Wer als Bundesbürger im Frühjahr 2015 eine längere Auslandsreise antrat und ein Jahr später, im Frühjahr 2016, zurückkehrte, der muss sich die Augen reiben: Hatte er doch 2015 eine „Insel der Seligen“ verlassen, die, milde gemanagt von der „mächtigsten Frau der Welt“ (Ranking des Forbes-Magazins), in der Lage war, die Krisen der Welt von den deutschen Grenzen fern und Europa zusammen zu halten. Die Welt, oder doch zumindest Europa, sehnte sich nach deutscher „Führungsverantwortung“ (Koalitionsvertrag von 2013); falls einzelne verblendete Länder doch darauf bestanden, eigene Wege zu gehen, so verfügte die deutsche Kanzlerin bei aller Milde über die Mittel, diese auf den Pfad der „Alternativlosigkeit“ zurückzugeleiten.
Bei Rückkehr unseres Reisenden im Frühjahr 2016 aber drohen die Wogen der Weltkrisen dieses glückliche Eiland zu verschlingen, samt ihrer nun nicht mehr so alternativlos scheinenden Führung. Schuld daran ist die Welle, die Flut, der Strom, man möchte meinen: der Tsunami von Flüchtlingen, Migranten, Fremden, Muslimen, welche Wohlstand, politischen Konsens, deutsche Leitkultur, abendländische Werte, ja: die schwarze Null, hinweg zu reißen drohen. Konnte man vor einem Jahr tagtäglich auf allen Kanälen und in allen Gazetten befriedigt verfolgen, wie Deutschland – unter dem Beifall der Finanzmärkte – das unverschämte Griechenland zur Ordnung rief und erfolgreich dazu verdonnerte, seine „Hausaufgaben“ zu machen, so muss unser ahnungsloser Rückkehrer nun schockiert zur Kenntnis nehmen, dass die Alternativlose gescholten und beschimpft, ja: als Verursacherin der Misere an den Pranger gestellt wird. Sie, die noch vor einem Jahr kurz vor der Heiligsprechung zu stehen schien, ist heute eine einsame, eine tragische, eine schuldbeladene Sünderin. Dem „Hosianna“ folgt das „Kreuziget sie“ auf dem Fuße.
Ist das wirklich so? War Deutschland vor einem Jahr wirklich so krisenfest und führungsstark wie in Festreden beschrieben? Und versinkt es heute (und mit ihm „Europa“) wirklich so tief in die Ausweglosigkeit, wie behauptet? Vieles spricht dafür, dass die so genannte „Flüchtlingskrise“ lediglich tiefsitzende europäische und deutsche Widersprüche und Instabilitäten hat manifest werden lassen, Instabilitäten im Übrigen, die Deutschland durch seine unnachgiebige Haltung in der Schuldenkrise, seine Exportpolitik und seinen Hegemonieanspruch selbst befördert hat. Die Spaltungstendenzen in Europa vertiefen sich.
Die Labilität der internationalen und europäischen Ordnung
Da sind zunächst die Fluchtursachen, deren Bekämpfung, so das Mantra der Regierenden, alle Probleme lösen soll. Was ist damit gemeint? Dass es den Herrschenden um wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität in den armen Ländern des Südens geht, glaubt kaum jemand: Jede und jeder weiß oder ahnt zumindest, dass die europäische Handelspolitik allein den eigenen Interessen verpflichtet ist und nicht den Wohlstand der südlichen Handelspartner im Auge hat. Und in den herrschenden Klassen und politischen Eliten Europas oder Nordamerikas denkt niemand auch nur im Traum daran, z.B. die westliche Agrarpolitik im Interesse der Bauern des Südens zu ändern. Außerdem weiß man, dass wirtschaftliche Entwicklung kurz- oder mittelfristig nicht zur Abschwächung von Flucht- und Migrationsbewegungen führt – nur wer über ein Mindestmaß an Bildung und finanziellen Mitteln verfügt, kann auswandern.
Die gegenwärtig zu beobachtenden massenhaften Fluchtbewegungen im und aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Afrika und vom Balkan sind vor allem das Ergebnis von internationalen Krisen, deren Auslöser Jahre, teilweise Jahrzehnte, zurückliegen. Im Vordergrund stehen kriegerische Interventionen des Westens im Zeichen eines neuen Imperialismus, die zu Destabilisierung und „Ordnungszerfall“ ganzer Regionen geführt haben und bei denen zugleich, immer nach dem Motto „Der Feind unseres Feindes ist unser Freund“, der nun beklagte „Terrorismus“ hochgezüchtet wurde. Die Ahnungs- und Rücksichtslosigkeit, die politische Kurzsichtigkeit der militärischen Interventionen, die von Deutschland aktiv mitgetragen, heimlich unterstützt oder doch zumindest beklatscht worden sind, rächt sich heute. Aber es geht hier keineswegs nur um „Ahnungslosigkeit“ und „Kurzsichtigkeit“. Die Bundesrepublik, die nicht nur im Rahmen der EU, sondern auch international ein „führende Rolle“ spielen möchte und „Führungsverantwortung“ tragen will, muss sich auch militärisch engagieren und dabei helfen, die „Kollateralschäden“ zu beseitigen, wenn sie politisch-diplomatisch mitspielen will.[1] Insofern war zu erwarten: Wenn Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, dann sollte man sich nicht wundern, wenn die Bewohner des Hindukusch auf die Idee kommen, den Kämpfen nach Deutschland zu entfliehen. Es ist kein Zufall, dass zwei Drittel aller in Deutschland ankommenden Flüchtlinge aus den drei Kriegsländern Syrien, Afghanistan und Irak stammen. Aber wenn man glaubt, die katastrophalen Folgen der westlichen bzw. westlich unterstützten militärischen Aktivitäten in Afghanistan, Irak, Jemen, Libyen, Mali, Somalia, Syrien usw. würden die US-amerikanischen, europäischen, deutschen „Verantwortungsträger“ zum Nachdenken veranlassen: Das Gegenteil ist der Fall. Wie Wolfgang Schäuble in einem programmatischen Beitrag formuliert, „muss Europa sehr viel mehr tun, um effiziente Verteidigungskapazitäten aufzubauen.“[2] Das betrifft seiner Ansicht nach nicht nur den Nahen und Mittleren Osten: „Und wir werden vermutlich auch nicht umhinkommen, uns in einem Gutteil Afrikas stärker zu engagieren.“ Die Wortwahl ist verräterisch: „Verteidigt“ werden soll Europa natürlich nicht in Europa, sondern außerhalb. Damit die Verteidigten nun nicht – wie derzeit – denken „wenn die Sicherheit nicht zu uns kommt, dann gehen wir zur Sicherheit“, schlägt Schäuble vor, „die Vereinten Nationen bei der Bewältigung der Migrationsströme sehr viel effizienter zu unterstützen“. Mit „Bewältigung“ ist natürlich die Fernhaltung von Europa gemeint – dies ist die Linie, die die Kanzlerin bislang unbeirrt verfolgt: Die Kriegsflüchtlinge sollen in der Türkei, am besten aber in ihren Heimatländern, bleiben. Ersatzweise könnte man auch die Schengen-Insel Griechenland in ein Flüchtlingslager verwandeln, wie es unlängst Belgien und die osteuropäischen Visegrad-Länder vorgeschlagen haben. Schäuble: „... die (Genfer Flüchtlings)Konvention ist keine Grundlage für weltweite Migrationsfreiheit.“ So gesehen gewinnt Schäubles und von der Leyens Rhetorik von der zunehmenden militärischen „Verantwortung“ auch ihren flüchtlingspolitischen Sinn: Der ungesteuerte Flüchtlings- und Migrationsdruck soll – mit militärischer Unterstützung – von Europa fern- und in den Regionen des Südens festgehalten werden. Dazu braucht man aber die militärische und politische Unterstützung der USA. So ist die Tatsache zu erklären, dass die USA, die die Fluchtursachen in den drei Hauptfluchtländern doch an allererster Stelle (im Falle Syriens auch durch die bedingungslose Unterstützung der Kriegspartei Saudi-Arabien) zu verantworten haben, sich vor der Aufnahme von Flüchtlingen drücken können, ohne dass das in Europa auch nur mit einem Wort kritisiert wird.
Von der Flüchtlingsfrage „gedanklich“ zu trennen, so Schäuble weiter, sei „die Einwanderungspolitik in Europa und damit in Deutschland“. Hier wohl liegt ursächlich das Problem, vor das sich Merkels Politik aktuell gestellt sieht. Das Interesse der EU-Mitgliedsländer an Einwanderung ist sehr unterschiedlich gelagert, und zwar nicht nur, weil – wie Schäuble gemünzt auf Osteuropa herablassend formuliert – „nicht alle Gesellschaften in gleicher Entwicklung die Vorzüge von Offenheit gegenüber Abschottung kennenlernen konnten.“ Das zeigt ein derzeit weniger diskutiertes europäisches Krisenfeld, der Brexit: Knackpunkt der Briten sind nicht die syrischen Flüchtlinge, sondern Arbeitsmigranten aus dem EU-Osten, deren Zuwanderung man gerne stoppen würde, was allerdings – wie die aktuelle Flüchtlingsfrage – ebenfalls die Frage der Freizügigkeit innerhalb Europas aufwirft. Dass dieses Problem – wie Schäuble vorschlägt und die britische Regierung mit Zustimmung der EU plant – allein durch drastische Absenkung der Sozialstandards für Migranten und deren Ungleichbehandlung gelöst werden kann, ist unwahrscheinlich. Dies ist das grundlegende Problem für Deutschland, das wohl auch hinter der Haltung Merkels in der Flüchtlingsfrage steckt: Deutschland ist das einzige große Land in Europa, das Interesse an Einwanderung in größerem Umfang hat. Die deutschen Unternehmerverbände lassen derzeit keinen Zweifel daran, dass sie Zuwanderung von Arbeitskräften (nicht nur von hochqualifizierten) wünschen. Die meisten anderen europäischen Länder leiden aktuell eher unter der Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, was sich für sie mittelfristig als Belastung entwickeln könnte. Ihr Interesse an Reise- und vor allem an Niederlassungsfreiheit ist völlig anders gelagert als das deutsche. Dieses Ungleichgewicht ist auch ein Ergebnis der deutschen Wirtschaftspolitik, die sich beharrlich weigert, der Existenz eines extrem hohen und chronischen Leitungsbilanzdefizits wirtschaftspolitisch Rechnung zu tragen. Stattdessen nutzt sie die Schuldenkrise, um ihre Austeritätspolitik zu exportieren. Diese intransingente Haltung rächt sich nun in der Migrations- und Flüchtlingspolitik: Die besondere Beliebtheit Deutschlands als europäisches Fluchtland hängt weniger mit den Äußerungen Merkels als mit den von der deutschen Wirtschaftspolitik vergrößerten ökonomischen Ungleichgewichten zusammen.
Steht nun mit der „Flüchtlingskrise“ und mit den gegensätzlichen Interessen der Mitgliedsländer an Migration das europäische Projekt eines einheitlichen kapitalistischen Raums zur Disposition, scheitert „Europa“, weil Schengen, d.h. die Reisefreiheit in der EU, scheitert? Das ist wenig wahrscheinlich, auch wenn die politisch bedrängte Kanzlerin das gerne so darstellt, unterstützt von den Unternehmerverbänden und auch vom DGB, die behaupten, dass mit der Reisefreiheit auch die Bewegungsfreiheit der Waren bedroht sei. Denn natürlich ist eine abgestufte und an die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsländer angepasste Einwanderungspolitik nicht nur möglich, sondern aus Sicht des Kapitals notwendig. Da die Interessen der europäischen Mitgliedsstaaten und ihrer Kapitalfraktionen an Migration aus ökonomischen und politischen Gründen ganz unterschiedlich gelagert sind, kann es keine einheitliche europäische Einwanderungspolitik geben. In dem Maße, wie die diesbezüglichen Interessen auseinanderdriften, wird die EU nicht darum herumkommen, die nationale Steuerungsfähigkeit in dieser Frage zu vergrößern.
Das bedeutet nicht das Ende der kapitalistischen Europa-Konzeption. Es spricht viel dafür, dass es hier mittelfristig zu einer Lösung im Sinne eines „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ kommen wird. Es ist kein Zufall, dass Schäuble – manchmal gehandelt als kommender Mann – heute erneut sein 20 Jahre altes Projekt eines Europa „unterschiedlicher Integrationstiefe oder verschiedener Geschwindigkeiten“ in Erinnerung ruft, wobei er sich explizit auf die „britischen Wünsche“ bezieht. Deutschland, dessen dominierende, exportabhängige Kapitalfraktionen ein massives Interesse an Zuwanderung haben, ist nicht in der Lage – und deshalb ist es keine wirklich hegemoniale Macht in Europa – den übrigen Mitgliedern seine migrationsfreundliche Position aufzuzwingen. Das scheint die Lehre zu sein, die die Kanzlerin und die sie stützenden Gruppen aus der „Flüchtlingskrise“ zu ziehen haben, wo sie möglicherweise einer Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse unterlegen sind. Das bedeutet aber nicht das Ende ihrer Europapläne, woran Schäuble mit dem Hinweis auf das alte Projekt des Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten erinnern möchte.[3] Das könnte auch den Schengen-Raum betreffen, der, wie Schäuble betont, nicht mit der EU identisch ist. Neben einigen südosteuropäischen Ländern gehören vor allem Großbritannien und Irland nicht zu Schengen; man hat bislang nicht gehört, dass dies den freien Warenverkehr behindert. Verschärfte Personenkontrollen müssen nicht notwendig zu verschärften Kontrollen des Warenverkehrs führen. Schon im November 2015 hatte der Chef der berüchtigten Eurogruppe und niederländische Finanzminister Dijsselbloem die Idee eine „Mini-Schengen“ aus Deutschland, Schweden, Österreich, Finnland und den Beneluxstaaten in die Debatte geworfen, interessanterweise ohne Frankreich.
Veränderungen der deutschen politischen Architektur und der Rechtstrend
Ähnlich wie in der Europafrage hat die „Flüchtlingskrise“ auch innenpolitisch nichts Anderes getan, als alte Konfliktlinien offenzulegen. Die Kanzlerin hatte es lange meisterhaft verstanden, diese (zugegebenermaßen auf weniger brisanten Feldern wie Familienpolitik und Homoehe) immer wieder zuzukleistern. Dies galt in der Vergangenheit auch für das Migrationsproblem. Dieses war immer – siehe z.B. die Debatte über das Sarrazinbuch – höchst konfliktträchtig und brach regelmässig wieder auf. Schäuble selbst erinnert an die Debatte von 1991, als sich die „ostdeutschen Länder gegen eine proportionale Zuteilung von Asylbewerbern gewehrt“ und die Bundesregierung dem nachgegeben hatte. Allerdings konnte das, anders als Schäuble meint, die Probleme keinesfalls dauerhaft lösen: PEGIDA lässt aus Sachsen grüßen.
Der schon lange schwelende Konflikt zwischen dem nationalkonservativ-völkischen und dem neoliberalen Flügel des herrschenden Blocks (diese Konfliktlinie gibt es nicht nur bei den Konservativen) wurde durch die Flüchtlingskrise offengelegt. Dass dieser – sollten die Flüchtlingszahlen 2016 merklich zurückgehen – erneut gekittet werden könnte, ist wenig wahrscheinlich. Der Albtraum von Franz Josef Strauß, dass es rechts von CDU/CSU eine relevante politische Kraft gibt, scheint heute Wirklichkeit zu werden. Das Nebeneinander von reaktionären Bewegungen wie PEGIDA einerseits und einer politischen Partei wie der AfD andererseits spricht dafür, dass letztere nicht – wie frühere rechte Gruppierungen – Eintagsfliegen bleiben und von CDU/CSU resorbiert werden können. Auch hier reflektiert Merkels „Willkommenskultur“ vom Sommer 2015 möglicherweise, neben der Fehleinschätzung der Durchsetzungskraft Deutschlands in der EU, auch eine Fehleinschätzung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse, genährt durch ein übergroßes Vertrauen in die Sonderrolle Deutschlands: Die Tatsache, dass in fast allen anderen europäischen Ländern im Zuge der Globalisierung fremdenfeindliche Parteien stark geworden sind, nicht aber in Deutschland, hatte möglicherweise die Illusion genährt, dass auch in Zukunft das CSU/CDU-Spiel „bad cop – good cop“ ausreichende Integrationskraft auf den nationalkonservativ-völkischen Flügel ausüben würde. Möglicherweise hatte auch der anfängliche Fehlschlag der AfD als völkisch-wirtschaftsliberale Missgeburt diese Illusion gestützt.
Aktuell scheint die Flüchtlingskrise sowohl in Kerneuropa als auch in Deutschland den Rechtstrend zu festigen: In Europa wird es zu einer weiteren Aushöhlung sozialer Standards kommen, unter dem Vorwand, die Attraktivität für arme Migranten beseitigen zu müssen. Ähnlich verhält es sich mit demokratischen Rechten: Zwecks „Gefahrenabwehr“ wird das Asylrecht eingeschränkt, der Polizeistaat ausgebaut, werden demokratische Rechte beschnitten, wird der Datenschutz ausgehöhlt. Die Etablierung einer politischen Kraft rechts von CDU/CSU wird deren Suprematie ironischerweise zunächst eher stabilisieren – das Modell der GroKo mit der Sozialdemokratie als Juniorpartner wird für lange Zeit „alternativlos“ werden, jedenfalls solange die neue rechte Gruppierung nicht als koalitionsfähig gilt. Auch in den Ländern scheint heute die Ablösung „rot-grüner“ Regierungen durch die Konservativen möglich. Und das dürfte so bleiben, da die dominierenden Kapitalfraktionen in Deutschland weiter auf Einwanderung setzen.
Trotzdem ist diese Konstellation nicht stabil. Sie funktioniert sicherlich, solange die Flüchtlings- und Migrationsfrage die tagespolitische Agenda bestimmt, weil auch sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaften den Konflikt zwischen den negativen sozialen Folgen von Migration einerseits und dem Interesse der exportorientierten Wirtschaft an Einwanderung von „Fachkräften“ andererseits reproduzieren. Die eindeutige Positionsnahme des DGB an der Seite der Unternehmerverbände für offene Grenzen belegt dies.
Das kann sich aber ändern. Dabei sind mehrere Optionen möglich. Gelingt der Rechten die Interpretation der sozialen Frage als Migrationsfrage, dann wäre eine weitere Rechtsentwicklung, bis hin zur Regierungseinbindung, nicht mehr ausgeschlossen. Sollten soziale Fragen aber als Klassenfragen wieder in den Vordergrund rücken, dann würde die in ihrer Juniorpartnerschaft eingerichtete Sozialdemokratie (und mit ihr Teile der Gewerkschaften) in dem Maße unter Druck geraten, wie ihre Integrationskraft nach links nachlässt: Es ist nicht sicher, dass jene ökonomischen Spielräume Bestand haben, die es in der Vergangenheit erlaubten, die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kräfte auf dem Weg von Kompromissen (Mindestlohn, „Rente mit 63“, Reallohnerhöhungen) vergleichsweise billig und konfliktarm zufrieden zu stellen. Ohne solche Zugeständnisse aber würde der Druck auf die Sozialdemokratie und die entsprechend orientierten Gewerkschaften zunehmen, würde deren Rolle als Juniorpartner intern und durch Druck von links in Frage gestellt werden. Sähe die Sozialdemokratie sich gezwungen, ihre Rolle als Juniorpartner aufzukündigen, könnte dies das politische System in eine Krise stürzen, deren Ausgang alles andere als absehbar wäre. Die Aufgaben der Linkskräfte in diesem Szenario sind jedenfalls eindeutig: Unbedingte Verteidigung der elementaren Menschenrechte (Asylrecht) und Solidarität mit den Flüchtlingen – die erst seit Köln verunsicherte „Willkommenskultur“ zeigt, dass solche Ansätze eine breite Basis haben können – und Kampf um die soziale Frage gegen den Versuch, sie von rechts zu besetzen und gegen die Migranten zu instrumentalisieren.
[1] US-Außenminister John Kerry bedankte sich im UN-Sicherheitsrat im Dezember letzten Jahres für das Zustandekommen der Syrien-Resolution 2254 nicht nur bei den vier anderen ständigen Mitgliedern, sondern auch bei „unserem nichtständigen Mitglied“ Deutschland. „Deutschland zählt, so kann man Kerrys Worte verstehen, unabhängig davon, ob es gerade dem Sicherheitsrat angehört oder nicht, inzwischen dazu“, kommentierte die FAZ. Sie zitiert Bundesaußenminister Steinmeier, der die BRD den „chief facilitating officer“, den Chef-Diplomaten Europas, und Europa „Amerikas engsten und wichtigsten Partner“ nennt. Diese Rolle spielte die BRD bei der Regulierung der Ukraine-Krise, im Fall Libyens, in der Iran-Diplomatie und jetzt auch im Fall Syriens. „Generell wird Berlin inzwischen seiner wirtschaftlichen Bedeutung auch außenpolitisch gerecht“, konstatiert die FAZ: „Es hat damit formell erreicht, worauf es formal auf absehbare Zeit vergeblich warten muss: Es gehört zum inneren Führungszirkel der Weltdiplomatie.“ Das schließt freilich auch das militärische burden-sharing ein: „Wer Verantwortung anstrebt, muss auch Verantwortung übernehmen.“ Dies zeige sich auch bei der Bewältigung der Kollateralschäden in der Flüchtlingskrise, denn „nicht zuletzt … aufgrund der Merkelschen Flüchtlingspolitik wird Berlin eine Mittlerrolle in Syrien zuerkannt“. Majid Sattar, „Unser nichtständiges Mitglied“, FAZ v. 22.12.2015.
[2] Dr. Wolfgang Schäuble, Europa zwischen Wunsch und Wirklichkeit, FAZ v. 25.1.2016.
[3] Schäuble rechtfertigt in diesem Kontext nochmals die Forderung eines „Grexit“. Zur Rolle des heute von Schäuble explizit bemühten Schäuble/Lamers-Papier von 1994: Griechenland: Aus Niederlagen lernen, in: Z 103 (September 2015), S. 11.