Die Einflüsse technischer Innovationen auf die gesellschaftliche Entwicklung sind vielfältig. Sie reichen vom Nutzen des Röntgengeräts bis zum Schrecken der Atombombe, vom Fließband bis zum Computerarbeitsplatz. Sie haben ebenso Einfluss auf das persönliche Wohlergehen der Arbeitenden wie sie auch zentrale Bedeutung für die Beschäftigungsentwicklung besitzen. In Phasen des Wirtschaftswachstums, in denen der Arbeitsmarkt zur Vollbeschäftigung tendiert, sind die individuellen, betriebsrätlich oder gewerkschaftlich organisierten Aushandlungen einschließlich der Streiks bezüglich Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen einfacher zum Erfolg zu führen. Herrscht keine Tendenz zur Vollbeschäftigung, verstärkt sich die im Kapitalismus immer vorhandene Tendenz zu Ungleichverteilung. Doch folgt nicht aus jeder technischen Innovation Wirtschaftswachstum oder gar eine Tendenz zur Vollbeschäftigung.
In der letzten Z plädieren nun Carl & Oehlke (C&O) für eine Politik der Innovationsförderung, um damit Wege und „Alternativen aus der Krise des gegenwärtigen Kapitalismus (zu) eröffnen“. Als Krisenmomente gelten ihnen vor allem (zu) geringes Wachstum, (steigende bzw. hohe) „Arbeitslosigkeit“, „Polarisierung der Einkommen“ und „Finanzialisierung der Profitvermehrung“ (u.a. 102) sowie die ökologischen Probleme „des fossilen Kapitalismus“ (111).
Abhilfe soll geschaffen werden mit einer „gezielten Förderung der neuen Wachstumsmärkte“ (108), der Staat solle als Innovationspionier nicht nur Rahmenbedingungen für Märkte setzen, sondern diese selbst schaffen (ebd.).
C&Os roter Faden besteht also in der (impliziten) These, dass Innovationen gesamtwirtschaftlich expansive Effekte auf Wachstum und Beschäftigung haben und auf Grund dessen auch krisenüberwindend wirken (können).
Allerdings: Explizit behauptet wird das von C&O nicht – durchaus zu Recht. Denn „ihre Auswirkungen (der Technologie – O.G.) auf Beschäftigung und Unterbeschäftigung wurden von Ökonomen wie in der Öffentlichkeit heftig diskutiert.“ (Tylecote 1999: 1151)[1] Eine schulen- oder paradigmenübergreifende Einigkeit konnte dabei allerdings nicht hergestellt werden.
Überraschenderweise wird diese offene Frage auch in den folgenden Ausführungen nicht abschließend geklärt. Das Ziel ist hier auch weniger, C&O zu widersprechen, sondern den Stand der Forschung zu skizzieren und darauf aufbauend eine Forschungsfrage bzw. eine Forschungsperspektive zu formulieren sowie insgesamt für eine stärkere Befassung mit dieser Thematik zu plädieren.
Zunächst: (Gewisse) schulenübergreifende Einigkeit besteht in der – eingangs schon umrissenen – Bedeutung, die dem technischen Fortschritt beigemessen wird. Für Marx(istInnen) stellt die „Steigerung der Produktivität“ den – nicht unbedingt einzigen, aber doch wichtigen – „Hauptmotor der gesellschaftlichen Entwicklung“ dar (Berger 2003: 115). Für den ‚Rest’ gilt zumindest Ähnliches: „Makroökonomisch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Produktivität der wichtigste Bestimmungsfaktor von Wachstum und Nationaleinkommen der einzelnen Länder ist, dass diese Handels- und andere Wirtschaftsbeziehungen bestimmt.“ (Tylecote 1999: 1151)
In der Neoklassik spielt der technische Fortschritt (also Prozessinnovationen) erst ab 1956 im Zuge der Entwicklung der Wachstumstheorie(n) eine gewisse Rolle (Hein 2004: 98-131). Er ist dort (eine mögliche) Voraussetzung für Wachstum; kontraktive Effekte können von ihm grundsätzlich nicht ausgehen.
In Keynes Werk, entstanden vor allem in der Auseinandersetzung mit der Neoklassik vor Beginn des zweiten Weltkriegs, sind technischer Fortschritt und Innovation allenfalls Randphänomene. Das gilt in großen Teilen auch für die Post-Keynesianischen Wachstumsmodelle, in die technischer Fortschritt einschließlich Produktinnovationen allerdings eingebaut werden können (ebd.: 213-19).
In Bezug auf die Beschäftigungseffekte des technischen Fortschritts vertritt die Marxsche Schule bekanntermaßen die gerade entgegengesetzte Position zu (Neo-)Schumpeterianern und VertreterInnen der Langen-Wellen-Theorie (LWT).[2] Woraus (Neo-)Schumpeterianer und LWT-Anhänger Überzeugungskraft ziehen konnten, war die in den letzten ca. 150 Jahren mehrfache innovationsbedingte Entstehung neuer Branchen, die den rationalisierungsbedingten Beschäftigungsabbau in älteren Branchen (über-)kompensieren konnte. Das bedeutet wohl, dass die – vor allem im ersten Kapital-Band entwickelte – These technologie- und produktivitätsbedingt steigender Arbeitslosigkeit nicht den einzigen Fall darstellt,[3] mindestens also Modifikationen erforderlich sind. Andererseits und mit Blick auf die LWT bzw. innovationsoptimistische Sichtweisen stellt sich die Frage: Kann umstandslos davon ausgegangen werden, dass sich die Entwicklung von ca. 1750/1800 bis ca. 1970 zukünftig einfach fortsetzen wird? Antwort: Wohl eindeutig nein.
Beide – (Neo-)Schumpeterianer und MarxistInnen – stehen hier also vor einer ungeklärten Frage. Diese ist keinesfalls ‚nur’ wissenschaftlicher Art. Aktuell geht es ganz praktisch darum, welche Beschäftigungseffekte von der gerade entstehenden nächsten Generation der Informations- und Kommunikationstechnologie („Industrie 4.0“) zu erwarten ist, und wie die Linke damit umgehen sollte.
Werfen wir einen genaueren Blick auf die von C&O referierten Neo-Schumpeterianer. In früheren Studien von Freeman, Clark und Soete wurde die Frage nach dem Zusammenhang von Innovationen und Beschäftigung bereits im Titel gestellt („Unemployment and Technical Innovation“, 1982; „Technical Change and Full employment“, 1987), ohne allerdings eine belastbare Antwort zu finden. Später haben sie sich von dieser Frage eher wieder abgewandt – in Freemans letztem Werk (Freeman & Louçã, 2003) spielt das Thema Arbeitslosigkeit/Beschäftigung allenfalls eine Nebenrolle.
Diese Entwicklung setzt sich in dem von C&O zuletzt referierten Buch von Mariana Mazzucato fort. Ihre Kernaussage ist: Wenn Innovationen zu gesamtwirtschaftlichem Aufschwung geführt haben, dann war dabei immer der Staat umfänglich unterstützend tätig. Sehr vorsichtig ist sie beim Zusammenhang von Innovationen und Wachstum: „Nicht alle Innovationen führen zu gesamtwirtschaftlichem Wachstum“, sondern nur solche „Produkte oder Prozesse, die Auswirkungen auf viele verschiedene Sektoren haben“ (85). Noch vorsichtiger ist sie bei der Beschäftigungswirkung: Zwar lassen „bessere Produkte und/oder Dienstleistungen ... neue Arbeitsplätze für qualifizierte Arbeitnehmer entstehen“ (225), allerdings haben „jahrzehntelange staatliche Investitionen in die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen die Vereinigten Staaten zwar zu einer erfolgreichen Innovationsnation gemacht, paradoxerweise aber nicht zu einem hohen Beschäftigungsniveau“ etc. geführt (226). Ihre Folgerung: „Deshalb müssen wir uns fragen, ob sie (die Innovationen – O.G.) zu einer Zunahme neuer Arbeitsplätze mit auskömmlichen Löhnen und höheren Staatseinnahmen geführt haben“ (ebd.). – Ihrer Ansicht nach eher nicht. Sie weist auf den eingangs erwähnten „Zusammenhang zwischen Innovationen und (Un-)Gleichheit“ hin und verbindet dies mit der „Forderung, dass Industrie- und Innovationspolitik Instrumente zur Umverteilung beinhalten müssen, wenn die ‚unternehmerischen’ Investitionen des Staates gerechtfertigt sein sollen“ (214).
Vorsichtig formuliert: Die optimistische Sicht, dass Innovationen generell expansiv auf Gesamtbeschäftigung oder Wachstum wirken, steht auf eher wackligen Beinen. Auch wird nicht der inzwischen etwas ausdifferenziertere Stand der Forschung zur Beschäftigungswirkung von Innovationen berücksichtigt. Dieser geht davon aus, dass Produktinnovationen eher expansive, Prozessinnovationen aber eher kontraktive Effekte haben (können): “… Prozessinnovationen … Üblicherweise bewirken sie höhere Produktivität und weniger Beschäftigung… Produktinnovationen vergrößern im Allgemeinen Qualität und Vielfalt von Gütern und können so helfen, neue Märkte zu erschließen, was …zu mehr Produktion und Beschäftigung führt.“ (Pianta 2005: 572)
Allerdings muss bei Produktinnovationen noch einmal zwischen komplementären (es entstehen völlig neuartige Produkte, die keine anderen Produkte verdrängen) und substitutiven Innovationen (die bereits bestehende Produkte verdrängen) unterschieden werden. Dabei zeigt sich, dass nur komplementäre Produktinnovationen beschäftigungsexpansiv wirken (Gerlach 2013: 196).
Unter diesen Voraussetzungen kann von der „Industrie 4.0“, die primär eine Prozessinnovation ist, nur ein negativer (Netto-)Beschäftigungseffekt erwartet werden. Aktuelle Szenario-Rechnungen zu dieser Frage für Deutschland bestätigen diese Vermutung zunächst. Wolter et al. (2014) gehen bis 2025 von einem (Netto-)Verlust von 60.000 Arbeitsplätzen aus (63) – und zwar trotz zusätzlicher Nachfrage nach neuen Produkten (ebd.: 50).
Da es jedenfalls unterschiedliche Innovationstypen mit unterschiedlichen Effekten auf Wachstum und Beschäftigung gibt, erfordert eine Theorie über den idealen Durchschnitt der kapitalistischen Produktionsweise eine Theorie der langfristigen Veränderung des Innovationsgeschehens (Gerlach 2013: 196).
Literatur
Berger, Michael (2003): Karl Marx: „Das Kapital“ – Eine Einführung. München,.
Freeman, Chris; Clark, John; Soete, Luc (1982): Unemployment and Technical Innovation. A Study of Long Waves and Economic Development. London.
Freeman, Chris; Louçã, Francisco (2001): As Time Goes By – From the Industrial Revolutions to the Information Revolution. Oxford/UK.
Freeman, Chris; Soete, Luc (Hg.) (1987): Technical Change and Full employment. Oxford/UK.
Gerlach, Olaf (2013): Wohlstandszuwachs, Verelendung und Landnahme – Elemente einer Reformulierung der Theorie der Produktivkraftentwicklung. in: Backhouse, Maria; Gerlach, Olaf; Kalmring, Stefan; Nowak, Andreas (Hg.): Die globale Einhegung – Krise, ursprüngliche Akkumulation und Landnahmen im Kapitalismus. Münster, S. 178 – 203.
Hein, Eckhard (2004): Verteilung und Wachstum – Eine paradigmenorientierte Einführung. Marburg.
Mazzucato, Mariana (2014): Das Kapital des Staates – Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum. München.
Pianta, Mario (2005): Innovation and Employment. in: Fagerberg, Jan; Mowery, David C.; Nelson, Richard R. (Hg.)(2005): The Oxford Handbook of Innovation. Oxford/NY, S. 568 – 598.
Tylecote, Andrew (1999): technology. in: Phillip Anthony O'Hara (Hg.): Encyclopedia of Political Economy. London, S. 1151 – 54.
Wolter, Marc Ingo, u.a. (2015): Industrie 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Wirtschaft – Szenario-Rechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen. Nürnberg. http://doku.iab.de/forschungsbericht/2015/ fb0815.pdf, Zugriff am 25.10.2015.
[1] Übersetzung aus dem Englischen durch die Redaktion.
[2] Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass es auch unter MarxistInnen Anhänger der Theorie der Langen Wellen gibt, bspw. Thomas Kuczynski, Ernest Mandel, Karl Heinz Roth, Immanuel Wallerstein.
[3] Verschiedene Bemerkungen im ersten und dritten Kapital-Band zeigen, dass sich Marx dessen auch bewusst war (Gerlach 2013: 186).