„Bei der Migration geht es nicht nur um die Ausbeutung armer Menschen. Es geht auch um Menschen, die weggehen, um sich zu emanzipieren, die im Namen ihrer Freiheit weggehen. Die aus einer Menge anderer Gründe weggehen[1]“
Fatou Diome
Migration und Flucht sind eine der größten Herausforderungen der Gegenwart in der Welt. Neu sind diese Phänomene nicht. Flucht und Migration hat es in der Geschichte der Menschheit immer schon gegeben. Beispiele dafür gibt es in verschiedenen Teilen der Welt. Auch die jüngste Geschichte ist voller Bespiele von Flucht und/oder Migration großen Ausmaßes. In vielen Gegenden der Welt, wie etwa im Ostkongo, in Darfur oder in Teilen von Somalia ist die Flüchtlingsexistenz für Millionen Menschen zum Teil seit mehreren Jahrzehnten zur „Normalität“ geworden. Ein Land wie Tansania hat seit seiner Unabhängigkeit immer schon mit Geflüchteten zu tun gehabt: aus Südafrika, aus Simbabwe, aus Ruanda und Burundi und aus dem Kongo. Südafrika selbst ist seit der Abschaffung der politischen Apartheid zu einem Anziehungspol für Migranten und Geflohenen aus verschiedenen Teilen Afrikas, aber auch aus Europa[2] und aus den USA geworden. Zum Höhepunkt der politischen Krise in Simbabwe lebten bis zu 800 000 Menschen aus diesem Land in Botswana, einem Land, dessen Bevölkerung sich auf 1,8 Millionen EinwohnerInnen beläuft. Angola, Mosambik und Äquatorial-Guinea, drei afrikanische rohstoffreiche Länder, die – gemessen am Wirtschaftswachstum – bis zum jüngsten Verfall der Rohstoffpreise Boom-Phasen erlebt haben, haben in den Jahren zwischen 2008 und 2014 viele Migranten aus ihren von Krisen geplagten ehemaligen Kolonialmächten Portugal und Spanien aufgenommen. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Zuspitzung der Migrations- und Fluchtproblematik, mit der Europa in den letzten Monaten konfrontiert ist, nichts Neues und Überraschendes ist. Auch andere Regionen der Welt waren schon und sind immer noch betroffen. Aber dass diese Problematik jetzt so intensiv diskutiert wird, obwohl die Länder der EU nicht im gleichen Ausmaß betroffen sind wie der Libanon, Jordanien oder die Türkei, hat damit zu tun, dass die europäische Migrationspolitik gescheitert ist. Worin besteht diese Migrationspolitik, die jetzt gescheitert ist? Dieser Frage werde ich mich auch zuwenden, aber dieser Artikel soll in erster Linie einer Perspektivenerweiterung der Flucht- und Migrationsproblematik mit Blick auf Geschichte wie Gegenwart gewidmet sein und die mit dieser Perspektivenerweiterung eng zusammenhängende Frage nach Fluchtursachen und deren Bekämpfung diskutieren.
Flucht und Migration: begriffliche Klärungen
Vorab eine begriffliche Klärung, die im Hinblick auf die in Deutschland heftig diskutierte Unterscheidung zwischen Migranten und Flüchtlingen einerseits und sogenannten Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen andererseits von zentraler Bedeutung ist.
Wer sich über Geflüchtete wundert, hat einige Entwicklungen verschlafen
Im Folgenden ist sowohl von Flucht als auch von Migration die Rede. Die Grenzen zwischen erzwungener und freiwilliger Migration sind fließend. Migration wird als Oberbegriff benutzt und als solcher bezeichnet er alle Wanderungsbewegungen, unabhängig von den Beweggründen, die sozialer, politischer, wirtschaftlicher, klimatischer oder ökologischer Natur sein können. In der systematischen Ursachenforschung werden Push-Faktoren von Pull-Faktoren unterschieden. Zu den ersten, die die Bedingungen in den Herkunftsländern beschreiben, zählen z.B. Krieg, politische Tyrannei und gewaltsame innerstaatliche Konflikte, Armut, wirtschaftliche Not und ungleiche Einkommensverhältnisse, Überbevölkerung und Erwerbslosigkeit, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen und schließlich die Erosion traditioneller Weltanschauungen und Lebensstile und die daraus resultierenden Generationenkonflikte vor allem in ländlichen Gebieten. Zu den so genannten Pull-Faktoren gehören die Anreize in Aufnahmeländern, wie z.B. größere politische und wirtschaftliche Stabilität als in den Herkunftsländern, Nachfrage nach Arbeitskräften, höhere Verdienstmöglichkeiten und der Zugang zu besseren Bildungs- oder Forschungsmöglichkeiten. Angesichts dieser längst bekannten Push- und Pull-Faktoren in unterschiedlichen Regionen der Welt ist es nicht überraschend, dass die Weltgemeinschaft in der Gegenwart mit massiven Bewegungen von Menschen konfrontiert ist. Ein Blick auf die Gegenwartsgeschichte zeigt einen Anstieg bewaffneter Konflikte, wachsende Unsicherheit und den Verlust der Lebensgrundlagen in einigen Regionen der Welt, während andere Weltregionen Stabilität und die damit verbundenen Vorteile für die Weiterentwicklung genießen. Nicht nur die momentan in der Welt wütenden Kriege, sondern auch der Blick auf die Trends der letzten Jahre im Bereich von Friedens-, Entwicklungs- und Handelspolitik zeigt deutlich, dass diejenigen, die sich über eskalierende Migrationsbewegungen wundern, diese Entwicklungen entweder nicht wahrgenommen oder nicht richtig eingeschätzt haben. Für all diese Bereiche ist in den letzten Jahren ein – gemessen an ihren Versprechungen – „Versagen“ der internationalen Politik charakteristisch, und das aktuelle Migrations- und Flüchtlingsdrama ist das Ergebnis dieses Versagens. Hierauf wird noch detaillierter eingegangen. Dass diejenigen, die vor allem in den letzten fünf Jahren mit Gewalt und Perspektivlosigkeit konfrontiert worden sind, sich auf den Weg machten und machen, um ihr Recht auf Leben zu bewahren, ist zutiefst menschlich und das normalste Verhalten, was alle Menschen an den Tag legen würden, wenn sie mit solch einer Gewalt und Perspektivlosigkeit konfrontiert werden, unabhängig von ihrer Herkunft und von den Lebensbedingungen, unter denen sie bis zu dieser Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen gelebt haben.
Flucht und Migration verlaufen zunächst regional
Wichtig ist zu erwähnen, dass im Fall von bewaffneten Konflikten viele Menschen zunächst nichts anderes suchen, als sich in Sicherheit zu bringen. Dafür erweisen sich die friedlichen Nachbargegenden in ihren eigenen Ländern und in den Nachbahrländern und -regionen als die unmittelbarsten Ziele, um den Kampfhandlungen zu entkommen. Keiner verlässt so gerne seine Heimat, die mit Vertrautheit verbunden ist. Daher die Ansiedlung der Menschen, deren Leben bedroht ist oder deren Lebensperspektiven vernichtet worden sind, zunächst in den nahegelegensten friedlichen Regionen mit der Hoffnung, jeder Zeit in die Heimat zurückkehren zu können. Deswegen tragen immer die Nachbarn der von Konflikten betroffenen Regionen die „Hautplast“, wenn Konflikte oder fehlende Überlebensmöglichkeiten Menschen zur Flucht zwingen. So gesehen sind viele der in Europa über Flüchtlinge geführten Debatten deutlich zu relativieren. Bei allem Respekt für eine Lage, die sich, zugegeben, seit Anfang 2015 zugespitzt hat und trotz anhaltendem Trend ist Europa sehr weit davon entfernt, die Hauptlast in Sachen Flüchtlinge und Migranten übernehmen zu müssen. Wenn sich ein Konflikt verselbstständigt, wie das in Syrien der Fall ist, erst dann verschwindet die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr in die Heimat. Dann beginnen angesichts der Überfüllung in den Nachbarregionen diejenigen, die sich das sowohl finanziell als auch physisch leisten können, in andere Regionen zu wandern. Was Europa in den letzten Monaten erlebt, resultiert aus diesen progressiven Bewegungen der Menschen auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten. Je weiter eine wohlhabende Region von den Konfliktregionen entfernt ist, desto weniger Flüchtlinge und Migranten werden diese erreichen können, weil die wenigsten der Auswanderungswilligen sich das sowohl von der physischen als auch von der finanziellen Belastung her leisten können.
Von Invasion kann nicht die Rede sein: Ein Blick auf die eigene Geschichte tut Not
Auch von Bedeutung ist eine Rückkoppelung der aktuellen Diskussionen über Flucht und Migration in Europa mit der Migrationsgeschichte der Europäerinnen und Europäer: Anders als Europäer, die mit Waffengewalt Amerika, Afrika und Ozeanien eroberten, kommen die heutigen Flüchtlinge und Migranten nicht mit Waffen in der Hand. Es handelt sich um Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen auf den Weg gemacht haben und in ihrer überwiegenden Mehrheit die von den Aufnahmegesellschaften etablierten Asylverfahren durchlaufen wollen. Von daher ist es übertrieben, von Invasion zu sprechen, wie dies ein Teil der Öffentlichkeit in Deutschland und Europa suggeriert. Von Invasion war schon die Rede in Europa, lange bevor sich Menschen aus Syrien, aus dem Irak und aus Afghanistan in größeren Zahlen in Bewegung nach Europa gesetzt hatten. Dieser Diskurs bezog sich auf Menschen, die aus afrikanischen Ländern kamen. Es war von Invasion die Rede, obwohl die binnenafrikanischen grenzüberschreitenden Migrationen erheblich größer waren und sind als die von Afrika nach Übersee. Der Anteil der Afrikaner an den Zuwanderern in die europäischen OECD-Länder machte bis vor fünf Jahren kaum mehr als 10 Prozent aus. Dennoch erweckte die Berichtserstattung über die Bootsflüchtlinge aus West- und Nordafrika den Eindruck, dass Menschen afrikanischer Herkunft die Hauptgruppe von MigrantInnen darstellen. Ein Blick auf die Statistiken in einem Grenzland wie Spanien zeigte bis 2012, dass der Anteil der Menschen afrikanischer Herkunft unter den nicht europäischen MigrantInnen nur etwa 16 Prozent betrug, wogegen 60 Prozent aus Lateinamerika und 24 Prozent aus anderen Kontinenten kamen. Auch unter den neuen Geflüchteten ist der Anteil der Menschen aus Afrika sehr gering, was mit den oben bereits erwähnten Gründen wie Entfernung und Transportkosten zu tun hat. Aber die Mediatisierung von Migranten und Geflüchteten afrikanischer Herkunft u.a. ermöglicht es, entsprechend den vorherrschenden Afrika-Bildern[3] in der deutschen Öffentlichkeit, zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen zu unterscheiden. Geflüchtete aus Afrika werden in der Regel als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet, weil die Länder[4], aus denen diese Menschen kommen, als sichere Herkunftsländer gelten. Inwiefern diese Länder sicher sind, ist eine relevante Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Unerlässlich ist aber die Frage nach der Plausibilität der Unterscheidung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Diese Frage berührt unmittelbar die Auseinandersetzungen um Fluchtursachen.
Fluchtursachenbekämpfung: Was ist damit gemeint?
Eine verschleiernde Wahrnehmung der Fluchtursachen
Angesichts der oben thematisierten und von einem Teil der Öffentlichkeit als Invasion wahrgenommenen und diskutierten Migrations- und Fluchtbewegungen in die EU sprechen fast alle politischen Kräfte von der Notwendigkeit, Fluchtursachen zu bekämpfen. Selbst konservative Politikerinnen und Politiker tun dies. Aber was ist damit gemeint? Ein Blick auf die seit Anfang 2014 ins Leben gerufene Sonderinitiative des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ verrät die Logik, die hinter der Rhetorik der Fluchtursachenbekämpfung steckt. Mit dieser Initiative, so die Selbstdarstellung, wolle „das BMZ dazu beitragen, dass Konflikte erst gar nicht entstehen, eskalieren und Menschen zur Flucht zwingen.“ Gleichzeitig wolle es helfen, die negativen Auswirkungen von Flüchtlingsbewegungen für alle Beteiligen abzumildern.[5] Weiter heißt es: „Das Aktionsfeld ‚Bekämpfung von Fluchtursachen’ dient der Prävention von gewaltsamen Konflikten, der Förderung friedlicher Lösungen und der Vermeidung von Eskalationen. Ziel ist es, zu verhindern, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Dazu zählen Maßnahmen, die die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort verbessern: Initiativen, die politische und wirtschaftliche Stabilität fördern, Sicherheit schaffen und den sozialen Zusammenhalt unterstützen. Gewaltsame Konflikte zwingen Millionen Menschen weltweit dazu, ihre Heimat zu verlassen. Um die Entstehung und Eskalation von Konflikten zu vermeiden, bedarf es vor allem politischer Lösungen. Zur Stärkung politischer und friedlicher Lösungen unterstützt die Sonderinitiative Flüchtlinge rechtsstaatliche Institutionen in den Krisenländern. Gezielte Maßnahmen sollen die politische und wirtschaftliche Stabilität vor Ort stärken. Schnell wirksame Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramme beispielsweise können den Betroffenen zeitnah bessere Perspektiven in ihren Herkunftsländern bieten. Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts innerhalb der Bevölkerung ist ebenfalls ein zentrales Ziel der Sonderinitiative Flüchtlinge. Dazu wird ein konstruktiver und gewaltfreier Umgang mit Konflikten gefördert, die lokalen, regionalen und nationalen Friedensakteure werden durch Vernetzung systematisch gestärkt. Hierbei kooperiert das BMZ eng mit der Europäischen Union und setzt sich auf internationaler Ebene für die Entwicklung innovativer Maßnahmen und Instrumente zur Friedensbildung ein. Der Zivile Friedensdienst (ZFD) entsendet in die Konfliktregionen weltweit Fachleute zur Unterstützung von gewaltfreier Konfliktbearbeitung.“[6] Auffällig in dieser Sonderinitiative ist, dass „Fluchtursachenbekämpfung“ irgendwo in den „Krisenregionen“ stattfinden muss. Das BMZ stellt Geld zur Verfügung und fördert einen konstruktiven und gewaltfreien Umgang mit Konflikten. Somit wird suggeriert, dass Deutschland über Lösungskompetenzen verfügt, um „den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung“ in diesen Krisen zu stärken. Dies allein zeigt eine kolonialgeprägte Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Wichtiger zu betonen ist jedoch, dass diese bewusste Fixierung auf Aufgaben, die wo anders gemacht werden sollen, den Blick von den realen strukturellen Ursachen von Zerstörungen und Umwälzungen, die zu Fluchtbewegungen führen, ablenkt. Dies aber sind Ursachen, welche von hier aus tatsächlich beeinflusst werden könnten und sollten. Damit macht die Sonderinitiative „Fluchtursachenbekämpfung“ nichts anderes als ein Recycling von Maßnahme-Vorschlägen, die seit Jahrzehnten zu Recht als Reparaturmaßnahmen in übergeordnetem Interesse wirtschaftlicher und politischer Ziele kritisiert werden. Diese Logik wird so weit getrieben, dass sogar die Stabilisierung von Lebensbedingungen von Geflüchteten in neuen Aufnahmeregionen wie in den Flüchtlingslagern im Libanon oder in Jordanien als Fluchtursachenbekämpfung dargestellt wird.
Der Zusammenhang z.B. zwischen der europäischen Handelspolitik und den Flucht- und Migrationsbewegungen wird dagegen nicht thematisiert. Ganz zu schweigen davon, dass aus diesem Zusammenhang Konsequenzen gezogen und im Aktionsplan berücksichtigt würden. Deswegen ist es wichtig daran zu erinnern, dass die herrschende Wirtschaftsordnung mit ihrer Agenda der Liberalisierung des Handels für die Entwicklungs- und Schwellenländer zerstörerisch ist: Die europäische Fischereiwirtschaft fischt in Westafrika die Fischgründe ab und zerstört sie. Da wird verständlich, dass bisherige Fischer nun auswanderungswillige Menschen unterstützen und transportieren. Die Überschwemmung der Märkte mit subventionierten Billigprodukten wie Milch, Tomaten, Schweine- und Hühnerfleisch und Zwiebeln aus Europa macht die Existenzgrundlagen der Bauern in vielen afrikanischen Ländern zunichte. Es sind u.a. die Opfer dieser aggressiven Politik um Absatzmärkte, die sich nach anderen Überlebensmöglichkeiten umsehen müssen. Sie versuchen sie dort zu finden, von wo die Kräfte der Zerstörung kommen. Wenn Entwicklungsminister Müller faire Handelsbeziehungen mit Afrika fordert und davon spricht, dass sich unser Wohlstand in Europa, in Deutschland zu einem erheblichen Teil auf die wertvollen Ressourcen und die Ausbeutung dieser Ressourcen in afrikanischen Ländern gründet; wenn er sogar feststellt dass wir für diese Ressourcen keine angemessenen Preise bezahlen würden und dass dies schäbig sei[7], weil die Menschen in Afrika davon nicht leben könnten, so bleibt dies eine rein populistische Deklaration, solange diese Analyse keinen Einzug in die konkrete Gestaltung konkreter Programme wie der hier diskutierten Sonderinitiative mit ihrem schön klingenden Namen findet. Gerade der Bergbausektor ist zentral im Zusammenhang mit Fluchtursachenbekämpfung, weil die Erschließung und Ausbeutung der Bodenschätze an vielen Orten die Lebensräume verschmutzt und zerstört, so dass der Boden für die Landwirtschaft unbenutzbar und das Wasser der Flüsse vergiftet wird. Die von den Bergbaukonzernen angehäuften Gewinne werden nach Europa, nach Kanada, nach Australien oder in die USA transferiert, Umweltverschmutzung und Armut bleiben vor Ort. Der in einigen afrikanischen Ländern Uran abbauende AREVA-Konzern ist nur ein Beispiel von vielen. Ein weiteres Beispiel ist Lonmin, jener britische Konzern, der in Südafrika Platin produziert und BASF als Hauptkunden hat. Die Sozial- und Umweltbilanz dieses Unternehmens ist katastrophal, aber das Geschäft mit dem wertvollen Metall stört das nicht. Läge Südafrika nicht so weit weg von Großbritannien und Deutschland entfernt, hätten wahrscheinlich auch viele Einwohnerinnen und Einwohner vom Platinum-Belt an die Tür dieser Länder angeklopft. Genauso wie es Menschen aus Somalia tun, wo westliche Firmen den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung ausnutzen, um ungehindert Giftmüll an den Küsten dieses Landes zu deponieren, nachdem die Fischbestände schon illegal ruiniert wurden. Und diese Liste der zerstörerischen Einflussnahme kann fast unendlich verlängert werden.[8]
Von der Notwendigkeit, strukturelle Fluchtursachen zu berücksichtigen
Indem die Verantwortlichen in Europa diese Faktoren in ihrer vermeintlichen Analyse der Fluchtursachen außer Acht lassen und entsprechend handeln, leisten sie dem Reparaturbetrieb Vorschub, während die Zerstörung weitergeht. Dies hat sich noch beim EU-Afrika-Flüchtlingsgipfel in Valletta auf Malta Mitte November bestätigt. Auch dort war von Fluchtursachenbekämpfung die Rede. Herausgekommen ist ein Aktionsplan, der einen Hilfsfonds vorsieht, um den Kampf gegen illegale Migration, den Aufbau von Transitzentren entlang der Fluchtrouten und die Möglichkeiten legaler Wege in die EU zu finanzieren. Um die Interessen Europas und seine Image als Retter der Armen zu bewahren, wurde systematisch verschwiegen, dass die lang anhaltenden Angriffe auf die Ökonomien und die Gesellschaften Afrikas – von den Strukturanpassungsprogrammen der 1980er und 1990er Jahre über die Liberalisierungswellen im Rahmen der Welthandelsorganisationen (WTO) bis zu den aktuellen Entwicklungen im Handelsbereich – mitverantwortlich sind für die Migrations- und Flüchtlingsproblematik. An all diesen Angriffen ist die EU aufgrund ihrer Machtstellung bei den internationalen Finanzinstitutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds und der WTO maßgeblich beteiligt.
So gesehen muss Fluchtursachenbekämpfung vor der eigenen Haustür beginnen. Das bedeutet, dazu beizutragen, die Handelsvorteile gerecht zu gestalten und die internationale Finanzarchitektur, welche Kapitalflucht[9] und Verarmung der afrikanischen Länder begünstigt, radikal zu verändern. Von Fluchtursachen zu sprechen und ein Handelssystem zu ignorieren, das sich wie Krieg gegen die Armen auswirkt und – wie jeder Krieg – Flüchtlinge produziert, kann nur mit einer gestörten Selbst- und Fremdwahrnehmung erklärt werden. Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) zum Beispiel, die die EU mit fünf afrikanischen regionalen Zusammenschlüssen verhandelt hat, sind geradezu ein Teppich für die Flüchtlinge von morgen, weil sie durch die Gefährdung der Ernährungssouveränität, die De-Industrialisierung, den Verlust der staatlichen Einnahmen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen der kleinen Produzentinnen und Produzenten, die sie verursachen, noch mehr junge Menschen zur Flucht zwingen werden.
Eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit Fluchtursachen macht die von einer gewissen Öffentlichkeit so beliebte Unterscheidung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen lächerlich. In beiden Kategorien steckt der Handel: Der Handel mit Waffen, der in Deutschland mit Hermesbürgschaften sogar staatlich abgesichert wird, führt auf direkten oder indirekten Wegen zu Fluchtbewegungen. Und der Handel mit Waren und Dienstleistungen, die an sich lebensfördernd sind, trägt unter den Voraussetzungen ungerechter Handelsstrukturen zu Flucht und Migration bei. Ohne die anderen Faktoren zu vernachlässigen, die oft mit internen Gegebenheiten zu tun haben, sind so genannte Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge auch ein Resultat einer bestimmten Art, Handel zu treiben. Eine Trennung zwischen beiden Kategorien ist von den Ursachen her nur schwer verständlich.
Im Fall von Afrika ist es notwendig hinzuzufügen, dass die Beziehungen zwischen Europa und diesem Kontinent seit jeher von einer großen Asymmetrie der Machtverhältnisse geprägt sind. So waren sie in der Kolonialzeit, und sie sind es auch heute. Die formellen Unabhängigkeiten der 1960er Jahre, deren 50jähriges Jubiläum vor fünf Jahren gefeiert und sehr kontrovers diskutiert wurde, haben zu ein paar geringfügigen Verschiebungen beigetragen; eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zwischen Afrika und Europa haben sie nicht eingeleitet. Diese Asymmetrie der Machtverhältnisse spiegelt sich auch in den europäischen Migrationskonzepten wider, die sich letztlich immer um zwei grundlegende Strategien drehen: Gefahrenabwehr, wobei es fast immer unklar bleibt, worin denn die Gefahr eigentlich besteht, und Eigeninteressen, auch wenn diese selten offen kommuniziert und stattdessen mit altruistischen Floskeln verschleiert werden.
Beide Strategien münden in die gleiche Abschottungspolitik. In der dominanten Migrationspolitik spiegeln sich die bestehenden Machtverhältnisse wider. Und diese sind aufgrund der krassen Asymmetrie der Machtverhältnisse von Arroganz der Mächtigen geprägt, die sich erlauben, Bewegungsfreiheit selektiv anzuwenden, Armut strukturell zu erzeugen und die Opfer der strukturellen Gewalt auszugrenzen. Die Botschaft soll lauten: Freiheit ist für die Mächtigen und sie müssen sich ihrer Verantwortung nicht stellen. Dort, wo ihre eigene Bewegungsfreiheit und die ihrer Waren, ihres Kapitals und ihrer Dienstleistungen im Geringsten gefährdet wird, mobilisieren sie alle Kräfte zu deren Verteidigung, wie die vielen Kriegseinsätze weltweit zeigen. An den somalischen Küsten, an denen ein wichtiger Handelsweg durch Piraten gefährdet wurde, wurden schnell alle Armeen der Industrienationen versammelt, um die Bewegungsfreiheit der Waren zur Bewahrung der Lebensstandards in westlichen Industrienationen zu gewährleisten.
Die Arroganz Europas Migrationspolitik wurde offenbar, als europäische Entscheidungsträgerinnen und -träger begannen, von „gesteuerter Migration“ zu sprechen. Diese implizierte eine Einteilung von Menschen in Kategorien wie „nützlich“ und „unnütz“. Der ehemalige Präsident von Mali und der Kommission der Afrikanischen Union, Alpha Omar Konaré, nannte die gesteuerte Migration Handel mit Menschen. Noch deutlicher brachte der Reggae-Musiker Alpha Blondy aus der Elfenbeinküste die Problematik der ausgewählten Migration auf den Punkt: „Dieser Gedanke der ausgewählten Zuwanderung, diese Einwanderungs-Apartheid, versetzt uns in die Sklavenzeiten zurück, in denen die Kaufleute die Stärksten aussuchten, die mit den besseren Zähnen, um sie in den Westen zu schicken (…). Solange die afrikanischen Länder nicht stabil sind, solange unsere Rohstoffe beschlagnahmt werden, wird es immer Menschen geben, die keine andere Wahl haben, als nach Frankreich zu gehen. Und kein Gesetz wird sie daran hindern.“ [10] Als „nützlich“ in den Kategorien der EU wurden Akademikerinnen und Akademiker in den Arbeitsbereichen definiert, in denen die EU-Länder Engpässe an Fachkräften haben. Diese Menschen wurden nicht nur toleriert, wenn sie es geschafft hatten, nach Europa zu kommen, sondern sie werden auch umworben, wobei einige der EU-Länder für diese Zielgruppen als unattraktiv erscheinen und viele der Angebote an die Angehörigen der sogenannten armen Länder ungenutzt blieben. Als „unnütz“ wurden diejenigen eingestuft, die wenig qualifiziert waren oder deren Qualifikationen auf den europäischen Arbeitsmärkten wenig gefragt sind. Gegen die „Unnützen“ wurden Mauern errichtet, aber nicht im Sinne einer unberührbaren Festungsmauer, sondern im Sinne von Filtration. Anders ist es nicht zu erklären, dass auf der Plantagen in Spanien und Italien, an den Stränden von Malta und auf Baustellen vieler anderer europäischer Länder Migranten zu finden sind, die von Einheimischen ungeliebte Aufgaben verrichten. Sie stehen als billige Arbeitskräfte dem europäischen Markt zur Verfügung. Die durch die Grenzschutzagentur Frontex bekämpften Migranten waren und sind somit Bestandteil der Strategien zur Produktionskostensenkung von Teilen der europäischen Wirtschaft.
Der Kapitalismus braucht Menschenbewegungen, aber nur in einem von seinen Lenkern bestimmten Tempo und nach einem ihnen genehmen Kriterienkatalog. Lange haben die Verantwortlichen in Europa geglaubt, dass ihre Vorstellungen funktionieren würden, Bewegungsfreiheit für Kapital, Waren und Dienstleistungen zu verteidigen und zugleich „Filter“ gegen Menschen zu errichten, die sich auf den Weg machten, um den Konsequenzen dieser Liberalisierung zu entkommen. Die Verantwortlichen in Europa hatten es lange geschafft, ihre Migrationspolitik zu externalisieren und damit die verheerenden Konsequenzen ihrer Entscheidungen von den Bürgerinnen und Bürgern Europas fernzuhalten. Die neuesten Migrations- und Fluchtbewegungen von Menschen nach Europa zeigen nicht nur ein Scheitern der Abschottungspolitik, sondern auch ein Scheitern der Nord-Süd-Politik insgesamt. Daher die befremdliche Art, in der von Fluchtursachen und ihrer Bekämpfung gesprochen wird.
[1] http://www.africavenir.org/de/veranstaltung-details/cal/event/detail/2015/07/15/ fatou_ diome_ migration_to_europe_as_freedom_and_emacipation_reading_discussion/view-list%7Cpage_id-812.html
[2] Wobei die Auswanderung von Menschen aus Europa nach Afrika nicht neu ist. Frau Dlamini-Zuma erinnerte daran in einem Interview am Rande des EU-Afrika-Flüchtlingsgipfels in Valletta Mitte November: „Afrika war Aufnahmeort europäischer Migration lange vor der Kolonialzeit. Während des zweiten Weltkrieges und danach haben sich europäische Flüchtlinge und Asylsuchende bis zum südlichsten Gipfel Afrikas etabliert, um Handel zu treiben oder um sich einfach niederzulassen. Sie waren willkommen. Damals wurde nicht von Krise europäischer Migranten in Afrika gesprochen.“ Nkosazana Dlamini-Zuma: http://www.rfi.fr/afrique/2min/20151112-sommet-migrations-malte-urgence-agir-consensus-europe-afrique-tragedie
[3] Das meist verbreitete ist Afrika als Kontinent der Ks: Krankheiten, Krisen und Katastrophen.
[4] Die meisten afrikanischen Flüchtlinge kommen aus Eritrea, Somalia, Äthiopien, Gambia, Nigeria und aus nordafrikanischen Ländern.
[5] https://www.bmz.de/de/themen/Sonderinitiative-Fluchtursachen-bekaempfen-Fluechtlinge-reintegrieren/deutsche_politik/index.html
[6] Ebd.
[7] http://www.tagesschau.de/inland/mueller-ausbeutung-afrika-101.html. Vgl: „20 Prozent der Weltbevölkerung in den Industriestaaten verbrauchten 80 Prozent der globalen Ressourcen. Der Großteil davon stamme aus Entwicklungsländern, im Falle der EU aus Afrika. Es werde keine Entwicklung in den afrikanischen Ländern geben ohne dass Europa auch faire Preise dafür zahle, so Müller. Entwicklungsländer brauchten faire Handelsbeziehungen, nicht freie Märkte.“ Müller sagte wörtlich: „Freier Markt heißt das Recht des Stärkeren. Haben wir als Europäer und Deutsche das Recht, afrikanische Staaten auszubeuten?“„
[8] Christian Fuchs hat in Z 103 (September 2015, S. 84ff) auf die mit unglaublichen Arbeitsverhältnissen moderner Sklaverei verbundene Ausbeutung der Ressourcen verschiedener afrikanischer Länder für die Herstellung modernster Produkte der Informations- und Kommunikationstechnologie hingewiesen (besonders bei der bergbaulichen Gewinnung von Metallen).
[9] http://www.woek.de/web/cms/upload/pdf/kasa/publikationen/mabanza_2013_afrika_seit_drei_ jahrzehnten_glaeubiger_des_nordens.pdf
[10] http://www.alphablondy.info/article-331/