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Marxismus-Kongress in Peking/Alle Berichte

von Rolf Hecker
März 2016

Marxismus-Kongress in Peking

Beijing, 10. bis 11. Oktober 2015

An der Pekinger Universität fand am 10. und 11. Oktober 2015 der „World Congress on Marxism“ unter dem Thema „Marxism and the Development of the Human Race“ statt (der Kongress war zweisprachig chinesisch/englisch; ich werde die englischen Titel/Themen verwenden). Daran nahmen rund 500 chinesische Wissenschaftler, Professoren, Dozenten der großen Universitäten der Volksrepublik China und Doktoranden und Nachwuchswissenschaftler der Pekinger Universitäten teil. Eingeladen waren rund 40 Wissenschaftler aus allen Kontinenten, die in den letzten Jahrzehnten wichtige Beiträge zum Marxismus und zur internationalen Debatte geliefert haben. Tagungsgebäude war das Overseas Exchange Center der Universität, ein moderner Bau gleich an einem der Eingänge zum riesigen Campus der führenden Universität Chinas.

Der Kongress war langfristig durch ein Organisationskomitee der Pekinger Universität unter Leitung ihres Präsidenten Lin Jianhua und des Parteisekretärs Zhu Shanlu vorbereitet worden. Federführend war die School of Marxism (gegründet 1992) mit ihrem Dekan Yu Hongjun, der zugleich stellvertretender Universitätsparteisekretär ist. Die Einladung der internationalen Gäste und deren Betreuung lagen in den Händen von Yuwen Li und seinen studentischen Volunteers. Dass der Kongress nicht nur eine Universitätsangelegenheit war, zeigte sich in der Eröffnungssitzung, auf der ein stellvertretender Minister aus der Propagandaabteilung des ZK der KP China sprach, ebenso der Minister für Bildung der VR China, der Vizepräsident der Zentralen Parteischule und nicht zuletzt ein General aus der Nationalen Universität der Volksbefreiungsarmee.

Die Einberufung eines solchen Kongresses, der auch eine entsprechende Resonanz in der Presse und dem Zentralen chinesischen Fernsehen fand, ist auf die ideologische Offensive zurückzuführen, die mit dem 18. Parteikongress der KP Chinas 2013 eingeleitet wurde. Die Schulen des Marxismus an den Universitäten sind angehalten, die Qualität der Ausbildung der Studierenden zu verbessern und die marxistische Theorie in den Mittelpunkt zu stellen.

Der Herausgabe einer neuen vollständigen Ausgabe der Werke von Marx und Engels wird höchste Priorität eingeräumt. Von den geplanten 70 Bänden, darunter sind 10 für Exzerpte reserviert, sind bereits 25 Bände erschienen. Die Edition erfolgt auf der Grundlage der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) auf vertraglicher Basis mit der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES). Dabei werden erstmals alle Texte aus dem Original ins Chinesische übersetzt (die erste chinesische Werkausgabe folgte nicht nur in der Auswahl und Kommentierung, sondern auch in der Übersetzung der russischen Sočinenija). Herausgeber ist das Zentrale Sammlungs- und Übersetzungsbüro beim ZK der KP Chinas (CCTB), das in seinen Räumlichkeiten eine Ausstellung über die Übersetzungs- und Verbreitungsgeschichte der Werke von Marx und Engels in China eingerichtet hat. Allerdings konnte ich feststellen, dass das CCTB nicht mehr über das Übersetzungsmonopol der Marx-Engels-Werke verfügt: Zunehmend erscheinen Einzelausgaben von Schriften mit neuen Übersetzungen und es gibt auch universitäre Debatten über die Übersetzung von philosophischen und ökonomischen Fachbegriffen; erinnert sei nur an das klassische Beispiel von „Aufhebung“. Auch das sowjetische Monopol des Marxismus-Leninismus ist längst gebrochen: In den Auslagen der Buchgeschäfte finden sich Übersetzungen aller bekannten europäischen und US-amerikanischen Wissenschaftler zum Marxismus und auch chinesische Wissenschaftler veröffentlichen neue Interpretationen der marxistischen Theorie.

Die ausländischen TeilnehmerInnen des Kongresses waren gebeten worden, über den Einfluss des Marxismus in ihren Ländern, über neue Tendenzen der marxistischen Theorie und über neue Editionen zu berichten. Auf der Eröffnungssitzung sprachen der legendäre Samir Amin aus Kairo (er wird zur nächsten Jahrestagung des Instituts für Kritische Theorie vom 19.-22. Mai 2016 in Berlin erwartet) und der Politikwissenschaftler Roderick MacFarquhar („Ein Marxist bin ich nicht.“) von der Harvard University, der natürlich anders als Amin die Perspektiven des Marxismus kritisch beurteilte. Damit wurde aber auch deutlich, dass die Organisatoren Diskussionen nicht ausweichen wollten, sondern sie nachdrücklich einforderten, wenn dies jedoch in den folgenden Panels nicht immer erreicht werden konnte. Weiterhin waren u.a. angereist: aus Deutschland Wolfgang F. Haug und Michael Brie; aus Russland Vladilen Burov, Alexander Buzgalin und Andrej Kolganov; aus Belgien Maria McGavigan und Eric Vanhaute; aus Frankreich Isabell Garo, Michel Maso und Tony Andreani; aus Großbritannien Sean Sayers und Alex Callinicos; aus Vietnam Nguyen Bang Tuong; aus Japan Tomonaga Tairako; aus Tansania Issa Gulamhussein Shivji; von Australien Lynne Chester und Roland Boer; aus Brasilien Jorge Grespan, aus den USA David Kotz, Michael A. Lebowitz und Rodney Peffer. Dass es bei dieser illustren Zusammensetzung der Diskutanten kein einheitliches Abschlusskommuniqué, wie es sich die Organisatoren erhofft hatten, geben würde, war aber vorhersehbar.

Nach der gemeinsamen Eröffnungssitzung waren die Teilnehmer in acht Panels/Arbeitsgruppen und eine Spezialgruppe eingeteilt worden, in denen insgesamt sieben Vortrags- und Diskussionsstunden vorgesehen waren. Die Themen der Panels: „The Origin and Development on Marxism”, „Text Studies and Compilation of Classical Marxists Works”, „The Chinese Path and Chinese Discourse System”, „Xi Jinping’s Theory of Governing the Country”, „Marxism and the future trends of the World”, „Science and Culture in the View of Marxism”, „Marxism and Economic Globalization”, „Marxism and Community of Common Destiny for All Mankind”. Die Spezialgruppe behandelte drei Themen: „The Chinese Path and Market Socialism” (hier traten drei weitere US-Amerikaner auf: John Roemer, Michael Hudson und Bertell Ollman), „The Path of Development for Underdeveloped Countries and Marxism” (mit Samir Amin), „Marxism and the History of Modern China” (hier mit Roderick MacFarquhar).

Der Autor war eingeladen worden, gemeinsam mit Yang Jinhai (CCTB) die zweite Arbeitsgruppe zu leiten. Erwartungsgemäß war der Kreis nicht sehr groß (ca. 30 Teilnehmer), die die Gelegenheit nutzten, sich über die Herausgabe der MEGA² (Carl-Erich Vollgraf aus Berlin, Tomonaga Tairako aus Tokio), der französischen digitalen Version der Werkausgabe (Isabell Garo, Paris) und natürlich über die chinesischen Forschungsergebnisse auszutauschen (u.a. Han Lixin vom Philosophie-Institut der Tsinghua Universität in Peking über die „Deutsche Ideologie“). Hier forderte insbesondere Wang Dong (Institut für Philosophie der Pekinger Universität) eine stärkere Hinwendung zu den originären Marx-Texten und Manuskripten und deren Quellen sowie die Veröffentlichung von eigenständigen Forschungsergebnissen. Michael Brie und Wolf Haug waren in der ersten Arbeitsgruppe. In der ersten Gruppe beteiligte sich u.a. Wei Xiaoping (Institut für Philosophie der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften), die die europäischen Debatten aus vielen Aufenthalten, auch in Deutschland, gut kennt.

Der Kongress war vor allem geprägt durch die Diskussion des Marxismus chinesischer Prägung, der die marxistische Theorie in Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der VR China stellt. Für die chinesischen Wissenschaftler ist es selbstverständlich, die Kluft zwischen Arm und Reich zu thematisieren und Wege zur sozialen Gerechtigkeit zu suchen. Natürlich beschäftigen sie sich mit der schnellen Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse im Spannungsfeld von zentraler Planung und Leitung und kapitalistischen Marktmechanismen. Und nicht zuletzt werden stets Fragen nach dem Verhältnis von Parteiensystem und Demokratie, Rechtssystem und Kampf gegen die Korruption diskutiert. Alle diese Probleme befinden sich in einem Prozess, der durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird, wie das allgemeine Entwicklungsniveau, die internationale Einbindung und die nationalen natürlichen, historischen und kulturellen Bedingungen Chinas. In mehreren Vorträgen wurde daher auf Xi Jinpings ideologisches System der Governance als einer neue Entwicklungsstufe des chinesischen Marxismus eingegangen.

Die Organisatoren hatten den ausländischen Teilnehmern ein Papier „Scholars Consensus of World Congress on Marxism“ zur Diskussion gestellt. Darin waren solche Thesen enthalten, wie dass der Marxismus eine der einflussreichsten intellektuellen Strömungen in der Welt sei, der die sozialhistorische Entwicklung bestimmen würde; dass der Marxismus praktischen und Zeitgeist habe, der die Probleme der menschlichen Gesellschaft vorhergesehen habe; dass der Marxismus sich mit der Zeit erneuern und ein kreativer chinesischer Marxismus (mehrfach fiel der Begriff des Sinicized Marxism) entwickelt werden müsse; dass bei den gegenwärtigen globalen Weltproblemen der Marxismus das Licht für die Führung der Menschheit sei usw. Auf dem abschließenden Empfang durch den Universitätsparteisekretär wurden diese Thesen durch eine modifizierte Erklärung ersetzt, die von den ausländischen Teilnehmer lediglich zur Kenntnis genommen wurde. Die Organisatoren teilten auf der Abschlusssitzung mit, dass der nächste Kongress im Marx-Jahr 2018 stattfinden wird und die überarbeiteten Beiträge in einer Publikation zusammengefasst werden.

In der folgenden Woche waren die ausländischen Wissenschaftler eingeladen, verschiedene große Universitäten des Landes zu besuchen und dort Vorträge zu halten. Der Autor hatte gemeinsam mit Kollegen aus Frankreich, Großbritannien, Belgien, Russland und Australien die Möglichkeit, an die Nanjing Normal Universität zu reisen, um an der Konferenz „Marx & Engels and Contemporary Socialism – The 120th Anniversary oft he Death of Friedrich Engels“ teilzunehmen. Hier waren „The Marx & Engels Research Association of China“ – eine Art Leiteinrichtung – und das Forschungsinstitut für Marxismus federführend. Die internationale Gruppe wurde von rund 200 Lehrer-StudentInnen begrüßt. Auf der zweitägigen Konferenz kamen vielfältige Themen zur Sprache, wobei der Schwerpunkt auf der Anwendung des Marxismus in China lag, etwa dieser Thematik: „The Chinese Dream and Core Values in the Theory and Practice of Socialism with Chinese Characteristics“. Es wurden auch unterschiedliche Sichtweisen geäußert und immer wieder daraufhin gewiesen, dass es noch großer Anstrengungen bedarf, um den Marxismus allseitig zu erschließen und zu vermitteln.

Rolf Hecker

Mehr als nur die zweite Geige

Tagung der Marx-Engels-Stiftung zum 195. Geburtstag von Friedrich Engels, Wuppertal, 28. November 2015

Am 28. November 1820 wurde Friedrich Engels in Barmen (heute ein Stadtteil von Wuppertal) geboren. Unmittelbar neben dem heute noch erhaltenen Geburtshaus – dem so genannten Engels-Haus – fand genau 195 Jahre später eine Tagung und Feier anlässlich seines Geburtstages statt.

In mehreren Vorträgen und Diskussionsrunden, die von Andreas Wehr (Berlin) moderiert wurden, ging es vor allem um die Rolle von Friedrich Engels bei der Formierung des Marxismus und der Herausbildung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Arbeiten von Engels, der seinen selbstständigen Anteil an der Ausarbeitung der marxistischen Theorie zwar nicht leugnete, aber stets das „Genie“ von Marx in den Vordergrund rückte (vgl. MEW 21: 291f), wurden in der Vergangenheit vielfach unterschätzt. Oder ihm wurde z. B. von der Neuen Marx-Lektüre eine Verfälschung der Lehren von Marx vorgeworfen. Ziel der Tagung war es, das Verdienst von Friedrich Engels zu würdigen und seine eigenständigen Arbeiten in den Fokus zu rücken.

Zu Beginn der Tagung betonte Dr. Eberhard Illner (Wuppertal), der Leiter des Historischen Zentrums, zu dem auch das Engels-Haus gehört, dass das Verhältnis zwischen Marx und Engels in der Frühphase ihres Wirkens genau analysiert werden müsse. Zu Beginn sei es vor allem Engels gewesen, der Marx inspiriert habe, sich mit Ökonomie und der Lage der Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Illner warnte aber auch davor, die Arbeiten von Friedrich Engels aus ihrem historischen Kontext herauszureißen und in ihnen ewige Wahrheiten zu suchen.

Danach referierte Andreas Hüllinghorst (Berlin) zu Engels’ Beitrag zum dialektischen Materialismus. Dabei unterstrich er die Rolle von Engels in der Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltanschauung. In seiner Philosophie habe der Marxismus als Negation der Negation den Schritt von dem dialektischen, aber geschlossenen und kreisförmigen System Hegels, das immer auf die absolute Idee bezogen bleibe, zu einem dialektischen und dabei offenen und materialistischen Wissenschaftssystem vollzogen. Dabei bestehe aber immer der Widerspruch zwischen Empirie und Theorie, der sich auch in dessen ideeller Widerspiegelung, in dem Widerspruch zwischen dem Denken der Realität und dem Denken der Denkgesetze, formiere. Hier sei es Engels gewesen, der die Dialektik als die „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ hervorhob (MEW 20: 307). Zwar bleibe auch dabei der Gesamtzusammenhang weiterhin ideell konstruiert, aber – im Gegensatz zu dem System Hegels – beruhe er auf der Grundlage der empirischen Naturwissenschaften und habe somit einen wissenschaftlichen Charakter.

In der Mittagspause gab es Gelegenheit unter der Führung von Dr. Illner die Ausstellung „Zensur und Pressefreiheit in Preußen von 1830 bis 1848/49“ zu besichtigen, in deren Räumlichkeiten die Tagung stattfand. Hier ließen sich auch einige Raritäten finden, wie z. B. eine Originalausgabe der roten Abschluss-Nummer der Neuen Rheinischen Zeitung vom 19. Mai 1849.

Nach der Mittagspause referierte Prof. Dr. Elmar Altvater (Berlin) zum Thema „Engels neu entdecken“. Er betonte dabei die in den letzten Jahren besonders akut gewordene Frage des Verhältnisses von Mensch und Natur, welches bereits von Engels in seiner Dialektik der Natur anvisiert wurde. Entscheidender Motor der Klimaveränderung und der ökologischen Probleme der Erde sei der globalisierte Kapitalismus, dessen innere Dynamik nicht nur von zyklischen Krisen, sondern auch von kumulativen Prozessen bestimmt werde: z. B. von der Konzentration und Zentralisation des Kapitals, aber auch von der zunehmenden Transformation von Naturstoffen, die sich beispielsweise im steigenden Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre niederschlägt. Der Kern des Widerspruches liege dabei schon in dem Doppelcharakter der Arbeit, die einerseits die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, andererseits zwischen Mensch und Natur determiniere. Innerhalb des Kapitalismus könne der Klimawandel nicht aufgehalten werden und der Planet Erde nähere sich einem „planetaren Kipppunkt“, an dem das Ökosystem irreparabel umgewälzt werde. Nach dem Vortrag wurde vor allem die Frage diskutiert, ob wirtschaftliche Wachstumsprozesse eine rein kapitalistische Erscheinung seien, die, laut Altvater, erst mit der industriellen Revolution einsetzt, und somit mit Überwindung des Kapitalismus auch verschwinden werde.

Im Anschluss kritisierte Holger Wendt (Bochum) das hartnäckig von Kreisen der Neuen Marx-Lektüre verbreitete Gerücht, Engels habe Marx verfälscht. Er zeigte auf, welche philologischen und argumentativen Fehlannahmen dieser Argumentationslinie zu Grunde liegen und betonte, im Gegensatz zu diesen Behauptungen die nachweisbar einvernehmliche Zusammenarbeit von Marx und Engels. Das zeige sich vor allem an Rezensionen und Vorworten zu Werken des jeweils anderen – anhand derer sich zwar eigene Betrachtungsweisen erkennen lassen, die aber von einer gemeinsamen Weltanschauung zeugen. Die Unhaltbarkeit ihrer Argumentation würden, so Wendt, in letzter Zeit auch immer mehr Anhänger der Neuen Marx-Lektüre erkennen, weswegen sie – statt wie bisher Engels gegen Marx auszuspielen – dazu übergingen, vornehmlich mit den frühen Texten von Marx gegen die späteren zu argumentieren, um daran inhaltliche Inkonsequenzen nachzuweisen. Letztlich gehe es der Neuen Marx-Lektüre vor allem darum, die revolutionäre Seite der Marschen Lehre über Bord zu werfen. Wendt machte deutlich, dass der Marxismus zu Recht den Namen von Marx trage, er aber mit gleichem Recht und zu unser aller Gewinn auch ein „Engelsismus“ sei.

Zum Abschluss erinnerte Georg Polikeit (Wuppertal) an den historischen Kontext des 150. Geburtstags von Friedrich Engels im Jahr 1970, welcher die Vorgeschichte bildete zu der am 28. April 1979 erfolgten Gründung der Marx-Engels-Stiftung. Er verwies dabei auch auf das Jahr 2020, in dem der 200. Geburtstag von Friedrich Engels anstehe, und stellte die Frage, wie dieser würdig zu feiern und ehren sei.

Mark Hadyniak

25 Jahre isw

Tagung in München, 28. November 2015

Das 1990 von marxistischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern und Gewerkschaftsaktiven in München gegründete „Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.“ blickte Ende 2015 auf 25 Jahre intensiver wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit zurück. Wer die Tagung aus Anlass dieses Jubiläums in München besuchte, konnte bei der Diskussion vor den Vorträgen und am – gut bestückten – Buffett feststellen, dass die Gründerinnen und Gründer des isw – was nicht überraschte – zwar nicht jünger geworden sind, aber umtriebig wie in alten Zeiten einen großen, lebendigen Kreis an Mitstreitern und auch jüngeren Autor/innen um sich geschart haben und mit ihnen in die aktuellen Diskussion der Linken eingreifen. Davon zeugen u.a. die beiden letzten in 2015 erschienenen isw-reports – inzwischen dreistellig in der Heftnummerierung –, die den „Umbruch im globalen Kapitalismus“ und „Wege aus dem Kapitalismus“ zum Gegenstand haben.[1]

Beide Fragestellungen waren auch Gegenstand der Eröffnung der Tagung durch Conrad Schuhler. In seiner Bilanz der Entwicklung seit 1990 konstatierte er: Aus dem vermeintlichen „immerwährenden Triumphlauf des Kapitalismus“ ist ein „heftig durchgeschüttelter Krisenkapitalismus“ hervorgegangen, der durch eine ganze Kette globaler Finanzkrisen, durch wachsende Spaltung zwischen Reich und Arm, große ungleiche Entwicklungen im internationalen Kapitalismus mit dem ökonomischen Gewichtsverlust des „Westens“ bei gleichzeitigem Aufstieg der Schwellenländer und zunehmendem Einsatz militärischen Macht gegenüber den „peripheren“ Ländern des Südens wie gegenüber Russland gekennzeichnet ist. Im Inneren der kapitalistischen Metropolen sieht Schuhler ein „Bröckeln der Zustimmung der Subalternen“ und eine Desillusionierung sozialdemokratischer Vorstellungen über eine neue Versöhnung von Demokratie, Sozialstaat und kapitalistischer Wirtschaft. Für die Linke konstatierte er nach 1990 eine „Hinwendung zum Privaten“. Dies zu politisieren – also die Fragen des Lebensstils mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen in Verbindung zu setzen – sei „fundamental“, aber bisher nur in wenigen Bewegungen wie z.B. bei TTIP gelungen. Wenn er konstatierte: „Ein besseres Leben, soziale Gerechtigkeit, demokratische Gestaltung der Gesellschaft ist nur herzustellen im Kampf gegen die Eliten und Profiteure des jetzigen neoliberalen Systems der ‚Postdemokratie‘ und der bizarren sozialen und materiellen Ungleichheit“, so kommt dieser „Politisierung des Lebensstils“ in den Vorstellungen des isw eine zentrale Bedeutung bei. Frank Deppe (Marburg), der an die Ausgangsbedingungen des isw – DKP-Zusammenhang, linkes gewerkschaftliches Umfeld, marxistische „Stützpunkte“ an den Hochschulen erinnerte – betonte die Wichtigkeit von marxistischer Fundamentalkritik des Kapitalismus und deren Verbindung mit den sozialen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen auf betrieblicher Ebene – nach wie vor strukturelle Kernzone der gesellschaftlichen Klassenkonflikte. Zugleich sei die Erfassung der weitreichenden Veränderungen im internationalen Kapitalismus (EU-Ebene, Globalisierung und neuer Imperialismus) entscheidend für das Verständnis auch der innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Huberth Thiermeyer (ver.di Bayern) attestierte dem isw u.a. mit Bezug auf die früheren Auseinandersetzungen des isw mit dem Siemens-Konzern, am Puls solcher betrieblichen Auseinandersetzungen dran zu sein. Er wandte sich gegen Stellvertreter-Strategien in der gewerkschaftlichen Arbeit und plädierte dafür, die abhängig Beschäftigten konfliktorisch „zu Handelnden in den eigenen Konfliktfeldern zu machen“. Zugleich müssten die Gewerkschaften in zentralen gesellschaftlichen Fragen – „in welcher Gesellschaft wollen wir leben, welches Wirtschaftssystem brauchen wir“ – Teil gesellschaftlicher Kampagnen sein. Insofern steht eine Re-Politisierung der Gewerkschaften und der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit auf der Tagesordnung – hierzu beizutragen hätte das isw also reichlich zu tun. Konstatin Wecker schickte eine Video-Botschaft, in der er sich als isw-Fan outete, kein Nachlassen in Sachen „gesellschaftlicher Aufklärung“ verlangte und das isw zu weiteren Aktivitäten ermunterte. Dies traf die Stimmung der an die 150 Tagungsteilnehmenden ziemlich gut.

André Leisewitz

Gewerkschaften, Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus

Tagung, organisiert vom Sprecherausschuss der Vertrauensdozent/innen der Hans-Böckler-Stiftung, der HBS und den Universitäten Wuppertal und Bochum, Wuppertal 4. bis 5. Dezember 2015

Die Konferenz wollte eine Bestandsaufnahme der historischen Forschung zu „Verfolgung, Widerstand und Anpassung“ der Arbeiterbewegung zur Zeit des NS leisten. Gleichzeitig sollte danach gefragt werden, welche Bedeutung dieser Themenkomplex für das Selbstverständnis der Gewerkschaften nach 1945 hatte. Nicht geplant, aber naheliegend: Das Verhalten der Gewerkschaften in der ersten Hälfte des Jahres 1933 war ein zentraler Dreh- und Angelpunkt der Debatten. Obwohl das Thema sich für Polemiken durchaus eignen würde, prägten differenzierte Vorträge die Tagung.

Der Eröffnungsvortrag von Michael Schneider (Bonn) betonte unter dem Titel „Integriert? Arbeiter und Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus“ zunächst die Angebote, die der NS-Staat dem gewerkschaftlichen Milieu machte, zum Beispiel symbolische Anerkennung durch staatliche 1. Mai-Feiern oder die Rede von „Volksgenossen“; brutale Repression war die Kehrseite dieser Integrationsversuche. Schneider stellte fest, dass demgegenüber großes Beharrungsvermögen bewiesen wurde – ablesbar etwa in den fortlaufenden Wahlsiegen freigewerkschaftlicher KandidatInnen bei den Wahlen zu Betriebsräten und Vertrauensleuten. Aber entschiedener Widerstand, zumal bewaffneter (wie es ihn in anderen Ländern durchaus gegeben hat) sei trotz des bald allgegenwärtigen Staatsterrors marginal gewesen. Aus dem Publikum wurde anschließend darauf hingewiesen, dass es vor allem zu Beginn der NS-Zeit durchaus Angriffe auf NS-Verbände gegeben hatte – die daran beteiligten Antifaschisten aber als erste exekutiert wurden bzw. am längsten in den Lagern blieben. Trotz dieser Einwände ist festzuhalten, dass sich Widerstand oft im Verborgenen abspielte und eine entsprechend geringe Reichweite hatte. Die These von Schneider, für weiteren Widerstand hätte es „organisatorische Kerne mit Öffentlichkeitsfunktion“ gebraucht, kann dies allerdings nur eingeschränkt erklären.

Die folgende von Dieter Nelles (Wuppertal/Bochum) moderierte „Podiumsdiskussion zum gewerkschaftlichen Widerstand“ kann hinsichtlich der Monate bis zum 2. Mai 1933 als informativ und aufschlussreich bezeichnet werden. Zu diesen so wichtigen Monaten scheint es keinen Forschungsüberblick oder gemeinsamen Diskussionsstand zu geben, doch einiges wurde an dieser Stelle zusammengetragen. Willy Buschak (Dresden) berichtete von einem Generalstreiksplan für den 5. März 1933 und nachweisbaren Vorbereitungen. Siegfried Mielke (Berlin) ergänzte dies mit dem Hinweis auf ein Netzwerk von Eisenbahnern, die ebenfalls auf einen Generalstreik hingearbeitet hätten. Und Stephan Stracke (Wuppertal) wies auf etliche für eine Konfrontation vorbereitete (bewaffnete) Belegschaften im Wuppertaler Raum hin. In Berlin hätten sich einige Tausend auf Aufruf der RGO nach der Machtübergabe zu Protestaktionen versammelt, was von Stefan Heinz (Berlin) als geringe Beteiligung eingeschätzt wurde. Hinsichtlich der welthistorischen Bedeutung der Machtübergabe ist das sicher zutreffend, aber im innerdeutschen Vergleich möglicherweise herausragend, denn dominant war der Anpassungskurs der Gewerkschaftsleitungen. Warum das so war, das erschien hier als eine noch nicht richtig begonnene Diskussion.

In einer öffentlichen Abendveranstaltung äußerte sich der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zu „Erinnerungspolitik und Nationalsozialismus aus Sicht der Gewerkschaften“. Letztere wollten die Arbeit der Geschichtswissenschaft nicht ersetzen, sondern ihre Ergebnisse – wie etwa die Arbeit von Stephan Stracke zu den Wuppertaler Gewerkschaftsprozessen – als Anregungen und Ermutigung zur Differenzierung begreifen, so Hoffmann. Dass einem Vorsitzenden des DGB qua Funktion Geschichtspolitik näher ist als wissenschaftliche Differenzierung, bewies der weitere Verlauf der Rede, in der Wilhelm Leuschner als leuchtender Märtyrer erschien, der im Angesicht seiner Hinrichtung offensichtlich die Schaffung des DGBs in seiner heutigen Form als Vermächtnis hinterlassen hat.

Detlev Brunner (Leipzig) nahm das Fragezeichen in seinem Titel „Überläufer? ‚Nationale Sozialisten’ in den Gewerkschaften“ durchaus ernst und konnte so die von ihm untersuchten Funktionäre (darunter Lothar Erdmann, Franz Josef Furtwängler und viele weitere) auch in ihren Widersprüchlichkeiten beleuchten – und selten war die Diagnose „Überläufer und Opportunist“ so einfach wie im Fall von Hermann Seelbach (Gewerkschaftsschule Bernau). Bedenkenswert ist die These Brunners, dass eine hohe Staatsaffirmation und Ideen von „Hingabe an das Ganze“ (Leipart, 1932) in den Gewerkschaften schon vor 1933 angelegt waren.

Kristina Meyer (Jena) veranschaulichte entlang der Biografie von Ludwig Linsert (DMV, ISK, Haft, Strafbataillon 999, später SPD) die gesellschaftlichen Dynamiken, die die Vergangenheitsbearbeitung der Gewerkschaften beeinflussten. Menschen wie Linsert beschwiegen nach 1945, so Meyer, sowohl die NS-Begeisterung großer Teile der Bevölkerung als auch ihre eigenen Verfolgungserfahrungen, um den Aufbau einer sozialen Demokratie nicht durch Konflikte zu gefährden. Erst Anfang der 1970er Jahre initiierte Linsert ein breit rezipiertes Forschungsprojekt zu „Verfolgung und Widerstand in Bayern 1933-1945“.

Vom sogenannten Zehnerkreis, der sich um Otto Brenner gruppiert hatte und von Gregor Kritidis (Hannover) als „oppositionelle Kraft“ innerhalb von SPD und DGB charakterisiert wurde, wurde auf informellem Weg versucht, Opportunisten des Jahres 1933 von Einfluss in den Gewerkschaften fernzuhalten. Diese Praxis stand durchaus im Gegensatz zum Eindruck des „Beschweigens“, der im vorigen Beitrag beschrieben worden war, scheint aber die Ausnahme geblieben zu sein.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion, die von Wolfgang Uellenberg-van Dawen (ver.di), Chaja Boebel (IG Metall Bildungszentrum Berlin) und Egbert Biermann (IG BCE) bestritten wurde, stand im Mittelpunkt, wie „vergangenheitsbewusst“ die Gewerkschaften heute sind und welche Bedeutung Erinnerung für sie hat. Dabei zeigte sich das breite Spektrum, in dem Geschichte gewerkschaftlicherseits verhandelt wird: von Büchern und Broschüren über Seminare, Gedenktafeln und Jubilarehrungen bis hin zu Zeitzeugenarbeit und Diskussionen auf Gewerkschaftskongressen. Allerdings, so der allgemeine Eindruck, fast ausschließlich auf Eigeninitiative von Einzelpersonen und ohne große institutionelle Rückendeckung.

So wurden in Wuppertal sowohl Desiderate offenkundig als auch Ansätze einer neu aufgenommenen Diskussion erkennbar. Gerade zum hier zentralen Zeitraum zwischen Januar und Mai 1933 scheint es zwar keinen Forschungsüberblick oder synthetisierende Texte zu geben und auch der Widerstandsbegriff blieb schwammig, aber auch das kann durchaus als die angekündigte „Bestandsaufnahme“ gelten.

Uwe Fuhrmann

Ökonomie des Sozialismus

Seminar des Marx-Engels-Zentrums Berlin in Kooperation mit der Marx-Engels-Stiftung, Berlin, 12. Dezember 2015

Der vorherrschenden Meinung, der zufolge uns die Geschichte gelehrt hat, dass Sozialismus sowieso nicht funktioniert, sollte etwas entgegen gesetzt werden. So wurde in der Ankündigung des Seminars auf „die Dringlichkeit von Erkenntnisgewinnen über eine künftige Produktionsweise, die in ihrer Konkretheit über die allgemein gehaltenen Bestimmungen, etwa in Parteiprogrammen von kommunistischen Parteien, hinausgehen“, hingewiesen. Die Veranstaltung stieß auf reges Interesse, der Raum im MEZ war über den letzten Sitzplatz hinaus gefüllt.[2]

Den Auftakt machte Holger Wendt (Bochum) mit seinem Beitrag „Sozialismus klassisch – Nachkapitalistische Gesellschaften bei Marx & Co. “ Er skizzierte die Geschichte utopischer Ideen vor Marx und kennzeichnete diese als oft scharfe Gegenwartsanalysen. Marx wollte über die bürgerliche Gesellschaft hinaus denken, sei aber mitnichten ein Utopist gewesen, was der Referent an Problemen wie den objektiven Bedingungen, dem subjektiven Faktor und den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte belegte. Dem wissenschaftlichen Kommunismus folgend sei der „Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (MEW 3/35) Wendt thematisierte die zentralen hegelschen Begriffe „der Aufhebung“ und der „bestimmten Negation“, um auf die Aufhebung der kapitalistischen Warenproduktion einzugehen. Die Kategorien Arbeit, Arbeitsquanten und Arbeitszeit „blieben im Sozialismus zentrale ökonomische Kategorien.“ Er betonte, dass die Aufgabe für SozialistInnen sei, den Sozialismus als Negation der Warenproduktion zu sehen.

Thomas Kuczynski (Berlin) referierte zum DDR-Ökonomen „Fritz Behrens und seiner Kritik des Neuen Ökonomischen Systems“. Nachdem er kurz die vier wichtigsten Lebensetappen skizziert hatte, wandte er sich der dritten Phase zu (1957-1968), in der sich Behrens vordergründig mit der Messung der Arbeitsproduktivität auseinandersetzte, aber immer noch an die Veränderbarkeit des ökonomischen Systems glaubte. Behrens habe die Auffassung vertreten, dass der Plan in einer sozialistischen Ökonomie elastisch sein und die Staatsführung ein Minimum an administrativen Zwang ermöglichen müsse. Er stellte die Bedeutung der Leitung der sozialistischen Ökonomie gegenüber ihrer Planung heraus. Nach Behrens ist „die Verstaatlichung der Produktionsmittel ein Dekret (Lenin/sozialistische Revolution), aber deren Vergesellschaftung die Aufgabe einer ganzen Periode.“ Eine Reduzierung der Administration in der DDR sei nie erfolgt, etwa in der Form einer „Arbeiterselbstverwaltung der unmittelbaren Produzenten auf der Grundlage delegierten Gruppeneigentums“, wie es Fritz Behrens vorschwebte.[3]

Im Anschluss nahm sich Georg Fülberth (Marburg) der „Eigentumsfrage“ an. Er verwies auf den doppelten Sinn dieser „Grundfrage der kommunistischen Bewegung“: Die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums als Ziel der kommunistischen Bewegung und die Analyse desselben und seiner Geschichte. Behandelt wurde die Eigentumsfrage in der Geschichte des Marxismus und der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Ende der Industriellen Revolution,[4] abschließend aus heutiger sozialistischer Perspektive. Dabei attestierte Fülberth Marx und Engels, dass ihre Überlegungen zum künftigen nicht-bürgerlichen Eigentum nur vergleichsweise schwach entwickelt waren. Den Historischen Materialismus in seiner Analyse der Geschichte des bürgerlichen Privateigentums hingegen stellte er als Stärke der beiden heraus. Für eine die Eigentumsfrage aufgreifende Linke stellte er dem „kommunistischen Konzept von der kooperativen Produktions-Assoziation“ die sog. Mischwirtschaft als „sozialdemokratische Eigentums-Utopie“ zur Seite.

Zum Schluss wandte sich Helmut Dunkhase (Berlin) der „Bedeutung der Arbeitszeitrechnung für einen künftigen Sozialismus“ zu. Ausgehend von Planungsproblemen im „alten“ Sozialismus stütze er sich auf die Input-Output-Rechnung des russischen Nobelpreisträgers Wassili Leontjew, deren späte und zögerliche Nutzung er als „eine der Tragödien der Sowjetunion“ benannte. Zwei Meilensteine in den 1980er Jahren brachten Bewegung in die Debatten „über die Validität der Marxschen Arbeitswerttheorie“. Die beiden israelischen Mathematiker Farjoun/Machover fassten in „Laws of Chaos“ Preise, Werte und Profitraten als Zufallsgrößen auf und sahen im Zusammenhang von Preisen und Arbeitswerten ein statistisches Problem. Gleichzeitig ermöglichte die entwickelte Rechentechnik die entstehenden riesigen Datenmengen zu verarbeiten und so die Arbeitswerttheorie empirisch zu überprüfen. So zeigte sich, dass es tatsächlich zu einem Austausch der Waren zu ihren Arbeitswerten komme. Auf dieser Basis ließe sich – in Verbindung mit der Computertechnologie – das große Problem lösen, „wie man in der kommunistischen Produktionsweise die Produkte in rationale Verhältnisse setzen“ könne.

Die Diskussionen drehten sich viel um die realen Produktionsverhältnisse im Sozialismus, wobei die ehemalige DDR oft die Bezugsgröße bildete. Hier wurden Arbeitskraft und Güter als Ware, die Funktion des Geldes im Vergleich zum Kapitalismus und die Staatliche Plankommission der DDR debattiert. In der Eigentumsfrage wurde sich u.a. darüber verständigt, warum den Kapitalisten eine Identifikation des Arbeiters mit seiner Fabrik ohne Eigentum gelingt, es hingegen im Sozialismus nicht klappte, obwohl Eigentum vorhanden war. Inwiefern verhält sich delegiertes Gruppeneigentum als Einzeleigentum? Was unterscheidet den Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus als „Kampfmaschine“ (Fülberth)?

Wünschenswert wäre eine weitere Veranstaltung zur Vertiefung vieler angerissener Probleme und Fragen. Hier könnte unter anderem eine Aufarbeitung der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien in den Fokus rücken.

Patrick Ölkrug

Streeck – Wagenknecht: Kapitalismus am Ende?

Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW in Zusammenarbeit mit der Hochschulgruppe Sozialwissenschaften und dem Sozialistischen Forum Rheinland, Köln, 27. Januar 2016

Wie oft wurde dem Kapitalismus sein bevorstehendes Ende vorhergesagt, von Marx, von Lenin, von Varga und vielen anderen. Immer wieder wurden diese Prognosen widerlegt. Unter den gegenwärtigen Krisenprozessen gewinnt das Thema jedoch eine neue Aktualität. Zur Veranstaltung in Köln kamen weitaus mehr Interessenten als die Veranstalter erwartet hatten. Die gut 500 Plätze im großen Hörsaal der Universität Köln reichten bei weitem nicht aus, so dass mehrere Hundert abgewiesen werden mussten.1

Was als Streitgespräch angekündigt war, erwies sich unter der zurückhaltenden Moderation von Karl-Heinz Heinemann (RLS NRW) als fruchtbare wechselseitige Ergänzung, ganz im Sinne Gramscis, der immer wieder betont hatte, gegen die Hegemonie des Kapitals gelte es den kritischen ‚Pessimismus des Verstandes’ mit dem unermüdlichen ‚Optimismus des Willens’ zu verbinden.

Einleitend skizzierte Wolfgang Streeck die Hauptlinien seiner Argumentation aus dem kontrovers diskutierten Aufsatz „Wie wird der Kapitalismus enden?“2. Er konstatierte nüchtern: „Alles was einen Anfang hat, hat auch ein Ende.“ In der industriellen Revolution vor etwa 250 Jahren gestartet, werde der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen einer maßlosen Ausdehnung weniger zusammenbrechen als vielmehr sich zersetzen in gegenseitig verstärkenden Langzeittrends: den drei „apokalyptischen Reitern“ sinkendes Wachstum, steigende Ungleichheit und Verschuldung. Weder gingen erkennbare Steuerungsfähigkeiten von den „Systemklempnern“ in Davos, noch realistische Handlungsmöglichkeiten von den „Systemgegnern“ in Porto Alegre aus.

Mit dem widerstandslosen Ausbruch aus den einst reformerisch und revolutionär erkämpften sozialen Regelungssystemen und dem Eindringen in alle gesellschaftlichen Bereiche „entbette“ der Kapitalismus sich aus jenen bisher als nicht kommerzialisierbar geltenden Reproduktionsgrundlagen, die seine eigene Entwicklungsfähigkeit (etwa durch Investitionen in gesunde und qualifizierte Arbeitskräfte durch öffentliche Gesundheits- und Bildungssysteme) garantieren. Streeck erinnerte an Margret Thatchers Diktum, es gebe keine Gesellschaft mehr, die Erwartungssicherheit garantieren könne, nur noch Individuen und Familien. Der Einzelne müsse versuchen, sich durch Improvisation und soziale Glücksproduktion durchzufinden.

Mit der sozialen Desintegration gehe aber ein Orientierungsverlust mit anomischen Verhaltensweisen einher, die Streeck mit den Stichworten eines amerikanischen Kollegen charakterisierte: coping, doping, hoping, shopping (anpassen, aufputschen, hoffen, kaufen – letzteres freilich vor allem auf Pump). Der scheinbare Ausweg in die ‚Finanzialisierung’ des Kapitals erwies sich spätestens in der großen Finanzkrise seit 2008 als Sackgasse, aus der bisher keinerlei Umkehr erkennbar ist. All dies führe schließlich – mit einem alten chinesischen Sprichwort – zu einem ‚death of thousand cuts’ (Tod durch tausend kleine Schnitte), und zu einem ‚Interregnum, in dem die alte Welt schon gestorben, aber die neue Welt noch nicht geboren ist’ (Gramsci).

In diesem Zusammenhang waren die beiden Protagonisten sich über die fatale Rolle der EU für demokratische und soziale Aktionsmöglichkeiten einig. So stellte Sahra Wagenknecht an Streeck anknüpfend heraus, dass mindestens seit Maastricht ursprüngliche soziale Zielsetzungen strukturell ausgehebelt würden. Dies erinnere sie an Hayeks Überlegungen, durch einen europäischen Bundesstaat demokratische Einflussnahme ins Leere laufen zu lassen. Entsprechend würde die Harmonisierung von Unternehmens- und Vermögenssteuern gar nicht erst in Angriff genommen. (Nebenbei: Das Kölner MPI für Gesellschaftsforschung mit seinem langjährigen Direktor Streeck habe mit seinen Analysen durchaus zur Entzauberung von Euro und EU beigetragen.). Streeck ätzte: Jean-Claude Juncker aus der Steueroase Luxemburg sei als oberster „Steuerhinterziehungsbeihelfer“ in Europa zum Kommissionspräsidenten inthronisiert worden, was Habermas in einem FAZ-Interview quasi zum demokratischen Essential der Union erklärt habe.

Streeck warnt vor einer nächsten Welle des Sozialabbaus, nachdem der Wirtschaftsgipfel 2016 in Davos die Überlegungen zu einem einheitlichen Grundeinkommen aufgegriffen habe, die schließlich auf EU-weite Hartz IV-Regelsätze hinauslaufen könnten. Ein Beitrag aus dem Auditorium ergänzte, dass hierbei einzelne Nationalstaaten in der EU über Bande spielten, um über den Rat eine „neoliberale Reformpolitik“ in ihren eigenen Ländern besser durchzusetzen zu können. In diesem Zusammenhang verwehrte sich Wagenknecht dagegen, dass die notwendige Kritik an der EU eine Rückkehr zu Nationalstaaten bedeuten müsse; deren soziale Errungenschaften sollten freilich bewahrt werden. Vielmehr erzeuge gerade die EU mit ihrer Abschottung gegen demokratische Einflussnahme nationalistische Tendenzen, wenn es nicht gelinge, demokratische Regulationsformen und soziale Zielsetzungen auf möglichst allen politischen Ebenen durchzusetzen. Es gelte, so Streeck, die Strukturen in ihrer transnationalen Verankerung so zu verändern, dass ein von außen erzwungener „Syriza-Tsipras-Turn“ verhindert werden könne.

An diesem Punkt erwies sich der Hinweis des Moderators auf die Namensgeberin des Veranstalters als nützlich: Rosa Luxemburg hatte Mitte des ersten Weltkriegs darauf hingewiesen, dass die Welt vor der Alternative stünde: Sozialismus oder Barbarei! Streeck wollte sich der Diagnose des gegenwärtigen kapitalistischen Weltzustands als Barbarei oder doch zumindest auf dem Weg dahin keineswegs verschließen. Der Alternative ‚Sozialismus’ gegenüber verhielt er sich dagegen skeptisch. Als Wissenschaftler interessiere er sich für das, was ist oder was passiert, weniger jedoch für das, was sein sollte. Und im Übrigen sehe er derzeit nicht das mögliche soziale Subjekt einer sozialistischen Transformation. Streeck bot dennoch Anknüpfungspunkte für Handlungsmöglichkeiten, als er auf die inneren Widersprüche einer „marktkonformen Gesellschaft“ verwies und in der systemischen Steuerungsunfähigkeit des neoliberalen Kapitalismus „knirschende Bruchstellen“ identifizierte, an denen sich linke Gegenkräfte in Formen demokratischer Souveränität zunächst in kleineren Einheiten organisieren müssten.

Sahra Wagenknecht betonte, dass sie mit den analytischen Krisendiagnosen Streecks weitgehend übereinstimme, nicht jedoch mit seiner in mancher Hinsicht vagen These vom ‚Ende des Kapitalismus‘. Der werde nicht von allein sterben, sondern das bedürfe einer breiten, sich organisierenden Massenbewegung. Bei der Aufdeckung kapitalistischer Bruchstellen müssten die unmittelbaren Bedürfnisse der Ärmsten der Gesellschaft mit den längerfristig notwendigen Strukturveränderungen vermittelt werden. So dürften nicht nur die Abschaffung von Hartz IV, ein menschenwürdiger Mindestlohn, gleiche Bildungschancen gefordert, sondern es müsste auch deren Zusammenhang mit der nach wie vor zentralen Eigentumsfrage angesprochen werden.

Wagenknecht merkte an, dass die Eigentumsfrage häufig auf Vorbehalte stoße, da viele Menschen sich an die DDR oder die Sowjetunion und deren letztlich gescheitertes Wirtschaftssystem erinnert fühlten. Dabei ließen sich demokratisch legitimierte und verwaltete, z. B. kommunale oder öffentlich-rechtliche, aber auch genossenschaftliche Eigentumsformen entwickeln, die dem verhängnisvollen Imperativ der Profitmaximierung nicht unterworfen, sondern den gesellschaftlichen Bedürfnissen verpflichtet seien. Dies gelte insbesondere für die Bereiche der sozialen Daseinsfürsorge (Bildung, Gesundheit, Wohnung), aber auch für industrielle und sonstige Großunternehmen sowie Großbanken, deren Aktivitäten den Wohlstand ganzer Gesellschaften beträfen. In diesem Zusammenhang verwies sie auf die dringend notwendige gesellschaftliche Kontrolle über die modernen elektronischen Netzwerke.

So leuchtete am Ende dieses bemerkenswerten Abends – selbst bei dem skeptischen Streeck – ein Funken demokratischer Hoffnung auf, dass sich im langen und zähen Ringen zwischen ‚Davos’ und ‚Porto Alegre’ die Bedürfnisse der 99 Prozent gegen die Gier von 1 Prozent schließlich doch noch durchsetzen könnten. Die politischen Phänomene Jeremy Corbyn in der britischen Labour Party und Bernie Sanders in der demokratischen Partei der USA, ganz zu schweigen von Griechenland, Spanien und Portugal zeigten, dass gesellschaftliche Gärungsprozesse vor dem Hintergrund der ungelösten sozialen Problemstellungen stattfinden, die freilich auch massive Rechtstendenzen hervorbringen.

Werner Goldschmidt/Paul Oehlke

[1] Umbruch im globalen Kapitalismus. Abstieg der G7-Metropolen – Aufstieg der Schwellenländer. isw-report Nr. 100/101, München 2015, 76 S., 6,- Euro; Wege aus dem Kapitalismus. Die Alternativen entfalten sich nur in sozialen Kämpfen, isw-report Nr. 103, München 2015, 56 S., 4,50 Euro.

[2] Siehe auch den Seminarbericht in der „jungen Welt“: http://mez-berlin.de/publikationen-reader/items/eigentumsfrage-stellen.html.

[3] Als unbestreitbaren Nachteil Behrens‘ im Blick auf Jugoslawien stellte Kuczynski heraus: Ihm war es nicht möglich, die wirklichen Verhältnisse zu betrachten, er musste sich allein auf Publikationen stützen.

[4] Den zeitlichen Ansatzpunkt begründete er damit, dass „erst nach dem Ende der industriellen Revolution das wissenschaftliche Nachdenken über Einschränkung oder gar Ende des bürgerlichen Privateigentums einsetzt“.

1 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=6GVScF1nz3Y&feature=youtu.be und http://www. zeit.de/wirtschaft/2016-01/kapitalismus-kritik-wagenknecht-streeck.

2 Wolfgang Streeck, Wie wird der Kapitalismus enden? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 3/4, 2015. Vgl. auch ders., Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.

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