Bei aller positiven Grundstimmung über eine Reaktion auf unsere „Einführung in einige konzeptionelle Beiträge aus der in der BRD wenig beachteten Sussex-Schule“ (C/O) sind wir gleichwohl von den Missverständnissen in Olaf Gerlachs „Anmerkungen“ überrascht worden. Diese mögen durch unsere Wertschätzung von Chris Freeman, Carlota Perez und Mariana Mazzucato hervorgerufen worden sein, eröffnen sie nach unserer Meinung doch begründete Alternativen, die aus der Krise des gegenwärtigen Kapitalismus herausführen können. Wir wollen den „analytischen Horizont“ diskursiv erweitern, ohne mit den referierten Positionen im Einzelnen übereinzustimmen oder schon eine kritische Bewertung zu liefern. Letztere ist allerdings eine bevorzugte Argumentationsform in linken Kontexten. So verweisen auch wir abschließend auf einige von Mazzucato und Perez nicht beachtete Problemstellungen.
Reservatio mentalis
Wodurch auch immer, der positive Tenor unserer Einführung mag Gerlach zunächst zu dem Trugschluss verleitet haben, uns mit einzelnen Positionen wie überhaupt dem inhaltlichen Gehalt der referierten Beiträge zu identifizieren. So glaubt er unseren „roten Faden“ in der impliziten These einer wachstums- und beschäftigungsförderlichen Wirkung von öffentlich geförderten Innovationen und Investitionen zu erkennen. Wir stimmen zwar selbst mit Mazzucatos engagiertem Plädoyer für eine „marktschaffende Pionierfunktion“ des Staates[1] überein, insbesondere bei sich zuspitzenden Störungen zur Selbstregulierung[2], verweisen aber schon in der Einleitung auf den argumentativen Kern unserer Darstellung der Sussex-Schule: im Verlauf eines längeren Zyklus sich verändernde Wechselbeziehungen zwischen technisch-ökonomischen und betrieblich-institutionellen Faktoren. Das gilt in besonderem Maße für das Verhältnis von Innovation und Beschäftigung, die analytische Trennung von marktschließenden Prozess- und markterweiternden Produktinnovationen, die sich realiter aber – zyklusabhängig mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung – verschleifen.
Hierzu liefern die von uns referierten Beiträge bis zur Analyse finanzkapitalistischer Krisen weiterführende Einsichten, die in den „Anmerkungen“ kaum zu Wort kommen. Dass diese sich mit uns zugeschriebenen Thesen auseinandersetzen, die in unserer Einführung in analytische und strategische Positionen von Christopher Freeman und seinen kongenialen Schülerinnen allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, lässt einen allgemeineren Tatbestand erkennen: die vorherrschende „Reservatio mentalis“ marxistisch orientierter Intellektueller gegenüber einer durchaus anschlussfähigen neo-schumpeterschen Innovationsökonomie. Zumal wenn diese sich mit produktivkrafttheoretischen Fragen beschäftigt, die in Diskussionszusammenhängen linker Provenienz, von einzelnen Ausnahmen abgesehen[3], ein Schattendasein fristen.[4] In der vordringlichen Abwehr von Lohn-, Sozial- und Demokratieabbau werden technisch-ökonomische und sozial-kulturelle Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Tendenz vernachlässigt.
Die unseren Aufsatz abschließenden Vorschläge von Mazzucato und Perez zur europäischen Krise füllen eine Lücke, wenn sie im Geiste ihres Lehrers Freeman für eine „grüne“ Innovationsstrategie auf informationstechnischer Grundlage plädieren, die eine Zurückdrängung der neoliberalen Finanzialisierungs- und sozialen Polarisierungsprozesse einschließt. Angesichts ihrer beschäftigungswirksamen Aktualität erscheint uns diese Replik geboten, auch um weiterführende theoretische Erkenntnisgewinne und praxisrelevante Konzepte der Sussex-Schule zu verdeutlichen. Stichworte hierfür sind etwa die Erklärung finanzkapitalistischer Krisen im Zuge technisch-ökonomischer Paradigmenwechsel und sozial-ökologisch orientierte Vorschläge zur Lösung der europäischen Krisensituation, aber auch Beiträge zur theoretischen Fundierung des „Nordischen Modells“[5] wie zu einer progressiven Arbeitspolitik in wissensintensiven Wertschöpfungsprozessen[6] – ebenfalls vielfach unterbelichtete Aspekte in kritischen Analysen.
Theoretische Erkenntnisgewinne
Nicht nur bei Gerlach erfolgt zugunsten eher modelltheoretischer Überlegungen zur beschäftigungspolitischen Wirkung von Innovationen, etwa im Kontext von „Industrie 4:0“, eine Ausblendung der von der Sussex-Schule erschlossenen komplexen Wirkungs- und Entwicklungszusammenhänge. Letztere treten schon in einer an Schumpeter anknüpfenden früheren Studie[7] zu langen Wellen und ökonomischer Entwicklung zutage; in ihr werden im Verlauf längerer Wachstumszyklen eine Phase wachsender Kapitalintensität und sinkender Profitraten diagnostiziert. Letztere lösen kostensparende Prozessinnovationen aus, mit denen wiederum ein Umschlag der Akkumulationsbedingungen, steigende Arbeitslosigkeit und soziale Spannungen einhergehen[8] – durchaus vergleichbar dem gegenwärtigen Digitalisierungshype.[9]
Entsprechend erläutert Freeman in einer späteren Arbeit, wie sich mit der Erschöpfung der fordistischen Betriebsweise der Massenproduktion, einer allgemeinen Marktsättigung und Erosion der Profitraten seit den 1980er/1990er Jahren ein informationstechnisch bestimmter Paradigmenwechsel mit Brüchen und Disproportionen, Reibungen und Konflikten im Widerstreit unterschiedlicher Interessen abzuzeichnen beginnt. Mit den Bremsspuren des überkommenen institutionellen Rahmens erklärt er die relativ geringe Arbeitsproduktivität („Solow´s Paradox“), die auf unzureichende organisatorische Innovationen, betriebliche Lernprozesse und institutionelle Anpassungen zurückgeführt wird. Solche „Fesseln bisheriger Produktionsverhältnisse“ sieht er durch die im Unterschied zur weltmarktbezogenen Automobilstudie in der BRD wenig beachtete, auf die nationale Wirtschaft der USA orientierte Produktivitätsstudie des MIT bestätigt.
Für Freeman ist das zu aktivierende demokratische Potenzial ein Geburtshelfer für transformative gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, denen die neuen Informations- und Kommunikationstechniken eine praxiswirksame Grundlage bieten können.[10] So schlägt er schon 1992, heutzutage wieder hochaktuell, entgegen den damals heftig diskutierten „Grenzen des Wachstums“ ein langfristiges Entwicklungsprogramm zur Verringerung der weltweiten sozial-ökonomischen Polarisierungsprozesse vor. Es müsste nach ihm aber zugleich als ein „Environmental Bretton Woods“ auf ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtet werden. Hierfür empfiehlt Freeman eine Rekonstruktion internationaler Institutionen im Rahmen der UN.[11]
Die Analyse der sozio-institutionellen Rahmenbedingungen kapitalistischer Innovationssysteme verfeinerte Carlota Perez zur Theorie „technisch-ökonomischer Paradigmenwechsel“, die im Zuge der Umstrukturierung der Produktion zugleich eine Transformation der Institutionen und der Gesellschaft, sogar der Ideologien und Kulturen mit sich bringen.[12] Dabei bewerten wir ihre im Verlauf längerer Zyklen nachverfolgte Analyse unterschiedlicher Funktionen des Produktions- und Finanzkapitals als eine bisher wenig wahrgenommene theoretische Innovation: Liefert das Finanzkapital als Geburtshelfer radikaler Innovationen zunächst den finanziellen Brennstoff zu ihrer Entwicklung, so verselbständigt sich dieser mit der angeheizten Blasenbildung bis zum Finanzcrash, mit dem sozio-ökonomische Differenzierungs- und Polarisierungsprozesse weiter verstärkt werden. Aufbrechende Klassenkonflikte können je nach den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen eine erhebliche Spannbreite unterschiedlicher politischer Lösungen mit sich bringen. Sie reichten in den 1930er Jahren vom US-amerikanischen New Deal und skandinavischen Wohlfahrtsorientierungen bis zu autoritären und faschistischen Regimen.
Praxisrelevante Konzepte
Angesichts der finanzkapitalistischen Krisenperiode schlagen Mariana Mazzucato und Carlota Perez im Widerspruch zu den anhaltenden Austeritätsstrategien in der EU in einem von uns ausführlich referierten Aufsatz[13] eine nationale wie internationale Förderung technischer und sozialer Innovationen sowie massive Investitionen in die materiellen und immateriellen Infrastrukturen vor. Dies gilt vor allem für die Stärkung öffentlicher Entwicklungsaufgaben in den schwächeren Ländern Europas. Ein besonderes Gewicht erhalten die Entwicklung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens und der öffentlichen Wohlfahrt wie die Verringerung der fortschreitenden Umweltzerstörung und letztlich die Überwindung des fossilen Kapitalismus. Der Maßnahmenkatalog schließt entsprechende finanzielle Anreize, Sanktionen gegen spekulative Formen der Geldvermehrung und redistributive Steuersysteme ein.[14]
Im Gefolge von Freeman setzen die Autorinnen für nachhaltige wachstums- und beschäftigungspolitische Effekte technischer Innovationen eine Einbettung in komplexe gesellschaftliche Bezugs- und Interaktionssysteme voraus. Hierfür boten die nordischen Länder einen konkreten Anschauungsunterricht, so unterschiedlich sie nach wirtschaftlichem Profil, institutionellen Strukturen und historischer Entwicklung aufgestellt sein mochten. Trotz mancher Einschnitte seit den 1990er Jahren zeichnen sie sich noch immer durch die Kombination eines hohen sozialen Integrations- und ökonomischen Leistungsniveaus aus. Die synergetische Stoßrichtung ihrer Erfolge ist im politischen Farbenspektrum der BRD über Jahrzehnte allenfalls sporadisch zur Kenntnis genommen worden. Was für die einen im neoliberalen Blindflug nicht sein durfte, fiel bei den anderen aus ihrer kapitalismuskritisch verengten Wahrnehmung heraus. Hier entfaltete sich das informationstechnologisch bestimmte Paradigma jedoch mit einer beispielhaften Entwicklung des humanen Arbeitsvermögens durch hoch professionalisierte Dienstleistungen vom Kindergarten bis zur universitären Ausbildung wie dezentrale Aspekte sozialer Produktivität von betrieblichen Organisationsformen bis zu sich selbst organisierenden Netzwerken.[15]
So ist es kein Wunder, dass die nordischen Länder in arbeitspolitischen Innovationen seit den 1960er Jahren stilbildend wirkten – zunächst Norwegen, dann Schweden, seit geraumer Zeit Finnland, das bis 2020 eine Spitzenstellung in Europa anstrebt.[16] Hiervon profitierte bis in die 1990erJahre auch die Entwicklung des deutschen Forschungsprogramms „Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA) und einiger Folgeaktivitäten, in denen ein umfassendes, interaktives Innovationsverständnis aus ökonomischen und technischen, sozialen und institutionellen Elementen entwickelt worden ist. Bei der betrieblichen Entfaltung des kollektiven Arbeitsvermögens haben beteiligungs-, mitbestimmungs- und gestaltungsorientierte Organisationsformen und entsprechende Bestrebungen in den Gewerkschaften einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert gewonnen. Aus diesen Erfahrungen ist seit etwa Mitte der 1990er Jahre eine „High Road“ ökonomischer Entwicklung mit infrastruktureller Flankendeckung in europäischen Verbünden als eine zukunftsöffnende Perspektive konzipiert und in einigen Vorhaben ansatzweise umgesetzt worden.[17] Die breite Realisierung nunmehr verstärkt digital gestützter Entwicklungspfade bedarf allerdings rechtlicher, institutioneller und infrastruktureller Rahmenbedingungen. Hierfür liefern Freeman, Perez und Mazzucato praxiswirksame Begründungen.
[1] Man denke etwa an Delors Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung - Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert von 1993, das allerdings gegen Widerstände vor allem von deutscher Seite nicht im Sinne einer grün eingefärbten europäischen Investitionsförderung mit positiven Beschäftigungseffekten in transnationalen Projekten umgesetzt werden konnte.
[2] Mazzucato, M. 2015: The Innovative State. Government Should Make Markets, Not Just Fix Them. In: Foreign Affairs, Jan.-Feb. Siehe auch Karl Polanyi 1978: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main, 192-195. Keynes, J. M. (1936) 1974: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin.
[3] Etwa Wolfgang Fritz Haugs Schriften zum „High-Tech-Kapitalismus“, u.a. das Buch High-Tech-Kapitalismus in der Großen Krise (Hamburg 2012).
[4] Hinweise in Carl, F.; Oehlke, P. 2011: Was kann die Linke in der Bundesrepublik methodisch und programmatisch von den Herforder Thesen lernen? Sozialistisches Forum Rheinland (SoFoR), Publikationen: http://www.sf-rheinland.de/beitraege-aus-sicht-der-herforder-thesen-zur-programmdiskussion-der-linken.
[5] Carl, F. 2009: Das nordische Modell. Orientierungsrahmen für praktische Reformpolitik in Deutschland. In: Brödner et al.: Das nordische Modell – eine Alternative? Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5, 5-15.
[6] Brödner, P.; Oehlke, P. 2011: Die strategische Funktion nachhaltig entfalteten Arbeitsvermögens in wissensintensiven Wertschöpfungsprozessen. In: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 01, 59-62.
[7] Freeman, C.; Clark, J.; Soete, L. 1982: Unemployment and Technical Innovation. A Study of Long Waves and Economic Development. London.
[8] Wir verweisen an dieser Stelle auf eine gewisse Nähe zu Marxens „Gesetz zum tendenziellen Fall der Profitrate“ und zu Keynes‘ Vorstellungen zur „sinkenden Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“.
[9] Angesichts arbeitspolitischer Defizite in der Diskussion um Industrie 4:0 plädiert Hans-Jürgen Urban für einen „neuen Digitalisierungsrealismus“(„Digitale Visionen als Leitbild?“ In: Sozialismus 2, 48-55).
[10] Heute in arbeits- und wirtschaftsdemokratischen Zielsetzungen wieder anklingende Einsichten werden bereits explizit in der OECD-Studie New Technologies in the 1990s. A Socio-economic Strategy (Paris 1988) von einer Expertengruppe mit Freeman und Soete angesprochen, sind mit dem neoliberalen Durchmarsch seit den 1990ern jedoch aus dem herrschenden Bewusstsein weitgehend verdrängt worden.
[11] A green techno-economic Paradigm for the world economy. In: Freeman, C. 1992: The Economics of Hope. Essays on Technical Change, Economic Growth and the Environment. London and New York, 190-211.
[12] Perez, C. 2002: Technological Revolutions and Financial Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden Ages. London, 24f.; siehe auch Perez, C. 2004: Finance and technical change: A long-term view. In: Hanusch, H; Pyka, A. (Eds.): The Elgar Companion to Neo-Schumpeterian Economics. Cheltenham.
[13] Mazzucato, M.; Perez, C. 2014: Innovation as Growth Policy: the challenge for Europe, July 2014 (http://www.sussex.ac.uk/spru/documents/2014-13-swps-mazzucato-perez.pdf).
[14] Siehe auch die Euro-Memoranden, zuletzt EuroMemo 2016. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3, 1f; 16-19.
[15] Siehe hierzu insbesondere die verschiedenen Beiträge im eingangs zitierten Supplementheft der Zeitschrift Sozialismus, in denen auf weitere Literatur verwiesen wird. Ferner: Brödner, P. 2013: Ex septentriones lux. In: Zanker,C; Som, O.;Kinkel, S.(Hg.): Innovationen in der Produktion. Ein multiperspektivischer Ansatz. Stuttgart, 243-255.
[16] Alasoini,T et al. 2014: Innovativeness in Finnish Workplaces. Renewing working life to bring Finland to bloom. Tekes Review 312/2014, Helsinki; Ministry of Employment and the Economy 2012: National Working Life Strategy to 2020. Helsinki.
[17] Siehe den einführenden Überblick bei Oehlke, P. 2013: Arbeitspolitische Impulse für soziale Produktivität. Fallstudien zu regionalen, nationalen und europäischen Aktivitäten. Hamburg, 130-180.
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