutsch-fokussierten Betrachtungsweise einen Gegenentwurf vorlegen, betrachtet (Kapitel 3). Schließlich wird die klassenspezifische Situation im Zielland Deutschland erörtert (Kapitel 4).[1]
1. Migration und Flucht – zum Verständnis
Nicht immer ist klar, was mit den Begriffen Migration und Flucht genau gemeint ist und mitunter werden die Begriffe synonym gebraucht. Dabei ist Migration ein Oberbegriff, und Flucht eine besondere Form der Migration. Eine Übersicht über verschiedene Formen der Migration samt ihrer Merkmale liefert Jochen Oltmer, der außerdem zwischen mehreren Formen der freiwilligen und unfreiwilligen Migration unterscheidet (vgl. Oltmer 2012). Jeder Flüchtling ist folglich Migrant, doch nicht jeder Migrant auch Flüchtling. Diese Unterscheidung ist nicht nur juristisch, sondern vor allem politisch bedeutsam. Denn mit der Unterscheidung verschiedener Motive und Ursachen von Migration werden Aussagen über deren Legitimität verbunden. Ein Beispiel dafür ist die häufig geäußerte Unterscheidung von „Kriegsflüchtlingen“ und so genannten „Wirtschaftsmigranten“. Während die Flucht vor Krieg – zumindest formal – als legitim und schutzbedürftig anerkannt wird, wird die Flucht vor wirtschaftlicher Not als freiwillige Entscheidung verstanden, die keines staatlichen Schutzes bedürfe. Im politischen Diskurs wird damit eine Trennung von „echten“ und „unechten“ bzw. legalen und illegalen Flüchtlingen geschaffen.
Genfer Flüchtlingskonvention
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) definiert Flüchtlinge auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention als „Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann“. Dabei vertritt das UNHCR die Position, dass auch Personen, die vor Hungersnöten in Folge von Kriegen ihr Land verlassen, als Flüchtlinge anzusehen sind. Der „Wirtschaftsmigrant“ hingegen „verlässt seine Heimat üblicherweise freiwillig, um seine Lebensbedingungen zu verbessern“ (UNHCR 2016). Als Flüchtling gilt somit, wer vor einer Hungersnot flieht, die durch einen bewaffneten Konflikt hervorgerufen wurde. Wer hingegen vor Armut flieht, die nicht unmittelbar durch einen Krieg hervorgerufen wurde, ist laut UNHCR „Wirtschaftsmigrant“ und hat keinen Anspruch auf den entsprechenden Schutz. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMBF) beruft sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention, deren Definition Eingang in das Asylgesetz (früher: Asylverfahrensgesetz) gefunden hat.
Neben der Genfer Konvention existiert auch der subsidiäre Schutz, wie ihn die EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU und, daran anschließend, das deutsche Asylgesetz festlegen. Subsidiärer Schutz kann ausgesprochen werden, wenn etwa „eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ besteht. Die subsidiär Schutzbedürftigen sind dann keine „Konventionsflüchtlinge“, erhalten jedoch zeitlich befristet einen Flüchtlingsstatus.
Mit den Definitionen der Genfer Flüchtlingskonvention und des subsidiären Schutzes wird die ökonomische Dimension der Migration jedoch explizit ausgeklammert. Als Flüchtling kann gelten, wer nachweisbar politisch verfolgt ist – wer „nur“ vor Armut und Hunger oder der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen flieht, gilt als „Wirtschaftsmigrant“. Formal gelten politische, weltanschauliche und religiöse Verfolgung als Asylgründe, ein „ökonomisches Asyl“ etwa gibt es nicht. Politisch wird diese juristische Einteilung benutzt, um zwischen legitimen und illegitimen Motiven der Migration zu unterscheiden: „Wirklich Verfolgten“ soll Asyl und Schutz gewährt werden, vermeintlichen „Wirtschaftsflüchtlingen“ hingegen werden niedere und nicht legitime Beweggründe unterstellt – eine Herrschaftstechnik, die Einwanderer in „gut“ und „schlecht“ spaltet. Dabei sind die Motive zum Verlassen der Heimat bzw. des jeweiligen Aufenthaltsortes unterschiedlich und nicht immer klar voneinander zu trennen.
2. Unterschiedliche Motive für Migration
Da der öffentliche Diskurs und die Rechtslage, wie in der terminologischen Abgrenzung von „Migration“ und „Flucht“ bereits dargelegt, mit Wertmaßstäben für die Rechtsmäßigkeit einzelner Motive für Migration operieren und außerdem immer wieder, wenn auch nur oberflächlich, ein Diskurs über die Bekämpfung von Fluchtursachen geführt wird, sollen nun unterschiedliche Motive von Migration und die Entstehung dieser Motive dargestellt werden. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich jede Migration individuell gestaltet und oftmals aufgrund einer Kombination unterschiedlicher Ursachen geschieht.
Konflikte, Kriege, Gewalt
Bei diesem Motiv von Migration handelt es sich um eines, das im Rahmen der Terminologien als legitim bezeichnet wird. Dennoch begrenzen Deklarierungen von sogenannten sicheren Herkunftsstaaten nach Artikel 16a (3) des Grundgesetzes und Paragraph 29 (1-2a) des Asylgesetzes, bzw. dessen Anlage II, in der eine Enumeration sicherer Herkunftsstaaten vorgenommen wird, die Legitimität dieser Fluchtursache und damit die Legalität der Migration. Im Rahmen dieses Beitrages seien zwei wesentliche Konfliktgebiete ausgewählt: Afghanistan und Syrien.
In Afghanistan herrscht seit der kommunistischen Revolution im Jahr 1978 ein nicht endender Konflikt. Bis 1989 versuchte die Sowjetunion durch militärische Unterstützung die Regierung gegen islamistische Gruppierungen zu verteidigen und zu stabilisieren. Nach dem Abzug sowjetischer Truppen im Jahr 1989 und der nicht fortdauernden Hilfen durch die Auflösung der Sowjetunion 1991 begann ein Bürgerkrieg, in dem sich die Taliban im Verlauf der 90er Jahre große Gebiete Afghanistans zu eigen machten. Gemeinsam mit der „Vereinigten Front“, die jahrelang gegen den Einfluss der Taliban kämpfte, intervenierten das US-geführte Militärbündnis ISAF und die Operation Enduring Freedom nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001 und eroberten weite Teile Afghanistans mit dem proklamierten Ziel der Demokratisierung und politischen Stabilisierung des Landes. Seit 2013 werden die stationierten Truppen schrittweise zurückgezogen. Die Bilanz des Krieges, vor allem die Sicherheitslage, ist gravierend: Im Jahr 2015 belegte Afghanistan auf dem weltweiten Friedensindex den drittletzten Platz (Institute for Economics & Peace 2015: 9). Laut dem UNHCR gewinnen regierungsfeindliche Gruppierungen, insbesondere die Taliban, immer mehr Einfluss, Gewalt nimmt zu, Nahrungsmittelversorgung, Gesundheit und Bildungszugang verschlechtern sich weiterhin (UNHCR 2013). Die Konsequenz bilden die Zahlen von den sich auf der Flucht befindenden Menschen: 2,63 Millionen. Darüber hinaus beträgt die Zahl der Binnenvertriebenen 947.872 Personen (UNHCR 2015a: 21).
Ein weiterer Ort gewaltsamer Konfliktaustragung ist spätestens seit 2011 Syrien. Nach jahrelanger Staatsführung durch Baschar al-Assad, die auch zu Repression und enormer sozialer Ungleichheit führte, bildeten sich, wie auch in anderen Ländern im Kontext des Arabischen Frühlings, Oppositionsbewegungen. Assad reagierte auf die zum Teil friedlichen Demonstrationen mit massiver militärischer Präsenz, welche zu Radikalisierung und Zusammenschlüssen bisher friedlicher Oppositioneller, bspw. zur Freien Syrischen Armee, die insbesondere aus den westlichen Staaten materielle Unterstützung genießt, führte. In den letzten Jahren wurde die Situation durch Eingreifen der Hisbollah und der Unterstützung Russlands für Assad sowie durch die Unterstützung vermeintlich moderater islamistischer Kräfte durch den Westen noch komplizierter. Im Rahmen des erstarkenden Islamischen Staates in syrischen Territorien hat sich Assad allerdings ebenfalls als Gegner des IS positioniert und sich folglich das Gefüge eines nationalen Bürgerkrieges zum Schauplatz weltweiter, geopolitischer Operationen gewandelt. Die Zahl der Todesopfer des gesamten Konflikts wird von verschiedenen Stellen unterschiedlich bemessen; sie schwankt zwischen 250.000 und 470.000 (Zeit Online vom 12.02.2016). Mitte 2015 meldete das UNHCR 4,18 Millionen flüchtende Menschen aus Syrien und 7,6 Millionen Binnenvertriebene (UNHCR 2015a: 23).
Einerseits legt das UNHCR dar, dass Syrien und Afghanistan die größten aller Herkunftsländer bilden (UNHCR 2015a: 21 ff.), andererseits hat sich die Zahl der weltweit ausgetragenen Konflikte stark erhöht, was die noch weiterhin zunehmende Bedeutung dieser Ursache von Flucht unterstreicht (Zeit Online vom 17.06.2015). Die ausgewählten Konfliktregionen machen außerdem deutlich, dass Interventionen aus dem Ausland die Konflikte und Menschenrechtsverletzungen in aller Regel nicht bändigen, sondern zur weiteren Eskalation und Vertiefung dieser Fluchtursache beitragen. Aussagekräftig sind im Kontext dessen die Rüstungsexporte, ohne die gewaltsame Konflikte per definitionem nicht möglich wären: Das SIPRI-Friedensforschungsinstitut in Stockholm berechnete, dass in den Jahren 2010 bis 2014 16 % mehr Waffen exportiert wurden als in den Jahren 2005 bis 2009. Die meisten Waffen exportierten dabei die USA, Russland, China, Deutschland und Frankreich (Deutschlandfunk vom 16.03.2015). Schuhler pointiert diesen Zusammenhang wie folgt: „Krieg und militärische Operationen sind die Hauptursache von Flüchtlingsbewegungen“ (Schuhler 2016: 24).
„Globalisierung von unten“ durch „Globalisierung von oben“
Die Globalisierung, das Vernetzen und Zusammenwachsen der Welt, bedeutet insbesondere eine Erweiterung von Methoden der Profitmaximierung. Die Auslagerung von Produktion und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen (z.B. unmenschliche Arbeitsbedingungen, Kinderarbeit), bilden dabei einen Aspekt. Die ökonomische Globalisierung sichert den Industrienationen darüber hinaus Absatzmärkte, welche das Bestehen von nationalen Unternehmen insbesondere in der Landwirtschaft südlicher Staaten der Welt erschweren. Ein scheinbar unbegrenzter Zugang zu Rohstoffen in den südlichen Ländern mithilfe korrupter Machtträger lässt die Globalisierung zusätzlich als sichere Mehrung von Profit erscheinen. Diesen Prozess bezeichnet Thomas Gebauer demnach zutreffend als „Globalisierung von oben“ (Gebauer 2015), welche den Besitzenden Vorteile verschafft. Die mit der Globalisierung einhergehende ökonomische Unterdrückung der südlichen Länder, vor allem durch erzwungene Strukturanpassung an den Weltmarkt realisiert, formte für die Verlierer dieser Entwicklung jedoch undemokratische Strukturen, die soziale Ungerechtigkeiten reproduzieren und erweitern bis hin zu entstaatlichten Konstrukten, innerhalb derer sich die Unmenschlichkeit von z.B. Warlords gänzlich äußern kann. Die dadurch entstehende, weltweite Ungleichverteilung verdeutlichen die im Jahr 2016 von Oxfam publizierten Zahlen: die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Die Tendenz einer sich ausdehnenden Ungleichheit wird daran deutlich, dass Oxfam im Jahr 2014 noch berechnete, dass die reichsten 85 so viel besitzen wie die ärmeren 3,5 Milliarden Menschen der Welt. Die Reaktion dieser „Globalisierung von oben“, welche nicht das Versprechen einlöst, dass auch die Armen reicher werden, sondern Ungleichheiten verschärft werden, bildet eine „Globalisierung von unten“ (Gebauer 2015): Migrationsbewegungen. Menschen machen sich auf den Weg um neue Orte zu suchen, an denen sie sicher überleben können. Dies ist ein Motiv, das sich als ökonomisch ausweisen lässt und deswegen in der öffentlichen Diskussion Diskreditierung erleidet.
Klima und Umwelt
Die dritte ausgewählte Ursache für Migration ist eine, die bisher wenig Beachtung findet, doch Zahlen und Schätzungen machen eine künftige Auseinandersetzung unausweichlich. Unterschiedliche Institutionen, bspw. die Internationale Organisation für Migration (IOM), geben an, dass sich im Jahr 2000 25 Millionen Menschen aufgrund von Klimaveränderungen auf der Flucht befanden, im Jahr 2015 waren es bereits 50 Millionen und für das Jahr schätzt man 200 Millionen (Gebauer 2015). Die Vorgänge der Erderwärmung und Umweltverschmutzung sowie die damit einhergehenden ökologischen Veränderungen, welche insbesondere durch die Art und Weise des Wirtschaftens zu erklären sind, verringern die Nutzbarkeit natürlicher Ressourcen (Boden, Trinkwasser), befördern die Anzahl an Naturkatastrophen, insoweit diese auf die menschlich verursachten Umweltveränderungen rückführbar sind, und zerstören Lebensräume. Dies betrifft in besonderer Härte die Entwicklungsländer, deren Armut sich dadurch weiter intensivieren wird, wie eine Studie von Greenpeace darlegt. Dafür werde vor allem die hohe ökonomische Abhängigkeit von der Natur und die Tatsache, dass viele Entwicklungsländer geographisch in den besonders von Klima- und Umweltveränderungen betroffenen Gebiete liegen, als Gründe benannt (Jakobeit/Methmann 2007: 33).
3. Globale Migrationsströme: Einige Schlaglichter
In medialen Diskursen und öffentlichen Debatten nimmt das Thema „Flucht“ seit 2015 einen sehr großen Raum ein. Allerdings bildet Flucht, wie bereits erörtert, nur eine mögliche Form von Migration und Zwangsmigration. In den teils sehr aufgeregten Debatten rund um die aktuelle Flüchtlingskrise (besser Flüchtlingsfrage) wird häufig fast ausschließlich über Migrationsströme aus Ländern anderer Kontinente nach Europa gesprochen und diskutiert. Dieser Teil des Beitrags reißt exemplarisch ein paar Beispiele an, die sich mit Migration aus Europa in Länder anderer Kontinente sowie binnenarabischer und -afrikanischer Wanderung beschäftigen. Damit sollen die Eindimensionalität der Debatte um Flucht und Migration etwas aufgebrochen und Verhältnismäßigkeiten aufgezeigt werden.
Um sich generell der Bedeutung von Migration (in geschichtlicher Perspektive) zu nähern, kann mit dem Migrationsforscher Jochen Oltmer von „Migrationsgeschichte als Menschheitsgeschichte“ gesprochen werden. Menschen sind seit dem „Homo Sapiens“ immer in Bewegung gewesen und „Migration bildet seit jeher ein zentrales Element der Anpassung des Menschen an Umweltbedingungen und gesellschaftliche Herausforderungen“ (Oltmer 2012: 8). Auch die Einwanderungswelle, die Deutschland derzeit erlebt, ist nicht die erste und einzige seiner Geschichte. Erinnert sei z.B. an Hunderttausende von „Gastarbeitern“, die im Zuge des so genannten Wirtschaftswunders in den 1950er und 1960er Jahren vor allem aus den Ländern Südeuropas kamen, oder an die hunderttausend Geflüchteten, die aufgrund der Jugoslawienkriege die Balkanländer verließen. Neben den Zyklen der Einwanderung muss erwähnt werden, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts starke deutsche bzw. europäische Auswanderung in die USA erfolgte, dem mit großem Abstand beliebtesten überseeischen Ziel der Migrationsbewegungen dieser Zeit. In der Hochphase der USA-Einwanderung (1840er bis 1880er Jahre) zog es ca. 15 Millionen Europäer in die Vereinigten Staaten (u.a. über vier Millionen Deutsche, drei Millionen Iren, drei Millionen Briten und eine Million Skandinavier) (vgl. Oltmer 2012: 43).
Arbeitsmigration im „Europa der Krise“: Das Beispiel Portugal
Die europäische Krise seit 2009/2010 hat Auswirkungen auf die Migrationsströme innerhalb Europas und von Europa in Länder außerhalb des Kontinents. Im Hinblick auf Migration kann Portugal seit längerer Zeit als eine Art „Durchgangs- bzw. Zwischenstation“ (Küpeli 2012: 39f.) im Bereich der Migrationspolitik bezeichnet werden: Das Land entwickelte sich in den 1990er Jahren zu einer „Semiperipherie im globalen Migrationssystem“ (Góis/Marques 2010: 37 zit. n. ebd.: 40). Seither ist Portugal geprägt von zwei Migrationsbewegungen. Auf der einen Seite wandern PortugiesInnen nach Nordeuropa – vor allem Frankreich – aus. Auf der anderen Seite verzeichnet das Land Einwanderung von prekarisierten ArbeiterInnen, die insbesondere aus den ehemaligen Kolonien in das Land auf der Iberischen Halbinsel kommen (vgl. ebd.). Die Arbeitsmigration der PortugiesInnen hat sich in der europäischen Krise allgemein deutlich verstärkt und es kommt ein weiterer, auf den ersten Blick etwas paradoxer, Migrationsstrom hinzu. Es handelt sich dabei um eine Umkehrung eines bereits bestehenden Stromes. Viele BewohnerInnen des iberischen Landes wandern aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und schlechter Zukunftsperspektiven – neben den reicheren europäischen Ländern – in ehemalige Kolonien wie Angola und Mosambik aus. Paradox mutet das aufgrund der historischen Rolle als ehemalige Kolonialherren dieser Länder an: „Der Zustrom aus Portugal wirkt wie eine Umkehr der Geschichte“ (FAZ vom 22.05.2012). Verständlich wird es, wenn man den wirtschaftlichen Aufschwung in Angola und Mosambik den Problemen der portugiesischen Wirtschaft gegenüberstellt: Angolas Entwicklung ist durch eine wachsende Erdölindustrie gekennzeichnet, in der mittlerweile viele gut ausgebildete ArbeiterInnen aus Portugal beschäftigt sind (Küpeli 2013: 40). In Mosambik zieht die Rohstoffindustrie (Kohle-, Gold- und vor allem Gasvorkommen) insbesondere portugiesische Ingenieure an (Zeit Online vom 31.01.2013).
Globale Fluchtbewegungen im Kontext der Debatte um Flucht nach Deutschland
Ein populärer Satz, der häufiger im öffentlichen und privaten Raum geäußert wird, lautet: „Deutschland kann nicht die Flüchtlinge der ganzen Welt aufnehmen“. Der Satz, so richtig er in seiner rein sachlichen Feststellung wäre, impliziert doch auch, dass die weltweit Flüchtenden allesamt vor den Toren Deutschlands stünden. Dem ist mitnichten so und auch vor den Toren Europas stehen sie nicht. Gebauer etwa formuliert treffend: „So groß das weltweite Ausmaß von Flucht und Migration heute ist, so sehr entbehren die politisch geschürten Befürchtungen der Grundlage, Europa könne von Flüchtlingswellen, von ‚Überfremdung‘ und Gewalt überschwemmt werden“ (Gebauer 2015). Dem „Global Trends Report“ vom UNHCR (Juni 2015) für das Jahr 2014 wiederum lässt sich entnehmen, dass „allein im Jahr 2014 insgesamt 13,9 Millionen Menschen zu Flüchtlingen oder Binnenvertriebenen [wurden] – viermal so viele wie noch 2010. Weltweit gab es […] insgesamt 19,5 Millionen Flüchtlinge (2013: 16,7 Millionen), 38,2 Millionen Binnenvertriebene (2013: 33,3 Millionen) und 1,8 Millionen Asylsuchende, die noch auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warteten (2013: 1,2 Millionen). Besonders alarmierend: Die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder“ (UNHCR 2015b; vgl. UNHCR 2014a: 5).
In den „Mid-Year Trends” 2015 des UNHCR lautete die Prognose für 2015: „As the number of refugees, asylum-seekers, and internally displaced persons (IDPs) worldwide continued to grow in 2015, it is likely that this figure has far surpassed 60 million” (UNHCR 2015a). Was die Aufnahme dieser 60 Millionen Geflüchteten in Deutschland (und Europa) betrifft, so zeichnet sich ein eindeutiges Bild ab, wenn man die Zahl der aufgenommen Geflüchteten und die Bevölkerungsgröße der Aufnahmeländer in Beziehung zueinander setzt: „Unter den ersten zehn waren 2014 […] als einzige europäische Länder Schweden mit 15 und Malta mit 14 Flüchtlingen pro 1.000 Einwohner – auf Platz neun und zehn. An der Spitze lag Libanon mit 232 pro 1.000, in weitem Abstand gefolgt von Jordanien mit 87 pro 1.000. Unter den ersten zehn befanden sich mit dem Tschad und Südsudan auch zwei Länder, die selbst Ausgangspunkt von Fluchtbewegungen sind“ (jW vom 08.10.2015; vgl. UNHCR 2014a: 15).
Im Jahr 2015 erreichten fast 1,1 Millionen registrierte Geflüchtete Deutschland (IAB 2016: 4). Die meisten geflüchteten Menschen weltweit aber leben in armen Ländern, was eine sehr ungleiche globale Verteilung verdeutlicht, die auch in Zeiten stark ansteigender Fluchtströme fortbesteht: „Reichere Länder nehmen weit weniger Flüchtlinge auf als weniger reiche. Knapp neun von zehn Flüchtlingen (86 Prozent) befanden sich 2014 in Ländern, die als wirtschaftlich weniger entwickelt gelten. Ein Viertel aller Flüchtlinge war in Staaten, die auf der UN-Liste der am wenigsten entwickelten Länder zu finden sind“ (UNO 2014; vgl. UNHCR 2014a: 15).
Binnenmigration und Flucht in Nachbarländer: Die Beispiele Afghanistan, Syrien und Südafrika
Aufschlussreich im Zusammenhang mit dem gewaltigen Anstieg der Zahl weltweit Flüchtender (2005: 37, 5 Millionen; 2013: 51,2 Millionen; 2014: 59,5 Millionen; UNHCR 2014a: 5) und ihrer Aufnahme ist die Differenzierung zwischen jenen, die ihr Land verlassen und jenen, die innerhalb ihres Landes ihren Lebensstandort wechseln. In einer Studie für terre des hommes Deutschland und die Welthungerhilfe betont Jochen Oltmer die Bedeutung von Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons – IDP) und erläutert die Hintergründe. Finanzielle Ressourcen seien ausschlagend und bildeten „eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines individuellen Migrationsprojekts, das zu einem Überschreiten von Grenzen führt“ (Oltmer 2015: 26). Bezahlt werden müssten die Formalitäten für Ein- und Ausreisen und Transportkosten (Reisekosten, eventuell Spedition). Illegal Einreisende hätten in der Regel viel Geld für „Schlepper“ aufzubringen. Zahlreiche Studien belegten auch, so Oltmer, dass Armut zu einer massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit führe. Deshalb wichen Flüchtende zumeist innerhalb ihres Landes aus oder aber in eins der Nachbarländer. Neben finanziellen Mitteln wird verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerken und Pioniermigranten eine größere Bedeutung für Migrationsbewegungen beigemessen (vgl. ebd.: 26f.).
In den beschriebenen Konfliktstaaten Afghanistan und Syrien spielen die finanziellen Möglichkeiten für die Zwangsmigration Flucht eine große Rolle. Über drei Jahrzehnte lag Afghanistan in der UNHCR-Statistik an erster Stelle der Herkunftsländer mit den meisten internationalen Geflüchteten (2013: 2,47 Mio, 2014 Mitte: 2,6 Mio). Beginnend in der Mitte von 2014 hat aber Syrien durch den anhaltenden Krieg statistisch Afghanistan abgelöst (UNHCR 2014b: 4). So verließen Mitte 2015 bereits 4,2 Millionen Flüchtende Syrien, Ende 2010 waren es „nur“ 20.000 gewesen (UNHCR 2015a: 4). In beiden Fällen leben die meisten in den Nachbarländern. Flüchtende AfghanInnen wandern zu einem sehr hohen Prozentsatz nach Pakistan und in den Iran: „Both countries continued [in 2014] to host the majority of Afghan refugees, with 1.5 million and 951,000 persons, respectively” (UNHCR 2015a). Syrische Geflüchtete gelangten häufig in die benachbarten Länder: Türkei (Ende 2014 mehr als eine Million), Jordanien (Mitte 2014: 620.000), Irak (Ende 2014: 220.000) und Libanon (Ende 2014: 1,2 Millionen) (vgl. Oltmer 2015: 27). Hinzu kommen im Fall von Syrien noch zahlreiche Binnenflüchtlinge.
Zuletzt soll ein kurzer Blick auf afrikanische Migrationsströme erfolgen. Kommen Einwanderer etwa nach Angola oder Mosambik aufgrund des Wachstums durch die großen Öl-, Gas- oder Kohlevorkommen, so locken Südafrika oder die Elfenbeinküste mit ihrer breiten industriellen Basis (FAZ Online vom 22.04.2015). Speziell Südafrika ist ein herausstechendes Beispiel für intrakontinentale bzw. nachbarschaftliche Migration. Das Land „beherbergt mehr Asylbewerber als ganz Europa – drei bis sieben Millionen Menschen haben sich laut Schätzungen dort als Schutzsuchende registrieren lassen“ (jW vom 02.12.2015). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass es aufgrund eines Zusammenbruchs des Erfassungssystems keine genauen Zahlen gibt. Für Geflüchtete und Asylsuchende aus ganz Afrika ist das Land am südlichen Zipfel Afrikas ein Migrationsziel und nicht die Flucht etwa über das Mittelmeer: „Die meisten Asylsuchenden fliehen vor den Konflikten in der Demokratischen Republik Kongo und Somalia […]. Aber auch immer mehr Menschen aus Burundi, Äthiopien, Ruanda und Simbabwe fliehen vor politischer Verfolgung und Armut nach Südafrika“. Das Land kann zugespitzt „als afrikanisches Migrationsmekka“ bezeichnet werden (DW Online vom 04.09.2015).
4. Flucht, Asyl und Arbeitsmarkt – das Beispiel Deutschland
Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind zwischen Dezember 2014 und Dezember 2015 mindestens 955.000 MigrantInnen nach Deutschland gekommen. Die genauen Zahlen dürften laut IAB jedoch weitaus höher liegen, weil zahlreiche Zufluchtsuchende noch nicht registriert wurden. Geflüchtete stellen erwartungsgemäß den größten Anteil der MigrantInnen dar, gleichwohl gehen auch Zugewanderte etwa aus verschiedenen EU-Ländern in die Statistik ein. Etwa 1,1 Mio. Geflüchtete sind laut IAB-Angaben im Jahr 2015 neu in der Bundesrepublik erfasst worden. Wer als Flüchtling erfasst wird, wird im „Ausländerzentralregister“ (AZR) sowie im sog. „EASY-System“ aufgenommen, das zur Verteilung der erfassten AsylbewerberInnen auf die Bundesländer eingesetzt wird. Im offiziellen „Zuwanderungsmonitor“ des IAB vom Januar 2016 heißt es dazu: „Im EASY-System, das Flüchtlinge zur Verteilung über die Bundesländer erfasst, wurden von Januar bis Dezember 2015 gut 1,1 Millionen neu zugezogene Flüchtlinge gezählt, davon rund 127.000 allein im Dezember 2015. Die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge kann aufgrund einer unvollkommenen Erfassung, aber auch aufgrund von Doppelzählungen, Rück- und Weiterreisen von den Zahlen des EASY-Systems in die eine oder andere Richtung abweichen“ (IAB 2016: 4).
Im Jahr 2015 kamen 74 Prozent der neu registrierten Geflüchteten aus den sogenannten „Kriegs- und Krisenländern“ (Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien) und 13 Prozent aus den Ländern des Westbalkans. Während Asylanträge von MigrantInnen aus Syrien und dem Irak dem IAB zufolge überwiegend positiv beschieden wurden, wurden MigrantInnen aus dem Balkan meist abgelehnt.
Arbeitsmarktzugang
Für Zugezogene aus EU-Ländern gilt die sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Flüchtlinge aus Nicht-EU-Ländern hingegen müssen auf die Bearbeitung ihres Asylantrags warten und dürfen währenddessen allenfalls eingeschränkt arbeiten. Ihr Arbeitsmarktzugang richtet sich nach der Art der Aufenthaltserlaubnis. Es gibt mehrere Aufenthaltstitel mit unterschiedlichen Möglichkeiten des Arbeitsmarktzugangs:
Die Aufenthaltsgestattung gilt, solange der Asylantrag gestellt und noch nicht beschieden ist. Während dieser Zeit gilt eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis.
Eine Duldung wird ausgestellt, wenn der Asylantrag negativ beschieden wurde, die Abschiebung jedoch vorübergehend ausgesetzt wurde. Währenddessen gilt eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis (z.B. Zustimmung der Ausländerbehörde nötig).
Eine Aufenthaltserlaubnis wird in der Regel befristet für eine Dauer bis zu drei Jahren erteilt und kann in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis übergehen. Während dieser Zeit besteht eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis.
Nur mit einer Aufenthaltserlaubnis haben Geflüchtete also uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Deren Integration in den Arbeitsmarkt verläuft nach Angaben des IAB jedoch nur langsam: Ein Jahr nach dem Zuzug sind im Schnitt nur 18 Prozent in den Arbeitsmarkt integriert; nach fünf Jahren sind es rund 50 Prozent, und erst nach knapp 13 Jahren sind 70 Prozent der Geflüchteten erwerbstätig (IAB 2015c: 10). Statistisch gesehen erhalten sie die schlechtesten Löhne. Auch zehn Jahre nach dem Zuzug beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen in der Regel nicht mehr als 1.500 Euro, wie das IAB schreibt: „Das monatliche Durchschnittsgehalt von vollzeiterwerbstätigen Flüchtlingen betrug im ersten Jahr nach dem Zuzug rund 1.100 Euro, zehn Jahre nach dem Zuzug 1.500 Euro und stieg danach auf 1.600 bis 1.700 Euro. Die monatlichen Durchschnittseinkommen von Flüchtlingen sind damit im ersten Zuzugsjahr gut 400 Euro geringer als die von anderen Migrantengruppen, nach 15 Jahren immer noch um 300 Euro. Insgesamt gehören die Migranten, die als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen sind, zu den am schlechtesten verdienenden Gruppen am deutschen Arbeitsmarkt.“ (ebd.)
Qualifikationsstruktur unbekannt
Über die Bildungsabschlüsse, abgeschlossenen Ausbildungen usw. der jüngst nach Deutschland Gekommenen ist bislang nur sehr wenig bekannt. Das liegt zum einen an der mangelnden Erfassung insgesamt, und zum anderen daran, dass die Angaben zu Beruf und sozialer Herkunft freiwillig sind. In einem IAB-Bericht, der die Arbeitsmarktsituation von AsylbewerberInnen im September 2015 wiedergibt, hieß es: „Das BAMF erhebt auch die Qualifikation von Flüchtlingen auf der Grundlage freiwilliger Selbstauskünfte. Die Erhebung ist nach Auskunft des BAMF trotz hoher Fallzahlen nicht repräsentativ. Den Angaben zufolge haben unter den 2015 befragten Flüchtlingen 13 Prozent eine Hochschule, 17,5 Prozent ein Gymnasium, 30 Prozent Haupt- und Realschulen (Sekundarschulen), 24 Prozent Grundschulen und 8 Prozent gar keine Schule besucht.“ (IAB 2015b) Recherchen eines Zeit Online-Artikels vom vergangenen Januar kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Der Autor bezieht sich auch auf Angaben einer angeblichen internen Präsentation der Bundesarbeitsagentur, der zufolge rund 80 Prozent der erfassten Geflüchteten keinerlei berufliche Qualifikation aufweisen würden (Zeit Online vom 16. Januar 2016).
Reaktionen der Bourgeoisie
Dennoch hat die Kapitalseite bislang überwiegend positiv auf die Ankunft der Geflüchteten in der Bundesrepublik reagiert. Die Statements einschlägiger „Arbeitgeber“-Zusammenschlüsse (BDA, BDI, DIHK, ZDH usw.) sowie O-Töne von Wirtschaftsvertretern machen deutlich, dass darin großes ökonomisches Potential ausgemacht wird. Die Wirtschaftswoche stellte im vergangenen September Statements von DAX-Managern und anderen Kapitalvertretern zusammen, die sich allesamt optimistisch über die Flüchtlingszahlen äußern (vgl. Wirtschaftswoche vom 7. September 2015). Verschiedene Papiere und Stellungnahmen u.a. der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) machen die Position der Kapitalseite deutlich: Während einerseits eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge sowie eine schnellere Abschiebung der Abgelehnten gefordert wird, schlagen die Kapitalisten verstärkte Maßnahmen zur ökonomischen Integration und Qualifizierung vor: Sprachkurse, Abbau von Hürden zur Berufsausbildung und Zugang zu staatlichen Mitteln zur Förderung der Ausbildung. Vor allem die Forderung, Geflüchtete als Leiharbeiter einsetzen zu können, wird dabei immer wieder vorgebracht: „Das Beschäftigungsverbot in der Zeitarbeit muss vollständig und unabhängig von der jeweiligen Qualifikation von Beginn an abgeschafft werden.“ (BDA/BDI/ZDH 2016: 3)
„Wege in Ausbildung für Flüchtlinge“
Ein konkretes Beispiel für die gezielte Integration in den Arbeitsmarkt ist die Initiative „Wege in Ausbildung für Flüchtlinge“, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), der Bundesagentur für Arbeit (BA) und dem Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) initiiert wurde. Das Ziel der Initiative ist die „nachhaltige Integration von nicht mehr schulpflichtigen Asylberechtigten und anerkannten jungen Flüchtlingen sowie Asylbewerbern oder Geduldeten mit Arbeitsmarktzugang in eine Ausbildung im Handwerk“, wie es in einer gemeinsamen Erklärung heißt. Dazu verpflichten sich alle drei Institutionen zu gemeinsamen Maßnahmen: Das BMBF entwickelt ein Förderprogramm für die Berufsorientierung junger Flüchtlinge und stellt dafür 20 Mio. Euro zur Verfügung. Das erklärte Ziel ist die Integration von 10.000 Flüchtlingen in eine Handwerks-Ausbildung in den nächsten zwei Jahren. Die Bundesagentur für Arbeit stellt die Schnittstelle und Vermittlung durch Berufsberater in den jeweils zuständigen Jobcentern und fördert die entsprechenden Flüchtlinge im Zeitraum von April 2016 bis 2018. Das Handwerk (ZDH) „bietet in den Bildungszentren Teilnehmerplätze für eine vertiefte Berufsorientierung und Maßnahmen der Arbeitsförderung und unterstützt den Praxisbezug durch betriebliche Praktika für die Teilnehmer der speziellen Berufsorientierung“. Dabei stellt es 10.000 Ausbildungsplätze zur Verfügung und begleitet die Flüchtlinge durch eigene Berater während der Ausbildung (BMBF/BA/ZDH 2016: 2f.).
Neben überregionalen Initiativen zur ökonomischen Integration von Geflüchteten gibt es verschiedene ähnlich gelagerte regionale Projekte. Verschiedene Handelskammern oder „Arbeitgeber“-Vereinigungen bringen auch den Vorschlag eines sogenannten „Qualifizierungspraktikums“ ins Spiel, bei dem anerkannte Flüchtlinge probeweise und ohne Vertrag in Betrieben arbeiten, um sich für Billigjobs zu „qualifizieren“ und womöglich die Chance erhalten, in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis überzugehen.
Klassenfrage Migration
Das Bemühen der Bourgeoisie um die rasche Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt macht deutlich, dass Migration und die Asylfrage Klassenfragen sind. Denn hinter dem gesellschaftspolitischen Engagement der Wirtschaftsverbände steht kein abstrakter Humanismus, sondern konkretes ökonomisches Kalkül. Für die Betroffenen wären der verbesserte Arbeitsmarktzugang und staatlich unterstützte Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung sicherlich eine Verbesserung ihrer Situation: (Lohn-)Arbeit ist der zentrale Schlüssel zur gesellschaftlichen und ökonomischen Teilhabe, linke und andere Organisationen kritisieren daher schon lange das Arbeitsverbot für Geflüchtete ohne Aufenthaltserlaubnis – es verdammt die Betroffenen zur Apathie und schafft im Zweifelsfall Anreize zur kriminellen Geldbeschaffung.
Die Unternehmer, die jetzt den Zustrom der Geflüchteten bejubeln, werden jedoch ganz andere Motive für ihre Bemühungen haben: Sie dürften die Chance erblickt haben, sich mit staatlicher Unterstützung ein disponibles Arbeitskräftepotential zu schaffen, das wenig Ansprüche stellt – der Großteil der Geflüchteten wird froh sein, sich überhaupt ein Einkommen erwirtschaften zu können – und gegen andere Teile der Arbeiterklasse ausgespielt werden kann. Durch einen solchen Dumpingwettbewerb könnten Löhne gesenkt und Druck auf die bundesdeutschen Beschäftigten ausgeübt werden, um ihnen wichtige Zugeständnisse abzuringen. Wer gerade vor Krieg und Hunger geflohen ist, wird sich schließlich kaum für Tariflöhne, bezahlte Überstunden oder betriebliche Interessenvertretung einsetzen. Die Sorgen vor dem sozialen Abstieg sowie Status- und ökonomischen Verlusten durch die Integration der geflüchteten Menschen, die nun vermehrt geäußert werden, gründen daher nicht ausschließlich auf rassistischer Ideologie, sondern sie haben eine reale Grundlage. Einiges spricht dafür, dass die Geflüchteten für den Klassenkampf von oben missbraucht werden sollen, damit bundesdeutsche Beschäftigte und Geflüchtete sich im Wettbewerb um Jobs gegenseitig unterbieten und niederkonkurrieren. Diese Sorgen sind der Nährboden für Neofaschisten und Rechtspopulisten von Pegida, AfD und Co., wenn die Linke sie nicht aufgreifen und progressiv wenden kann. Ein moralisches und abstrakt-humanistisches „Refugees Welcome!“ reicht angesichts dessen also nicht. Es müssen Wege gefunden werden, die Konkurrenz zwischen den Geflüchteten und der deutschen Arbeiterklasse zu unterbinden, um sich gemeinsam gegen die Ursachen und Profiteure von Fluchtursachen und Ausbeutung wehren zu können.
5. Fazit
Wie die umrissenen Ursachen und Motive für Migration zeigen, gibt es keinen stichhaltigen Grund dazu, Fluchtursachen begrifflich oder juristisch als legitim oder illegitim zu bewerten. Es spielt keine Rolle, ob ein Mensch vor Bomben, Hunger, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit flieht; er tut es, weil er ein bestimmtes Ziel verfolgt: die Suche nach sicherem Leben. Die Einteilung in legitime und illegitime Migration verdeckt außerdem die ursprüngliche Entstehung aller Motive, deren Bezug im öffentlichen Diskurs häufig nicht hergestellt wird: „Krieg, Armut, Umweltkatastrophe – zusammengefasst: der globale Kapitalismus“ (Schuhler 2016, S. 18). Die genannte „Globalisierung von oben“, ausgewählte Konflikte in Afghanistan und Syrien, welche mittels kurzfristiger geopolitischer Ziele und ökonomischer Interessen an der Entstehung von Kriegen weiter eskalieren, sowie Klimaveränderungen sind auf den Kapitalismus zurückzuführen. Dabei offenbart sich der Blick auf Ziele von Migration als auch auf unterschiedliche Migrationsströme in der öffentlichen Debatte als äußerst beschränkt. Das Bild einer südlichen Welt, die sich ausschließlich auf den Weg nach Europa oder gar nach Deutschland macht, kann im Lichte der Vielzahl von Migrationsbewegungen nur verworfen werden. Einerseits ignorieren solche Anschauungen das enorme Ausmaß der Binnenflucht, die Aufnahme in direkt benachbarte Staaten der Konfliktländer sowie die Zielländer innerhalb anderer Kontinente, bspw. Südafrika. Andererseits bleiben Migrationsbewegungen aufgrund der EU-Krise aus Europa in die Welt unbeachtet. Schlussendlich inszeniert die Kapitalseite eine Willkommenskultur, welche durch eine Art von Integration in Ausbeutungsmechanismen versucht, billige Arbeitskraft zu rekrutieren und Löhne zu drücken. Die durch den Kapitalismus verursachte Migration wird also verwendet, um neue Formen der Kapitalakkumulation zu ermöglichen. Dabei wird das betrieben, was rechte Bewegungen stark macht: Es werden diejenigen gegeneinander aufgebracht, denen es in dieser Wirtschaftsformation am schlechtesten geht. Die Ursachen von Migration, die Aufnahmebegrenzung von Migrierenden und die Klassenfrage in den Zielländern verdeutlichen eines: Migration kann niemals ohne kapitalismuskritische Reflexion diskutiert werden. Dem oberflächlichen und neoliberalen öffentlichen Diskurs muss stattdessen ein klarer politischer Standpunkt entgegengestellt werden.
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[1] Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Einstiegs- und Überblicksreferats, das im März 2016 bei der „Marxistischen Studienwoche“ zum Thema „Migration und Kapitalismus“ gehalten wurde und in dem ausgewählte Rechercheergebnisse präsentiert wurden.