Kapitalismus und Migration

Subsahara Afrika – Brennpunkt von Flucht und Migration

von Peter Wahl
März 2016

Subsahara Afrika – das sind 49 Länder mit einer Bevölkerung von 973 Millionen Menschen.[1] Von der Fläche her ist die Region mit 24 Mio. Quadratkilometer fünfmal so groß wie die EU – und von einer mindestens ebenso großen Vielfalt – geografisch, klimatisch, ethnisch, kulturell etc.

Subsahara Afrika ist neben der Region Nordafrika/Nahost im globalen Vergleich zugleich auch am stärksten von Fluchtbewegungen betroffen. So betrug die Anzahl der vom UN Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) erfassten Flüchtlinge Mitte 2015 über 4 Millionen (s. Tab. 1). Das ist mehr als eine Verdopplung seit 2010.[2] Bei den Herkunftsländern der Flüchtlinge steht die Region mit 4,8 Millionen knapp hinter Nahost/Nordafrika.

Tab. 1: Regionale Verteilung von grenzüberschreitender Flucht

Tabelle siehe PDF!

Quelle: UNHCR: Online Statistics and Operational Data. Midyear Trends 2015. http://www.unhcr.org/pages/49c3646c4d6.html

Flucht ist durch personale Gewalt oder Androhung von personaler Gewalt oder eine vergleichbar existentielle Gefahr für Leib und Leben (Naturkatastrophen, Seuchen) definiert. Völkerrechtlich fällt Flucht unter die UN-Flücht­lingskonvention. Sie wird in der Literatur abgegrenzt gegenüber der Migration, die als „freiwilliger“ Wohnsitzwechsel für mindestens ein Jahr definiert wird, und in der Regel legal verlaufen sollte – was aber zum großen Teil nicht der Fall ist. In den meisten Fällen ist mit Migration eine langfristige, wenn nicht endgültige Bleibeperspektive verbunden. Natürlich ist die definitorische Abgrenzung von Flucht und Migration problematisch. Denn bei der „freiwilligen“ Emigration sind die so genannten Push-Faktoren wie Armut, Diskriminierung und politische Unterdrückung Formen struktureller Gewalt von enormer Inhumanität, auch wenn sie keine unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben sind.

Aber so wie es gute Gründe gibt, personale Gewalt von struktureller Gewalt zu unterscheiden, so ist die Differenz von Flucht und Migration ebenfalls bis zu einem gewissen Grade plausibel, auch wenn es im Einzelnen immer wieder Grauzonen geben wird.[3] So macht es einen Unterschied, ob Migration sich als langfristiger Prozess über viele Jahre oder gar Generationen hinzieht, wie dies die Armutsemigration aus Europa nach Amerika im 18. und 19. Jahrhundert als stetiger Strom war, oder ob aufgrund einer kurzfristig einsetzenden Katastrophe große Menschengruppen die Flucht ergreifen, wie gegenwärtig infolge des Krieges in Syrien. Ersterem eignet eine gewisse Organisiertheit bzw. es ist heute in vielen Ländern institutionalisiert und verregelt. Letzteres ist mit Chaos und viel höheren humanen Kosten verbunden, obwohl sich mit dem UN-Hochkommissariat und anderen teils halbstaatlichen Institutionen wie Rotes Kreuz, Roter Halbmond etc. und NGOs hier ebenfalls ein institutionelles Netz für Nothilfe gebildet hat.

Zu den Zahlen in Tab. 1 müssen noch die Fluchtbewegungen innerhalb eines Landes (sog. Internally displaced persons – IDPs) hinzu gerechnet werden, die das UNHCR für Mitte 2015 mit 9,6 Millionen Menschen angibt. Allerdings handelt es sich dabei nur um offiziell registrierte Flüchtlinge. Da Flucht innerhalb eines Landes vielfach Möglichkeiten bietet, sich auch ohne offiziellen Flüchtlingsstatus durchzuschlagen, gibt es hier eine hohe Dunkelziffer.

Von den 29 Ländern, die vom Problem der Binnenflucht betroffen sind, hat Subsahara Afrika mit 13 Ländern den höchsten Anteil. Insgesamt führt das UNHCR in der Kategorie Binnenflüchtlinge, weltweit 34 Millionen Menschen, wovon allerdings allein auf Syrien und Irak 11 Millionen entfallen.

Natürlich sind innerhalb Subsahara Afrikas die Verhältnisse sehr unterschiedlich. Es gibt Länder und Regionen, vor allem im südlichen Teil des Kontinents, wo wenige Fluchtbewegungen bestehen, und es gibt dramatische Brennpunkte. Tabelle 2 zeigt eine Auswahl von besonders spektakulären Fällen, sei es dass es sich um Zielländer handelt, die ein große Zahl von Menschen aufnehmen (müssen), sei es dass es sich um Länder handelt, aus denen besonders viele flüchten, oder die viele Binnenflüchtlinge verzeichnen.

Tab. 2. Brennpunkte von Fluchtbewegungen in Afrika (Juni 2015)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: UNHCR: Online Statistics and Operational Data. Midyear Trends 2015. http://www.unhcr.org/pages/49c3646c4d6.htmlFür die Bevölkerungsdaten: World Bank, Online Data Base.http://data.worldbank.org/indicator/SP.POP.TOTL/ countries?display= default; Eigene Zusammenstellung.

Als erste Botschaft aus den Statistiken lässt sich festhalten, dass Subsahara Afrika im globalen Vergleich ein Brennpunkt der Fluchtproblematik ist, wobei der größte Teil des Dramas sich innerhalb der Region abspielt. Dies festzuhalten ist für die aktuelle politische Diskussion hierzulande von Belang, weil angesichts globaler Zahlen oft versucht wird den Eindruck zu erwecken, dass große Menschenmassen sich auf Europa zubewegen bzw. dies in Zukunft tun würden. Die historische Erfahrung mit Flucht und Migration zeigt, dass mit wenigen Ausnahmen (darunter die europäische Auswanderung nach Amerika und Australien) Flucht und Migration primär regional ablaufen.

Geringe Emigration in die Industrieländer

Die Flüchtlingskatastrophen Schwarzafrikas finden bei uns selten den Weg in die Schlagzeilen. Umso mehr ist die Einwanderung in die Industrieländer und hier vor allem in die EU im Focus der Aufmerksamkeit. Die spektakulären Bilder von Afrikanern, die versuchen, die riesigen High Tech Grenzzäune der spanischen Enklaven von Ceuta und Melilla zu übersteigen, sind zum Inbegriff der „Festung Europa“ geworden.

Tab. 3:Ranking Bestand Einwanderer aus Subsahara Afrika in OECD 2011

Tabelle siehe PDF!

Quelle: OECD 2015

Dabei zeigen die Statistiken, dass die Zahl der Menschen aus der Region, die in die Industrieländer kommen – sei es als Flüchtlinge, sei es als Migranten – schon immer viel geringer war als die rassistische Optik suggeriert. So betrug in den OECD-Ländern der Bestand an Migranten (= „freiwillige“ Einwanderer) aus Subsahara Afrika 2011 in Großbritannien 1,15 Millionen, womit das Land Spitzenreiter unter den Industrieländern ist. Es folgen die USA mit 1,05 Mio. und Frankreich mit 0,83 Mio.[4] Zusammen entfallen auf die drei Spitzenreiter 60 Prozent (s. Tab. 3).

Tab. 3 zeigt ein Muster, an dem die neben den Push-Faktoren zweite grundlegende Determinante von Migrationsprozessen deutlich wird: die Rolle der so genannten Pull-Faktoren. Denn wohin sich Migrationsströme orientieren, hängt – nach der geografischen Nähe – von Faktoren ab, die Migrationsziele attraktiv machen. Dazu gehören sprachliche und kulturelle Affinitäten zwischen Herkunfts- und Zielland, sozio-ökonomische Attraktivität und die Existenz von Gemeinschaften früherer Einwanderer, einer Diaspora.

So hängt die große Bedeutung Großbritanniens für subsaharische Migration natürlich mit dem Englischen als führende Verkehrssprache zusammen sowie mit den kolonialen Bindungen des anglophonen Afrika aus der Zeit des britischen Empire. Hinzu kommen eigens etablierte postkoloniale Strukturen, wie das Commonwealth, dem 18 subsaharische Länder (von insgesamt 53) angehören. Dessen Bedeutung ist zwar mit der Zeit immer geringer geworden, aber für die Migration spielt es immer noch eine Rolle.

Überdies bestehen in großen Migranten-Communities zunächst informelle Netzwerkverbindungen in die alte Heimat, denen dann bald formelle folgen: Import-Export Unternehmen, Reisebüros, Banken etc., die auf die Beziehungen zwischen Diaspora und Herkunftsland spezialisiert sind. Ein entwicklungspolitisch besonders relevanter Aspekt dieser Beziehungen sind die regelmäßigen Geldüberweisungen (remittances) der Migranten in die alte Heimat, die dort in vielen Fällen zu einem makroökonomisch bedeutenden Faktor werden. Eine Weltbankstudie, die sich speziell mit der Bedeutung von remittances für Subsahara Afrika befasst, kommt für 2010 zu dem Ergebnis, dass etwa 40 Milliarden USD geflossen sind, wobei zusätzlich eine große Dunkelziffer angenommen wird.[5] Die gesamte Entwicklungshilfe für Subsahara Afrika betrug im gleichen Jahr dagegen nur knapp 28 Milliarden USD.[6]

So wie für das englischsprachige Afrika gilt für das frankophone Afrika, dass Frankreich als starker Pull-Faktor auf seine ehemaligen Kolonien wirkt. Auch dass die USA angesichts einer afro-amerikanische Bevölkerung von ca. 40 Millionen Menschen ebenfalls über starke Pull-Faktoren für Subsahara Afrika verfügen, ist evident. Ähnliches gilt für Portugal und Belgien mit ihren ehemaligen Kolonien Angola, Mosambik und Guinea Bissau bzw. Belgisch Kongo.

Bedeutung Subsahara Afrikas für die Migration
nach Deutschland

Da Deutschland nur kurze Zeit über koloniale Territorien in Subsahara Afrika verfügte – Togo, Kamerun, Namibia (Deutsch Südwestafrika) und Tansania (Deutsch Ostafrika) – die nach dem Ersten Weltkrieg dem britischen und französischen Kolonialbesitz zugeschlagen wurden, bestehen in Deutschland keine spezifischen Pull-Faktoren. Auch die Zahlen des Bundesamtes für Migration (BAMF) bestätigen diesen Befund (Tab. 4). Demnach liegt unter den zehn bedeutendsten Herkunftsländern mit 2,5 Prozent erst an achter Stelle ein subsaharisches Land, nämlich Eritrea. Demgegenüber beträgt der Anteil syrischer Flüchtlinge 35,9 Prozent.[7]

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 2014 in Deutschland 374.000 Menschen aus Subsahara Afrika, die selbst noch in Afrika geboren sind. Das sind bei einer Gesamtbevölkerung von 80,9 Millionen gerade einmal 0,46 Prozent. Gemessen an der Gesamtzahl der hier lebenden Einwanderer, die das BAMF für 2014 angibt, sind es 3,6 Prozent.[8] Lediglich die Immigration aus Lateinamerika und Nordamerika ist noch geringer.

Tab. 4: Immigration nach Deutschland, Bestand nach Herkunftsregionen 2014

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Statistisches Bundesamt https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund/Tabellen/MigrationshintergrundStaatsangehoerigkeit.html

Migranten aus Subsahara Afrika sind in der Mehrzahl Männer, obwohl die Anzahl der Frauen zunimmt. Unter den Männern dominieren wiederum die unter 30-jährigen.[9] Eine Besonderheit der subsaharischen Migration ist der hohe Anteil von hoch qualifizierten Migranten wie Ingenieuren und Akademikern. 2011 erreichte sie in den OECD-Ländern eine Million. Subsahara Afrika hatte damit mit 13 Prozent die höchste Quote aller Herkunftsregionen. Dies verweist auf einen sehr ambivalenten Aspekt, nämlich den so genannten Brain Drain. Die Abwanderung dieser Gruppe entzieht der Region in überdurchschnittlichem Maße Entwicklungspotential.[10]

Fluchtursache Krieg und Bürgerkrieg

Migration ist so alt wie die Menschheit. Vor der neolithischen Revolution, die den Ackerbau und die Sesshaftigkeit hervorbrachte, war nomadische Wanderung sogar die Regel. Seit Beginn der Sesshaftigkeit entfiel das Motiv, umherziehen zu müssen, um sich ernähren zu können. Wenn dann dennoch Wanderung stattfindet, sind die Ursache die in der Geschichte der Migration immer wiederkehrenden Push-Faktoren: die Lebensgrundlagen verschlechtern sich. Das kann als relativ langsamer und schleichender Prozess geschehen, etwa durch Bevölkerungswachstum, mit dem die wirtschaftliche Entwicklung nicht Schritt hält. Auch ökologische Veränderungen, wie Wüstenbildung, Mangel an Süßwasser etc. sind oft solche schleichenden Prozesse.

Dann gibt es plötzliche Verschlechterungen der ökonomischen Lage, z.B. durch Überschwemmung, Sturmfluten, Vulkanausbrüche oder – in jüngerer Zeit – Börsencrashs mit daraus folgenden großen Wirtschaftskrisen wie 1928 oder 2008. Migration nimmt dann oft die Form von rascher Flucht an. Weitere Kategorien von Push-Faktoren sind Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus. sowie die Diskriminierung von bestimmten Gruppen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, religiöser, sexueller Orientierung und politische Verfolgung.

In Subsahara Afrika finden wir alle diese Push-Faktoren. So ist beispielsweise die Sahelzone mit ihren periodischen Hungersnöten Opfer der Ausdehnung der Sahara nach Süden. Die Desertifikation ist ein seit Jahrhunderten ablaufender Prozess, der sich aus komplexen Wechselwirkungen zwischen sozialen Prozessen – Entvölkerung durch Sklaverei mit nachfolgendem Verfall der Landwirtschaft, Überweidung, Entholzung etc. – und physikalischen, biologischen und klimatischen Prozessen ergibt.

In anderen Fällen ist die Gemengelage zwischen Ressourcenkonflikten und ethnischen und religiösen Gegensätzen die Quelle von Kriegen und Bürgerkriegen. Ein regelrechter Klassiker aus jüngerer Zeit ist der Sudan. Nachdem das Land 1956 die Unabhängigkeit von britischer Kolonialherrschaft erreicht hatte, kämpfte ab 1983 eine Befreiungsbewegung für die Unabhängigkeit des Süd-Sudan. Grundlagen des Konflikts: die brisante Mischung aus den Widersprüchen zwischen dem arabisch-islamisch geprägten Norden und den vom Christentum, bzw. lokalen Religionen geprägten Süden, sowie beträchtliche Rohstoffressourcen, darunter Uran und Öl, die vorwiegend im Süden konzentriert sind.

Die phasenweise zum Bürgerkrieg ausartenden Konflikte führten 2011 zu einer politischen Beilegung, als unter formaler Führung der UNO und starkem Druck der USA ein Unabhängigkeitsreferendum im Süd-Sudan stattfand, bei dem 99 Prozent der Südsudanesen für die Unabhängigkeit stimmten. Allerdings ist der Süd-Sudan trotz Unabhängigkeit nicht zur Ruhe gekommen. Es bestätigt sich die alte Regel: Was unterdrückte Völker an der Fremdherrschaft hassen, ist nicht die Herrschaft, sondern das Fremde. Seit 2013/14 wird entlang von Clangrenzen bewaffnet um die Führung des Landes gekämpft. Konsequenz sind Instabilität, Bandenwesen und massive Menschenrechtsverletzungen.

Viele der ethnischen Konflikte gehen auf die Grenzziehung durch die Kolonialherren zurück. So wurden z.B. bei der Berliner Konferenz 1884/85 die Grenzen Subsahara Afrikas ausschließlich nach den Interessen der Kolonialherren gezogen. Betroffen war eine Region, die die heutigen Staaten Angola, Äthiopien, Burundi, Gabun, Kamerun, Kenia, Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Malawi, Mosambik, Ruanda, Sambia, Somalia, Süd-Sudan, Tansania, Uganda und Zentralafrika ganz oder zum Teil umfasst. Zwar hat es auch vor der Kolonialära in Afrika Krieg, Bürgerkrieg, Sklaverei und Unterdrückung gegeben, aber die kolonialen Praktiken haben den Kontinent seither in einem Maße geprägt, dass ein Großteil der aktuellen Konflikte noch immer Folgen des Kolonialismus’ sind. An vorderster Stelle steht dabei die Schwäche des Staates.

Sozio-ökonomisch weit abgeschlagen

Subsahara Afrika ist praktisch bei allen Indikatoren für menschliche und wirtschaftliche Entwicklung das globale Schlusslicht. Stellvertretend für viele sei hier auf den Human Development Index – HDI verwiesen. Demnach befinden sich 2014 von 43 Ländern in der untersten Kategorie Low Human Development 33 aus Subsahara Afrika. Auf den letzten 25 Plätzen des globalen Rankings stehen mit Ausnahme von Haiti (163) und Afghanistan (171) nur subsaharische Länder.[11]

22 Länder der Region werden vom IWF als fragile Staaten d.h. Länder mit schwacher, versagender, zerfallender oder gescheiterter Staatlichkeit eingestuft.

Der HDI wird jährlich vom Entwicklungsprogramm der UNO (UNDP) ermittelt und fasst folgende Indikatoren zusammen: Lebenserwartung, Einschulungsquote, tatsächliche Schulzeit und Pro-Kopf-Einkommen (in Kaufkraftparität). Das Ranking erfasst 188 Länder.

Leider ist dies keine Momentaufnahme, sondern Dauerzustand. Zwar gibt es seit der großen Entkolonialisierungswelle vor 50 Jahren durchaus auch Fortschritte. Die Millennium Development Goals wurden zwar nicht erreicht, vor allem nicht beim zentralen Ziel der Halbierung der absoluten Armut, aber die Alphabetisierungsquote hat sich deutlich erhöht, Mütter und Säuglingssterblichkeit sind zurückgegangen, Verbesserungen gibt es bei der Trinkwasserversorgung u.a.m.[12] An der Tatsache aber, dass Subsahara Afrika im Vergleich zu anderen Regionen zurückfällt, vor allem gegenüber den Aufsteigern in Asien, ändert dies nichts.

In den Nullerjahren dieses Jahrhunderts schien es, als ob sich endlich die Wende anbahnen würde und der Kontinent ähnlich wie Asien oder Lateinamerika den Take-Off schaffen würde. Subsahara machte mit beträchtlichen Wachstumsraten auf sich aufmerksam (s. Tabelle 5).

Tab. 5: Subsahara Afrikas Realwachstum des BIP (Veränderungen in Prozent)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: IWF (2015): Regional Economic Outlook. Subsahara Afrika. Dealing with Gathering Clouds. Washington

* Schätzung; ** Angola, Botswana, Burkina Faso, Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Equatorial Guinea, Gabun, Ghana, Guinea, Kamerun, Liberia, Mali, Namibia, Niger, Nigeria, Sambia, Sierra Leone, Südafrika, Tansania, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Zimbabwe; *** Äthiopien, Elfenbeinküste, Ghana, Kenia, Mauritius, Nigeria, Ruanda, Sambia, Senegal, Südafrika, Tansania, Uganda.

Während das Wachstum für die Gesamtregion in der gesamten Periode über dem weltweiten Durchschnitt lag, sieht das Bild differenzierter aus, wenn man sich die einzelnen Ländergruppen ansieht. Dann wird deutlich, dass das hohe Wachstum vor allem von Rohstoffexporten, und hier wiederum von Erdöl angetrieben wurde. Der Exportboom ist inzwischen nicht nur vorbei, sondern angesichts der besonderen Verwundbarkeit der Region wird der Absturz des Ölpreises die Ölexporteure, darunter das bevölkerungsreichste Land des Kontinents, Nigeria, noch härter treffen als andere Regionen. Die Wachstumserwartungen in der Weltwirtschaft für die kommenden Jahre erlauben keinen Optimismus, zumal die Phase des Rohstoffbooms nicht dazu genutzt wurde, die Wirtschaft zu diversifizieren und die Industrialisierung anzuschieben. Denn: „Rohstoffexporte können zu hohem, aber nicht zu nachhaltigem Wachstum führen“, wie ein Report der UNCTAD feststellt.[13]

Die Gruppe, der der IWF den Aufstieg zum Schwellenland zutraut, scheint auf den ersten Blick besser dazustehen. Doch auch hier hängen die beiden größten Volkswirtschaften, Nigeria und Südafrika, an der Rohstoffnadel, während Kenia und Ruanda von ethnischen Konflikten und Terrorproblemen (s.u.) betroffen sind. So macht Öl 90 Prozent der Exporterlöse Nigerias aus. Die Staatseinnahmen werden 2016 um mindestens 40 Prozent fallen – und das in einem Land, wo von den 175 Mio. Einwohnern 100 Millionen unter der Armutsgrenze leben.

Die wirtschaftlichen Aussichten für die nächsten Jahre sehen also eher düster aus. Dementsprechend werden die ökonomischen Push-Faktoren für Flucht und Migration also weiterhin, wenn nicht sogar verstärkt ihre Wirkung entfalten.

Freilich darf auch hier nicht unterschlagen werden, dass der Westen eine Mitverantwortung für die Misere trägt. Neben den asymmetrischen Beziehungen als Folge des Kolonialismus und neokolonialer Praktiken haben die Strukturanpassungsprogramme, die der IWF in den Neunziger Jahren verordnete, um die damalige Schuldenkrise zu überwinden, ebenso wie die bilateralen Handels- und Investitionsabkommen der EU den meisten Ländern eine Wirtschaftspolitik aufoktroyiert, in der das „freie Spiel der Märkte“, Weltmarktintegration, Privatisierung und Exportorientierung die grundlegenden Dogmen waren. Industriepolitik war wie jede Intervention in die Märkte als staatlicher Dirigismus verpönt. Obwohl schon Westeuropa im 19. Jahrhundert wie auch Japan und die „asiatischen Tiger“ in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gerade durch staatliche Steuerung und Protektionismus den Aufstieg zum Industrieland schafften – ganz zu schweigen von China – wurden afrikanische Länder immer wieder in die neoliberalen Sackgassen gezwungen.„Die entwickelten Länder sind dort, wo sie jetzt stehen nicht durch jene Politik und Institutionen hingekommen, die sie den Entwicklungsländern heute empfehlen.“ Als ob die früheren Aufsteiger denen, die jetzt nachfolgen wollen, die Leiter wegtreten.[14]

Leider sind die Aussichten, die Lage zum Besseren zu wenden, nicht gut. Denn zu den bestehenden Problemen treten neue Herausforderungen hinzu. Die drei wichtigsten sind Terrorismus, demografische Entwicklung und Klimakrise.

Idealer Nährboden für Terrorismus

Einer Aufstellung von Wikipedia zufolge gab es zwischen 2010 und Januar 2016 bei djihadistischen Anschlägen 423 Todesopfer auf Zivilpersonen in Subsahara Afrika. Schwerpunkte, wenn auch beileibe nicht die einzig betroffenen, waren Somalia, Kenia und Nigeria.[15]Dabei geht es nicht nur um punktuelle Anschläge. Organisationen wie Boko Haram kontrollieren inzwischen ganze Regionen im Norden Nigerias. Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation in vielen Staaten der Region findet der Djihadismus einen hervorragenden Nährboden. Die generelle Schwäche staatlicher Strukturen lässt ein machtpolitisches Vakuum zu, das die Djihadisten ausnutzen. Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik kommt zu der Einschätzung, dass die djihadistischen Organisationen einer perspektivlosen Jugend ein attraktives Angebot machen, „in dem sie die historisch und persönlich erlittenen Traumata wie Kolonialismus, Unterdrückung und Vertreibung mit einbeziehen und dem kämpfenden ‚Mujahid’ erlauben, sich selbst als Helden darzustellen.[16]Hinzu kommen die materiellen Privilegien der Gewaltökonomie. Religiöse oder ideologische Momente spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Es wäre naiv zu glauben, dass das Problem militärisch gelöst werden könnte. Der Hydra wachsen immer neue Köpfe nach. Ein geradezu klassisches Beispiel ist Mali. Im Zuge der französischen Intervention 2013 zog sich Al Qaida im islamischen Maghreb (Aqmi) in die Sahara zurück. Frankreich hat danach mit seinen Truppen einen Riegel von Mali über Niger bis zum Tschad gelegt, sodass Aqmi heute neutralisiert ist.[17]

Aqmi hat sich inzwischen zerstreut, ein Teil hat sich den Kämpfen in Libyen angeschlossen. Stattdessen hat sich im ersten Halbjahr 2015 im Süden Malis eine Front de Libération du Massina gebildet. Laut FAZ (13.1.2016, S. 6), die sich dabei auf französische Geheimdienstquellen beruft, handelt es sich um einen Ableger von Ansar al Dine, einer aus Tuareg bestehenden Terrorgruppe aus dem Norden Malis. Die Mitglieder der neuen Organisation rekrutieren sich vorwiegend aus Männern der Minderheit der Peul. Die Peul fühlen sich von der Mehrheit der südmalischen Bevölkerung diskriminiert. Ziel der neuen Befreiungsfront ist die Errichtung eines Kalifats in Westafrika. Der jüngste Anschlag mit Geiselnahme in Burkina Faso zeigt, dass sich das Phänomen wie ein Flächenbrand ausbreitet.

Demografie und Klimawandel – neue Herausforderungen

Den jüngsten Schätzungen der UNO zufolge wird die derzeitige Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden Menschen bis 2050 auf 9,2 Milliarden wachsen und könnte 2100 11,2 Milliarden erreichen.[18]

Der größte Anteil am Zuwachs entfällt auf Subsahara Afrika. Demnach wird die Bevölkerung dort bis 2050 auf 2,1 Milliarden ansteigen, was etwas mehr als eine Verdoppelung im Vergleich zu heute ist. 2100 könnten dann sogar 3,9 Milliarden erreicht werden, was fast wiederum auf eine Verdoppelung hinausliefe.[19] Die Bevölkerungskarte des Planeten wird in etwas mehr als einer Generation neu geschrieben. 2050 wird Äthiopien 188 Millionen Einwohner haben, so viel wie gegenwärtig Brasilien. Bevölkerungen über 100 Millionen wird es auch in Uganda geben (102), in Tansania (137) und der Demokratische Republik Kongo (195). Nigeria wird Mitte des Jahrhunderts mit 399 Millionen die USA überflügeln. 2100 soll Nigeria gar mit 750 Milliarden nach Indien und China das Land mit der drittgrößten Bevölkerung werden.

Es versteht sich, dass ein so starkes und rasches Bevölkerungswachstum eine entsprechende wirtschaftliche Entwicklung erfordert. Millionen von jungen Menschen werden auf den Arbeitsmarkt drängen. Die derzeit noch in mehreren Teilen der Region prekäre Ernährungssicherheit müsste um Größenordnungen erhöht werden.

Die Dringlichkeit wirksamer Lösungen wird schließlich noch dadurch unterstrichen, dass alle einschlägigen Studien zu dem Ergebnis kommen, dass Subsahara Afrika besonders hart vom Klimawandel betroffen ist. Insbesondere der Anstieg des Meeresspiegels wird an den Küsten der Region überdurchschnittlich stark sein. Aber auch der Temperaturanstieg wird, da er ohnehin schon von einem hohen Niveau ausgeht, höchst negative Konsequenzen haben.[20]

Die OECD konstatiert in einer Studie zu den ökonomischen Folgen des Klimawandels mit dem Stichjahr 2060 jährliche Kosten der Erwärmung in Höhe von 3,8 Prozent des BIP. Das ist der höchste Wert für alle Regionen.[21] Subsahara Afrika bezahlt den Preis für den von den Industrieländern verursachten Klimawandel.

Perspektiven?

Der entscheidende Hebel zur Überwindung von Flüchtlingskrisen ist die Beseitigung der Fluchtursachen. In der entwicklungspolitischen Diskussion wird das schon seit vierzig Jahren so gesehen. Allerdings ohne Effekt. Im Gegenteil, die Push-Faktoren haben zugenommen und werden weiter zunehmen. Durch die Globalisierung von Information und Kommunikation und die Erleichterung und Verbilligung von Mobilität haben gleichzeitig die Pull-Faktoren an Bedeutung gewonnen. Auch das Tempo der Prozesse hat eine historisch neue Qualität erreicht.

Migration und Flucht innerhalb und aus Subsahara Afrika werden deshalb dauerhaft ansteigen. Kurzfristige Problemlösungen wird es nicht geben, es sei denn, dass plötzlich planvolles und kooperatives Handeln in großem Stil in internationalem Rahmen möglich würde.

Aber das funktioniert schon bei der Regulierung der Finanzmärkte oder dem Klimawandel nicht. Notwendig wären Programme vom Typus des Marshall-Plans – freilich viel umfangreicher und ohne dessen geopolitische Intentionen. Die Pfadabhängigkeiten im Norden wie in Subsahara Afrika scheinen jedoch zu verfestigt, als dass auch nur halbwegs optimistische Szenarien eine Chance bekämen. Auch in Europa deutet vieles darauf hin, dass sich als Generallinie Festung Europa vorerst durchsetzt – vielleicht mit ein paar Hintertürchen für gelenkte und erwünschte Einwanderung aus wirtschaftlichen und demografischen Motiven. Damit wird aber allenfalls etwas Zeit gekauft. Früher oder später werden die Probleme umso härter auf Europa zurückschlagen.

[1] The World Bank. Online Data Base.
http://data.worldbank.org/indicator/SP.POP.TOTL/countries?display=default Letzter Zugriff: 14.1.2016.

[2] The World Bank (2011): Leveraging Migration for Africa: Remittances, Skills, and Investments. Washington. http://siteresources.worldbank.org/EXTDECPROSPECTS/Resources/476882-1157133 580628/ AfricaStudyChapter1.pdf.

[3] Die Definitionsprobleme werden zusätzlich durch den juristischen Status verkompliziert, der Migranten durch die Aufenthaltsländer und -regionen zugewiesen wird, und der von Land zu Land verschieden sein kann. Das führt zu enormen Problemen bei der statistischen Erfassung von Migration. Neben großen Datenlücken gibt es Probleme mit der Vergleichbarkeit. Es gibt zwar Versuche, international verbindliche Standards zu entwickeln, aber die Arbeiten stecken noch in den Anfängen.

[4] ECD (2015): Connecting with Emigrants. A Globhttp://www.oecd-ilibrary.org/development /data/oecd-international-development-statistics/oda-official-development-assistance-disbursements_ data-00069-enal Profile of Diasporas 2015, Paris.

[5] The World Bank (2011): Remittance Markets in Africa. Washington D.C., S. xv.

[6] OECD online data: ODA Official development assistance: disbursements http://www.oecd-ilibrary.org/development/data/oecd-international-development-statistics/oda-official-development-assistance-disbursements_data-00069-en.

[7] Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (2016): Aktuelle Zahlen zu Asyl, S. 8 http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.pdf?__blob=publicationFile.

[8] Ebd.

[9] OECD 2015, S. 361.

[10] Ebd.

[11] http://hdr.undp.org/sites/default/files/hdr_2015_statistical_annex.pdf.

[12] MDG Gap Task Force Report 2015 (2015): Taking Stock of the Global Partnership for Development. New York http://www.un.org/millenniumgoals/pdf/MDG_Gap_2015_E_web.pdf.

[13] UNCTAD (2011): Economic Development in Africa. Report 2011. Fostering Industrial Development in Africa in the New Global Environment. New York/Genf, S. 4.

[14] Chang Kaa-Jun (2003): Kicking away the Ladder. Development Strategy in Historical Perspective. London/New York, S. 2.

[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Terroranschlägen.

[16] Steinberg, Guido/Annette Weber (2015): Jihadismus in Afrika. Lokale Ursachen, regionale Ausbreitung, internationale Verbindungen, S. 9.

[17] Die Bundeswehr ist dort bisher mit 150 Mann an einem so genannten „Friedens-Überwachungseinsatz“ beteiligt. Wenn der Bundestag zustimmt, wovon auszugehen ist, wird die Truppe „aus Solidarität“ mit Frankreich auf 650 Soldaten erhöht.

[18] UNO (2015): World Population Prospects. 2015 Revision. New York http://esa.un.org/unpd/wpp/Download/Standard/Population/.

[19] Ebd..

[20] Intergovernmental Panel on Climate Change (2015): Climate Change 2014. Synthesis Report. Genf, S. 71.

[21] OECD (2015): The Economic Consequences of Climate Change. Paris, S. 53.