Nach der Griechenlandkrise wird die politische Debatte in der Bundesrepublik von der Auseinandersetzung um Migration und Flüchtlinge geprägt. Die Frage nach den eigentlichen Fluchtursachen, nach den auslösenden Faktoren für die großen Migrationsströme und nach entsprechenden nachhaltigen Lösungsstrategien wird dabei zumeist umgangen. Unweigerlich käme sonst der Zusammenhang von Kapitalismus und Migration zur Sprache. Dem ist der Schwerpunkt dieses Heftes gewidmet.
Elmar Altvater analysiert die gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen im Kontext des Prozesses der Liberalisierung und Deregulierung der Märkte, ein Vorgang, den er als „negative Integration“ bezeichnet. Dabei zeigt sich eine strikte Hierarchie: An der Spitze stehen die Finanzmärkte, am Ende die Arbeitsmärkte. Bewegungen von Kapital und Waren sind (fast) frei, die Bewegung der Arbeitskräfte aber bleibt starken Beschränkungen unterworfen. In dem Maße, wie die negative Integration die ökonomischen Ungleichgewichte und Gegensätze vergrößert, wird die Bewegung von Menschen wieder stärker reguliert. Die Marktfreiheiten führen im Ergebnis zur Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, zum Wiederaufleben nationalistischer Ideenwelten und zu xenophober Abschottung. Die Bedeutung der Migration für den kapitalistischen Arbeitsmarkt untersucht Jane Hardy vor allem am Beispiel der USA und Großbritanniens in den letzten zwei Jahrhunderten. Der Kapitalismus hat Migration immer nach dem Prinzip von Teile und Herrsche gesteuert oder zu steuern versucht. In konjunkturellen Aufschwungsphasen kommt migrantischen Beschäftigten die Rolle zu, Lohnarbeit zu verbilligen. In Krisenzeiten gehören sie zu den ersten, die ihre Arbeit verlieren. Der durch neoliberale Strategien geschaffene prekäre Beschäftigungssektor mit seiner stark migrantisch geprägten Struktur wird genutzt, um große Gruppen der Beschäftigten gegeneinander auszuspielen. Hardy zeigt aber auch, dass es gelingen kann, migrantische und einheimische Beschäftigte zu einer gemeinsamen Interessenvertretung zusammenzubringen.
Anhand von Materialien der Münchener „Sicherheitskonferenz“, des Auswärtigen Amtes und halboffizieller internationaler Publikationsorgane untersucht Jörg Kronauerden Zusammenhang zwischen der Zunahme kriegerischer Konflikte in der Welt, dem amtlicherseits konstatierten „Zerfall der internationalen Ordnung“ und dem Anschwellen von Migration. Fast die Hälfte aller Staaten der Erde ist gegenwärtig in bewaffnete Konflikte involviert. Die großen Flüchtlingsströme wurden ausgelöst durch die militärischen Interventionen des Westens vor allem im Nahen und Mittleren Osten; auch die Auseinandersetzungen um die Nato-Osterweiterung und die Ukraine haben große Flüchtlingswellen ausgelöst. Gleiches gilt im Übrigen für die Eurokrise, wie Kronauer am Beispiel der Krisenmigration u.a. aus Griechenland und Irland zeigt. Dem subsaharischen Afrika wendet sich Peter Wahl zu. Anhand von empirischem Material zeichnet er nach, wie sich diese Region zu einem „Brennpunkt von Flucht und Migration“ entwickelte. Ein besonderes Augenmerk fällt in diesem Kontext auf die Binnenmigration. Wahl analysiert in seinem Beitrag sowohl historische wie zeitgenössische Gründe dafür, dass Subsahara Afrika bis heute eine der ökonomisch am wenigsten entwickelten Regionen überhaupt ist.Die Zuspitzung der Migrations- und Fluchtproblematik, mit der sich Europa seit dem letzten Jahr konfrontiert sieht, ist, so Boniface Mabanza, „nichts Neues und Überraschendes“: Andere Regionen der Welt waren und sind davon seit langem betroffen. Länder wie Libanon, Jordanien oder die Türkei haben Flüchtlinge in einer ganz anderen Größenordnung aufgenommen als die EU-Staaten bzw. die BRD. Flucht und Migration verlaufen zunächst regional – die Hauptlast tragen die Anrainerstaaten der Konfliktregionen. Die sog. „Bekämpfung der Fluchtursachen“ seitens der EU-Staaten (und besonders der BRD) besteht de facto darin, die Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern in Drittstaaten festzuhalten. Strukturelle Fluchtursachen werden nicht bekämpft, denn dann müsste z.B. die Handelspolitik der BRD grundsätzlich revidiert werden.
Migrations- und Flüchtlingsbewegungen sind heute ein globales Problem, das, so Christoph Butterwegge, in engem Zusammenhang steht mit der neoliberalen Globalisierung („jüngstes Stadium des Kapitalismus“), mit Umweltkatastrophen und Bürger- und Interventionskriegen. Er konstatiert eine Differenzierung zwischen Elends- und Eliten/Expertenmigration, die von den reichen Aufnahmeländern durch ein „duales und selektives Migrationsregime“ gefördert bzw. gebremst werden sollen. Im Inneren der Bundesrepublik sieht Butterwegge vor dem Hintergrund wachsender sozialer Spaltung zunehmende Versuche, „arme Deutsche gegen noch ärmere Flüchtlinge“ auszuspielen; dem müsse durch Arbeitsmarktintegration und eine inklusive Sozial-, Bildungs- und Wohnungsbaupolitik begegnet werden; nennenswerte Mehrbelastungen betreffen dabei nicht die Sozialversicherungen, wohl aber das steuerfinanzierte Fürsorgesystem. Hier sei die Heranziehung von Kapitaleigentümern, Vermögenden und Spitzenverdienern gefordert. Am Beispiel des Umgangs der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit dem Flüchtlings- und Migrationsproblem zeigt Romin Khan, dass ver.di sich zwar schon als eine Organisation solidarischer Willkommenskultur versteht, dass aber noch weitere Schritte in Richtung auf eine wirkliche „Einwanderungsgewerkschaft“ zu gehen sind.
Thomas Hohlfeld rekapituliert in seiner Chronik der Asylrechtsänderungen in den vergangenen drei Jahren eine zunehmende Verschärfung des Asylrechts. Stärker noch als vorherige Gesetzesänderungen, die zumeist von einer Mischung aus Erleichterungen für „ausgewählte Flüchtlingsgruppen“ und „Verschärfungen gegenüber unerwünschten Migranten“ geprägt waren, sind die im Kontext der sog. Flüchtlingskrise beschlossenen Asylpakete eine Bedrohung von Grundrechten. Die jüngsten Verschärfungen machen erst kürzlich beschlossene Erleichterungen wieder rückgängig und opfern menschenrechtliche Standards wachsender Fremdenfeindlichkeit.
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Marx-Engels-Forschung: Die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) wird nach Mitteilung der offiziellen „Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz“ vom Oktober 2015 weitergeführt, jedoch, wie Georg Fülberth im Einzelnen mitteilt, in modifizierter Form. Die noch fehlenden Schriften der ersten Abteilung werden wie auch bisher geplant in gedruckter Form erscheinen (10 Bände); die bisher noch nicht im Rahmen der MEGA erschienenen Briefe und Manuskripte/Exzerpte werden nicht mehr gedruckt, sondern in digitaler Form ediert. Fülberth sieht als Vorteil die leichtere Zugänglichkeit über das Internet.
Karl Marx‘ Kapital besteht bekanntlich aus drei Bänden. Der zweite Band behandelt die Zirkulation des Kapitals. Dabei untersucht Marx zunächst getrennt drei Formen der Zirkulation: des Geldkapitals, des produktiven Kapitals und des Warenkapitals. Er schließt die Untersuchungen aber mit der Feststellung ab, dass die Unterschiede letzten Endes nur formelle seien, dass sie eine Einheit bildeten. Alexander von Pechmann schließt daraus – unter Bezug auf in der MEGA veröffentlichte Arbeiten–, dass Marx unterschiedliche Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise hervorheben wollte: den ökonomischen Aspekt (Geld), den produktiven und sozialen Aspekt (Produktivkapital) und den Aspekt der Bedürfnisbefriedigung (Waren).
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Weitere Beiträge: Franz Garnreiter bilanziert die Ergebnisse des Pariser Klimagipfels, die nicht ausreichen werden, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. In diesem Zusammenhang geht er insbesondere mit der Emissionspolitik der Bundesrepublik hart ins Gericht. Garnreiter kritisiert zugleich Positionen, die hoffen, den Klimawandel mit Geoengeneering aufhalten zu können.
Ungleicher Tausch auf den Weltmärkten gilt bei kritischen und an Marx orientierten Wirtschaftswissenschaftlern als eine der Ursachen ungleicher Entwicklung im kapitalistischen Weltsystem. In ihrem Beitrag geben Karin Fischer und Rudy Weissenbacher einen theoriegeschichtlichen Überblick, kritisieren die Ansätze im Lichte der Marxschen Arbeitswertlehre und verbinden sie mit der Theorie der Wertschöpfungsketten. Ihrer Ansicht nach wird der Großteil der Wertschöpfung von den Leitunternehmen der Zentren angeeignet, während die Produktionsstandorte im engeren Sinne nur wenig profitieren.
Harald Werner diskutiert Axel Honneths Versuch zur „Idee des Sozialismus“. Dabei arbeitet er heraus, dass Honneths Fixierung auf ideengeschichtliche Fragen die Komplexität einer zeitgemäßen Sozialismuskonzeption verfehlt. Werner kritisiert insbesondere Honneths simplifizierende Rekonstruktion des Marxismus und die hiermit zusammenhängende Vernachlässigung politischer Ökonomie. Zudem arbeitet er heraus, dass Honneths Sozialismus letztlich ohne Subjekt auskommen zu können glaubt.
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Zu verweisen ist auf die Diskussionsrubrik (Olaf Gerlach zu Carl und Oehlke in Z 104 betreffs Innovationsökonomie); die Berichte (Marxismus-Kongress in Peking sowie kleinere Tagungen zu Aspekten der marxistischen Theorie und aktuellen Debatten in der Bundesrepublik) und die Buchbesprechungen.
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Z 106 (Juni 2016) wird als Schwerpunktthema Krisenreaktionen der Linken in Europa behandeln.