… und trotzdem ein Meilenstein

Anmerkungen zum neuen Programm der LINKEN

Dezember 2011

Die LINKE hat mit 96,9 Prozent ein neues Programm beschlossen und damit alle enttäuscht, die überzeugt waren, dass sich die Partei an dieser Frage zerlegen würde. Schon, dass es ein neues und nicht das erste Programm überhaupt ist, blieb der Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten, weil interessierte Beobachter nicht müde wurden, der LINKEN das Fehlen eines Programms vorzuhalten. Tatsächlich waren die 2007 in Dortmund beschlossenen Eckpunkte das erste, nicht weniger ausführliche Programm, das so nicht heißen sollte, um seine Vorläufigkeit zu betonen. Aber der Vorwurf eines fehlenden Programms setzte die Programmarbeit von vornherein ebenso unter Druck wie die Parteikrise nach der Kommunismusdebatte, dem Antisemitismusverdacht und dem Wirbel über die Glückwünsche an Fidel Castro. Überhaupt muss man vor einer inhaltlichen Analyse des Textes seinen historischen Charakter und den innerparteilichen Stellenwert untersuchen. Linke Parteiprogramme haben in Deutschland immer schon innerparteiliche Entwicklungen markiert und Kräfteverhältnisse widergespiegelt. Denn Parteiprogramme sind Kompromisse, mit denen in der Regel eine über andere Strömungen siegt, ohne im Text selbst alle ihre Positionen wiederzufinden. Deshalb wird es im Folgenden auch um die Frage gehen, an welchen Stellen des Programms die Kräfteverhältnisse, aber auch die Kompromisse innerhalb der LINKEN sichtbar werden.

Das einmal vorangestellt, fällt die überraschend hohe Kompromissbereitschaft der verschiedenen Strömungen auf, die natürlich mit nicht wenigen unpräzisen Formulierungen bezahlt wurde. Wer mehr Eindeutigkeit erwartet hatte, verkennt die besondere Lage der LINKEN. Noch keine linke Partei hat in Deutschland ein so breites ideologisches Spektrum in sich vereinigt wie sie. Das erste Mal nach fast einem Jahrhundert haben sich in der LINKEN, auf freiwilliger Grundlage und im ganzen Deutschland, ehemalige Kommunisten und ehemalige Sozialdemokraten zusammengefunden. Die einen aus einer untergegangenen Partei, die anderen aus einer inhaltlich wie mitgliedermäßig geschwächten Sozialdemokratie. Keine große Vereinigung, aber schon deshalb bemerkenswert, weil die sozialdemokratische Seite durch einen ehemaligen Vorsitzenden der SPD repräsentiert wird. Kein unwesentlicher Grund für die von interessierter Seite nicht nachlassenden Versuche, die Partei an der Person Lafontaines auseinander bringen zu wollen. Die erwähnte historische Besonderheit hat natürlich auch ihre Nachteile. Linke Parteien entstehen in der Regel in Zeiten eines Aufbruchs, doch die LINKE ist aus einem schmählichen und lange noch nicht aufgearbeiteten Niedergang hervorgegangen. Programme nach einer Niederlage sehen anders aus als die in Zeiten des Aufbruchs geschriebenen. Und da dieser Niedergang bei jeder sich bietenden Gelegenheit herhalten muss, um die Unmöglichkeit des Sozialismus zu beweisen, befindet sich die LINKE in einer Art ideologischer Geiselhaft. Sie ist der Kratzbaum, an dem sich zu jedem denkwürdigen Jahrestag der immer noch fest verankerte Antikommunismus reiben kann.

Wobei noch ein weiteres Problem der LINKEN eine Rolle spielt, dass nämlich Ost- und Westlinke völlig gegensätzlich auf diese Angriffe reagieren. Was für die Westlinken Geschichte ist, für die sie sich nicht wiederholt in Haft nehmen lassen wollen, ist den Ostlinken immer noch Gegenwart. Wem am Infostand in Frankfurt am Main die Mauertoten vorgeworfen werden, kann sich überzeugender davon distanzieren als das in Frankfurt Oder möglich ist. Die ostdeutsche Linke hat gänzlich andere Traumata als die Westlinke. So fürchtet man im Osten den Dogmatismus, im Westen den Opportunismus. Und das Dramatische ist, dass jede Seite in der anderen genau das sieht, wovon sie sich selbst mühsam befreit zu haben glaubt.

Defizite beim Blick auf die Geschichte

Dieses gespaltene historische Erbe muss auch bedenken, wer in diesem Programm nach der spezifisch marxistischen Denkweise sucht. Es ist kein marxistisches Programm und will es auch nicht sein, weil in Ost wie West nicht wenige dem Marxismus skeptisch gegenüberstehen – beiderseits aus sehr unterschiedlichen Gründen. Meistens, so die Erfahrung des Autors, weil sie ihn gar nicht oder nur in verzerrter Gestalt kennen. Dementsprechend beschränkt sich das Programm zunächst auf die Feststellung: „…erst die Befreiung aus der Herrschaft des Kapitals und aus patriarchalischen Verhältnissen verwirklicht die sozialistische Perspektive der Freiheit und Gleichheit für alle Menschen.[1] Erst danach kommt der zurückhaltende Hinweis: „Dies haben insbesondere Marx, Engels und Luxemburg gezeigt.“ Trotzdem ist im Programm mehr Marx drin als draufsteht. Davon zeugt vor allem der Versuch, die Wurzeln der Partei durch ein historisch-materialistisches Herangehen aufzudecken, auch wenn sich die westdeutsche Linke darin kaum wiederfinden wird.[2]Sie war schwach und marginalisiert“[3] heißt es, weshalb alles was sich zwischen 1945 und 1989 links organisierte, mit nur 22 Zeilen behandelt wird. Die RAF wird dabei nicht vergessen, wohl aber die DKP. Von den Gewerkschaften erfährt man in nicht ganz fünf Zeilen, dass sie „in harten Auseinandersetzungen, Lohnsteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen und verbesserte sozialstaatliche Leistungen“ durchsetzten konnte.[4] Um gleich hinzuzufügen: „Die Erfahrungen dieser Kämpfe zeigen allerdings auch, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die Demokratie an den Werktoren, Büro- und Ladentüren endet.“ Dass diesen Kämpfen nicht nur die Mitbestimmung, sondern auch ein Grundgesetz zu verdanken ist, welches die Sozialpflicht des Eigentums festschreibt und die Möglichkeit der Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln ermöglicht, bleibt völlig unerwähnt. Bei einer so lückenhaften Abhandlung der westdeutschen Geschichte kann es auch nicht wundern, dass 1968 hinter einer „außerparlamentarischen Opposition“ verschwindet, „die für mehr Demokratie und Solidarität, gegen autoritäre Tendenzen, für andere Lebensentwürfe, für mehr Selbstverwirklichung der Einzelnen, gegen Bildungsprivilegien und gegen Medien- und Kapitalmacht und gegen den Vietnam-Krieg der USA“ kämpfte.[5] Ein wenig mehr war es schon. Zum Beispiel die Initialzündung für einen gesellschaftlichen Linksruck nicht nur an den Hochschulen und in der Wissenschaft, sondern auch in den Gewerkschaften und vor allem in der Sozialdemokratie. Ohne diesen Linksruck sind weder die Reformära unter Willy Brandt noch seine Entspannungspolitik zu verstehen. Insgesamt hätten sich aus den 44 Jahren linker, westdeutscher Nachkriegsgeschichte durchaus Schlüsse für die LINKE ziehen lassen, zumal sie außerhalb von Wahlen immer noch Probleme hat, an diese Geschichte anzuknüpfen.

Kapitalismusanalyse

Die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus ist zweifellos das Wichtigste was das Programm zu leisten hatte und auch weitgehend leistet. Die Beschreibung des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, soweit sie in einem solchen Programm überhaupt zu leisten ist, ist nicht nur lesenswert, sondern auch verstehbar und brandaktuell. Wenn es eines Grundes bedurft hätte, die Eckpunkte durch ein neues Programm abzulösen, dann findet er sich in dieser Aktualität. Entscheidend dabei ist die breite Übereinstimmung über das formulierte Ziel der Überwindung der Kapitaldominanz über die gesellschaftliche Entwicklung. Auch wenn diese „Überwindung“ unterschiedlich interpretiert wird, befriedigt die gefundene Formulierung sowohl die antikapitalistische Linke (AKL) als auch das Forum demokratischer ‚Sozialismus (fds). So schreibt etwa die AKL: „Der Entwurf ist auch ein Fortschritt gegenüber den Programmatischen Eckpunkten der Vereinigung von WASG und PDS. Nicht mehr lediglich der Neoliberalismus – also die neoliberale Ausprägung des Kapitalismus – sondern das kapitalistische System als Ganzes wird als Ursache für Krisen und sozialen Problemen benannt.“[6] Einschränkender dagegen die Stellungnahme des fds: „Der Programmentwurf folgt in seinem Aufbau sehr der herkömmlichen Tradition von Parteiprogrammen der Arbeiterbewegung: Kritik des Kapitalismus, Beschreibung der neuen sozialistischen Gesellschaft jenseits der Systemgrenze und gesondert davon als „Sofortprogramm“ linke Reformprojekte für hier und heute.“[7] Abgesehen davon, dass im Programm keine „Beschreibung der neuen sozialistischen Gesellschaft“ zu finden ist, hat das fds nicht ganz Unrecht: Die später aufgeführten Reformprojekte des Programms leiten sich tatsächlich aus der Kapitalismusanalyse ab – woraus auch sonst?

Dass sich hinter dem Konsens über die nichtkapitalistische Perspektive sehr unterschiedliche Positionen verbergen, zeigte sich bereits in der sehr früh begonnenen Debatte über einzelne Begriffe dieses Abschnitts; zum Beispiel zur Zwischenüberschrift „Deutschland – eine Klassengesellschaft“. Obwohl es fragwürdig ist um Überschriften zu kämpfen, statt den Sachverhalt im Text mit Leben zu füllen, entzündete sich die Debatte hier, wie in vielen Teilen des Programms, mehr an der Wortwahl als am Inhalt. Je nach politischem Standort wurde dementsprechend versucht, bestimmte Begriffe durch eine Vielzahl scheinbar klärender Adjektive zu ergänzen. Eine Methode, die viele Programmteile entweder unlesbar oder widersprüchlich werden ließ.

Für Außenstehende, die weder die innerparteilichen Frontlinien kennen, noch deren meist im kleinen Kreis verbleibenden Papiere lesen, sind die Unterschiede selten erkennbar. Ganz grob skizziert, bewegen sich die Gegensätze zwischen der Annahme eines eher mechanistischen Zusammenhangs zwischen der kapitalistischen Ökonomie und den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären und der Tendenz, ihnen ein von der Ökonomie losgelöstes Eigenleben zuzusprechen. Letzteres vor allem deshalb, weil das ökonomische Leben der Gesellschaft nicht als strukturbildendes Moment betrachtet wird, das letztlich sämtliche Lebensbereiche erfasst, sondern weil die Kritik der politischen Ökonomie auf die Kritik des Wirtschaftssektors reduziert wird. So heißt es in den Programmthesen des Forum demokratischer Sozialismus (fds): „Es stimmt zwar, einzelne Spekulanten und Vermögensbesitzer haben massiven Einfluss und haben diesen dramatisch falsch genutzt. Dennoch: die modernen Staaten sind nicht ihre Geiseln oder Handlanger, sondern im Ergebnis eines neoliberalen Diskurses und nicht autokratischer Setzung wurden der institutionelle und der Legitimationsrahmen für diese Exzesse auf dem Finanzmarkt geschaffen.“[8] Was ist damit gemeint, sie hätten ihren Einfluss falsch genutzt, und was heißt einzelne? Es sind nicht Einzelne, sondern es handelt sich um eine gesellschaftliche Klasse, die nicht falsch, sondern als ein großes globales Ganzes in ihrem Interesse handelt. Nicht minder kontrovers und nur schwer vermittelbar ist auch die Behauptung, der Neoliberalismus sei als Ergebnis eines Diskurses über die Welt gekommen. Man muss schon sehr weit ab von der gesellschaftlichen Realität sein, um den Sieg des Neoliberalismus mit der Habermas´schen Diskurstheorie zu erklären. Spätestens seitdem Griechenland und die gesamte EU vergeblich versuchen, mit Milliarden und „positiven Signalen“ um die Gunst der Finanzmärkte zu buhlen, ist der Begriff Geiselhaft zur erschreckenden Realität geworden.

Gleichzeitig versteht es allerdings auch der Programmentwurf nicht in jedem Fall, die Besonderheiten des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus auf den Punkt zu bringen. Wenn es etwa heißt: „Die neoliberale Wende seit den 70er Jahren diente vor allem dem Ziel, die Profitrate der großen Konzerne nach oben zu treiben,“[9] dann bleibt der wesentliche Unterschied zwischen den Akkumulationsregimen des Finanz- und des Realkapitals verborgen. Dagegen ist die häufig vorgebrachte Kritik unbegründet, im Programm würden die „Ursachen der Krise des Kapitalismus (…) praktisch ausschließlich ökonomisch hergeleitet“.[10] Erstens ist mit Kapitalismus ein ökonomisches System gemeint, das natürlich auch aus ökonomischen Gründen in eine Krise gerät und zweitens behandelt der kritisierte Abschnitt auch die „Krise des sozialen Zusammenhalts“, die „Aushöhlung der Demokratie“ und betont ausdrücklich „Die Zentralität der ökologischen Frage“. Es ist gerade ein Verdienst dieses Programms, die Krise der Zivilisation, die ökologische Krise, die Kriegsgefahren und die Krise der Demokratie nicht gesondert zu betrachten, sondern sie in die Krise der kapitalistischen Ökonomie einzubetten.

Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert

Die wichtigste Aussage zur Verortung des demokratischen Sozialismus steht bereits am Anfang: „Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte, sondern eine Etappe der Menschheitsentwicklung, in der sich zwar viele Hoffnungen der Aufklärung erfüllten und eine enorme Steigerung der menschlichen Produktivkräfte stattfand, die aber auch massenhafte Verelendung, Völkermord und unvorstellbare Kriege über die Menschheit brachte.“[11] Ganz im Gegensatz zur häufig geäußerten Kritik kommen hier nicht nur die positiven Tendenzen kapitalistischer Entwicklung zum Ausdruck, sondern die wirkliche Dialektik Marxscher Kapitalismusanalyse. Gleichzeitig setzt sich dieser Abschnitt erfreulich umfassend mit der Eigentumsfrage auseinander und stellt sie in einen konkreten Zusammenhang zum Freiheitsbegriff der LINKEN und ihrem Verständnis vom Rechtsstaat: „Für Rosa Luxemburg endet Gleichheit ohne Freiheit in Unterdrückung, und Freiheit ohne Gleichheit führt zu Ausbeutung. Wir streben eine sozialistische Gesellschaft an, in der jeder Mensch in Freiheit sein Leben selbst bestimmen kann und dabei solidarisch mit anderen zusammenwirkt. Die Überwindung der Dominanz kapitalistischen Eigentums in der Wirtschaft und ein sozialer Rechtsstaat sind dafür die wichtigsten Grundlagen.“[12] Auch die Beschreibung des zu gehenden Weges kommt nicht zu kurz, indem formuliert wird: „DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“[13]

Was in diesem Abschnitt zu kurz kommt, bei aller Kritik kapitalistischen Eigentums, ist eine positive Bestimmung des Öffentlichen. Privatisierungen öffentlichen Eigentums abzulehnen ist zu wenig, wenn es eigentlich darum geht neue, nichtstaatliche Eigentumsformen durchzusetzen.[14] Dagegen befasst sich das Programm hinreichend ausführlich mit dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln und versucht gleichzeitig, das Projekt der Wirtschaftsdemokratie auf neue Weise zu aktualisieren. „Demokratische Steuerung der Wirtschaftsentwicklung setzt voraus, die Finanzmärkte zu bändigen und auf ihre eigentliche dienende Funktion für die Realwirtschaft zurückzuführen.“[15] Denn tatsächlich werden sich sämtliche wirtschaftsdemokratischen Steuerungsinstrumente gegenüber den Finanzmärkten als hilflos erweisen, so lange ihre Willkür gegenüber der Realwirtschaft fortbesteht. Auch die stärkere Regulierung der Finanzmärkte wird das Problem der Überakkumulation des Geldkapitals nicht lösen. Denn solange das überakkumulierte, fiktive Kapital nicht entwertet wird und seine von der Realwirtschaft entkoppelte Selbstvermehrung fortbesteht, bleiben die Möglichkeiten der Wirtschaftsdemokratie äußerst begrenzt. Wahrscheinlich ist das ein zentrales Problem der Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert.

Strittig dürfte auch das Thema Belegschaftseigentum sein, dessen Janusköpfigkeit in der bundesdeutschen Praxis gut zu besichtigen ist und unter den Bedingungen des Kampfes der betrieblichen Standorte den Betriebsegoismus ebenso stärkt, wie es das Band der Solidarität lockert. Ganz davon abgesehen, dass die Masse der Beschäftigten in Betrieben arbeitet, wo das betriebliche Eigentum gering ist und die sich am unteren Ende der Wertschöpfungskette befinden: Handwerksbetriebe oder mittelständische Unternehmen, die als reine Zulieferbetriebe und verlängerte Werkbänke fungieren. Hier wäre es sinnvoller gewesen, über Fondslösungen nachzudenken, wie sie etwa die IG Metall diskutiert. Das in diesem Abschnitt folgende Lob der kleinen und mittleren Unternehmer ist eine aus den ostdeutschen Bedingungen entstandene PDS-Tradition, deshalb auch nicht ganz unbegründet, doch das sind auch die tariffreien Zonen, in denen Niedriglöhne und Prekarisierung dominieren. Bei manchen Gewerkschaftern wäre das Unbehagen über dieses Unternehmerlob geringer ausgefallen, wenn gleichzeitig gesagt worden wäre, dass zur Wirtschaftsdemokratie auch die Durchsetzung gewerkschaftlicher Rechte in kleinen und mittleren Unternehmen gehört. Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie gehört auch zu den zwischen den verschiedenen Strömungen am meisten umstrittenen Programmteilen. Vor allem die antikapitalistische Linke (AKL) sieht darin nicht mehr als das „von der SPD und den DGB-Spitzen seit den 50er Jahren propagierte Konzept der Klassenkollaboration“ und fordert stattdessen „eine gesamtwirtschaftliche demokratische Wirtschaftsplanung.“[16]

Die Reformprojekte

Etwa die Hälfte des Programms konzentriert sich auf „linke Reformprojekte“, von denen es heißt: „Der Kampf für eine bessere Welt, für den demokratischen Sozialismus, beginnt mit der Veränderung der Gesellschaft, in der wir leben.“[17]Die Reformprojekte beziehen sich einerseits auf den Analyseteil und versuchen gleichzeitig den Charakter eines Sofortprogramms zu durchbrechen. So gibt es im Reformteil des Programms einige markante Aussagen, die weit über ein Aktionsprogramm hinausgehen. So etwa im Teil über den Finanzsektor, wo es heißt: „Die privaten Banken sind für den Spekulationsrausch der vergangenen Jahre und die entstandenen Milliardenverluste wesentlich verantwortlich. Private Banken müssen deshalb verstaatlicht, demokratischer Kontrolle unterworfen und auf das Gemeinwohl verpflichtet werden.“[18]Oder mit dem Eingangssatz des recht umfangreichen Ökologieabschnitts: „Die LINKE sieht den sozial-ökologischen Umbau in Deutschland und Europa als eines ihrer entscheidenden Ziele (…) an.“[19] Sämtliche im Abschnitt „Reformprojekte“ genannten Politikbereiche beginnen mit Zielangaben, die in der LINKEN fast unumstritten sind. Doch im Text zu den einzelnen Politikbereichen spiegeln sich auch all die Widersprüche, unüberbrückbaren Gegensätze und Formelkompromisse wider, die 245 Gliederungen oder Einzelpersonen bewegten, 1390 Änderungsanträge einzureichen. Ganz gegen das in PDS und Linkspartei übliche Verfahren, jeden einzelnen Antrag im Plenum zu beraten, beschloss der Parteitag diesmal abschnittsweise die Vorschläge der Antragskommission abzustimmen, sofern sich nicht eine Mehrheit für das bisher übliche Verfahren aussprach. Nicht zuletzt allerdings auch, um nicht den in diversen Kommissions- und Parteivorstandssitzungen ausgehandelten Konsens zu gefährden.

Nach wie vor gravierende Gegensätze gibt es bei zwei Reformprojekten der sozialen Sicherungssysteme beziehungsweise der Arbeitsmarktpolitik, nämlich beim bedingungslosen Grundeinkommen und dem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS). Beim bedingungslosen Grundeinkommen blieb es beim bereits in den Eckpunkten gefundenen Kompromiss: Es soll weiter diskutiert werden. Wobei die Differenzen längst geklärt sind. Es geht weniger um die Realisierungsmöglichkeiten als um die Grundannahme, dass mit dem bedingungslosen Grundeinkommen der Kapitalismus entscheidend geschwächt werden könne. Das Projekt versteht sich nicht als eine hauptsächlich sozialpolitische, sondern als eine systemüberwindende Maßnahme. Komplizierter ist die Situation beim ÖBS, der erstens ein in der früheren PDS-Bundestagsfraktion entwickeltes Referenzprojekt ist und zweitens in zwei rot-roten Landesregierungen verwirklicht wurde. Zuerst in Mecklenburg-Vorpommern, noch mit erheblichen Einschränkungen, und dann in Berlin, mit über 6500 Arbeitsplätzen in selbstorganisierten Sozial- und Kulturprojekten. Wobei es in Berlin das erste Mal gelang, den damaligen Arbeitsminister Müntefering zur Umwidmung arbeitsmarktpolitischer Mittel zu bewegen und im Berliner Senat einen Zuschuss von 50 Millionen durchzusetzen, was zusammengenommen eine Bezahlung in Höhe des geforderten gesetzlichen Mindestlohnes ausmachte. Die ausschließlich aus dem Westen kommende Kritik wollte im Programm das gesamte Projekt kippen und die entsprechenden Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst ansiedeln. Die Ironie will es, dass eine Fortführung des ÖBS ohnehin scheitern dürfte. Einerseits am Widerstand aus der schwarz-gelben Bundesregierung und andererseits an der neu gebildeten Großen Koalition in Berlin. In der Programmdebatte aber verwandelte sich der ÖBS in eine Art Scheidemünze zwischen der gewerkschaftlich geprägten Linken und den sogenannten Reformern. Inhaltlich gesehen ging es wohl eher um einen Konflikt zwischen der klassischen – von beiden Seiten unterstützten Arbeitsmarktpolitik – und deren Erweiterung um die Unterstützung selbstorganisierter Projekte mit hauptamtlichen Stellen.

Als noch konfliktträchtiger erwies sich bereits bei der Programmarbeit das Thema Sicherheits- und Friedenspolitik, das nach der Jahrtausendwende schon den Münsteraner Parteitag der PDS in Konfusion stürzte. In der mit der WASG vereinigten LINKEN gewann dieser Konflikt noch eine ganz andere Bedeutung, weil viele ehemalige Grüne und Sozialdemokraten ihre Partei ausdrücklich wegen deren Abweichung von der Friedenspolitik verlassen hatten. Obwohl sich sämtliche Strömungen einig in der Bezeichnung der LINKEN als „internationalistische Friedenspartei“ sind und für „Gewaltfreiheit im Innern von Gesellschaften oder zwischen Staaten“[20] eintreten, werden daraus recht unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. Nach wie vor gibt es in der LINKEN gegensätzliche Haltungen zu UNO-Einsätzen und dem Umgang mit der Nato. Die einen lehnen sämtliche von der UNO mandatierte Auslandseinsätze ab, andere schließen nur die robusten Mandate nach Kapitel VII aus und wollen von Fall zu Fall entscheiden, ob auch Blauhelmeinsätze unterstützungswürdig sind. Die gleichen Gegensätze bestehen innerhalb der gemeinsamen Position zur Auflösung der NATO: Wo den einen die Auflösung reicht, streben die anderen „ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands“ an. Letzteres setzte sich durch, weil gleichzeitig beschlossen wurde, „dass die LINKE in jeder politischen Konstellation dafür eintreten“ werde, „dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen“ wird.[21]

An sich unterscheiden sich die im Programm formulierten sicherheits- und friedenspolitischen Positionen so radikal von allen anderen Parteien, dass Außenstehende den Konflikt kaum verstehen mögen. Was übrigens weitgehend auch für die anderen Politikbereiche gilt. Verständlich wird das alles erst vor dem Hintergrund des in der Partei grundsätzlich herrschenden Misstrauens. Die einen fürchten aus eigener leidvoller Erfahrung überall Einfallstore für den bei Grünen und Sozialdemokraten erlebten Opportunismus, die anderen ein Abgleiten in fundamentalistische Politikunfähigkeit. Kein Wunder, dass deshalb in der Programmdebatte lange über so genannte rote Haltelinien für Regierungsbeteiligungen gestritten wurde. Wogegen sich vor allem die so genannten Reformer wehrten, weil sie die Verabschiedung eines starren, praxisuntauglichen Korsetts befürchteten. So heißt es auf der einen Seite: „An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Dienstes verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.“[22] Gleichzeitig heißt es aber auch: „Regierungsbeteiligungen sind konkret unter den jeweiligen Bedingungen zu diskutieren und an diesen politischen Anforderungen zu messen.“[23] Hier, wie bei anderen Kompromissen des Programms, werden sich in Zukunft die Kontrahenten auf die ihnen genehmen Sätze berufen. Das wird nicht zu verhindern sein, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Vorrat an Gemeinsamkeiten überraschend groß ausgefallen ist. Vorausgesetzt man verzichtet darauf, einzelne Sätze aus ihrem Zusammenhang zu reißen.

Die Reaktion der Presse auf das mit 96,9 Prozent angenommene Programm war fast so einheitlich wie der Parteitag. Die LINKE ist weiter nach links gerückt heißt es übereinstimmend und, wie die FR meinte, damit „noch randständiger“[24] geworden. Allgemein wird erleichtert diagnostiziert, dass somit eine Regierungsbeteiligung im Bund in weite Ferne gerückt sei, ohne gleichzeitig zu übersehen, dass dieses Programm näher an den weltweiten Aktionen gegen den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist als es SPD und Grünen lieb sein kann. Dass Erfurt ein Meilenstein für die LINKE ist, kann nicht in Abrede gestellt werden. Doch bei aller Einheitlichkeit gibt es auch Hinweise für den Fortbestand alter Konfliktlinien. Mit Steffen Bockhahn, Landesvorsitzender von Mecklenburg-Vorpommern sowie einflussreicher fds-Aktivist und Halina Wawzyniak, die immerhin eine der stellvertretenden Parteivorsitzenden ist, haben ausgerechnet zwei Führungsleute der sogenannten Reformer dem Programm ihre Zustimmung verweigert. Was daraus folgt bleibt abzuwarten. Zumal das fds auf dem Parteitag ohnehin nicht durch aktives Eingreifen auffiel und mittlerweile eine ebenso große politische Spannweite besitzt wie andere Strömungen auch.

[1] Leitantrag des Parteivorstandes an die 2. Tagung des 2. Parteitages der Partei die LINKE, Zeile 187.

[2] Vergl. Harald Werner, Verschüttete Quellen und vergessene Wurzeln der LINKEN, in: Wolfgang Gehrcke (Hg.) „Alle Verhältnisse umzuwerfen…“, Eine Streitschrift zum Programm der LINKEN, Köln 2011, S.28ff.

[3] Leitantrag, Zeile 362.

[4] Ebenda, Zeile 272 – 276.

[5] Ebenda, Zeile 267 – 271 (im Beschluss ergänzt durch Vietnam-Krieg).

[6] Ulla Jelpke, am 4. September 2011 auf der Programm- und Strategiekonferenz der AKL.

[7] Zum Entwurf des Programms der Partei DIE LINKE 13 Thesen zum Programmentwurf, beschlossen vom Bundesvorstand des fds am 28. August 2010.

[8]Ebenda.

[9] Programmentwurf, Zeile 640.

[10] Halina Wawzyniak/Raju Sharma: Alternativer Entwurf für ein Parteiprogramm DIE LINKE, 11. Januar 2011.

[11] Programmentwurf, Zeile 923 – 927.

[12] Ebenda, Zeile 944 – 949.

[13] Ebenda, Zeile 1004 – 1007.

[14] Vergl. dazu Rainer Rilling, Neues zur Eigentumsfrage?, in Wolfgang Gehrcke (Hg.) „…alle Verhältnisse umzuwerfen“, eine Streitschrift zum Programm der LINKEN, Köln 2011, S.83 ff.

[15] Programmentwurf, Zeile 1037 – 1039.

[16] Ulla Jelpke, a.o.O.

[17] Programmentwurf, Zeile 1200.

[18] Ebenda, Zeile1406 ff.

[19] Ebenda, Zeile 2136.

[20] Ebenda, Zeile 2474.

[21] Ebenda, Zeile 2491.

[22] Ebenda, Zeile 2744.

[23] Ebenda, Zeile 2740.

[24] FR vom 24.10.11.