Für Margarete Tjaden-Steinhauer
zum 12. Juli 2016
Im Dezember 2014 erschien eine Jubiläumsausgabe von „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“, nämlich die Nummer 100. Dem Anlass angemessen gab sie sich ein großes Thema: „1974-2014 – Epochenumbruch?“ Die Topographie einer neuen Kapitalismus-Variante wurde vermessen. Der Abschnitt „Optionen der Linken“ bemühte sich um Aktualität.
Dies gilt durchaus auch für den dort platzierten kurzen Beitrag „Heilige Kühe“ von Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden. Sie prüfen die Voraussetzungen „einer sozialistischen Strategie der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse“ (185/186) und stellen drei Forderungen auf:
Die „Eindämmung kapitalintensiven Wachstums und ein Rückbau bzw. eine Umgestaltung der darauf ausgerichteten Produktions- und Infrastrukturanlagen, in Verbindung mit der Schaffung genügend guter Arbeitsplätze“ müsse „eine sozialistische Zielvorstellung ersten Ranges“ sein (187).
Zweitens: „Abschaffung der Ehe mit ihrer männlichen ‚Erzeuger‘- und Familienvater-Fiktion“ (ebd.).
Drittens: „Überwindung der auf kriegerische Machtausübung und scheinheilige Bürgerüberwachung zielenden Staatsgewalt“ (ebd.).
Diese drei Forderungen sind von verschiedenartiger Originalität und Radikalität. Ökologischer Rückbau – „Degrowth“ – ist Gemeingut zumindest eines Teils der Linken, allerdings in Konkurrenz zu einer nach wie vor wachstumsorientierten Richtung. Es stellt sich die Frage, wie diese Parole angesichts immer noch zunehmender Weltbevölkerung realisiert werden kann. Mehr Menschen benötigen selbst für bescheidenen Lebensunterhalt mehr Mittel für Nahrung, Kleidung, Behausung, Heizung. Wenn deren Bereitstellung nicht profitorientiert erfolgt, mag die Plünderung von Ressourcen und die Belastung von Senken zwar im Vergleich zu ungebremster Kapitalakkumulation verlangsamt sein, aber sie hört nicht auf, sondern schreitet fort, zumal wenn, wie bei dieser Autorin und diesem Autor anzunehmen, eine technokratische Lösung (etwa mit Hilfe der Bionik) als nicht ausreichend angesehen wird.
Hier setzt die zweite Forderung ein. Die „Ehe“, die es zu bearbeiten gilt, ist eine Erscheinungsform eines über dieses Rechtsinstitut hinausgreifenden Sachverhalts: der patriarchalen Verfügung über das weibliche Prokreationsvermögen und die Kinder und eines über Jahrtausende sich in unterschiedlicher Weise fortsetzenden Gebärzwangs – sei es innerhalb staatlicher „Peuplierungs“-Strategien, sei es massenhaften sexistischen Verhaltens von Männern oder verinnerlichter Unterwerfung von Frauen unter diese Zwänge.
Die Forderung nach einer „Überwindung der auf kriegerische Machtausdehnung und scheinheilige Bürgerüberwachung zielenden Staatsgewalt“ ist zumindest für den ersten Hinblick nicht völlig klar: ist Aufhebung „nur“ der kriegerischen Machtausdehnung und der Bürgerüberwachung gemeint oder des Staates als Ganzen, und sei es im Sinne von Friedrich Engels als eine Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen?
Die hier zu stellenden Fragen kommen einer Antwort näher, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Tjaden-Steinhauer und Tjaden hier polemisieren.
Sie wenden sich gegen drei in der Linken gegenwärtig verbreitete Positionen:
Erstens „die ausgeleierte Forderung, […] das ‚Wirtschaftswachstum‘ anzukurbeln, um dadurch Beschäftigung zu schaffen.“ (187) Sie sei an der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts orientiert, „das durchaus mit Arbeitsplatzvernichtung einhergehen kann“ und „in der Regel auch Wachstum der Unternehmensgewinne (die dann Kapitalakkumulation in irgendeiner Form ermöglichen) bei vermehrter Nutzung von Ausrüstung, Bauten und Infrastrukturanlagen“ bedeute. „Durch zunehmenden Verbrauch materialer und energetischer Vorleistungen und durch den gewachsenen Warenausstoß führt das BIP-Wachstum zu noch höheren Verbräuchen, Belastungen und zumeist auch Zerstörungen umweltlicher Dargebote aller Art.“ (Ebd.) Gegenüber diesen Tatsachen seien Sozialisten „oft blind“. Es gibt Unschärfen in dieser Argumentation: Vermehrte „Nutzung von Ausrüstungen, Bauten und Infrastrukturanlagen“ muss, wenn diese eben schon vorhanden sind, nicht zu wachsendem Ressourcenverschleiß und mehr Belastung von Senken führen, was bedeutet, dass diese negativen Effekte eben nur „zumeist“ und „in der Regel“, also nicht zwangsläufig immer erfolgen.
Die Forderung nach „Gleichstellung der Geschlechter“ begegnet laut Tjaden-Steinhauer/Tjaden „allgemeinem Gähnen“, und „die Rückverwandlung einer ‚marktkonformen Fassadendemokratie in eine sozialstaatliche Bürgerdemokratie‘“ (Ebd.) bleibe hinter der grundsätzlichen Infragestellung des Staates, die sie vortragen, zurück.
Doch diese drei Kritiken behandeln nur nachgeordnete Phänomene, die auf einen zentralen Mangel zurückgehen. Dieser wird im ersten Teil des Aufsatzes benannt. Es ist letztlich ein Gesellschaftsbegriff, der auf die Dualität von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und von Ökonomie und Politik verengt ist, Letzteres auch dort, wo sozialistische Politik sich das Ziel setzt, den Kapitalismus zu überwinden.
Diesen Einwand haben Tjaden-Steinhauer und Tjaden erstmals 1995 mit einer Kritik am Produktionismus des klassischen Historischen Materialismus – hier: in Auseinandersetzung mit Friedrich Engels – entwickelt. (Tjaden 1995; Tjaden-Steinhauer 1995). Im ersten Band der vor allem von ihnen vorangetriebenen mittlerweile vierteiligen „Studien zu Subsistenz, Familie und Politik“ haben sie zusammen mit Lars Lambrecht den vorgefundenen, ihrer Meinung nach zu schmalen bisherigen – auch marxistischen Gesellschaftsbegriff – erweitert (Lambrecht/Tjaden-Steinhauer/Tjaden 1998. Hier insbesondere S. 9-52). Sicherung des Lebensunterhalts ist nicht ausschließlich durch Produktion gewährleistet. Deshalb wird der umfassendere Begriff der Subsistenz verwandt. Unterordnung der Erzeugung und Sicherung des menschlichen Lebens unter die Imperative der Herstellung und der ungleichen Verteilung eines über den unmittelbaren Bedarf hinausgehenden Mehrprodukts erfolgt in der patriarchalen Familie als Verfügung des Mannes über das Gebärvermögen der Frau und über die Kinder. Die Verwaltung gemeinsamer Angelegenheiten der in einem Territorium lebenden Menschen (Politik) nimmt im Staat ebenso gewalttätige Formen an wie in der „Produktion“ die Beziehung der Menschen zu ihren Mitlebewesen, zu den umweltlichen „Dargeboten“ (James J. Gibson) und – unter Beides subsumiert – das Geschlechterverhältnis. In neueren Überlegungen von Tjaden-Steinhauer/Tjaden tritt ein viertes Moment hinzu: die Zurichtung des Bewusstseins zu einer Verfügungsgewalt zwecks anthropokratischer und patriarchaler Herrschaft nicht nur durch religiöse und politische Ideologien, sondern auch in sehr frühen technokratischen, mathematischen und zeichenhaften Modellierungen und Festschreibungen, die sich bis in die elaboriertesten Varianten moderner Naturwissenschaft und ökonomischer und sozialer Definition und Verformung von Realität fortsetzen und steigern. So wird die bisherige Trias von Subsistenz, Familie und Staat durch ein viertes Moment erweitert: Ideokratie.
Dieser Zusammenhang vierfacher Gewaltverhältnisse ist für Tjaden/Tjaden-Steinhauer Ergebnis eines prähistorischen und historischen Prozesses mit einem entscheidenden Durchbruch im südlichen Mesopotamien am Ende des vierten und zu Beginn des dritten Jahrtausends vor Beginn der gegenwärtigen Zeitrechnung. Hier entsteht der westeurasische Zivilisationstypus, der sich mittlerweile global durchsetzte. Sozialistische Politik, die dies wenden will, hat es also nicht nur und nicht in erster Linie mit dem „Epochenumbruch 1974-2014“ zu tun.
Der Einwand, hier werde eine politisch nicht mehr hantierbare Fatalität konstatiert, liegt nahe. Ihm kann mit einer Analogie zur Kritischen Theorie begegnet werden, mehr noch: wir haben es hier mit einer materialistischen Variante dieser Kritischen Theorie zu tun. In einem Vortrag von 2010 bezeichnete Karl Hermann Tjaden Theodor W. Adorno als seinen Lehrer. (Tjaden 2011: 65). Kritische Theorie erweist sich als aktuell und praktisch gerade da, wo sie es scheinbar nicht ist: nämlich als Nachweis der Dialektik einer Praxis der Vorläufigkeit, die das, was sie zu beheben vorgibt, bestenfalls nicht aufhebt, schlimmerenfalls sogar noch stabilisiert. Letztlich geht es sogar um eine Kritik des Anthropozentrismus, in sprachlich lockerer Form einmal sogar als Vorschlag einer neuen Art erkenntnistheorerischer kopernikanischer Wende dargestellt: als „An Ape’s View of Human History“. (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2004)
Dies ist eine Provokation, die, da über Jahrzehnte hin in um Weiterführung bemühter Auseinandersetzung mit dem klassischen Historischen Materialismus erarbeitet und begründet und 2014 nachgerade forciert vorgetragen, nicht auf Dauer unerwidert, nämlich mit Schweigen übergangen bleiben sollte. Die von Hermann Lenke schon 1995 gestellte Frage: „Theoretische Generalrevision statt notwendiger Weiterentwicklung?“ sollte mittlerweile zugunsten der zweiten Variante beantwortbar sein.
Literatur
Lambrecht/Tjaden-Steinhauer/Tjaden 1998: Lambrecht, Lars, Karl Hermann Tjaden und Margarete Tjaden-Steinhauer: Gesellschaft von Olduvai bis Uruk. Soziologische Exkursionen. Kassel 1998.
Lenke 1995: Lenke, Hermann: Theoretische Generalrevision statt notwendiger Weiterentwicklung? Zum Engels-Schwerpunkt in Z 22. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 23. September 1995. S. 180-184.
Tjaden 1995: Tjaden, Karl Hermann: Neuere Erkenntnisse und Annahmen zur Entstehungs- und Frühgeschichte menschlicher Gesellschaften. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 22. Juni 1995. S. 19-34.
Tjaden 2011: Tjaden, Karl Hermann: Friedrich Engels, ein weltoffener Materialist oder warum kein wirklicher Engelsismus entstanden ist. In: Marxistische Blätter 1/[20]11. S. 61-70.
Tjaden-Steinhauer 1995: Margarete Tjaden-Steinhauer: Urgeschichtliche Reproduktionsfunktionen, die Entstehung der Gentilgesellschaft und die Anfänge des Staats und der Familie. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 22. Juni 1995. S. 35-52.
Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2004: Margarete Tjaden-Steinhauer, Karl Hermann Tjaden: An Ape’s View of Human History – revisited. In: Sperling, Urte, und Margarete Tjaden-Steinhauer (Hrsg.): Gesellschaft von Tikal bis irgendwo. Europäische Gewaltverhältnisse, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur. Kassel 2004. S. 43-63.