Demokratisierung Europas?
Vortrag von Yanis Varoufakis in Marburg, 11. Februar 2016
Veranstaltungen mit prominenten Referenten zu den europäischen Krisenprozessen stoßen gegenwärtig offenbar auf ein großes öffentliches Interesse. Ähnlich wie bei der Kölner Veranstaltung mit Streeck/Wagenknecht, über die in Z 105 (März 2016, S. 182-185) berichtet worden war, galt dies auch für einen Vortrag des ehemaligen griechischen Finanzministers Varoufakis in Marburg/L. am 11. Februar 2016 auf Einladung der Bundestagsfraktion Die LINKE und der Fraktion der Europäischen Linken im Europaparlament. „Tausend Menschen wollen Varoufakis hören“, so eine der Schlagzeilen der Lokalpresse.
Varoufakis hatte zwei Tage zuvor in Berlin seine neue linke „Bewegung zur Demokratisierung Europas“ (DiEM25) ins Leben gerufen, deren Gründungskongress in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auf große Resonanz und mediale Beachtung gestoßen war. DiEM25 soll als Netzwerk die Aufgabe übernehmen, verschiedene Protestbewegungen in ganz Europa zusammenzuführen und eine Demokratisierung der EU herbeizuführen. Varoufakis warnte vor einem drohenden Zerfall Europas und der Gefahr des Weitererstarkens eines neuen Nationalismus. Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise verlieh er seinen Befürchtungen eines Rückfalls in die Zeiten einzelner Nationalstaaten Ausdruck und warf den EU-Institutionen vor, durch ihre Politik diese Entwicklung begünstigt und verstärkt zu haben. Eine zentrale Rolle nimmt aus seiner Sicht die Demokratisierung der europäischen Institutionen ein, die mit der Brechung der Macht des Finanzkapitals verbunden sein müsse. In seiner Analyse der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union bezog Varoufakis sich maßgeblich auf seine Erfahrungen als griechischer Finanzminister und stellte die Sinnhaftigkeit des „größten Kredits der Menschheitsgeschichte“ entschieden in Frage. „Man muss kein Linker sein um zu wissen, dass Griechenland diese Schulden nicht zurückzahlen kann“, lautete seine Analyse. Dass die Kreditvergabe an Griechenland mit der Auflage erfolgte, die Einkommen weiter Teile der Bevölkerung zu reduzieren, ist nach Varoufakis Ansicht einer der Hauptgründe dafür, dass eine Rückzahlung der griechischen Schulden nahezu unmöglich ist. Welche fatalen Folgen eine Fortsetzung der Fiskalpolitik der Europäischen Zentralbank, des IWF und der Weltbank haben könnte, erläuterte Varoufakis anhand der Wirtschaftskrisen und der großen Depression in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die in Europa die faschistischen Bewegungen entscheidend gestärkt und ihren Weg an die Macht geebnet hätten. Vor diesem Hintergrund forderte er in Anlehnung an den Titel der Veranstaltung dazu auf, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen und eine Politik zum Wohle der Menschen zu betreiben.
Steffen Niese
Staat und Energiekonzerne fünf Jahre nach Fukushima
Veranstaltung von Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, 10. März 2016
Die Themen Energiewende, Atomkraft und Braunkohle genießen seit Jahrzehnten eine hohe Medienpräsenz. Die Diskussion um Kernenergie ist dabei jedoch seit dem beschlossenen Ausstieg etwas ins Hintertreffen geraten. Dies bot Anlass, um am Vorabend des fünften Fukushima-Jahrestages über Atomwirtschaft und Energiepolitik zu diskutieren. Es zeigte sich schnell, dass die vermeintliche Klarheit zu Atomausstieg und erneuerbaren Energien ein Trugschluss ist.
Das von der Umweltwissenschaftlerin Inga Jacobsen moderierte Podium spiegelte ein breites Themenspektrum wider: Bei ihr saßen der Doyen der deutschen Atomgeschichtsschreibung, der Bielefelder Historiker Joachim Radkau, Luise Neumann-Cosel von der Berliner BürgerEnergie und der Klimaaktivist Tadzio Müller. Neben einer Bestandsaufnahme gab es folglich auch Diskussionen über Alternativen zu den vier großen Stromkonzernen und über die Legitimität von Widerstand und zivilem Ungehorsam. Konflikte innerhalb des ökologischen Spektrums wurden benannt, wie etwa der Streit zwischen Klima-Aktivisten und Landschaftsschützern über den Ausbau der Windenergie.
Radkau, der diese Widersprüche u.a. in seinem Buch „Die Ära der Ökologie“1 herausgearbeitet hat, eröffnete die Veranstaltung mit 10 Punkten zur Geschichte der deutschen Atomwirtschaft. Für dieses Thema gilt er seit seiner Habilitation über „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“2 (1980) als führender Experte. Radkaus Vortrag veranschaulichte die Komplexität des Themas; er schlug den Bogen von den technikeuphorischen Anfängen der Atomkraft-Nutzung bis zur Desillusionierung und dem Niedergang heute. Radkau betonte, dass die Energiekonzerne nicht zum Bau von Atomkraftwerken gezwungen worden seien, wie sie heute vor dem Hintergrund der Rückbaufinanzierung gerne behaupten. Sie hätten zwar Zweifel am Ausbau gehabt, diese seien jedoch vom Staat mit Subventionen und Steuergeschenken zerstreut worden. Trotzdem wurde aus ökonomischen Gründen seit Anfang der 1980er Jahre kein AKW-Neubau mehr begonnen. Dieser latente Ausstieg forcierte sich durch die früh entstandene Anti-AKW-Bewegung in Westdeutschland und durch das Reaktorunglück von Tschernobyl. Mittlerweile haben sich allerdings schwerwiegende Probleme angehäuft: Der Rückbau der AKW wird lange dauern und extrem teuer, die Betreiber wollen die Kosten auf die Steuerzahler abwälzen, die Entsorgung des Atommülls bleibt ein ungelöstes Problem. Zudem fehlt es heute an wissenschaftlich gut ausgebildetem Nachwuchs, da seit den 1980er Jahren kaum jemand Interesse am Studium einer sterbenden Technologie hat. Die Alternativen sind allerdings auch nicht ohne Widersprüche zu haben, wie im weiteren Verlauf des Abends deutlich wurde.
Laut Luise Neumann-Cosel sind die Stromnetze der energiepolitische Schlüssel. In Konzernhand könnten sie „zum Flaschenhals für die Energiewende“ werden. Diese hätten weder Interesse an weniger Stromverbrauchs noch am Ausbau dezentraler erneuerbarer Energie. Neuman-Cosels Genossenschaft will deshalb das „Stromnetz in Bürgerhand“ nehmen, somit demokratisieren und an die Bedürfnisse der Energiewende anpassen. Den vier Großkonzernen stehen mittlerweile ca. 1000 Energiegenossenschaften gegenüber. Tadzio Müller thematisierte anschließend die neue Energiewendebewegung. Sie sei heterogen, bestehe aus vielen Akteuren und stelle – im Gegensatz zur Anti-AKW-Bewegung – auch die Machtfrage. Zentrales Projekt müsse sein, die Kohle komplett aus dem Energiesektor rauszudrücken. Deutschland ist nach wie vor das Land, in dem weltweit die meiste Braunkohle abgebaut wird. Der Widerstand gegen die Braunkohle, wie ihn z.B. das Aktionsbündnis „Ende Gelände“ organisiere, sei legitim, da auf Grund des Klimawandels die Zeit dränge.
In der anschließenden Diskussion gab es Differenzen im Hinblick auf die Energieversorgung durch erneuerbare Energie. Radkau fragte, ob Desertec nicht doch eine Lösung sei, Müller widersprach und verwies auf einen möglichen neuen Energiekolonialismus. Aus dem Publikum wurde darauf hingewiesen, dass innerhalb des Kapitalismus auch Betreiber von erneuerbarer Energie der Profitlogik unterlägen – was die Diskussion zum Streitpunkt brachte, ob öffentliche oder private Betreiber die Energiewende besser meistern könnten. Neumann-Cosel meinte dazu, dass entscheidend sei, ob die Energieversorgung öffentlich kontrolliert werde. Auch die Arbeitsplatzproblematik durch die Energiewende wurde thematisiert. Hier treten etliche Probleme auf: Die steigende Zahl der Arbeitsplätze bei den Erneuerbaren ersetzt nicht die der Konventionellen, sondern verdrängt bzw. ersetzt sie. Es werden also Bergarbeiter arbeitslos und für diese gibt es, laut Müller, bis heute keine konkreten Ausstiegs- bzw. sozial gerechten Übergangspläne.3
Alexander Amberger
Kapitalismus und Migration
9. Marxistische Studienwoche, Frankfurt/M., 14. bis 18. März 2016
Migrationsbewegungen sind Globalisierung „von unten“, so Thomas Gebauer, und Antwort auf Globalisierungsprozesse „von oben“.1 Fünf Tage lang befassten sich 50 Studierende, viele von ihnen aus dem Umfeld des SDS, im Haus der Jugend in Frankfurt mit diesem Globalisierungszusammenhang. Zahlreiche ReferentInnen behandelten die Ursachen heutiger und historischer Fluchtbewegungen, den generellen Zusammenhang von kapitalistischen Produktionsbedingungen und Migration sowie die Relevanz von Klassen in den Auseinandersetzungen um Flucht und Migration. Organisiert wurde die Woche von der Heinz Jung-Stiftung und der Redaktion der „Z“ sowie einem engagierten Vorbereitungsteam, dem an dieser Stelle nochmal zu danken ist. Die „Marxistische Studienwoche“ lebte dieses Jahr vor allem auch von der Aktualität ihres Themas. Das Thema „Flucht“ sorgte im Laufe des letzten Jahres mit seiner Omnipräsenz im medialen Diskurs für den dringenden Bedarf, sich dem Thema mit dem Werkzeug marxistischer Theorie zu nähern und konkrete Handlungsoptionen zu diskutieren. Leidenschaftliche Redebeiträge und Diskussionen setzten sich nicht nur mit dem Phänomen globaler Migration auseinander, sondern auch mit der rechten Reaktion darauf in der europäischen Bevölkerung und Politik.
Nach einem Einstiegsinput der Vorbereitungsgruppe2 (John Lütten, Dominik Feldmann und Patrick Ölkrug) machte Frank Deppe am Montag den Anfang: Er erläuterte den Zusammenhang zwischen steigender Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus und dem Entstehen einer Reservearmee von „freien“ Arbeitskräften, einer relativen Übervölkerung. Migration und Urbanisierung seien geschichtlich die Folge. Im Kampf gegen aktuelle Fluchtursachen, deren historische Wurzeln auch in der kolonialen Ausbeutung und heutigen neokolonialen Verhältnissen zu suchen seien, müssten über soziale Revolutionen vor Ort wieder menschenwürdige Existenzbedingungen hergestellt werden. Er stellte eine Frage, die sich durch den Rest der Woche zog: Wie kann der seit Huntington propagierte Kulturkampf wieder in einen Klassenkampf gewandelt werden? Am Abend trafen sich die Teilnehmenden im Club Voltaire zu einem Vortrag des Kasseler Politikwissenschaftlers Werner Ruf. Er stellte dar, wie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Kriege mit Hinweis auf den „clash“ der Kulturen legitimiert werden und die willkürlichen Grenzziehungen der Kolonial- und postkolonialen Zeit immer wieder zu neuen Konflikten führen.
Am nächsten Morgen sprach Elmar Altvater zu Widersprüchen des globalen Kapitalismus und Migration. Er betonte, dass die Menschheitsgeschichte schon immer untrennbar mit Migration verknüpft war und diese Prozesse von so genannten push- und pull-Faktoren bestimmt werden. Die Akkumulation von Kapital führe bei den nicht-Besitzenden unweigerlich zu Armut, die in einem globalen Gefälle und letztlich in Fluchtbewegungen gipfeln. Er wies außerdem auf Umweltkatastrophen als Fluchtursache hin. Finanzmärkte in institutionelle Rahmen rückzubetten sei ein sinnvolles Zwischenziel, um deren negative Auswirkungen auf sozioökonomische Lebensbedingungen weltweit entgegenzuwirken. Die Debatte drehte sich um ein mögliches Subjekt der von Altvater gezeichneten sozioökologischen und -ökonomischen Veränderungen. Er merkte an, dass die prekäre Situation von Geflüchteten ein politisches Eigenengagement weitgehend verunmögliche. Jane Hardy, Professorin für Politische Ökonomie an der Hertfordshire Business School, begann ihren Vortrag mit der Nachzeichnung europäischer Migrationsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Von 1870 bis zum Beginn des ersten Weltkriegs migrierten 50 Millionen Menschen aus Europa in die Staaten Nord- und Südamerikas, darunter zahlreiche verarmte und vertriebene Kleinbauern. Die Migrationsströme veränderten sich in der Nachkriegszeit, in der variables Kapital knapp war und daher mit Lohnarbeitenden aus den Kolonien oder der europäischen Peripherie eine neue Reservearmee aufgebaut wurde. Nicht erst seit gestern würden migrantische ArbeiterInnen als Lohndrücker gegen ihre KollegInnen ausgespielt. Durch gewerkschaftliche Organisierung von MigrantInnen konnte der sozialen Spaltung in gemeinsamen Streiks immer wieder Klassensolidarität entgegengesetzt werden – mit unterschiedlichem Erfolg.
Neben den Vorträgen der ReferentInnen (vormittags) war viel Zeit für die Diskussion unter den Teilnehmenden in Arbeitsgruppen am Nachmittag eingeplant. In drei Arbeitsgruppen zu den Themen „Politische Ökonomie und Migration“, „Fluchtursachen“ und „Migration als Klassenfrage“ wurde anhand von ausgewählten Texten aus Z 105 (März 2016) sowie einem für die Tagung erstellten Reader gearbeitet. Ausgewählte Klassikertexte zum Migrationsthema (Marx, Engels, die Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses 1917 „Zur Ein- und Auswanderung“, Zetkin und Lenin) bildeten hier die Grundlage, von der zu aktuellen Texten aus dem Spektrum der marxistischen Linken übergegangen wurde.
Die Referate des nächsten Tages von Boniface Mabanza, Dozent an der Universität Heidelberg und Mitarbeiter der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA), und Peter Wahl, Mitbegründer von attac und Vorsitzender des globalisierungskritischen Netzwerks WEED, behandelten Fluchtursachhen und deren Bekämpfung. Mabanza erläuterte das neokoloniale Verhältnis des Globalen Nordens zu den Staaten Afrikas am Beispiel von Strukturanpassungsprogrammen oder Economic Partnership Agreements (EPAs). Er stellte klar, dass die eigentliche „Invasion“ nicht die der Geflüchteten heute sei, sondern die des europäischen Kolonialismus in den letzten Jahrhunderten. Die Afrikanische Union positioniere sich heute zwar gegen diese Formen neokolonialer Ausbeutung, sei aber finanziell und institutionell zu schwach aufgestellt. Mit China trete ein weiterer Akteur mit eigenen Interessen auf, der immerhin die Möglichkeit biete, Handelspartnerschaften zu diversifizieren. Peter Wahl bestätigte diese Hypothesen und konkretisierte sie mit Blick auf die subsaharische Region. Die Auswirkungen von Umweltkatastrophen und Kriegen würden durch die ökonomische Ausbeutung deutlich verstärkt; Flucht bleibe oftmals der einzige Ausweg. Wahl sah die Notwendigkeit einer Art „Marshallplans“ für den Kontinent Afrika und die Implementierung gerechterer weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Mabanza plädierte in der angeschlossenen Diskussion vor allem für nationale und überregionale Befreiungskämpfe in den afrikanischen Ländern selbst.
Am Donnerstag waren zunächst Maximilian Pichl, Mitarbeiter von ProAsyl, sowie Anne Steckner, DIE LINKE Berlin, zu Gast. Pichl gab einen historischen Abriss der europäischen Grenzpolitik im Sinne des neoliberalen Regimes.3 Er erläuterte die Funktionen einzelner Grenzbehörden wie Frontex und benannte Kernelemente der Abschottungspolitik. Der Referent beschrieb und bewertete die aktuellen Asylrechtsverschärfungen und die intensivierte Zusammenarbeit mit der Türkei. Dabei kam auch der Aufstieg der AfD zur Sprache, die als radikale Repräsentanz völkischer Abschottungsgedanken mit der aktuellen, bürgerlichen Grenzpolitik korreliere. Anne Steckner plädierte angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung zugunsten der Rechten für eine stärkere Konzentration der Linken auf die soziale Frage und Antirassismus. Soziale Kämpfe zu führen sei praktizierter Antifaschismus und könne in der Anstrengung gegen Rechts das leisten, was Aufklärung und gute Argumente alleine nicht vermögen. Willkommenskultur müsse als Klassenfrage thematisiert werden. Fessum Ghirmazion vom Vorstand der IG Metall (Referat Migration & Teilhabe) berichtete anschließend über die Bemühungen seiner und anderer Gewerkschaften, auf der betrieblichen Ebene rassistischen Vorurteilen zu begegnen, Geflüchtete in bestehende Strukturen zu integrieren und dem Aufstieg der Rechten eine Kultur der Solidarität entgegenzusetzen.
Abgeschlossen wurde die Tagung mit einer Podiumsdiskussion „Die Linke und die Flüchtlingsfrage – was tun?“ unter Beteiligung von Janine Wissler, (stellv. Vors. Die LINKE und deren Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag), Ramona Lenz (medico international) und Aitak Barani (Welcome Frankfurt). Das Podium begann mit sehr konkreten Berichten aus der politischen Arbeit der drei Referentinnen seit Ankunft der Geflüchteten und thematisierte vor allem die gerade nach den Landtagswahlen alle interessierende Frage, was angesichts der breiten rechten Mobilisierung zu unternehmen sei. Betont wurde die Notwendigkeit einer eigenständigen, linken Antwort auf die soziale Frage. Diskutiert wurden – u.a. mit Bezug auf das Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ 4 – Essentials einer Bewegung gegen Rechts.
Zum kulturellen Abendprogramm – einem festen Bestandteil der Marxistischen Studienwochen – gehörten ein Auftritt des „Orchesters der Kulturen“ aus Stuttgart, das im Club Voltaire eine melodische „Mixtur aus Orient und Okzident“ präsentierte, und ein Bildergespräch „Fremde im Bild“ im Frankfurter Städel-Museum mit Reiner Diederich (Frankfurter KunstGesellschaft e.V.), bei dem ausführlich Rembrandts „Die Blendung Simsons“ von 1636 interpretiert und diskutiert wurde.
Die „Marxistischen Studienwochen“ sind eine wichtige Bildungs- und Vernetzungsplattform für die junge, marxistische Linke in Deutschland. Wie historisch mit der marxistischen Theorie verblieben wird, entscheidet sich auch daran, ob es wieder gelingt, ihre Repräsentation in Forschung und Studium an den Hochschulen zu etablieren. Um materiell wirkmächtig zu werden, braucht sie eine enge Anbindung an die Klassenauseinandersetzungen und entsprechende Subjekte ihrer Zeit. Dazu sollten Z und MaWo weiterhin anregen und ein offenes Forum bieten.
Lennart Michaelis
Bertolt Brecht und Hanns Eisler: „Die Maßnahme“
Eine Aufführung in Berlin, 8. April 2016
„Die Maßnahme“ nimmt unter Brechts Werken eine Sonderstellung ein. Nach 1933 gab der Verfasser das Stück nicht mehr für Aufführungen frei; späte Äußerungen sind ambivalent. Einerseits sah Brecht mit der „Maßnahme“ „die Form des Theaters der Zukunft“ verwirklicht; andererseits lehnte er noch in seinem Todesjahr 1956 eine Inszenierung mit der Begründung ab, dass „Aufführungen vor Publikum […] erfahrungsgemäß nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum“ hervorriefen. Obwohl das Stück gedruckt vorlag, hielt sich das leicht widerlegbare Gerücht, es handle sich um eine vorweggenommene Rechtfertigung der Moskauer Prozesse 1936. Brechts Erben hielten bis 1997 an dem Aufführungsverbot fest; erst seitdem können Inhalt und Funktionsweise des Stücks wieder auf der Bühne nachvollzogen werden.1
Die Handlung: Vier Agitatoren werden aus der Sowjetunion nach China geschickt, um dort die Revolution voranzutreiben. Angesichts der internationalen Lage und der Stärke der Reaktion in China müssen sie verdeckt vorgehen. Ein „junger Genosse“ gefährdet das Unternehmen, indem er aus Mitleid mit den Elenden immer wieder voreilig handelt. Schließlich müssen die drei anderen, um sich nicht zu verraten, den Idealisten umbringen und in eine Kalkgrube werfen, damit sogar der Leichnam unkenntlich wird.
Bertolt Brecht und Hanns Eisler haben in ihrem Lehrstück von 1930/31 eine musikalisch-dramatische Mischform gewählt. Entstanden ist ein Oratorium mit zwischengeschalteten Spielszenen. Dabei sorgten der Schriftsteller und der Komponist mit unterschiedlichen Mitteln für Distanz. Das Geschehen wird in einer Rückblende vorgeführt: Die Überlebenden rechtfertigen sich vor einem „Kontrollchor“ und spielen deshalb die Ereignisse nach. Der Kontrollchor fragt, fasst aber auch wesentliche politische Erkenntnisse zusammen. Die vier Spieler tauschen von Szene zu Szene ihre Rollen, damit keine Identifikation entsteht. Es geht eben ums Lernen. Wie lernt man? Nicht alleine durch den Verstand (das wäre die Illusion derer, die eine platte Version der Aufklärung vertreten), und auch nicht allein durch Gefühl (wie der junge Genosse). Vielmehr geht es um die Verbindung. Dabei benennen die überlebenden Agitatoren nicht die Gefühle des jungen Genossen als Problem, sondern dass er „das Gefühl vom Verstand getrennt hat“.
Die Einheit von Gefühl und Verstand stellt sich – im günstigen Fall – durch Praxis her. Beim „Lehrstück“ lernen vor allem die Ausführenden, nur in zweiter Linie die Zuschauer. Brecht richtete sich, wie gezeigt, gegen Aufführungen vor Publikum und beklagte die Gefühle des Publikums. Bei der Uraufführung vom 13. zum 14. Dezember 1930 im Gebäude der Berliner Philharmonie sangen drei große Arbeiterchöre. Wenn nun Marcus Crome im Kammermusiksaal der neuen Berliner Philharmonie wiederum politische Laienchöre zusammenbringt, so schließt dies an die historische Leistung an.
Für die insgesamt zehn beteiligten Chöre dürfte die Vorbereitung nicht nur eine musikalische Herausforderung dargestellt, sondern auch einen Anlass für politische Diskussionen geboten haben. Schließlich geht es in dem Werk nicht nur um Kommunismus und einen gewaltsamen Kampf gegen die herrschende Klasse. Das wäre – sofern die Auseinandersetzungen nur zeitlich und räumlich weit genug entfernt sind – noch kein Hindernis für Marktgängigkeit, wie die popkulturelle Verwurstung Che Guevaras allenthalben beweist. Vielmehr zeigen Brecht und Eisler eine kommunistische Ethik, die weit entfernt ist von einer Reinheit, die zum plumpen Wohlfühlen einlädt: „Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.“ Und, unmissverständlich: „Welche Niedrigkeit begingst du nicht, um die Niedrigkeit auszutilgen?“
Dies ist ein Denken, das auf Praxis zielt und damit auf Moral, von der skrupelbehaftete Menschenfreunde, die über den Parteien zu stehen vorgeben, nur scheinbar etwas wissen wollen. Über die Aufführung einen solchen Gedanken wieder in die politische Diskussion engagierter Gruppen gebracht zu haben, schließt an Zeiten an, in denen die Linke in Deutschland besser dastand als heute. Dass an den Tagen nach der Aufführung ein „Lehrstück-Kurs zur Gewaltprävention“ anschloss, verwundert deshalb.
Das grundsätzliche Lob einmal ausgesprochen, sind jedoch auch Probleme der Aufführung zu nennen. Knapp dreihundert Sänger und Sängerinnen sind für den Berliner Kammermusiksaal zu viele. Die Gefahr lautstarker Überwältigung wurde gerade eben vermieden, doch war es mit der Textverständlichkeit nicht eben gut bestellt. Seltsam wirkte die Entscheidung, das von Schauspielern Gesprochene, das man gut verstehen konnte, zu projizieren, doch das Gesungene nicht. Auch verlangte es sogar auf einem günstigen Platz allerhand Aufmerksamkeit, die Worte der klug phrasierenden Sopranistin Winnie Böwe zu begreifen. Ob etwas davon in den Blocks hinter ihr angekommen ist, kann man bezweifeln. Für eine wünschenswerte Wiederaufführung wäre also hinsichtlich der Klangbalance und der Textprojektion einiges zu verbessern. An der Instrumentalbesetzung von Blechbläsern und Schlagwerk lagen die Probleme jedenfalls nicht.
Die Figurenführung von Fabiane Kemmann war werkgetreu und klar. Den Vorgaben Brechts und Eislers zu folgen ließ die Probleme, die das Werk stellt, umso klarer werden. Oberflächliche Aktualisierung erschwert den Zugang zu aktuellen Gedanken, historisches Bewusstsein ermöglicht hingegen den Bezug auf die Gegenwart. Das betrifft erstens die unmittelbar politische Ebene. Brecht und Eisler entwickelten das Modell einer kommunistischen Ethik, das bürgerlicher Moral widersprach. Das Ergebnis überzeugt, die Absicht war klar; der Preis dieses Genres aber besteht in der politischen Abstraktion.
Man könnte darauf hinweisen, dass die damaligen Konflikte konkret anders gelagert waren, zum Beispiel die chinesische KP nach Jahren harter Kämpfe gegen Chiang Kai-sheks Kuomintang keineswegs mehr von sowjetischen Beratern lernen musste, wie man Flugblätter druckt. Zudem schrieben Brecht und Eisler mit Gründen ein Werk gegen den Linksradikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus – doch indem sie den Extremfall, einen Genossen töten zu müssen, ins Zentrum rückten, gerieten sie selbst in die Nähe der Linksradikalismus. Darauf wies die kommunistische „Rote Fahne“ in der Kritik der Uraufführung hin. Das Hauptproblem indessen besteht in der allzu klaren Versuchsanordnung, wie sie das Genre Lehrstück nahelegt. Es ist stets von vornherein klar, dass der junge Genosse irrt und die drei anderen Agitatoren Recht haben; in der Praxis dürfte die Unterscheidung schwieriger sein, ob schädlicher Moralismus gegen kluge Taktik steht oder lobenswerte Grundsatztreue gegen gefährlichen Opportunismus.
Zuletzt sind die ästhetischen Nachwirkungen zu nennen. In der „Maßnahme“ hat die Trennung von Rolle und Figur ihre Funktion. Man soll sich nicht einfühlen, sondern lernen. Dabei gibt es die in ihrer Nüchternheit begeisternde Musik als Gegeninstanz. Was 1930 neu und erkenntnisfördernd war, das ist 2016 zur Routine des postdramatischen Theaters herabgesunken. In der „Maßnahme“ sieht man das Mittel in seiner Neuheit und begreift seinen Sinn; und muss doch daran denken, was vielfach auf heutigen Bühnen an sinnlosem Kunstgewerbe daraus wurde.
Kai Köhler
Kriminelles Kapital
BCC-Fachtagung 2016, Frankfurt am Main, 16. April 2016
Der vor 25 Jahren gegründete Verein „Business Crime Control e.V.“ führte in Frankfurt eine mit etwa 150 Teilnehmenden gut besuchte Fachtagung „Steuerbetrug, TTIP, Wirtschaftslobbyismus. Wie Konzernmacht die Demokratie unterminiert“ durch. Ein ausgesprochen aktuelles Thema, wenn man an laufende Berichte über Steuerbetrug (Hoeneß bis Panama), Preisabsprachen durch Kartellbildung, Konkursbetrug (Schlecker), den Abgasskandal der Automobilkonzerne, über Kursmanipulationen (Deutsche Bank), Lebensmittelskandale, „Unregelmäßigkeiten“ bei der Vergabe öffentlicher Bauvorhaben (jüngst in NRW) usw. in den unterschiedlichsten Branchen und Dimensionen denkt.
Den Eröffnungsvortrag hielt der spiritus rector des vor 25 Jahren gegründeten Vereins, der Frankfurter Sozialwissenschaftler und ehem. Hochschullehrer Prof. Hans See, heute Ehrenvorsitzender des BCC. See, der das Thema schon seit langem systematisch verfolgt1, erinnerte daran, dass vor 25 Jahren höchstens „organisierte Kriminalität“ (Geldwäsche) Thema war; über das eigentlich interessante Thema, die Wirtschaftskriminalität großer Konzerne, wurde in der Regel nicht berichtet. Das ist heute schon anders. Dabei ist die Unterscheidung von legaler, politisch-moralisch zu verurteilender, und illegaler, juristisch zu belangender Wirtschaftskriminalität oft schwer zu treffen. Die Nahtstelle markiert, so See, „das Gesetz“ – und, so wäre hinzuzufügen, dessen Auslegung, die selbst ein lukratives Betätigungsfeld großer Kanzleien ist, wie die Lektüre der Wirtschaftspresse täglich bestätigt. Im Rahmen der Geschäftstätigkeit jedes Konzerns gibt es einen Sektor illegale Betätigungen, und dieser Anteil wächst, so die Vermutung. Staatliche Regulierung hat daran ihren Anteil – sie bedeutet z.T. die Legalisierung entsprechender Aktivitäten (z.B. Duldung irreführender Abgastestverfahren), z.T. ist sie Anlass für Kapitalkriminalität (wenn wegen ehrgeiziger Renditeziele z.B. eine Norm nicht eingehalten werden kann und illegal umgangen wird – sh. VW). Bei der rechtlichen Regulierung wird also die „Nahtstelle“ hin- und her geschoben, und dies natürlich unter maßgeblichem Einfluss der Konzernlobbies. Sees Vortrag bot insofern auch eine Menge Anregungen für eine Konkretisierung der Diskussion um „Wirtschaftsdemokratie“ i.S. einer stärkeren Unterwerfung der Privatwirtschaft unter staatliche Vorgaben, was freilich entsprechende Kräfteverhältnisse voraussetzt. Davon konnten andere Referenten ein Lied singen, die – wie der Steuerfahnder Frank Wehrheim – aus der Praxis berichteten. (Wehrheim war der Leiter jenes hessischen Steuerfahnderteams, das von dem später auf den Chefsessel des Bilfinger-Konzerns gewechselten Roland Koch und seinem Gehilfen Bouffier mit psychiatrischen Gutachten aus dem Verkehr gezogen wurde.) Er verwies auf rechtliche Verschärfungen seit den 1990er Jahren wie das Pilotverfahren gegen die Dresdener Bank in Sachen „Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ von 1994 gegen verschleierte Geldtransfers ins Ausland, das bis vor das Bundesverfassungsgericht ging (Niederlage der Bank), über Neuerungen wie den Ankauf von Steuer-CDs durch staatliche Stellen („Notwehrrecht“ des Staates) und das Aufkommen der „whistle-blower“ wie im Panama-Fall. Auf deren Daten haben die Ermittlungsbehörden freilich keinen Zugriff, sie sind also auf Zeitungslektüre angewiesen. Der Gründer der BI gegen Bayer-Gefahren, Axel-Köhler-Schnura, legte den Akzent seines Berichts über den Bayer-Konzern und die Aktivitäten der Konzern-Kritiker nicht auf die Seite der juristisch zu belangenden, ungesetzlichen Konzernaktivitäten, sondern auf die aus der legalen Verfolgung von Profitzielen sich ergebenden Kapital-Verbrechen (frei nach Brecht: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Eröffnung einer Bank?“ – später vorgetragen von Erich Schaffner). Wolfgang Hetzer (langjähriger Leiter der Abteilung „Intelligence: Strategic Assessment & Analysis“ bei der Korruptionsbekämpfungsbehörde OLAF in Brüssel) widmete sich mit reichem Illustrationsmaterial der Frage „Ist die Deutsche Bank eine krimineller Vereinigung?“2 – de facto bejahend, aber als Jurist auf vorsichtige Weise.
Die Tagung gab eine Menge Anregungen, aber – wie nicht zu vermeiden – viele Fragen allgemeinerer Art blieben offen, z.B.: Ist systematische Umgehung rechtlicher Bestimmungen seitens der Unternehmen zwangsläufige Folge kapitalistischer Konkurrenz? Warum nimmt Kapitalkriminalität, wie angenommen, heute zu? Hat dies mit der Dominanz des Finanzmarktkapitalismus und den wachsenden, nach spekulativer Verwertung drängenden Kapitalmassen zu tun? Welche Rolle spielt die Transnationalisierung des Kapitals? Wen treffen solche Formen von Kapitalkriminalität in erster Linie? Und, natürlich: Wie können sie politisch thematisiert und bekämpft werden?
André Leisewitz
Aufstehen gegen Rassismus
Aktionskonferenz der Kampagne gegen die „Alternative für Deutschland“, Frankfurt/M., 23. und 24. April 2016
Nachdem die Alternative für Deutschland bei den Wahlen vom 13. März mit zweistelligen Ergebnissen in die Landtage von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt einzog, unterzeichneten über 17.000 Menschen den Aufruf der Kampagne „Aufstehen gegen Rassismus“. In Frankfurt am Main beratschlagten nun über 600 Teilnehmende aus unterschiedlichen linken Organisationen, antirassistischen Initiativen und den Gewerkschaften, wie die Kampagne praktisch umgesetzt werden könnte.
Dass es nicht mehr nur um die Frage „Wer ist die AfD?“ ginge, sondern verstärkt darum, wie man ihr entgegentreten könne, das sei schon mal eine begrüßenswerte Entwicklung, so der Soziologe Andreas Kemper, der mit Said Barkan vom Hessischen Zentralrat der Muslime, Cornalie Kerth von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und Samee Ullah von dem Bündnis „My Right Is Your Right“ das Auftaktpodium am Samstagabend bestritt. Mit Ullah und Barkan waren nicht nur politische Bündnispartner vertreten, beide sind auch Vertreter von Minderheiten, die im besonderen Maße vom Aufstieg der AfD bedroht werden. Ullah wies auf die spezifischen Hürden hin, die dem Engagement von Geflüchteten entgegenstehen: staatliche Diskriminierung, kein Zugang zu Internet in den Lagern und oftmals fehlende Möglichkeiten, einen Austausch zu organisieren. Barkan machte den Zusammenhang von antimuslimischen Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung deutlich und betonte die Gegnerschaft des Zentralrats nicht nur zu Rassismus, sondern auch zu Sexismus und Antisemitismus. Kerth verdeutlichte diesen Zusammenhang auf der Ebene der Einstellungsforschung und wies auf die seit Jahren hohen Zustimmungswerte zu rechten Positionen hin.
Am Sonntag begann der aktive Teil der Aktionskonferenz nach Grußworten von Michael Erhardt, IG-Metall-Bevollmächtigter in Frankfurt, und Oguzhan Aksoy, Mitglied im Vorstand des Hessischen Zentralrats der Muslime. In Workshops wurden zentrale Elemente der Kampagne diskutiert. So wurde darüber beraten, wie ein Aktionswochenende in Berlin im Vorfeld der Wahlen zum Abgeordnetenhaus gestaltet werden könnte. Hier kündigten verschiedene Akteure wie z.B. Blockupy und die Interventionistische Linke ihre Unterstützung an. Parallel gründete sich eine Arbeitsgruppe, die sich eine gründliche Recherche von Personal und Funktionär_innen der AfD vornahm. Eine andere Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der Erstellung von Massenmaterial, das die Kampagne bekannter machen und Mitstreiter_innen gewinnen soll. Starken Anklang fand auch der Workshop, der sich mit der Ausbildung sogenannter Stammtischkämpfer_innen befasste. Davon ausgehend, dass die Alternative für Deutschland Ausdruck einer Rechts-Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ist, die sich erstens in allen gesellschaftlichen Bereichen und damit zweitens auch im unmittelbaren Umfeld der meisten Menschen vollzieht, wurde ein Trainingsmodul entwickelt, das helfen soll, Sprachlosigkeit gegenüber rechten Positionen zu überwinden und die Stimme zu erheben. Dabei steht der Stammtisch sinnbildhaft auch für die Bank am Spielplatz, die Kasse im Supermarkt oder die Kaffeetafel bei der Silberhochzeit.
Die zweite Phase der Workshops nahm Bezug auf die verschiedenen Felder, auf denen der AfD begegnet werden kann, und eruierte Optionen, wie die Kampagne in den jeweiligen Bereichen zu implementieren sei. Studierende verabredeten beispielsweise, sich in einer Facebook-Gruppe zu vernetzen, um einen dauerhaften Austausch zu beginnen; es wurden aber auch Treffen in den Regionen und ein eigener Kongress von Studierenden als Optionen diskutiert. Der vom Chaos Computer Club moderierte Workshop zu Handlungsoptionen im Internet verdeutlichte, dass insbesondere die Online-Kommentarspalte eine aktuelle Erscheinungsform des Stammtisches ist, die berücksichtigt werden muss. Für lokales Engagement in Städten und Kommunen ist eine Vernetzung mit bereits bestehenden sozialen Initiativen in den Sozialräumen ausgesprochen wichtig. Durch solche Kontakte können nicht nur die Kieze und Regionen identifiziert werden, in denen Engagement besonders von Nöten oder besonders willkommen ist; die praktische Verknüpfung mit diesen Initiativen ist auch ein Ausdruck der inhaltlichen Verschränkung von Antirassismus und sozialen Kämpfen.
Diskutiert wurde insbesondere auch über die Betriebe als Feld der Auseinandersetzung mit der AfD und über die Notwendigkeit, hier Position zu beziehen – bei den Landtagswahlen wurde die AfD in großem Maße von Arbeiter_innen und Angestellten gewählt. Betont wurde die zentrale Rolle der Gewerkschaften, deren Netzwerke und Ressourcen im Kampf gegen die Rechtsentwicklung produktiv gemacht werden müssen. Vertreter_innen von Geflüchtetenorganisationen und Engagierte aus Willkommensinitiativen regten an, analog zu den Stammtisch-Trainings auch Empowerment-Workshops für Geflüchtete zu entwickeln.
Die Fragen, wie die Auseinandersetzung mit der AfD sinnvoll in Bezug gesetzt werden kann mit dem Kampf gegen andere Formen von Rassismus und Ungleichheitsverhältnissen und die Frage, ob ein Bündnis gegen die AfD, das auch SPD und Grüne umfasst, nicht droht, jenen herrschenden Block zu stützen, der die Bedingungen für den Erfolg der AfD schuf, blieben auch am Ende der Konferenz unbeantwortet. Verwunderlich ist das auch deshalb nicht, weil dies Fragen sind, die viel mit der Widersprüchlichkeit des Gegenstandes zu tun haben. Auch das Bemühen um eine neu zu ziehende „rote Linie“ gegen die AfD verweist auf ähnliche Fragestellungen, weshalb diese Fragen auch zukünftig das Bündnis beschäftigen und im besten Fall produktiv vorantreiben werden.1
Sebastian Wehrhahn
1 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.
2 Zuletzt erschienen als erweiterte und überarbeitete Neuauflage: Joachim Radkau/Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013.
3 Die Veranstaltung ist nachzuhören unter https://soundcloud.com/rosaluxstiftung/fukushima.
1 Thomas Gebauer, Fluchtursache Globalisierung. Sh. https://www.mdedico.de/migration-als-antwort-16015/ (Zugriff am 31.03.2016).
2 Vgl. deren Beitrag im vorliegenden Heft, S. 110ff.
3 Vgl. seinen Beitrag in diesem Heft, S. 125ff.
4 Vgl. dazu den Bericht von Sebastian Wehrhahn in diesem Heft, S. 191f.
1 Vgl. auch Gerd Rienäcker, Stichpunkte zur Diskussion über Brecht-Eislers Lehrstück „Die Maßnahme“, in: Z 97 (März 2014), S. 51-65.
1 Vgl. Hans See, Kapital-Verbrechen. Die Verwirtschaftung der Moral, Frankfurt/M. 1992; ders., Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen, Frankfurt/M. 2006. Vgl. auch Reiner Diederich/Gerhard Löhlein (Hrg.), Entfesselte Wirtschaft – Gefesselte Demokratie. Hans See zum 75. Geburtstag, Frankfurt/M. 2009.
2 Nachzulesen im BCC-Organ „BIG Business Crime“, Nr. 2/2016, S. 7-18. (Bezug: BCC, PF 1575, 63645 Maintal). Das gleichnamige Buch von W. Hetzer erschien 2015 in Frankfurt/M.
1 Aufruf, Informationen und Materialien der Kampagne finden sich unter aufstehen-gegen-rassismus.de sowie auf https://www.facebook.com/aufstehengegenrassismus/