Die seit dem Sommer dominierende Debatte zur anhaltend großen Zahl von Flüchtlingen, die in der Bundesrepublik Schutz suchen, wirbelt den politischen Betrieb und die fest gefügt scheinenden politischen Verhältnisse gehörig durcheinander. Niemals in der Ära Merkel war die Kritik an der Kanzlerin so verbreitet wie im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik. Die Mehrheitsfähigkeit der Union könnte, so Befürchtungen der Merkel-Kritiker, zur Disposition stehen, wenn dem Zustrom kein Ende gesetzt und nicht auch verbal gegen den weiteren Zuzug Stellung bezogen wird. Selbst die EU scheint in ihren Grundfesten erschüttert und der Funktionsunfähigkeit entgegen zu taumeln. Grenzregime entstehen neu und der Ton zwischen den Mitgliedsstaaten hat sich in einer Art und Weise verschärft, die Spuren hinterlassen wird.
Der Grund für die krisenhafte Zuspitzung ist im In- wie im Ausland die massive Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung und deren Verstärkung durch die dominierende Politik, die sich in einer weit verbreiteten Abwehr von Flüchtlingen, einem Rückzug auf nationale Egoismen und einem verstärkten Bezug auf xenophobe, teils rassistische Ressentiments ausdrückt. Die Themen der politischen Rechten – Nation, Ethnie, Homogenität – sind es, die in der gegenwärtigen Situation Konjunktur haben, während sich die Linke nur zögerlich bemerkbar macht und keinen offensiven Zugang zum Thema findet.
In den meisten europäischen Ländern und auch in der Bundesrepublik profitiert die organisierte Rechte von der Situation: Erfolge von FPÖ (Österreich), SVP (Schweiz) und PiS (Polen) sind die ersten Belege, denen ohne Zweifel weitere folgen werden. In Deutschland scheint es der AfD trotz der Abspaltung des nationalliberalen Lucke-Flügels zu gelingen, sich mittelfristig zu etablieren. Flankiert wird sie von einer rechten Bürgerbewegung in Form von Pegida, die das Ressentiment der bürgerlichen Mitte repräsentiert und zu einer verbalen und auch konkreten Radikalisierung rechter Stimmungen im Land beiträgt.
Jenseits der Willkommenskultur: Rechter Terror
Seit Wochen vergeht kein Tag, an dem nicht über rechte Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte in den Medien berichtet wird. Von verbaler Bedrohung über Demonstrationen vor den Unterkünften und Sachbeschädigung reicht die Palette der Angriffe bis zu Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, bei denen der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen wird. Das Ausmaß der Angriffe lässt sich nur mit dem rechten Terror zu Beginn der 1990er Jahre vergleichen, als die Städte Mölln, Solingen, Rostock, Hoyerswerda u.a. zu Synonymen eines grassierenden Rassismus wurden, der damals tatkräftig von der Politik befeuert und zur Schleifung von Artikel 16 Grundgesetz, dem Asylrecht, genutzt wurde.
Dass es bis heute keine Todesopfer dieser aktuellen rassistischen Angriffe gegeben hat, ist reiner Zufall und ein Blick auf die Entwicklung zeigt, dass sich die Gewalt immer stärker gegen die Flüchtlinge selbst richtet. Gab es im Jahr 2013 laut Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) 69 Angriffe (von Propagandadelikten bis zu physischen Angriffen) auf Flüchtlingsunterkünfte, so hat sich diese Zahl 2014 auf 177 erhöht und ist nach drei Quartalen 2015 auf 461 angestiegen.[1] Die Gewalttaten sind in diesem Zeitraum von 11 über 27 auf 64 gestiegen, sie liegen real aber deutlich höher. Sieht man sich die Entwicklung etwas genauer an, lässt sich der Anstieg der Angriffe ziemlich genau datieren. Im Herbst 2014, parallel zum Aufstieg von Pegida, setzt eine Welle von Taten ein, die sich immer weiter steigert und auf einer Stimmung aufsetzt, in der sich die Täter als Ausführende eines Mehrheitswillens sehen. Ohne jeden Zweifel haben Pegida, aber auch die um die Themen Zuwanderung und Kriminalität aufgebauten Wahlkämpfe der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst 2014 zu diesem Anstieg beigetragen. Von Seiten der Behörden wird immer wieder angeführt, dass es bisher keine Belege für eine überregionale Organisierung dieser Taten durch die extreme Rechte gäbe. Die Mehrzahl der bekannten Täter käme aus dem regionalen Umfeld der Tatorte, bei 65 Prozent sei keinerlei Verbindung zur extremen Rechten feststellbar. Was eventuell beruhigend klingen soll, stellt sich politisch jedoch als fatal heraus. Offensichtlich ermutigt die durch Pegida und AfD angeheizte Stimmung einen Teil der „Normalbürger“, die Sache in die eigene Hand zu nehmen und die im Ort geplante Flüchtlingsunterkunft durch Brandstiftung o.ä. zu verhindern. Durch die Presse ging der Fall eines Bankbeamten, der die geplante örtliche Flüchtlingsunterkunft in Brand setzte, um danach in Ruhe einen juristischen Weg zu deren Verhinderung finden zu können. Die bisher geringe Aufklärungsquote gerade bei den Brandanschlägen[2] lässt aber offen, ob hier nicht auch verstärkt gewaltbereite Strukturen der Nazis unterwegs sind. Von der Polizei wird vereinzelt beklagt, dass es in kleineren Orten keinerlei Zeugen oder Aussagebereitschaft gebe, ein Indiz, das für ein insgeheimes Einverständnis spricht. Ohne Zweifel sind es jedoch auch Kader der extremen Rechten, die mit diesen Taten verbunden werden können. Zwei gewalttätige Nazigruppen, die laut Behörden konkrete Anschläge geplant hatten, wurden von Polizei und Verfassungsschutz aufgedeckt.[3] Die Nazi-Kleinpartei „Der III. Weg“ hat bereits im Frühjahr 2015 eine Karte mit geplanten und vorhandenen Flüchtlingsunterkünften ins Netz gestellt, dazu einen Leitfaden, wie man sich gegen eine solche Einrichtung wehren kann. Die Aufforderung zum Handeln ist hier offensichtlich.
Die Einrichtung einer eigenen Clearingstelle beim BKA zu den Straftaten gegen Asylunterkünfte, die inzwischen regelmäßige und zeitnahe Veröffentlichung der Zahlen durch die Behörden und auch die Warnungen von Innenminister und Verfassungsschutzpräsidenten vor rechtsterroristischen Anschlägen zeigen, dass man sich der Gefahr hier bewusst ist und sich nicht noch einmal die Blöße wie beim NSU geben will. Allerdings zeigt ein Blick auf unabhängige antifaschistische Untersuchungen zum Thema, dass die Behörden längst nicht alles im Blick haben, was passiert. So werden vom Innenministerium bis Ende September 2015 28 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte aufgeführt, während eine von der Linksfraktion im Bundestag in Auftrag gegebene Untersuchung des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums (apabiz) 63 solcher Anschläge aufführt.[4]
Der von einem Neonazi verübte Anschlag auf die Bürgermeisterkandidatin Henriette Reker in Köln zeigt, dass die Schwelle zu rechtem Terror bereits überschritten ist, auch wenn von Seiten der Behörden der Terminus in diesem Zusammenhang vermieden wurde. Die in der Presse mehrfach gestellte Frage, wie man den Angriff eines Islamisten auf eine Politikerin gewertet hätte, macht die unterschiedlichen Maßstäbe deutlich.
Jenseits der Gefahr für Leib und Leben von Flüchtlingen und ihren Unterstützern ist dieser neue rechte Terror ein Problem der Sicherheitsbehörden. Der NSU ging aus der rassistischen Welle der frühen neunziger Jahre hervor, und auch jetzt könnte eine Generation von Neonazis heranwachsen, die zu einer radikaleren Form des rechten Terrors übergehen will. Umso wichtiger ist es, sich mit den bewussten und unbewussten politischen Zuträgern, den Stichwortgebern, zu befassen.
Bürgerbewegung von rechts: Pegida und der Ausdruck des Ressentiments
Der Aufstieg von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) im Herbst 2014 kam für die meisten Beobachter völlig überraschend. Vor allem der stetig anwachsende Massencharakter der Dresdener Bewegung und die sich hier ausdrückende Verdrossenheit über große Teile des politischen Betriebs stellte Politik und Medien vor die Frage, wie mit Pegida umzugehen sei: Teilweise berechtigte Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern drückten sich hier aus, hieß es, weshalb es wichtig sei, das Gespräch mit diesen Menschen zu suchen. So reagierten Teile von Union und SPD auf die erste Welle von Pegida. Als dann die rassistischen Ausfälle des Frontmanns Lutz Bachmann bekannt wurden, sich der Organisatorenkreis um Pegida spaltete und der Zulauf ab März 2015 nachließ, schien sich das Problem für viele erledigt zu haben.[5] Ein harter Kern von immerhin ca. 2.000 Menschen blieb dem Bündnis treu, bis im Zuge der aktuellen Zuwanderungsdebatte die Zahlen der Teilnehmer wieder auf 5.000, 8.000 und schließlich bis zu 20.000 in die Höhe schnellten.
Deutlich wird in diesem zweiten Aufschwung von Pegida, dass das Ressentiment gegen Zuwanderer bis hin zum offenen Rassismus zum Kernelement der Bewegung gehört. Die kolportierten rassistischen Äußerungen Bachmanns, die Auftritte von Vertretern einer Neuen Rechten, die Einladung an Rechtsaußenparteien wie Lega Nord oder die Wilders-Partei, die zunehmende verbale Radikalisierung und die regelmäßige Teilnahme von bekannten Nazis an den Aufmärschen – all das war für die Teilnehmer kein Hinderungsgrund. Ein rassistischer Konsens eint Pegida und muss als solcher auch zur Kenntnis genommen werden. Denn es sind nicht zuerst die wie auch immer berechtigten Sorgen vor dem Ausmaß der Zuwanderung, verbunden mit der Suche nach akzeptablen Lösungen, sondern eine Ideologie der Ab- und Ausgrenzung, die Fremdes prinzipiell als Bedrohung wahrnimmt und auf ethnische Homogenität fixiert ist. Die seit Jahren unter dem Stichwort „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ festgestellten Vorurteilsstrukturen im Querschnitt der deutschen Bevölkerung haben in Dresden mit Pegida eine Ausdrucksmöglichkeit gefunden, die weit über den regionalen Rahmen hinausweist. Es gibt trotz des Fehlens anderer ähnlich erfolgreicher Mobilisierungen keinen Grund zu der Annahme, es handele sich um ein rein sächsisches Problem.
Während sich das Auftreten Pegidas, der Kreis der Organisatoren, die An-sprache und auch der Kreis der Teilnehmer nicht oder nur geringfügig geändert haben, ist die Reaktion der Politik heute eine völlig andere. Plötzlich entdeckt Innenminister de Maiziere in den Organisatoren von Pegida „harte Rechtsextremisten“, Politiker von CDU und SPD plädieren für eine Überwachung von Pegida durch den Verfassungsschutz. Hier zeigt sich die Beschränktheit des allgegenwärtigen Extremismusansatzes, der eine Gefährdung der Demokratie nur durch die „Extreme“ links und rechts erkennen kann und insofern einer Bewegung, die nicht umstandslos dem Neofaschismus zugeschlagen werden kann, hilflos gegenübersteht bzw. sie als „extremistisch“ markieren muss.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Pegida-Publikum der zweiten Welle sich in seiner Zusammensetzung von dem der ersten Welle unterscheidet. Spielte im Herbst 2014 das Thema Islam/Islamismus eine zentrale Rolle, so ist es heute die Zuwanderung generell, völlig unabhängig von der konkreten Herkunft der Menschen. Rassismus in einem analytischen Sinne, verbunden mit einer eindeutigen Hierarchisierung der als „Rassen“ (oder Kulturen) verstandenen Gruppen scheint nicht den Kern der Pegida verbindenden Ideologie zu treffen. Ethnopluralistische Argumentationen im Sinne einer Separierung unterschiedlicher Kulturen und ihrer Reinhaltung (‚Deutschland soll deutsch bleiben‘) trifft diesen Kern schon eher. Zu fragen bleibt dabei, wie sehr Zuwanderung und zugeschriebene Fremdheit als Ausdruck von generellen Entfremdungserfahrungen zu bewerten sind, für die politische Eliten und Medien verantwortlich gemacht werden. Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer schreibt dazu anlässlich des ersten Jahrestages von Pegida: „Pegida könnte also als Protest gegen eine Art von ‚funktionaler Elitendemokratie‘ gedeutet werden, als Opposition gegen eine politische Ordnung, in der wirtschaftliche Macht und staatlich-administrative Funktionseliten politische Entscheidungen entwerfen, sich dabei aber gleichzeitig von dem entfernen, was die Bürger wahrnehmen beziehungsweise was ihnen überhaupt demokratisch-legitimatorisch noch zugerechnet werden kann.“[6]
Damit drückt Pegida ein Problem postdemokratischer Zustände generell aus und verdeutlicht die immer größere Distanz von Teilen der Bevölkerung zum politischen Betrieb. Vorländer schreibt dazu: „Insofern kann Pegida auch als Reflex von Veränderungen des Systems repräsentativer Demokratie gelten. Auf der einen Seite ist eine fortschreitende Auflösung der sozialen Infrastruktur der Demokratie zu verzeichnen. Parteien, Gewerkschaften, Stammtische und Vereine verlieren immer mehr ihren politisch bindenden, organisierenden, aber auch integrierenden Charakter. Die Bereitschaft zu einem verstetigten politischen Engagement nimmt ab, Ad-hoc-Initiativen und der anonyme Foren-Kommentar im Internet werden zu neuen Formen der Aktivität. In der Folge drohen die etablierten Wege und Verfahren demokratischer Teilhabe und Teilnahme zunehmend ins Leere zu laufen.“[7] Jenseits der Verschärfung des von Ressentiments und Ausgrenzung geprägten Klimas in Teilen der Gesellschaft ist Pegida auch Ausdruck eine Demokratiekrise. Dass sich diese Krise politisch rechts ausdrückt und einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft (wenn auch im Mikrokosmos Dresdens) umfasst, ist nicht nur in Deutschland, sondern in zahlreichen Ländern Europas zu sehen.
Partei der Bewegung? AfD und neue Rechte
Eine dauerhafte und immer wieder mobilisierbare Bürgerbewegung von rechts markiert eine deutsche Besonderheit, die sich auch mit der bisherigen parteipolitischen Sonderstellung der Bundesrepublik erklären lässt. Während in den meisten europäischen Ländern Rechtsaußenparteien feindliche Stimmungen gegenüber Zuwanderern aufnehmen und im Sinne des politischen Betriebs kanalisieren, hat sich Pegida zu einem Zeitpunkt gegründet, als von einer Etablierung der AfD noch nicht gesprochen werden konnte und die generelle Ausrichtung der Partei noch unklar war. Insofern nimmt die Bewegungslogik von Pegida das weit verbreitete Misstrauen gegenüber Parteien und institutionellen Formen der Politik auf, auch wenn die AfD – wie alle Parteien des so genannten Rechtspopulismus – mit der Betonung ihres Außenseiterstatus dem entgegenzusteuern versucht. Während der NRW-Landesvorsitzende Marcus Pretzell beim Parteitag in Essen die AfD zur „Pegida-Partei“ ausrief, stößt dieser Anspruch dort auf Widerspruch. Trotz enger Beziehungen zur AfD will sich Pegida nicht parteimäßig vereinnahmen und damit eventuell überflüssig machen lassen. Nicht umsonst kandidierte die Pegida-Aktivistin Tatjana Festerling bei den Oberbürgermeisterwahlen in Dresden als unabhängige Kandidatin (9,6 Prozent im ersten Wahlgang).
Dennoch profitiert die AfD gegenwärtig stark von der gesellschaftlichen Polarisierung beim Thema Zuwanderung. Der von manchen nach der Abspaltung des Lucke-Flügels vorhergesagte Niedergang der Partei findet nicht statt. In Essen hat die AfD insofern eine Richtungsentscheidung vollzogen, als sie eindeutig den Weg zur modernen Rechtsaußenpartei gewählt hat, die mit Themen wie Zuwanderungsbegrenzung, nationale Identität, Antifeminismus, konservative Familienpolitik um Wählerstimmen wirbt. Der stärker wirtschaftsliberale Flügel um Lucke und Henkel hat die Auseinandersetzung klar verloren und mit dem Parteiaustritt die Konsequenz gezogen. Der bürgerlich-liberal orientierte Teil der Wählerschaft dürfte verloren sein, dafür hat die AfD an weiterer Attraktivität für den großen Teil an Bürgerinnen und Bürgern gewonnen, die sich vom etablierten Parteibetrieb abgewandt haben und die mit den klassischen Themen des Rechtspopulismus zu erreichen sind. Die Positionierung der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage dürfte ein Übriges tun, die AfD mittelfristig im politischen Spektrum zu verankern, da scharenweise enttäuschte Konservative der Union den Rücken kehren werden.
Erkauft hat sich der nationalkonservative Flügel um Petry und Gauland den Sieg über Lucke durch ein Bündnis mit den harten neurechten Nationalisten um den Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke und den um die Patriotische-Plattform organisierten Teilen der Partei. Höcke tritt gegenwärtig in die Rolle des rechten Volkstribuns und sieht offensichtlich die Stunde der Neuen Rechten in der AfD und der Gesellschaft generell gekommen. Der skurrile Auftritt in der Talkshow von Günter Jauch lässt erahnen, in welche Richtung die Reise der AfD gehen könnte. Dabei deutet sich schon ein neuer Richtungsstreit in der Partei an, wie die Kritik der Vorsitzenden Petry am Auftritt Höckes verdeutlicht. Nicht inhaltliche Differenzen, sondern die Radikalität des Auftritts scheint Hintergrund der Auseinandersetzung zu sein. Während Höcke offensichtlich den von Pegida repräsentierten Teil der Bevölkerung verstärkt ansprechen will, scheint Petry, auch mit Blick auf die Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, eher darum besorgt zu sein, den potenziell von der Union abzuschöpfenden Wähleranteil nicht zu verschrecken.
Möglicherweise handelt es sich aber auch nur um ein Spiel mit verteilen Rollen, denn es ist die AfD als Ganze, die den Herbst für eine Öffentlichkeitskampagne nutzt, um das Thema Zuwanderungsabwehr auf die Straßen und Plätze zu tragen. Die von Höcke anlässlich der AfD-Demos in Erfurt geäußerten Nazisprechblasen von der „tausendjährigen deutschen Zukunft Erfurts“ und den von den Migranten ausgehenden Gefahren für „blonde deutsche Mädchen“ wurden von Petry nicht kritisiert. Der NRW-Landesvorsitzende konnte sogar Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge an der deutschen Grenze ins Spiel bringen, ohne von der Parteispitze kritisiert zu werden.[8] Eine solche Strategie der faschistischen Anklänge bei gleichzeitiger Distanzierung von eigenen Äußerungen („Missverständnisse“) ist von Jörg Haider bis zu gegenwärtigen Parteiführungen des Rechtspopulismus bekannt. Sollte sich die AfD nicht in diesem Rollenkonflikt verheddern, wird sie bei den Wahlen 2016 einen weiteren Schritt zur bundesweiten Verankerung tun. Sollte dies vor allem zu Lasten der Union gehen, dürften die zentrifugalen Kräfte in der CDU/CSU noch stärker werden.
Die Union im Strudel
In der Union tobt ein offener Kampf zweier Linien: Die Modernisierer um Merkel wollen Deutschland als weltoffenes Land und Global Player auch im weltweiten Wettbewerb um gut ausgebildete Arbeitskräfte platzieren. Zusammen mit den größten Kapitalfraktionen sehen sie Deutschlands Zukunft auf den globalen Märkten nur dann gesichert, wenn ein flexibles Arbeitskräfteangebot weltweit genutzt werden kann. Abschottung, Grenzziehungen sind in dieser Sicht langfristig kontraproduktiv. Die über Jahre thematisierte demographische Frage soll auch über verstärkte Zuwanderung gelöst werden.
Nach der aus deutscher Sicht erfolgreichen, aber für das Ansehen des Landes problematischen Unterwerfung der griechischen Linksregierung ging es Merkel sicher auch um eine Imageverbesserung im Rahmen der Flüchtlingskrise im Spätsommer. Ob die Entscheidung zur Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn im September eine kurzfristige Maßnahme oder eine strategische Entscheidung angesichts einer Entwicklung war, die nicht abgewehrt, sondern nur gesteuert werden kann, lässt sich gegenwärtig nicht sagen. Auf jeden Fall reagierte der konservative Teil der Union zusammen mit den konservativen Medien und brandmarkte diese Entscheidung als größten Fehler der Kanzlerin, der die Fluchtwelle erst angeheizt habe. Dieser Teil der Union sieht die Flüchtlingspolitik von Merkel als Preisgabe nationaler Souveränitätsvorstellungen und als grundlegende Änderung der Gesellschaft, die den Zusammenhalt gefährde. Sieht man sich das Trommelfeuer konservativer Leitmedien, allen voran der FAZ, gegen die anfängliche Linie von Merkel an, dann zeigt sich hier eine eindeutige Bruchlinie innerhalb des herrschenden Blocks. Neben dem Vorwurf, Merkel verfolge eine rein moralische Flüchtlingspolitik, ohne die längerfristigen Folgen zu bedenken, wuchs die Kritik vor allem angesichts der sinkenden Umfragewerte der Union und auch der Kanzlerin persönlich. Profiteur dieses temporären Absturzes ist die AfD, deren Werte nach oben gingen und die sich in den Umfragen Anfang November 2015 bei 8 Prozent bundesweit befand.[9]
Der massive Druck innerhalb der Union hat dazu geführt, dass die große Koalition mit Zustimmung der Grünen die härteste Verschärfung des Asylrechts seit 1993 beschlossen und die Maßnahmen zur Abschreckung der Flüchtlinge intensiviert hat. Ob die Versuche der innerparteilichen Befriedung erfolgreich sein werden, entscheidet sich auch daran, ob die Union weiter an Zustimmung verliert oder diesen Trend stoppen kann. Mit der AfD hat sie jetzt eine Konkurrenz von rechts bekommen, die jede Zuspitzung aus Bayern problemlos toppen wird und die konservativen Teile der Union damit in einen Überbietungswettbewerb der verbalen Radikalisierung zwingt. Die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern zeigen, dass dieser Wettbewerb regelmäßig zugunsten der radikalen Rechtsparteien ausgeht.
Rechtsverschiebung oder Polarisierung der Lager?
Die Flüchtlingsdebatte seit dem Sommer ist von gegensätzlichen Bildern geprägt: Zunächst machte sich eine breite, in diesem Ausmaß völlig unerwartete Welle der Hilfsbereitschaft und der bis heute anhaltenden wochen- und monatelangen konkreten Unterstützungsarbeit für die geflüchteten Menschen bemerkbar. Angesichts tausender Ankommender täglich drückte ein Teil der Bevölkerung seine Vorstellung von Solidarität und gesellschaftlicher Teilhabe sehr praktisch aus. Auch wenn die jubelnden Willkommensinszenierungen an deutschen Bahnhöfen sicher partiell auch einer Eventkultur entsprungen sind, ist das damit zum Ausdruck gebrachte Verständnis von einem weltoffenen Land nicht einfach zu entpolitisieren oder unter den Tisch zu kehren. Die Umfragen zum Thema zeigen zwar, dass die Besorgnis in der Bevölkerung zunimmt, sie geben aber keine Hinweise darauf, dass die Mehrheit für eine strikte Abschottung sei.[10]
Mit der Erkenntnis, dass es sich um kein kurzzeitiges Anwachsen der Flüchtlingszahlen handelt und dass die Politik der Kanzlerin nicht primär darauf gerichtet war, die Dämme mit aller Macht wieder dicht zu machen,[11] machte sich der andere Teil der immer auch vorhandenen gesellschaftlichen Stimmung breit, der die Zuwanderung als massive Bedrohung und Angriff auf die bisherige Verfasstheit von Staat und Gesellschaft betrachtet. Alle vorhandenen Erkenntnisse zu Einstellungen bezüglich der Themen Zuwanderung und Ausgrenzung schwacher Gruppen ließen eine solche Reaktion erwarten. Verwunderlich ist sehr viel eher die nach wie vor hohe Bereitschaft zu Solidarität und Hilfe. Es lässt sich also nicht wirklich von einem Rechtsruck im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdebatte sprechen. Demgegenüber macht sich eine Polarisierung in der Gesellschaft bemerkbar, die auch Anknüpfungspunkte für linke Politik bietet. Viele Aktivisten aus Unterstützungsgruppen berichten vom wenig ausgeprägten politischen Bewusstsein zahlreicher Helfer und Helferinnen. Die reale Arbeit und damit verbundene Erfahrungen (Abschiebungen, Schwierigkeiten der Teilhabe etc.) bieten aber Chancen für politische Bewusstseinsprozesse.
Aus linker Sicht ist es ein besonderes Alarmzeichen, dass die populistische Rechte in Europa insbesondere von den subalternen Klassen als Garant gegen eine weitere Auflösung des als Schutzrahmen begriffenen Nationalstaats gesehen wird. Die Deutung dieses nationalen Schutzrahmens erfolgt aufgrund der rechten Hegemonie auf diesem Gebiet aber in einem ethnopluralistischen, exklusiven Sinne, indem die Vorrechte der hierzulande „Ansässigen“ gegen die Hinzukommenden gewahrt werden sollen. Eine linke Adaption eines so besetzten Nationenbegriffs ist nicht möglich. Die Thematisierung der sozialen Frage stellt die entscheidende Alternative dar und muss sich ausdrücklich auf die soziale Teilhabe von allen hier lebenden Menschen beziehen.
Vorkündigung
Marxistische Studienwoche 2016
Kapitalismus und Migration
Ursachen – Folgen – Herausforderung für Linke
Vorträge – Lektüre- und Arbeitsgruppen – Diskussion
Kulturelles Abendprogramm
Frankfurt/M., Haus der Jugend, 14.-18. März 2016
Veranstalter:
Redaktion Z in Verbindung mit der Heinz-Jung-Stiftung Frankfurt/M.
Die Tagung richtet sich an Studierende. Tagungsbeitrag 50,- Euro.
Anmeldung und nähere Informationen unter redaktion@zme-net.de.
[1] Vgl. dazu Lena Kampf und Georg Mascolo, Gewalt gegen Flüchtlinge alarmiert BKA, Süddeutsche Zeitung 21.10.2015 (http://www.sueddeutsche.de/politik/fremdenfeindlichkeit-gewalt-gegen-fluechtlinge-alarmiert-bka-1.2701864) und die Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion, BT-Drucksache 18/6424. Die Entwicklung der Zahlen wird immer unübersichtlicher; das BMI ging Anfang November von 600 Straftaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte aus.
[2] Vgl. http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2015/Biedermann-als-Brandstifter-Wer-zuendet-Fluechtlingsheime-an,brandstifter168.html
[3] Im Frühjahr 2015 wurde gegen die Gruppe Oldschool Society (OSS) wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgegangen (vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/terror-razzia-gegen-old-school-society-a-1032297.html), im Oktober 2015 wurden Anschlagsplanungen einer Nazigruppe in Bamberg mit Verbindungen zur Partei „Die Rechte“ aufgedeckt (vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/razzia-gegen-die-rechte-vereitelt-rechtsextremen-anschlag-13870437.html).
[4] Vgl. http://www.linksfraktion.de/nachrichten/zahl-rechter-angriffe-fluechtlinge-steigt-weiter/ hier auch die Auswertung des apabiz.
[5] Vgl. Gerd Wiegel, Bürgerbewegung von rechts. Die PEGIDA-Proteste und ihre Ursachen, in Z. 101, März 2015, S. 107ff.
[6] Prof. Hans Vorländer, Was ist Pegida und warum?, FAZ, 19.10.2015.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 1.11.15.
[9] Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/umfrage-afd-holt-acht-prozent-jahreshoechstwert-a- 1060547.html
[10] Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/umfragen-zu-fluechtlingen-je-offener-die-frage-desto-aengstlicher-der-befragte-1.2675529
[11] Die Verschärfung der Asylgesetze sind ohne Zweifel die rigidesten Eingriffe ins Asylrecht seit 1993. Dennoch war die Politik von Merkel, sehr zum Leidwesen größerer Teile der Union und der konservativen Presse, nicht auf eine völlige Abschottungspolitik wie in den meisten Nachbarländern gerichtet.