Es gibt 1000 Gründe, das eigene Herkunftsland zu verlassen. Ein zentraler ist, dass Menschen, die davon leben, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, dahin gehen müssen, wo sie diese auch verkaufen können. Dieser schlichte Zusammenhang zwischen Migration und Kapitalismus ist offensichtlich, er ist aber oftmals nicht der Impuls solidarisch zu sein. Zu groß ist die Angst vor Konkurrenz, zu stark in Vergessenheit geraten ist die Geschichte des eigenen Lands als Auswanderungsland – zum Beispiel Deutschlands. Ungeachtet dieser Zusammenhänge rangierte die zahlenmäßig hohe Migration aus den süd- und osteuropäischen Krisenländern in den letzten Jahren bei vielen Mitgliedern der Gewerkschaften eher unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle. Angesichts der Bürgerkriegssituationen, aus denen viele Menschen nach Europa fliehen, samt der dramatischen Fluchtwege infolge der EU-Grenzsicherung hat sich dies drastisch geändert und die Frage der solidarischen Aufnahme von Geflüchteten auf die Tagesordnung gesetzt. Auch beim ver.di-Bundeskongress im September letzten Jahres war die „Flüchtlingskrise“, oder besser gesagt: die Flüchtlingsbewegung eines der zentralen Themen. Zwei der in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kongressort in der Erstaufnahmeeinrichtung auf dem Messegelände Leipzig untergebrachten Flüchtlinge hatten am Tag fünf des Kongresses die Möglichkeit, über ihre Situation zu sprechen. Fouad El Moutaouakil aus Marokko und Abduallah Alomirug aus dem Irak bedankten sich für ihre Aufnahme in Deutschland, aber sprachen auch über ihre persönliche Ungewissheit angesichts der schleppenden Registrierungsprozesse, über die Bedingungen der Flucht und die mangelnde Versorgung in der nahen Messehalle.
Viele Delegierte hatten Tränen in den Augen; schon bei der Eröffnung des Kongresses Tage zuvor mit Angela Merkel war die Flüchtlingsmigration zentrales Thema. Die Kanzlerin erhielt wohl selten so viel Zuspruch bei einem Gewerkschaftskongress wie in diesen Tagen, wo das EU-Grenzregime temporär kollabierte und sie diesen Kontrollverlust durch eine öffentlichkeitswirksame flüchtlingssolidarische Haltung kompensierte, die – wie wir heute wissen – ebenso temporär blieb.
Im Folgenden gebe ich einige Eindrücke von Diskussionen innerhalb von ver.di zur Fluchtmigration wieder, beschreibe die Herausforderungen und zeige auf, wo Handlungsfelder bestehen, gewerkschaftlich stärker aktiv zu werden.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Überzeugung, dass Migration eine legitime Strategie im Sinne einer „Globalisierung von unten“ ist, nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu streben. Eine Reaktion der Abschottung und Abwehr sollte dabei nicht die Perspektive der Gewerkschaften bestimmen, sondern der Ansatz, Standards, Organisierung der Interessen und das Recht auf Rechte durchzusetzen. Dafür müssen sich Gewerkschaften für Migrantinnen und Migranten als Mitglieder öffnen.
Bezogen auf die aktuelle Entwicklung sei auf die Beschlusslage bei ver.di mit einem klaren Bekenntnis zum grundgesetzlich geschützten Asylrecht und gegen Obergrenzen[1] und die solidarische Haltung vieler Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter verwiesen. Diese verstehen sich als Teil der Willkommenskultur und setzen sich seit Monaten in vielfältiger Weise für Geflüchtete ein, begleiten sie auf Ämter, organisieren Sprachkurse mitunter in den Gewerkschaftsräumen und engagieren sich in der Nothilfe. Doch es ist offensichtlich, dass das Engagement der Gewerkschaften über Nothilfemaßnahmen und ehrenamtliche Unterstützung hinausgehen muss. Gerade ver.di als Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes fällt hier die Aufgabe zu, das was vielen Menschen hierzulande als Flüchtlingskrise erscheint, tatsächlich als politisch erzeugte Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge zu vermitteln: Die Folgen des Personalabbaus im öffentlichen Dienst, der Unterfinanzierung von Bildung, Gesundheit und Arbeitsförderung, der Vernachlässigung des öffentlichen und sozialen Wohnungsbaus werden jetzt offensichtlich. Hürden bei der Integration von Flüchtlingen in Arbeit und Ausbildung decken strukturelle Schwächen der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik auf: Chance zu Änderungen, von denen alle – mit oder ohne Migrationshintergrund – profitieren.
Damit ist umrissen, dass verschiedene Zielgruppen angesprochen werden müssen, wenn die Gewerkschaften in der Frage der Aufnahme und Integration der Geflüchteten ihren Einfluss geltend machen wollen. Solidarität kann nicht vorausgesetzt, sondern muss aufs Neue aktiv hergestellt werden.
1. Wie machen wir das? Beispiel öffentlicher Dienst
Eine wichtige Rolle spielen dabei die Mitarbeiter/innen von Einrichtungen, die mit Flüchtlingen arbeiten (z.B. BAMF mit seinen Außenstellen, Erstaufnahmestellen in den Bundesländern, Zoll, Beschäftigte der Kommunen, Bildungsträger, Wohlfahrtsverbände, Gesundheitssystem).
Es besteht die Gefahr, dass die Überlastung und Überforderung der Beschäftigten in den beschriebenen Branchen in eine flüchtlingsfeindliche Haltung mündet, die von der Forderung nach Obergrenzen und Sammellagern an den Grenzen getragen ist, wie sie in der Politik seit Monaten kursiert. Die gegenwärtige Aufheizung der Debatte um den Zuzug vieler schutzsuchender Menschen samt dem Aufstieg der AfD als Motor und Treiber einer rassistisch unterfütterten Abschottungspolitik macht es nicht leicht, zwischen aus Überforderung und Kontrollverlust abgeleiteten Ängsten und rassistischen Einstellungen zu unterscheiden. Wer die eigene Arbeit kaum schafft, nur unzureichend auf Dolmetscher bei der Verständigung mit den Antragsstellern zurückgreifen kann und öffentlich aufgrund der Bearbeitungszeiten massiv unter Druck gesetzt wird, läuft vermutlich alleine aus Selbstschutz vor dem Burn-out Gefahr, anfällig für einfache Lösungen à la Seehofer, Pegida und Co zu werden.
Doch dass es hier keinen Automatismus in der Übernahme rechter Einstellungen gibt, zeigte sich bei einer ver.di-Veranstaltung in der Bundesverwaltung Mitte November zur haupt- und ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit. Eingeladen war unter anderem Marco Olbrich, Mitarbeiter in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber des seit Monaten in der Kritik stehenden Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin. Olbrich, der auch in der dortigen ver.di Betriebsgruppe aktiv ist, berichtete von der Verzweiflung der Menschen angesichts der schleppenden Bearbeitung ihrer Bedarfe und wie ihn dieser Zustand persönlich belastet: „Wir bräuchten dreimal so viele Mitarbeiter, um die Ansprüche der Flüchtlinge tatsächlich in ihrem Sinne zu ermitteln und bearbeiten zu können.“ Selbst eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey hätte dies bestätigt. Olbrich berichtete davon, dass durch die Veränderungen des Ende Oktober beschlossenen „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes“ zusätzliche Probleme für die Sachbearbeiter und für die Geflüchteten entstanden sind.[2] Denn damit wurde der Auszahlungsrhythmus der finanziellen Leistungen, die den Flüchtlingen zustehen, von drei Monaten auf einen Monat verkürzt. Die Folge sei, dass die Bearbeitungstermine für alle Beteiligten massiv zugenommen hätten. Einige Monate später ist eine Situation entstanden, bei der Flüchtlinge mitunter monatelang auf ihr Geld warten und als Selbstversorger in den Gemeinschaftsunterkünften hungern müssen oder auf Sachspenden angewiesen sind.[3]
Bei der Veranstaltung wurde damit deutlich, wie sicherheitspolitische Vorgaben und Maßnahmen, die der Abschreckung dienen, Mehraufwand und zusätzliche Belastungen auf Seiten der Verwaltung erzeugen. Hier gäbe es vielfache Ansatzpunkte für die Artikulation gemeinsamer Interessen, wenn nicht sogar die gegenseitige solidarische Bezugnahme von Flüchtlingen und Beschäftigen in den Verwaltungen, die aber in dieser Weise bisher nicht stattgefunden hat. Weder die Positionen der Betriebsgruppe, noch die des ver.di Landesbezirks haben es aufgrund fehlender Zusammenarbeit mit den Helfer-Strukturen vor Ort und Defiziten in der Öffentlichkeitsarbeit in der aufgeheizten Berichterstattung über die Zustände am Lageso geschafft, in besonderer Weise zur Kenntnis genommen zu werden, obwohl die Frage der Personalausstattung eines der zentralen Themen in der Öffentlichkeit war.
Doch es besteht die Hoffnung, dass durch eine offensive Kampagne in der kommenden Tarifrunde für den Bund und die Kommunen durch aktive Betriebsgruppen deutlich gemacht wird, welche Bedeutung dem Öffentlichen Dienst für die Aufnahme, Integration und Teilhabe der Geflüchteten zukommt. Diese Arbeit darf nicht durch immer neue Vorhaben der Abschreckung belastet werden, die solidarisches und gesellschaftlich notwendiges Handeln unterminieren.
2. Kritik am Sparzwang erreicht Alltagsverstand
Die Forderungen müssen daher weit hinausgehen über die Abkehr von der schwarzen Null und der Sparpolitik der letzten Jahre, wie es die Gewerkschaften schon lange fordern und wofür sie durch den Zuwachs an öffentlichen Aufgaben in den letzten Monaten auch mehr Gehör finden.[4] Gefordert ist der Aufbau einer sozialen Infrastruktur, die sich an den Bedürfnissen aller hier lebenden Menschen orientiert und Unterstützung, Begleitung und Förderung zum Ausgangspunkt sozialstaatlichen Handelns macht. Dies impliziert die finanzielle und personelle Absicherung professioneller Beratungsstrukturen für neuankommende Menschen, die sich nicht nur auf hochqualifizierte Einwanderer zur Sicherung des Fachkräftebedarfs erstrecken dürfen.[5]
Der Kontrollverlust des europäischen Grenzregimes, den zehntausende Menschen durch ihre Migration erreicht haben, hat somit auch die Gewissheiten und Legitimierungen des neoliberalen Staates ins Wanken gebracht. Gleichzeitig erleben wir auch, wie weit das neoliberale Menschenbild der Eigenverantwortung verinnerlicht ist, wenn man sich die Empörung vieler Marginalisierter vor Augen führt. Ein regelmäßiger diesbezüglicher Kommentar in sozialen Netzwerken lautet: „Warum wird denen geholfen, mir hilft auch niemand.“ Von den Gewerkschaften wird daher in allen Forderungen an die Politik deutlich gemacht, dass soziale Investitionen wie die Förderung des sozialen Wohnungsbaus allen Menschen mit geringem Einkommen zu Gute kommen müssen. Angesichts des massiven Rückgangs der Fördermittel im Hartz-IV-System seit 2010 für Weiterbildung und berufliche Maßnahmen gilt dies auch im besonderen Maße für den Bereich der Arbeitsmarktintegration derjenigen Menschen, die sich im Fürsorgesystem befinden.[6] Hier entsteht besonderer Bedarf, weil die Anerkennung als Flüchtling oder Asylbewerber dazu führt, dass die Arbeitssuche dieser wachsenden Gruppe von den Jobcentern im Hartz-IV-System betreut wird. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) rechnet für das Jahr 2016 damit, dass hier zusätzlich circa 130.000 Menschen hinzu kommen[7], die Hälfte davon jünger als 25 Jahre. Bisher sind nur 2.800 Beschäftigungsmöglichkeiten (Stellen und Ermächtigungen) zusätzlich im Haushalt der BA/Jobcenter bewilligt. Die Aufgabe der Qualifizierung für den Arbeitsmarkt fällt damit einem System zu, das bisher „Abstiegs- und keine Aufstiegsprozesse“[8] organisiert hat. Ob es bei der Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ zu einer Erweiterung, wenn nicht gar zu schrittweisem Rückgewinn der politischen Handlungsspielräume gegen Austerität und Sparzwang kommt, wird sich unter anderem darin zeigen, ob das Hartz-IV-System in dieser Weise erhalten bleibt.
Die Forderung, dass Investitionen ins Soziale „allen“ zugutekommen müssen, ist zwar richtig – es muss innerhalb der Gewerkschaften aber auch kritisch diskutiert werden, wie Sozialpolitik in einem anti-rassistischen Sinne zu gestalten ist so dass Unterscheidungen in „die“ und „wir“ entlang nicht nur nationaler, sondern auch kultureller und religiöser Grenzziehungen und Spaltungen in den eigenen Organisationen überwunden werden. Die Wirkung der Fiktion eines (homogenen) nationalen Kollektivs steht gewerkschaftlichen Interessen entgegen und ist eine der ideologischen Voraussetzungen für den Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien.
3. Was tun?
Im Folgenden will ich einige Überlegungen skizzieren, wie ausgehend von der universalistischen Geltung von Menschen- und Arbeitsrechten die beschriebene Spaltung zurückzuweisen ist.
Innerhalb der Gewerkschaften ist es Konsens, dass Geflüchtete nicht zu Menschen zweiter Klasse gemacht werden dürfen. Daher muss der Mindestlohn für alle gelten und muss perspektivisch erhöht werden. Prämisse ist, auf die Einhaltung grundlegender Arbeits- und Menschenrechte für alle Beschäftigten zu drängen, denn es „gilt, eine Abwärtsspirale bei den Arbeits- und Sozialstandards und damit einhergehende Diskriminierungen zu verhindern. Lohn- und Sozialdumping verschlechtert am Ende die Lebensbedingungen aller Menschen, die auf Erwerbsarbeit angewiesen sind. In diesem Sinne ist die gewerkschaftliche Solidarität mit Zugewanderten – seien sie nun mit oder ohne Papiere hier – nicht allein von humanitären Gesichtspunkten geprägt. Es geht auch um wohl verstandene Interessen der hier schon lange Ansässigen, und nicht zuletzt auch um die der Gewerkschaftsmitglieder.“[9]
Auch wenn die Angriffe auf den Mindestlohn etwas nachgelassen haben, bleibt die Befürchtung bestehen, dass auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Menschen und Flüchtlinge über diesen Hebel gegeneinander ausgespielt werden. Denn der Mindestlohn begrenzt zwar grundsätzlich den ausufernden Niedriglohnsektor, bietet aber Ausnahmeregelungen für Langzeitarbeitslose an. Dies könnte Flüchtlinge betreffen, die mindestens ein Jahr bei einer Arbeitsagentur oder einem Jobcenter arbeitslos gemeldet sind. Auf die Streichung dieser Ausnahmeregelung drängt ver.di von Beginn an, bald könnte es neue Argumente dafür geben.
Wie bereits erwähnt, muss Solidarität mit den Flüchtlingen untermauert und in konkrete Projekte gegossen werden. Der reine Appell an einen etwaigen internationalistischen Grundkonsens verpufft in der derzeitigen Situation. Ein Ansatzpunkt in dieser Hinsicht ist die Vermittlung von Arbeitsrechten in Sprachkursen und Flüchtlingsunterkünften, wie es bereits einige gewerkschaftliche Projekte z.B. in Berlin, Osnabrück und Stuttgart begonnen haben. Derlei Angebote menschenrechtsbasierter Solidarität sollten einem Empowerment-Konzept folgen. Denn es ist zu befürchten, dass die Mischung aus offener Ablehnung und erwarteter Dankbarkeit, mit der die Geflüchteten nach dem Willkommenssommer und den Ereignissen aus der Silvesternacht in Köln konfrontiert sind, auch ihre Stellung im Arbeitsmarkt bestimmen wird. Die Vermittlung von Arbeitsrechten sollte somit nicht ein weiteres Element im Kanon der geforderten Wertevermittlung sein, der den Ruch von Disziplinierung und erzieherischen Maßnahmen in sich trägt, sondern ein aktiver Beitrag zur Stärkung der neuen Beschäftigten und Schutz vor Ausbeutung. Anerkennung und die Gewährung sozialer und politischer Rechte sind essenziell dafür, dass demokratische Grundrechte auch genutzt werden und nicht nur Fiktion bleiben. Dazu gehören auch der Bereich der Arbeitsrechte und das Betriebsverfassungsgesetz als das Erleben von demokratischer Gestaltungsmacht und von Schutzmechanismen gegen Willkür. Die politisch gewollte Verweigerung des Familiennachzugs für einen Teil der Flüchtlinge lässt den Eindruck aufkommen, dass hier billige, hochmobile Arbeitskräfte ausgenutzt werden, die zwar in den Arbeitsmarkt, nicht aber in die Gesellschaft integriert werden sollen. Das erinnert an die Phase der Gastarbeiterzeit mit ihrer Politik der temporären Integration und Förderung der Rückkehrfähigkeit.[10]
Wir wissen, dass Integration nicht vor Diskriminierung und Rassismus schützt. Neueste Studien zeigen, dass ein Migrationshintergrund Schulabgängerinnen und Schulabgängern die Suche nach einem Ausbildungsplatz erschwert. So bilden derzeit knapp 70.000 Unternehmen einen oder mehrere Jugendliche mit Migrationshintergrund aus. Das sind nur rund 15 Prozent aller Ausbildungsbetriebe in Deutschland. 60 Prozent der Betriebe hingegen haben noch nie einem Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Ausbildungsstelle gegeben. 71 Prozent der Bewerberinnen/Bewerber mit Migrationshintergrund, die einen mittleren Bildungsabschluss haben, finden daher keinen Ausbildungsplatz.[11] Deshalb müssen Arbeitsrechts-Angebote um Informationen über Maßnahmen gegen Diskriminierung ergänzt werden.
4. Ausblick
Sei es der massenhafte Zuzug von Schutzsuchenden, die Aufheizung der Debatte um Grenzschließungen, die Abwehrhaltungen gegen die Etablierung der Einwanderungsgesellschaft oder der Wunsch danach, dass Migranten ihren zugewiesenen gesellschaftlichen Platz behalten: Migration ist das alte und neue Mega-Thema, in der die Gewerkschaften zwar überwiegend (anders als mitunter in der Vergangenheit) progressive Positionen und solidarische Haltungen vertreten, aber bisher nur in geringem Maße als gestaltender und politisch wahrnehmbarer Akteur auftreten. Dies würde den Ausbau der verantwortlichen Strukturen, eine sich an den demografischen Realitäten orientierende Einstellungspraxis und die Mobilisierung und Stärkung der eigenen (migrantischen) Mitglieder voraussetzen. Betrachtete man dahingehend den ver.di Bundeskongress 2015 mit seinem „Bunt statt braun“ Kulturprogramm und dem Kongressmotto„Stärke. Vielfalt. Zukunft.“, muss man die „vielfältigen“ Kolleginnen und Kollegen schon suchen; nur etwa 15 der 950 Delegierten hatten eine Einwanderungsbiografie. Klassischerweise überrepräsentiert waren Migranten dagegen beim Kulturprogramm mit Rapper Samy Deluxe und dem Comedian Abdelkarim sowie bei den geehrten zehn besten Mitgliederwerbern.
Mitunter überrascht es nicht, dass sich das Feld des Sagbaren (Foucault) einmal mehr in Deutschland so weit nach rechts verschieben kann, wenn in den haupt- wie ehrenamtlichen Spitzen von gesellschaftlichen Institutionen wie eben auch den Gewerkschaften keine Menschen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen repräsentiert sind. Auch die Projekte, die die geforderten Arbeitsrechtsangebote umsetzen und die Erfahrungen in die Organisationen zurückspielen könnten, sind unter-, bzw. gar nicht finanziert, wie die Anlaufstellen für undokumentierte Beschäftigte bei ver.di und dem DGB. Die Entprekarisierung müsste auch beim DGB-Projekt Faire Mobilität erfolgen, bei dem es begrüßenswerte Planungen gibt, den Handlungsrahmen von der Beratung für mobile Beschäftigte im Rahmen der EU-Freizügigkeit auf geflüchtete Kolleginnen und Kollegen zu erweitern.
Doch es braucht auch eine Vorbereitung der gewerkschaftlichen Betreuungsstrukturen, jenseits reiner Erstinformation und Beratung. Zahlen des IAB zeigen, dass fast 50 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse von Menschen, die aus den Kriegs- und Krisenländern in den vergangenen Jahren nach Deutschland kamen, im ver.di Organisationsbereich angesiedelt sind.[12]
Damit aus Flüchtlingen Kollegen und Kolleginnen werden, braucht es strategische und ressourcengestützte Projekte, mehrsprachige Angebote und die Bündelung von Erfahrungen. Ziel ist Mitgliedergewinnung und die Vertretung dieser neuen Beschäftigtengruppen, auch jenseits der betrieblichen Ebene (Ausländerrecht, Teilhabe, Weiterbildung, Anerkennung von Berufsabschlüssen etc.).
Unsere betrieblichen Strukturen sollten bei ver.di Ansprechpartner finden, die die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt verfolgen, best practice Beispiele begleiten oder initiieren, tarifliche (Integrations-)Vereinbarungen sammeln/bewerten und bei Konflikten beraten und intervenieren können.
Im Leitantrag „Migration und Integration“ zum Bundeskongress 2015 hat der ver.di Gewerkschaftsrat viele wichtige Impulse zur Debatte zusammengefasst, unter anderem heißt es: „Sei es im Handel – etwa bei Amazon, oder bei den Sicherheitskräften am Flughafen: In vielen Tarifauseinandersetzungen sind die migrantischen Beschäftigten aktiver und zentraler Motor kämpferischer Belegschaften. Dass sich Menschen mit Migrationshintergrund passiv verhielten und nicht für ihre Rechte eintreten, ist ein Mythos, den ver.di durch gewerkschaftliche Praxis entkräftet. Dennoch gibt es verstärkten Handlungsbedarf für die gewerkschaftliche Arbeit mit und für Migrantinnen und Migranten.“
Hier gilt es anzuknüpfen und die Voraussetzungen für die Einwanderungsgewerkschaft ver.di zu schaffen.
[1] „Alle Menschen sollen frei sein von politischer Entrechtung, menschenunwürdiger Behandlung und politischer Fremdbestimmung. Sie müssen geschützt werden vor Verfolgung, Folter und Krieg.“ Aus der ver.di Grundsatzerklärung, 18. März 2010.
[2] Genauer zum Gesetz: ver.di Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Kippt die Stimmung – oder wird sie gekippt? sopoaktuell Nr. 226 zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, 2015.
[3] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/kein-geld-vom-lageso-fluechtlinge-in-berlin-muessen-hungern,10809148,33608246.html.
[4] http://www.faz.net/agenturmeldungen/adhoc/gabriel-stellt-schwarze-null-infrage-14012275.html.
[5] Castro Varela, Willkommenskultur: Migration und Ökonomie. María Virginia Gonzalez Romero im Gespräch mit María do Mar Castro Varela, in: Z. Çentin/S. Taş (Hg.), Gespräche über Rassismus. Perspektiven & Widerstände, Berlin 2015, S. 87-96.
[6] DGB Einblick Nr. 20, 16.11.2015, pdf-Download: http://einblick.dgb.de/ausgaben/2015.
[7] IAB Kurzbericht 25, Dezember 2015, pdf-Download: http://www.iab.de/194/section.aspx/
Publikation/k151203301).
[8] Wilhelm Adamy, Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim DGB-Bundesvorstand auf der Tagung „Gewerkschaftliche Strategien zur Flüchtlingspolitik“ in der DGB-Bundesverwaltung am 15. 12. 2015.
[9] Newsletter DGB Bildungswerk „Forum Migration“, Juli 2015, Gastkommentar Frank Bsirske, ver.di-Vorsitzender.
[10] Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001, S. 245.
[11] Berufsausbildung junger Menschen mit Migrationshintergrund. Studie der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2014. http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/
did/berufsausbildung-junger-menschen-mit-migrationshintergrund/.
[12] http://doku.iab.de/aktuell/2015/aktueller_bericht_1514.pdf.