Migration existiert, seit es Menschen gibt; im Zeichen der viel beschworenen Globalisierung avanciert sie aber zu einer großen Herausforderung für die Aufnahmegesellschaft. Globalisierung und Zuwanderung bilden nämlich kein harmonisches Wechselverhältnis, sondern ein konfliktreiches Spannungsfeld, das Albert Scharenberg (2006, S. 76) auf vier Ebenen verortet: „Ökonomisch betrachtet erfordert die Globalisierung eine wachsende internationale Migration, technologisch gesehen ermöglicht sie die verstärkte Mobilität und Kommunikation, sozial beschleunigt sie die Migration durch wachsende Ungleichheiten. Politisch aber wird die Migration im Zuge der Globalisierung zunehmend begrenzt.“ (Hervorh. im Original; Ch.B.) Struktur- und Legitimationsprobleme moderner Gesellschaften kulminieren im öffentlichen Streitfall der Migration. Ursula Birsl (2005, S. 77 f.) erklärt dies damit, dass nationalstaatliche Grenzen überschreitende Wanderungsprozesse die unterschiedlichen Bezüge und Konstitutionen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Räume offenbaren. Migration als „Teilphänomen von Globalisierung“ symbolisiere wie diese einen Kontroll- bzw. Steuerungsverlust des Nationalstaates.
Darüber hinaus bilden Integration und Inklusion von Menschen anderer Herkunft mittlerweile eine Kernaufgabe, die der National- als Sozialstaat übernimmt. „Migration wird zum Medium öffentlicher Kommunikation von Problemen moderner Gesellschaften. Dies ist der Grund, warum Migration heute solche Resonanz als Problem findet. Die Skandalisierung von Migration ist weniger darauf zurückzuführen, daß Migranten Leid erfahren (das war schon immer so), sondern darauf, daß Migration sich dafür eignet, die Reproduktionsprobleme moderner Gesellschaften neu zu denken.“ (Eder 1998, S. 72)
Bei der neoliberalen Modernisierung handelt es sich um ein gesellschaftspolitisches Großprojekt, das weltweit noch mehr soziale Ungleichheit schaffen soll, als es sie aufgrund der ungerechten Verteilung von Ressourcen, Bodenschätzen, Grundeigentum, Kapital und Arbeit ohnehin gibt (vgl. hierzu: Butterwegge u.a. 2016). Armut ist kein „(un)sozialer Kollateralschaden“ dieser Form der Globalisierung, vielmehr im Gesellschaftsmodell des Neoliberalismus, der nach einem leistungsorientierten Entgelt für abhängig Beschäftigte und einer stärkeren Lohnspreizung ruft, durchaus funktional: Sie führt Geringverdiener(inne)n vor Augen, dass sie mehr leisten (d.h. nach neoliberaler Lesart: ökonomischen Erfolg haben) müssen, und illustriert (noch) Besserverdienenden, was ihnen droht, wenn sie den Anforderungen einer Hochleistungs- und Konkurrenzökonomie nicht mehr genügen sollten.
Wohlfahrtsstaat und Zuwanderung – ein Widerspruch?
Durch den hegemonialen Globalisierungsdiskurs als ideologische Legitimationsbasis des Neoliberalismus, das Projekt des „Umbaus“ vieler Gesellschaftsbereiche nach dem Vorbild des Marktes sowie die Verabsolutierung des Wettbewerbs- und Leistungsgedankens ist der moderne Wohlfahrtsstaat – die soziale Errungenschaft der kapitalistischen Moderne schlechthin – stark unter Druck geraten. Seit der Jahrtausendwende vergeht kaum ein Tag, ohne dass er in den Medien als überholt, zu teuer bzw. dysfunktional dargestellt und zwecks Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des „Wirtschaftsstandortes D“ seiner Reform, genauer: seiner neoliberalen Restrukturierung, das Wort geredet wird (vgl. hierzu: Butterwegge 2014).
Kritik am Sozialstaat und an (einer angeblich unkontrollierten) Zuwanderung dominiert den öffentlichen Diskurs über die Gesellschaftsentwicklung und -politik in allen westlichen Industrieländern so stark, dass folgende Behauptungen fast schon zum Alltagsbewusstsein gehören: Aufgrund seiner übertriebenen Großzügigkeit bei der Leistungsgewährung locke der Wohlfahrtsstaat nicht nur viele „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Ländern der sog. Dritten Welt an, sondern verführe auch Einheimische zur missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen (vgl. kritisch dazu: Wogawa 2000).
Vergleicht man die Inanspruchnahme wohlfahrtsstaatlicher Leistungen seitens einheimischer und zugewanderter Untersuchungskohorten, stellt man jedoch bereits nach etwa fünf Jahren eine Konvergenz der gezahlten Geldbeträge fest, die zunächst als Integrationshilfe wirken. Wenn länger ansässige Ausländer/innen signifikant höhere Sozialleistungen beziehen, ist dies nicht etwa ihrer Nationalität bzw. Herkunft, vielmehr einer gegenüber deutschen Vergleichsgruppen problematischeren sozialen Zusammensetzung geschuldet. „Aufgrund der tendenziell günstigen demographischen Struktur der Zuwanderer – mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil Jüngerer und wenig Älteren – kann entsprechend davon ausgegangen werden, daß Zuwanderung auf lange Sicht das System der sozialen Sicherung tendenziell eher ent- als belastet.“ (Büchel u.a. 1997, S. 289)
Selbst durch „Illegale“ (Zuwanderer ohne Aufenthaltsrecht bzw. mit bloßer Duldung), deren Zahl besonders stark wächst, wenn sich ein wohlhabendes Land wie die Bundesrepublik Deutschland abschottet und die Möglichkeiten des legalen Aufenthalts beschneidet, wird das System der sozialen Sicherung älteren Untersuchungen zufolge kaum belastet (vgl. Röseler/Vogel 1993, S. 29; ergänzend: Vogel 1996). Umgekehrt kann die Bedeutung der Wirtschafts- und Sozialpolitik für die Durchsetzung einer demokratisch-humanistischen Zuwanderungs-, Integrations- und Minderheitenpolitik gar nicht überschätzt werden. Albert Statz (1993, S. 257) räumt ihr eine Schlüsselrolle auf diesem Gebiet ein, wenn er konstatiert: „Die politische Auseinandersetzung um die Einwanderungs- und Asylpolitik wird auf dem Terrain der Sozialpolitik entschieden.“
Konsequenzen neoliberaler Modernisierung: Dualisierung der Zuwanderung in Eliten- und Elendsmigration
Unter den bestehenden Herrschafts-, Macht- und Mehrheitsverhältnissen wirken Globalisierungsprozesse nicht nur als gesellschaftspolitische Spaltpilze, sie bergen vielmehr auch enormen sozialen Sprengstoff in sich. Die als neoliberale Modernisierung frontal gegen das Projekt sozialer Gleichheit gerichtete Spielart der Globalisierung führt zu Prekarisierungs-, Pauperisierungs- bzw. Polarisierungsprozessen in fast allen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat (vgl. hierzu ausführlicher: Butterwegge 2012). Genannt seien hier nur jene, die mit Wanderungsbewegungen korrespondieren:
- die soziale Polarisierung zwischen Zentrum und Peripherie, d.h. Metropolen und Entwicklungsländern, wie innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft;
- die Dualisierung des Prozesses transkontinentaler Wanderungen in Experten- bzw. Elitenmigration einerseits und Elendsmigration andererseits;
- die Ausdifferenzierung der Migrationspolitik in positive Anreize für Erstere sowie Restriktionen und negative Sanktionen für Letztere;
- die Spaltung der Städte, bedingt durch die soziale Marginalisierung und sozialräumliche Segregation von (ethnischen) Minderheiten.
Wanderungsbewegungen, denen unterschiedliche Motive zugrunde liegen, gibt es vermehrt, weil nicht nur die neuen Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien bessere Möglichkeiten hierfür bieten (vgl. Köppen 2000), sondern globale Probleme wie Umweltkatastrophen, Hungersnöte oder Epidemien einerseits und dadurch initiierte oder intensivierte Repressalien autoritärer Regime, Bürger- und Interventionskriege wie in Syrien, Afghanistan und dem Irak andererseits auch die (subjektiv wahrgenommene) Notwendigkeit dazu erhöhen. Allenthalben wird auf die Steigerung der weltweiten Mobilität und die Bedeutung des globalisierten Verkehrswesens für die Entstehung von Migrationsströmen hingewiesen (vgl. Müller-Schneider 2000, S. 111 f.), weniger häufig indes auf die im selben Maße zunehmenden Grenzkontrollen, Überwachungstechniken und anderen Restriktionen.
Petrus Han (2000, S. 63) diagnostiziert neben einer „Globalisierung der Migrationsbewegungen“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine „Diversifizierung der Migrationsformen“, worunter er die Arbeitsmigration, die Familienzusammenführung, die Flucht, den Auslandsaufenthalt von Studierenden, die Migration ethnischer Minderheiten sowie die „illegale“, irreguläre bzw. undokumentierte Zuwanderung versteht. Für Albert Kraler und Christof Parnreiter (2005, S. 338) hängen Migration und Globalisierung auf drei Ebenen zusammen: „Erstens beschleunigen die Globalisierungsdynamiken die Entwurzelung von Menschen in den Peripherien. Zweitens beseitigt die Formierung eines transnationalen Raums, der durch die globalen Bewegungen von Kapital, Gütern, Dienstleistungen, Informationen etc. geschaffen wird, Mobilitätsbarrieren. (...) Drittens bringt Globalisierung auch einen neuen Bedarf an marginalisierter Arbeitskraft in den Zentren hervor.“
Die soziale Spaltung der Weltgesellschaft löst neue Wanderungsprozesse aus und führt zu einer Spaltung der Migration wie der Migrant(inn)en (vgl. dazu: Schröer/Sting 2003; Butterwegge/Hentges 2009). Je mehr die sog. Dritte bzw. Vierte Welt im Globalisierungsprozess von der allgemeinen Wirtschafts- bzw. Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wird, umso eher wächst der Migrationsdruck, welcher Menschen veranlasst, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und gezielt nach Möglichkeiten der Existenzsicherung in ferneren Weltregionen zu suchen, was wiederum verschärfend auf die Einkommensdisparitäten zwischen den und innerhalb der einzelnen Gesellschaften zurückwirkt. Gleichzeitig werden soziale Zusammenhänge labiler und die Menschen gezwungenermaßen sowohl beruflich flexibler wie auch geografisch mobiler.
Neben die Migrationsform eines intentionalen, direkten und definitiven Wohnsitzwechsels, der in aller Regel einer prekären oder Notsituation im Herkunftsland geschuldet ist (Elends- bzw. Fluchtmigration), tritt eine neue Migrationsform, bei der sich Höchstqualifizierte, wissenschaftlich-technische, ökonomische und politische Spitzenkräfte sowie künstlerische und Sport-Prominenz heute hier, morgen dort niederlassen, sei es, weil ihre Einsatzorte rotieren, der berufliche Aufstieg durch eine globale Präsenz erleichtert wird oder Steuervorteile zum „modernen Nomadentum“ einladen (Eliten- bzw. Expertenmigration). Ludger Pries (2003, S. 115) hat in diesem Zusammenhang von „transnationaler“ bzw. „Transmigration“ als einem neuen Migrationstypus gesprochen: „Transmigranten zeichnen sich dadurch aus, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern für sie kein singulärer Vorgang ist, sondern zu einem Normalzustand und zu einer Normalitätserwartung wird, indem sich ihr gesamter Lebensraum pluri-lokal über Ländergrenzen hinweg zwischen verschiedenen Orten aufspannt.“
Migrationsprozesse lassen sich weder von den persönlichen Schicksalen der Betroffenen noch von den gesellschaftlichen Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen ablösen, die sie determinieren sowie ihr Ausmaß und ihre Richtung bestimmen. Wanderungsbewegungen als Folge des neoliberalen Umstrukturierungsprozesses auf der ganzen Welt zu betrachten heißt aber nicht zwangsläufig, die entwickelten Industrieländer als Opfer riesiger Flüchtlingsströme zu sehen, wie es fälschlicherweise häufig geschieht. Nach wie vor gilt, was Karl-Heinz Meier-Braun (2002, S. 173) so ausgedrückt hat: „Die weltweiten Migrations- und Asylprobleme spielen sich vor allem auf der südlichen Halbkugel ab.“
Ausdifferenzierung des Migrationsregimes: Anwerbung der „besten Köpfe“ und Flüchtlingsabwehr
Als „jüngstes Stadium des Kapitalismus“ ist die ökonomische Globalisierung durch eine umfassende, Zollschranken, Handelsbarrieren und Devisenkontrollen transzendierende Internationalisierung der Märkte gekennzeichnet, nicht aber durch eine Liberalisierung der Migrationspolitik. Vielmehr sind Maßnahmen neoliberaler Deregulierung, die den Abbau von arbeits- und sozialrechtlichen Schutzbestimmungen für abhängig Beschäftigte sowie baurechtlichen und ökologischen Auflagen für Unternehmen bezwecken, durchaus mit einer bürokratischen Überreglementierung der Zuwanderung vereinbar.
Mit den Wanderungsbewegungen erfährt die Zuwanderungspolitik in den westlichen Wohlfahrtsstaaten eine Ausdifferenzierung: Die Elendsmigration folgt, unterliegt jedoch auch ganz anderen Gesetzen als die Eliten- bzw. Expertenmigration. Erstere stößt nicht nur auf offene Ablehnung in der öffentlichen Meinung, wie etwa die alarmistisch geführte Asyldebatte zu Beginn der 1990er-Jahre zeigte, sondern gilt als Existenzbedrohung für den „eigenen“ Wirtschaftsstandort. Letztere wird zwar im Standortinteresse akzeptiert, aber je nach Konjunktur- bzw. Arbeitsmarktlage limitiert. Globalisierung macht die Grenzen also nicht durchlässiger, bietet Menschen, die als „Edelmigrant(inn)en“ bevorzugt ins Land gelassen, wenn nicht gar gelockt werden, jedoch winzige Schlupflöcher. „Die Grenzen sind offen, aber nur für die Gebildeten und Erfolgreichen.“ (von Lucke 2000, S. 911)
Wenn man so will, ist ein duales und selektives Migrationsregime entstanden: Die „guten“ (sprich jungen und möglichst hoch qualifizierten) Zuwanderer werden angeworben bzw. willkommen geheißen, die „schlechten“ (sprich älteren und niedrig qualifizierten) Zuwanderer systematisch abgeschreckt. „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ dienen als Instrumente einer Migrationspolitik, die ökonomischen bzw. demografischen Interessen folgt, wiewohl die Menschenrechte in Sonntagsreden zur obersten Richtschnur des Handelns erklärt werden. Während man gut ausgebildete Fach- bzw. Führungskräfte aus aller Herren Länder zu gewinnen sucht, gilt unerwünschte Armutsmigration bzw. Flucht als „Standortnachteil“, den man tunlichst zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren sucht. Zu- bzw. Einwanderung wird fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen Nutzens für das in erster Linie als „Wirtschaftsstandort“ begriffene Aufnahmeland bewertet. Sabine Dreher (2003, S. 14) weist zudem darauf hin, „dass Immigration im ‚neoliberalen Projekt‘ zwar einerseits Wettbewerbsfähigkeit sichern soll und daher weiterhin notwendig ist. Andererseits dient Immigrationspolitik auch dazu, die Handlungsfähigkeit des Staates zu beweisen, ohne dass das ‚neoliberale Projekt‘, die Herstellung eines globalen Marktes, dabei gefährdet wird. Restriktive Migrationspolitik, die auf bewusste Ausgrenzung des ‚Anderen‘ hinausläuft, sichert die Legitimation des Staates.“
Weniger gut (aus)gebildete Migrant(inn)en sowie politisch Verfolgte stoßen auf eine Mauer des Misstrauens, bürokratischer Abwehr und institutioneller Diskriminierung (vgl. z.B. Gomolla/Radtke 2009). In den Massenmedien werden die Vorteile einer transnationalen Experten- und Elitenmigration meistens mit den negativen Konsequenzen von Armutswanderungen und Fluchtbewegungen für das Aufnahmeland kontrastiert. Die soziale Polarisierung der Zuwanderer spiegelt sich auch in der Migrationsberichterstattung deutscher Zeitungen und Zeitschriften wider (vgl. Butterwegge/Hentges 2006). Man darf eine Wechselwirkung zwischen diesem Medienecho und einer am ökonomischen Nutzwert der Zuwanderer orientierten Migrations- bzw. Integrationspolitik vermuten, denn beide schaukeln einander hoch: Ohne entsprechende Medienberichte über „massenhaften Asylmissbrauch“ und „ausländische Sozialschmarotzer“ hätte die Bundesregierung keinen scharfen Abschottungskurs betreiben können; Letztere wiederum leitete eben dadurch Wasser auf die Mühlen von Journalist(inn)en, die Horrorstories der genannten Art lancieren wollten.
In der aktuellen Flüchtlingsdiskussion verkehren sich scheinbar die Fronten: Wollen (national)konservative Kreise die Staatsgrenzen „dichtmachen“ und möglichst wenige oder gar keine Migrant(inn)en mehr aufnehmen, plädieren Unternehmer und ihre Verbände für eine Lockerung der bestehenden Zuwanderungsrestriktionen. James F. Hollifield (2003, S. 37) spricht von einem „liberalen Paradox“, weil man die Migration aus volkswirtschaftlicher Sicht positiv, unter Sicherheitsaspekten negativ bewertet: „Die ökonomische Logik des Liberalismus verlangt Offenheit, die politische und rechtliche Logik verlangen eher Abschottung.“ Obwohl oder gerade weil Neoliberale (viele, aber nicht alle) Zuwanderer als Gewinn bzw. Aktivposten für die eigene Volkswirtschaft begreifen, sie „vorurteilsfrei“ ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwerfen und ihre Arbeitskraft als „Humankapital“ betrachten, führt die „Herrschaft des Marktes“ zu weniger Humanität und bedingt den Abschied von moralischen Kategorien.
Gegenwärtig beschäftigen sich fast alle deutschen Massenmedien in monothematischer Eintönigkeit mit der „Flüchtlingskrise“ und dem „islamistischen Terrorismus“, zwischen denen oft genug eine doppelte Wechselbeziehung konstruiert wird: Einerseits löse der „Islamische Staat“ (IS) die Flüchtlingsströme mit aus, heißt es zu Recht, andererseits benutze er sie jedoch, um unerkannt gewaltbereite Untergrundkämpfer in die westlichen Industriegesellschaften einzuschleusen. Durch das zuletzt genannte Argumentationsmuster rückt der migrationspolitische Innen-außen-Gegensatz zwischen armen Herkunftsländern und dem reichen Aufnahmeland noch stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, wohingegen der soziale Oben-unten-Gegensatz ausgeblendet und folglich kaum mehr wahrgenommen wird, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland bereits seit geraumer Zeit vertieft (vgl. hierzu: Butterwegge 2012).
Ethnische Unterschichtung und sozialräumliche Segregation: Deutschland – eine zerrissene Republik
Deutschland ist ein Vierteljahrhundert nach der Vereinigung von BRD und DDR eine reiche, aber tief zerklüftete Gesellschaft: Mehr als hundert Milliardären, Zehntausenden von Multimillionären und einer Million Vermögensmillionären stehen inzwischen fast dreieinhalb Millionen überschuldete und 350.000 Haushalte gegenüber, denen jährlich der Strom abgestellt wird. Dass die Armut zur Mitte der Gesellschaft vordringt, sich dort bisweilen verfestigt und längst nicht mehr nur soziale Randgruppen verängstigt, schafft einen materiellen und mentalen Nährboden für rechtspopulistische Strömungen und Bestrebungen wie die Alternative für Deutschland (AfD) und die selbsternannten Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida).
Wie die Forderungen nach Aussetzung des seit dem 1. Januar 2015 geltenden Mindestlohns und nach völliger Aufhebung des Verbots der Leiharbeit für Asylbewerber sowie Geduldete (jetzt nach drei Monaten für ungültig erklärt, wenn es sich um Fachkräfte handelt) zeigen, missbrauchen Neoliberale und Wirtschaftslobbyisten die gegenwärtige Zuwanderung, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für eine Rückkehr zum unbeschränkten Lohndumping zu schaffen. Solch perfide Versuche, arme Deutsche gegen noch ärmere Flüchtlinge auszuspielen, bergen enormen politischen Zündstoff in sich, weil die Entrechtung von Asylsuchenden auch Leistungskürzungen für Einheimische nach sich ziehen und als Experimentierfeld für eine generelle Absenkung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland dienen kann.
Längerfristig bleibt die Einwanderung überwiegend mittelloser Flüchtlinge nicht ohne gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit in Deutschland. Bei unveränderten Macht- und Mehrheitsverhältnissen besteht sogar die Gefahr einer dauerhaften ethnischen Unterschichtung unserer Gesellschaft. Das gilt zumindest dann, wenn Geflüchtete nicht durch verstärkte Anstrengungen im Bereich von Bildung und Ausbildung sowie des Wohnungsbaus und der Stadtentwicklung vor Prekarisierungs- und Ghettoisierungsprozessen bewahrt werden, sondern die Dominanz rassistischer Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft dazu führt, dass sie arm bleiben und sozialer Ausgrenzung unterliegen.
Flüchtlingsarmut wird von den Massenmedien zwar häufig als individuelles Problem dargestellt oder ethnisiert, ist aber strukturell bedingt. Migrant(inn)en, die heute ihr Land verlassen und im Zuge der Globalisierung nach einer neuen Heimat suchen, sind nicht bloß mehrheitlich weniger betucht, sondern hierzulande auch selten in der Lage, sozial aufzusteigen. Denn ihnen drohen zumeist Stigmatisierung, Kriminalisierung und Marginalisierung. Zuwanderer gehören nur in wenigen Ausnahmefällen zu den Gewinner(inne)n eines Spaltungsprozesses, der längst die ganze Gesellschaft erfasst hat. „Migrantinnen und Migranten werden von sich abzeichnenden gesellschaftlichen Verarmungsprozessen vermutlich stärker betroffen sein, weil sie in Relation zu den Deutschen hinsichtlich ihrer strukturellen Integration weiterhin deutliche Defizite aufweisen.“ (Leibold u.a. 2006, S. 10)
Da es sich bei der Bundesrepublik in Bismarck’scher Tradition um einen Sozialversicherungsstaat handelt, hängt die Inklusion zuwandernder Personen ganz entscheidend von deren Integration auf dem Arbeitsmarkt ab (vgl. Schmähl 1995, S. 251). Zwar braucht die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen viel Zeit, hatte in der Vergangenheit dann aber meist Erfolg, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einer Untersuchung herausfand: „So belief sich der Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung von 15 bis 64 Jahren unter den Flüchtlingen im Zuzugsjahr durchschnittlich auf 8 Prozent. Nach fünf Jahren stieg der Anteil auf knapp 50 Prozent, nach zehn Jahren auf 60 Prozent und nach 15 Jahren auf knapp 70 Prozent.“ (Brücker u.a. 2015, S. 9)
Um die Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten zu fördern und möglichst zu beschleunigen, sollten die von der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern zurückgefahrenen Eingliederungsleistungen und Qualifizierungsmaßnahmen wieder einen größeren Stellenwert erhalten. Sonst droht die Zahl der Arbeitslosen und Bezieher/innen von Lohnersatz- bzw. Fürsorgeleistungen erneut stark zu steigen, nachdem man sie im Konjunkturaufschwung auch mittels statistischer Taschenspielertricks deutlich gesenkt hatte. Hartz IV, in das die Zuwanderer „mit Bleibeperspektive“ eingegliedert werden sollen, dürfte sich im Hinblick auf den ersten Arbeitsmarkt als strukturelles Integrationshemmnis erweisen, bietet es den Flüchtlingen und ihren Familien doch weder eine berufliche noch eine soziale Perspektive, weil es sich dabei um ein zutiefst inhumanes System handelt, das durch massiven Druck sowie Entrechtung und Entmündigung der Betroffenen immer neuen Nachschub für den Niedriglohnsektor schafft (vgl. Butterwegge 2015).
Nennenswerten Mehrbelastungen sind nicht die Sozialversicherungen ausgesetzt, deren Einnahmenseite durch (sozialversicherungspflichtig beschäftigte) Zuwanderer sogar gestärkt wird, sondern nur das steuerfinanzierte Fürsorgesystem. Wenn deutlich mehr Personen als bisher auf Transferleistungen angewiesen sind, müssen die Hilfesysteme gestärkt, mehr staatliche Mittel dafür bereitgestellt und Steuererhöhungen für wohlhabende und reiche Bürger enttabuisiert werden. Da sie von der Zuwanderung entweder durch eine bessere Versorgung mit Arbeitskräften und/oder durch bessere Absatzchancen für die eigenen Produkte auf dem Binnenmarkt profitieren, müssten die Unternehmen, Kapitaleigner und Aktionäre entstehende Mehrkosten tragen. Nötig wäre eine kräftige Anhebung von Kapitalertrags- und Gewinnsteuern, die hierzulande im OECD-Vergleich ohnehin extrem niedrig sind.
In den urbanen Zentren massiert sich seit jeher die soziale Ungleichheit, und zwar hauptsächlich in Form einer residenziellen Segregation, wie sie ethnische Gruppen aufweisen (vgl. Friedrichs 2000, S. 174). Wegen der neoliberalen Modernisierung spitzen sich Ab- und Ausgrenzungsprozesse zu, von denen insbesondere Migrant(inn)en und deren Abkömmlinge betroffen sind, was einer sozialräumlichen Spaltung der Großstädte gleichkommt. Man spricht in diesem Zusammenhang von „ethnischer Segregation“, die sich bereits seit geraumer Zeit verfestigt (vgl. dazu: Keller 1999, S. 47 ff.; Bremer 2000, S. 173 ff.).
Wird in Medien und politischer Öffentlichkeit auch durch die penetrante und monothematische Behandlung der „Flüchtlingskrise“ fortwährend Sozialneid nach unten geschürt, nehmen die rechte Gewalt und die Risiken für den Wohlfahrtsstaat zu. Umgekehrt könnte aber im Zeichen einer Zuwanderungsdebatte, die sich primär um die – angebliche oder wirkliche – Mehrbelastung des Staatshaushalts durch „massenhafte Flüchtlingsströme“ dreht, die krasse Verteilungsschieflage skandalisiert werden. Ein triftigeres Argument für die Notwendigkeit der Verwirklichung größerer Steuergerechtigkeit als den Hinweis, dass Gering- und Normalverdiener/innen keinesfalls für hilfebedürftige Flüchtlinge zahlen dürfen, Wohlhabende und Reiche aber viel stärker in die Pflicht für das sonst noch mehr auseinanderdriftende Gemeinwesen genommen werden müssen, gibt es schließlich nicht. Eine inklusive Sozial-, Bildungs-, Gesundheits-, Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik von Bund, Ländern und Kommunen ist ebenso notwendig wie eine progressivere Steuerpolitik, mit der Kapitaleigentümer, Vermögende und Spitzenverdiener stärker zur Bekämpfung des Flüchtlingselends, die viel Geld kosten dürfte, herangezogen werden müssen.
Integration der Migrant(inn)en wird oft genug auf gute Kenntnisse der deutschen Sprache reduziert, muss aber mit Inklusion, d.h. auch gleichberechtigter politischer Partizipation (vgl. Büttner/Meyer 2001) einhergehen, soll sie dauerhaft sein. Integration darf nicht mit Assimilation verwechselt werden und bedeutet vor allem die bürgerschaftliche Gleichberechtigung und Einbindung von Migrant(inn)en in den Nationalstaat, Inklusion die umfassende Gleichstellung sowie ihre Einbeziehung in die gesellschaftliche Willensbildung und den Sozialstaat. Nur wenn die beiden – miteinander korrespondierenden – Prozesse erfolgreich verlaufen, kann ernsthaft von einer zivilen bzw. einer multikulturellen Bürgergesellschaft die Rede sein. Corinna Kleinert (2000, S. 355) konstatiert denn auch treffend, „dass eine Inklusion von Einwanderern in das soziale System, auch wenn sie verwirklicht ist, ohne Vollinklusion in das politische System immer prekär und von Zurücknahme der Rechte bedroht bleibt.“
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