Vor 500 Jahren, 1515/16, entstand ein Buch, das einer literarischen Gattung und einem politologisch-geschichtsphilosophischen Konzept den Namen gab: Thomas Morus’ Utopia, zu Deutsch Utopie. Es erschien 1516 in lateinischer Sprache in Löwen; das Wort ist eine neulateinische Bildung, die auf Morus selbst zurückgeht. Verbunden mit dem Wort ist die Vorstellung einer idealen Gesellschaft, meist mit dem Zusatz versehen, es handle sich um einen ‚Wunschtraum’, ‚Staatsroman’ oder eine ‚Staatsutopie’.
Politik und irenischer Humanismus im frühen 16. Jahrhundert
Die Sache freilich ist so alt wie die überlieferte Geschichte. Die Utopie, als Tagtraum einer Welt des Friedens und Wohlergehens, wurde aus der Erfahrung von Menschen geboren, die Not und Gewalt erlitten; am frühesten in Mythen von Paradies, Schlaraffenland und arkadischer Welt artikuliert, in chiliastisch-messianischen Erwartungen, in vielfältiger Form in den Künsten, spät erst in der Theorie. Allen gemein ist ein Moment des Irrealen: dass sie geschichtsenthobene Wunschträume oder abstrakte Ideale sind, die in bestehender Wirklichkeit wenig Grund und Boden besitzen, bestenfalls Fernziele antizipierter Zukünftigkeit im Sinne von Ernst Bloch; oder aber auch, dass die geschichtliche Wahrheit ihrer fiktiven Wirklichkeit sehr in Frage steht. Platons Politeia, gewöhnlich als erste theoretische Utopie genannt, eine „Stadt, in Gedanken gegründet“,[1] entwirft keine Welt des Glücks seiner Bewohner. Das Volk, der Demos kommt in ihr nicht vor. Platons idealer Staat ist eine Militärdiktatur mit Philosophenkönig, sein Ziel die Züchtung eines kriegskundigen Heeres, die Frauen „weibliche Schäferhunde“, die Kinder künftige Krieger, die schon früh als Zuschauer Schlachten beiwohnen sollen, um zu lernen, wie man den Feind besiegt.[2] Seine Fortsetzung findet Platons Staatsideal dann auch nicht in Morus’ Utopia, eher im machtpolitischen Verismus Niccolo Machiavellis, dessen Fürst fast zeitgleich mit Morus Schrift entstand; vor allem aber in Thomas Hobbes’ Theorie des absoluten Staats (im Leviathan von 1651), der den Status belli, den „Krieg aller gegen alle“ als menschlichen Naturzustand beendet, indem sich seine Bürger der Gewalt eines Souveräns unterwerfen.[3] Die Utopie als Konstrukt eines kooperativen Gemeinwesens, in dem der Friede herrscht, die Not behoben ist und das Volk das Sagen hat, geht unzweideutig auf Morus zurück.
Weitere Drucke von Morus’ Schrift folgten 1517 in Paris und 1518 in Basel, wo bereits 1524 eine deutsche Übersetzung erschien. Eine erste englische Übersetzung wurde 1551 gedruckt. Die Erstausgabe veranlasste Morus’ Freund Erasmus von Rotterdam, der erste Humanist seines Zeitalters, mit dem Morus zu diesem Zeitpunkt eng kooperierte.[4] Zusammen mit Erasmus’ Institutio Principis Christiani (Erziehung des christlichen Fürsten), gleichfalls 1516 geschrieben, und der Querela Pacis (Klage des Friedens) von 1517 bildet Morus’ Utopia das Dreigestirn des irenischen Humanismus. Damit ist eine Gestalt des europäischen Humanismus gemeint, in der der Gedanke des Friedens (nach griech. Eirene, der Göttin des Friedens) im Mittelpunkt steht, die in der Friedensutopie Dantes und des italienischen Frühhumanismus ihren historischen Ursprung hat.[5] Der Friede ist für Erasmus Prinzip der Kultur: „der Quell, der Erzeuger, der Erhalter, der Vermehrer, der Schützer aller Güter“, ohne den „niemals etwas blüht, nichts sicher, nichts rein, nichts heilig, nichts den Menschen angenehm und den Göttern wohlgefällig ist“,[6] Grundlage also auch des Wohlstands der Völker. Er argumentiert mit Christus wie mit Jesaja: „Mein Volk wird in Frieden wohnen“. Krieg ist Teufelswerk.[7] Ist aller Natur das Gefühl für Frieden und Eintracht eingeboren, so herrscht unter Menschen „der unersättliche Wahn zu kämpfen: Zwist, Streitigkeiten, Kriege, Unrecht, Überfälle, Blutvergießen, Morde, Zerstörungen: der Wahnsinn des Kriegs“.[8] Erasmus benennt die Kriegsschuldigen: Es sind die Fürsten. Der Friede kann dort nicht bestehen, wo um politische Macht, um Ansehen, um Reichtum und um Vergeltung gekämpft wird. Ursachen des Kriegs sind Ehrgeiz, Zorn, Gier nach Besitz. Die Kriegstifter sind „eher Tiere als Menschen“, „niemals sind sie klug, außer es gilt, Schaden zu stiften“, „Unholde, die man auf die entlegensten Inseln deportieren müsste“.[9] Erasmus schrieb unter dem Eindruck des Machtkampfs der beiden fortgeschrittensten nationalen Monarchien um die Hegemonie in Europa, Spaniens und Frankreichs, die 1494 in Italien eingefallen waren und das klassische Zeitalter des Humanismus beendeten,[10] wie der sich erhebenden Reformation, der „Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie“ (Friedrich Engels), in der der Kampf der Bauern gegen die Fürsten um Freiheit, Rechte und Brot dem Krieg der Fürsten um Macht und Besitz an die Seite trat. So ist es nicht zufällig, dass der Erstdruck der Friedensklage fast zeitgleich mit Luthers Anschlag der 95 Thesen in Wittenberg erfolgte. Der Anlass war eine geplante Friedenskonferenz im nordfranzösischen Cambrai, zu der alle Herrscher Europas geladen waren – die jedoch nie stattfand. Der einzige Weg zur Lösung der tödlichen Konflikte seines Zeitalters, den Erasmus sah, war der einer ‚christlichen’, also den Ideen der Friedensklage verpflichteten Erziehung derer, die an den Schaltstellen der Macht saßen, der Fürsten selber. In diesem Sinn verfasste er seine Institutio, die Erziehung des Christlichen Fürsten,[11] als Leitfaden für eine friedliche Politik auf der Basis einer radikalen christlich-humanistischen Ethik, zu einem Zeitpunkt, als er Rat am Hofe von Burgund in Löwen und Erzieher des Prinzen Karl, des späteren Kaisers Karl V., war. Viele der hier vertretenen Grundsätze lassen sich in Morus’ Utopia wiederfinden. Erinnern wir, dass Machiavelli 1513 den Fürsten schrieb,[12] so sticht das humanistische Bildungs- und Friedensprogramm in seiner theoretischen wie historischen Brisanz scharf hervor. Damals wie heute ist es ein ethisch-politischer Gegenentwurf gegen den Positivismus machiavellistischer Machtpolitik. Der Erziehungsgedanke von Humanismus und Aufklärung ist hier noch in seiner unverwässerten frühen Form zu fassen: orientiert am politischen Ideal „allseitiger Ausbildung“,[13] individuell-gesellschaftlicher Selbstbestimmung und geschichtlichen Fortschritts, wie es noch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, Kants Was ist Aufklärung? und Marx’ Begriff einer Gesellschaft frei assozierter Produzenten (wie immer im Einzelnen modifiziert und entwickelt) zugrunde liegt.
Dialektik der Form: die Utopia als Gestalt experimentellen Denkens
Der Form nach ist Morus’ Utopia ein Dialog mit narrativer Einleitung (der Dialog ist eine im Humanismus gebräuchliche, auf die Antike zurückgehende literarische Form), der aus zwei Teilen besteht. Ein Erster Teil behandelt die desolate Lage Englands und Europas zu Morus’ eigener Zeit. Es ist die Darlegung einer katastrophisch zerrissenen Welt, bestimmt von den Gräueln der ursprünglichen Akkumulation, eine Welt, in der „die Schafe die Menschen auffressen“ (wie Marx im Kapital zitiert).[14] In ihre Schilderung spielt das Trauma der Rosenkriege hinein wie die Erinnerung an den Hundertjährigen Krieg mit Frankreich, nicht zuletzt die Erfahrung der Machtpolitik des frühen Absolutismus in Europa. Ja, die Frage nach der Rolle der Humanisten in dieser historischen Lage – sollen sie ihre Unabhängigkeit bewahren oder „zu Diensten der Könige“ dem „öffentlichen Wohl“ nützlich sein? (es ist die alte, aus der Antike stammende Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und politischer Herrschaft) – ist das erste Thema, das in den Gesprächen erörtert wird.[15]
Der Realismus der Darstellung zeigt sich bereits im autobiographischen Charakter der einleitenden Erzählsituation. Morus selbst zeichnet als Herausgeber und berichtet von einem Gespräch, dass er, anlässlich einer Reise in diplomatischer Mission, in Antwerpen mit dem Stadtschreiber Petrus Aegidius (Peter Gilles) führte, einem Humanisten und Freund des Erasmus (Morus’ Reise nach Brügge und Antwerpen wie das Zusammentreffen mit Aegidius sind authentisch). An dem Gespräch nimmt eine weitere Person teil, ein weitgereister Portugiese namens Raphael Hythlodeus. Diese Person ist fiktiv. Sie ist eine narrative Erfindung, und sie ist es, die im Zweiten Teil der Schrift von der Insel Utopia berichtet. Es ist der Bericht vom Zustand eines ‚Gemeinwesens’ (im Original respublica, in der ersten englischen Übersetzung common wealth),[16] in dem die dringenden Probleme der Gegenwart gelöst sind. Keineswegs ist es ein idealer Weltzustand, von dem Hythlodeus berichtet, und auch heute Lesende werden dem Ich-Erzähler des Zweiten Buchs recht geben, wenn er abschließend sagt, dass er zwar „die Verfassung jenes Volkes und Raphaels Erzählung“ lobe, doch „gewiss nicht allem zustimmen“ kann, und so der Hoffnung Ausdruck verleiht, wohl noch später Zeit zu finden, „über dieses Thema tiefer nachzudenken und ausführlicher (…) zu sprechen“. Die Schrift schließt mit den Worten: „indessen gestehe ich doch ohne weiteres, dass es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich wünsche ich es mehr als ich es hoffen kann“.[17]
Hythlodeus’ Erzählung ist also ein Entwurf, der der weiteren gemeinsamen Erörterung bedarf. Wenn der Titel des Buchs vom „besten Zustand eines Gemeinwesens“ spricht, so ist also kein Absolutum gemeint, sondern das beste unter wirklichen und möglichen Gemeinwesen – wie auch der Erzähler bereits am Ende des Ersten Buchs von verschiedenen Gesellschaften berichtet hatte, die er auf seinen Reisen besuchte. Die Insel Utopia des Zweiten Buchs ist allein die beste von ihnen – die beste aller dem Erzähler und seinen Freunden bekannten menschlichen Gesellschaften, einschließlich der Englands und Europas.[18]
Was das Buch, nach Lage der Dinge, also nicht ist, ist das, was der überwiegende Teil der Forschung von ihm sagt:[19] Es ist weder ‚Staatsroman’ noch ‚Staatsutopie’, noch entwirft es im geschichtslosen Raum das Ideal einer perfekten Welt. Und keineswegs ist es, seiner ironischen Darstellungsmittel ungeachtet, ein „toller Jux“ und „bloße Spielerei“, wie auch gelegentlich behauptet wurde.[20] Die so sprechen, verkennen die Form, die sich in unterschiedlicher Weise ironischer Mittel bedient.[21] Ironisch ist bereits die Art der literarischen Gestaltung: die Mischung von authentischem Bericht, narrativer Fiktion und Dialog, der zudem die Vorrede „Thomas Morus grüßt den Peter Aegid!“ vorangestellt ist. Ironisch ist die Namengebung: ‚U-Topia’ bedeutet ‚Nicht-Ort’, mit der Assoziation von ‚Eu-Topia’ als ‚Wohl-Ort’[22] (Paul Turner übersetzt ‚noplacia’ und ‚goplacia’),[23] die Stadt Ademos hieße übersetzt ‚Kein-Volk’, der Fluß Anydrus ‚Nicht-Wasser’. Raphael ist Hebräisch und heißt ‚Gott hat geheilt’, Hythlodeus ist der „Schaumredner“, wie Bloch übersetzt[24] (die vorzügliche englische Übersetzung von Turner gibt den Namen als ‚Nonsenso’ wieder). Und ironisch ist nicht zuletzt ist die Dialogführung selbst; wir entdeckten ein Stück davon bei der Ansicht des Endes der Schrift. Hinter solchem Verfahren, der Mischung von Spiel und Ernsthaftigkeit, steht eine Vielgestalt literarischer Formen: menippeische Satire und phantastische Erzählung nach dem Vorbild von Lukians Wahrer Geschichte, authentische Reiseliteratur und Platonischer Dialog, speziell darin das Vorbild der Sokratischen Ironie. Das Zusammenspiel der Formen und Verfahren konstituiert Ironie im Sinne einer Ambivalenz der Bedeutung: dass ein ernster Sinn, eine Frage auf Leben und Tod doppeldeutig abgehandelt werden kann, nicht als frivoler Jux, sondern als Methode, sie gedanklich überhaupt zugänglich, be-greifbar zu machen, sie dialektisch abzuhandeln und so auf den Begriff zu bringen – was schließlich auch das Verfahren der frühen Platonischen Dialoge war. Die ironischen Mittel haben somit den Sinn, die dargestellte Erzählung modellhaft zu verfremden, als dialogisch zu lösende Aufgabe zu qualifizieren. Sie sind Gestalt experimentellen Denkens, ein humanistisches Gedankenlaboratorium. Als Erstes aber, das darf nicht vergessen werden, sind sie Mittel des Selbstschutzes: Ironie als Camouflage subversiver Gedanken. In der historischen Lage, in der Morus schrieb, war der Inhalt des Geschriebenen, die Darstellung eines von königlicher Herrschaft freien, auf der Souveränität des Volks beruhenden kommunalen Gemeinwesens für den Verfasser solcher Gedanken existenz-, ja lebensbedrohend. Erinnert sei, dass Morus, der spätere Lordkanzler Heinrichs VIII., für bedeutend Geringeres zwanzig Jahre später auf Betreiben dieses Königs seinen Kopf verlor.
Dialektik des Gehalts: Friedensordnung und kooperatives Gemeinwesen
Was den gedanklichen Gehalt der Utopia betrifft, so ist diese, wie Klaus Garber treffend schreibt, „zunächst und zuerst eine Vergegenwärtigung gelungenen Lebens und Zusammenlebens, das Glück und Segen des Lebens als kostbarstes Geschenk preist, welches es zu hegen und pflegen gilt im verstehendem Gewährenlassen, statt ihm durch Reglementieren, geistiges und geistliches Strangulieren Gewalt anzutun.“[25] Das Buch ist, so gelesen, ein Manifest des irenischen Humanismus, und als solches stimmt es mit den Gedanken des Erasmus aufs Genaueste überein. Wie Erasmus argumentiert Morus auf der Grundlage humanistisch gewendeter christlich-ethischer Prinzipien. Auch in den anthropologischen Grundauffassungen kommen beide überein. Menschen sind, als Geschöpfe eines gütigen Gottes, selbst auf Güte – Kooperation, Solidarität, Mitgefühl, Freundlichkeit – angelegt. Sie sind gesellschaftliche Wesen, und sie sind mit Vernunft begabt, die es gestattet, anstehende Probleme ohne Gewalt zu lösen, also den Frieden möglich macht.[26]
Die Utopia-Schrift ist Manifest dieser Auffassung, und sie ist mehr. Denn Morus bleibt auf der erasmischen Linie nicht stehen. Er führt in gedanklicher Kühnheit über sie hinaus. Er tut dies, wenn er die Bedingungen benennt, unter denen allein eine Friedensordnung möglich ist und gedeihen kann. Es sind die Bedingungen einer ‚kommunalen Lebensweise’[27]. Turner übersetzt sinngemäß: „’communist’ way of life of his people“[28] – Antizipation der frühsozialistischen Vorstellung des ‚co-operative commonwealth’. Morus’ Schrift ist daher in der marxistischen Tradition von Kautsky bis Bloch mit gutem Grund als das „erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume“ bezeichnet worden, ihr Verfasser als „einer der edelsten Vorläufer des Kommunismus“.[29] Dieter Kraft spricht von einer „kommunalisierten Humanität“, die in Utopia Staatsdoktrin ist. Die „Gütergemeinschaft samt der sie begleitenden Neuerungen“ nimmt in ihr einen zentralen Platz ein: Abschaffung des Geldes, Einführung einer menschenfreundlichen Arbeitskultur, einer allgemeinen kommunalen Kranken- und Altenpflege, eines allgemeinen und gleichberechtigten Bildungssystems“.[30] Morus zeichnet eine Welt ohne privaten Reichtum und Besitz, für ihn die Haupthindernisse einer Gesellschaft der Gleichen, in der Frieden und Recht gesichert, Hunger und Not getilgt und damit die Grundübel der europäischen Gesellschaften beseitigt sind; Übel, aus denen Rechtsbruch, Verbrechen und Aufruhr erwachsen. Die Gesellschaft ist säkular organisiert, in religiösen Fragen herrscht Toleranz. Zwischen Tugend und Sinnlichkeit (Vergnügen, Lust, Freude) gibt es keinen Konflikt, denn ein freundlicher Gott hat nach der in Utopia verbreiteten Auffassung die Menschen für das Glück geschaffen.[31] Es besteht Schulpflicht, besonders Begabte erhalten eine wissenschaftliche oder künstlerische Ausbildung. Wissenschaftliche Vorlesungen sind öffentlich. Die Staatsform ist republikanisch, jede Stadt wird von einem Senat regiert, der sich aus gewählten Volksvertretern auf Zeit zusammensetzt. Das jeweilige Stadtoberhaupt ist auf Lebenszeit gewählt; entwickelt es tyrannische Züge, kann es abgesetzt werden. Der Fürst, wie jede Form absolutistischer Herrschaft, ist abgeschafft. Das höchste Gut ist der Frieden, Aggressionen von Außen pflegen die Utopier durch Verhandlungen beizulegen. Doch sind sie für den Ausnahmefall gerüstet, den Kriegsdienst üben Männer und Frauen gemeinsam aus. Es ist also nicht mehr der Fürst, von dem Morus die Heilung des Gemeinwesens erhofft (und wir wissen, wie sehr diese Hoffnung getäuscht wurde), sondern die kollektive Kraft seiner Bewohner, und dieses Gemeinwesen ist, von der Grundverfassung (marxistisch gesprochen: den Produktionsverhältnissen) her ganz anderer Art als es die Gesellschaften Europas im frühen 16. Jahrhundert waren.
Denken am Abgrund der Katastrophe. Die Utopie als Überlebenskategorie
Eine weitere Dimension kommt hinzu, die der zuletzt genannten an Bedeutung nicht nachsteht, ja ihr noch eine zusätzliche Schärfe verleiht. Liest man die Utopia als Ganzes, als Einheit beider Bücher – und diese Lesart allein kann philologische Authentizität beanspruchen –, so wird jede Auffassung des Texts, die die Inselgesellschaft als Konstruktion im geschichtslosen Raum darstellt, ad absurdum geführt. Die Verknüpfung des zweiten Buchs mit dem ersten hat für die Auffassung des Ganzen eine gravierende Konsequenz. Die Utopie ist eine zutiefst geschichtliche Konstruktion, spricht aus ihrer Zeit wie sie zu ihr spricht, und sie spricht über ihre Zeit hinaus zu der unsrigen. In einer Arbeit, die zu dem Besten gehört, was zu Morus’ Buch geschrieben wurde und der Utopie-Forschung eine neue Richtung gibt, spricht Kraft von der „kopernikanischen Wende“, die Morus mit seiner Schrift vollzieht, „Teil der humanistischen Bewegung, die die Seiten verkehrt, das Obere nach unten schichtet und neue Dekaloge schafft.“ „’Utopia’ ist der kategorische Imperativ zu einem grundsätzlich alternativen Denken angesichts einer gesellschaftlichen Situation, die sich in den Kategorien apokalyptischer Endzeit beschreiben lässt“, für Morus zugleich „der präzise Ausdruck dafür, dass das von ihm eingeforderte neue Denken am Abgrund der Katastrophe in dieser Welt noch keinen Ort hat. Ou-topos: kein Ort, nirgends, wo so gedacht wird“. So ist der Utopie-Begriff des Thomas Morus „bestimmt von dem, was notwendig ist, um Zukunft überhaupt zu garantieren.“[32] Utopia ist nicht „eine ideale civitas, sondern eine notwendige Gründung.“[33] Utopien dieser Art „beschreiben nicht das Ideale, sie modellieren Antithesen, die den Ausweg suchen.“[34] „Für Morus“, schließt Kraft, „ist das Ganze des Staates nur noch dann zu retten, wenn der Staat ganz umgestaltet, wenn das Alternative zum Prinzip des politischen Denkens erhoben wird. Wenn die Welt Kopf steht, muss man sie auf neue Füße stellen.“ „’Utopie’ ist eine Überlebenskategorie“.[35]
Mit guten Gründen also klagt Morus die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, deren defizitären Charakter er eindringlich beschreibt. Er entwirft das Grundmuster einer gesellschaftlichen Formation, das konkret genug ist und der menschlichen Natur gemäß, um geschichtliche Wirklichkeit werden zu können. Inwieweit sie zu Morus’ Zeit möglich war, ist eine andere Frage. Sie war es sicher nicht. In einem bestimmten und sehr präzisen Sinn war Utopia zu Morus’ Zeit durchaus ein Ideal: das Ideal als Konkretum, das geschichtlich notwendig ist und auch das Zeug hat, geschichtlich wirklich werden zu können. Morus’ Jahrhundert war diesem Ideal nicht reif. Die Reformation bot seinen Gedanken keinen Boden. Weder Calvin noch Luther waren dem humanistischen Ideal gewogen, ganz sicher nicht in der Gestalt, die ihm Morus verlieh. Den Arzt Michael Servet hat Calvin durch langsames Rösten bei kleinem Feuer für Gotteslästerung hinrichten lassen (er bezweifelte die Trinität Gottes), den Humanisten Sebastian Castellio, der im Erasmischen Sinn für Toleranz und Gewissensfreiheit eintrat und Servet verteidigte, in den Tod getrieben.[36] Bei Müntzer und den Bauern hätte Morus vermutlich ein Echo gefunden, doch wurden seine oder ähnliche Gedanken bei Frankenhausen, ein Jahr nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung der Utopia, in Blut ertränkt. Durch die Geschichte Europas im 16. und 17. Jahrhundert zieht die Linie der Gewalt. „Von einer ‚Hegung des europäischen Krieges’“, so Norman Paech und Gerhard Stuby in ihrem Standardwerk zu Völkerrecht und Machtpolitik, „konnte in jener Zeit wahrlich nicht die Rede sein. Die französischen Kriege mit dem Spanien Habsburgs um die Vorherrschaft in Europa, die wiederholten erfolglosen Flottenexpeditionen Spaniens gegen England (…), die Hugenottenkriege (…), der niederländische Unabhängigkeitskrieg (…), der dreißigjährige Krieg (…) tauchten Europa in ein kaum mehr eindämmbares Blutbad.“[37] Europa zu dieser Zeit war „eine Schlachtbank der Völker“ (Hegel). Hinzu tritt „die Realität des Kolonialismus“ als „Anarchie der Ausbeutung“, die Kolonien als und „Quell gewaltiger Kapitalakkumulation“. Im Kampf um sie legten sich die Konkurrenten freiwillig keine Beschränkungen auf.[38] Das England zu Morus’ Zeit war die Epoche eines machtpolitisch skrupellosen Absolutismus, dem Erasmus’ englische Freunde, John Fisher, Bischof von Rochester, und Thomas Morus, Kanzler des Reichs, dann auch 1535, zwanzig Jahre nach Erscheinen der Utopia, zum Opfer fielen; Ersterer betrat das Schafott 14 Tage vor dem Zweiten. Nach dem aufgeklärten Absolutismus der Elisabeth, der ein Zeitalter relativen Ausgleichs war und die englische Renaissance zu ihrer Blüte führte, von Morus’ Ideen freilich keine Kenntnis nahm (Spuren davon sind allein bei Shakespeare auszumachen), führte der Weg über die jakobäische Restauration in das Gemetzel der Englischen Revolution – der ersten bürgerlichen Revolution der Geschichte, die so gewalttätig war wie die anderen bürgerlichen Revolutionen auch. Ein Echo von Morus’ Gedanken freilich ist bei Gerald Winstanley zu entdecken,[39] doch wurde dieser mit den Diggers niedergemacht. Ihre Fortsetzung fand die Revolution Englands in der Entwicklung dieser Insel zum Musterland kapitalistischen Fortschritts, dem krassesten Gegensatz zu Morus’ Insel; zu einer Formation, die, nach Marx’ Wort, „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ auf die Welt kam[40] – deren kannibalischen Charakter der Verfasser der Utopia als Erster im vollen Umriss erkannte, gegen den er das Modell einer von Gewalt und Ausbeutung freien Gesellschaft setzte.
Morus ist „deshalb relevanter als je zuvor“. „Denn die Welt steht vor einem Abgrund, der durch Reformen höchstens noch verdeckt werden kann.“[41] In Form und Gehalt entwickelt sein Buch einen Typus literarischen Denkens, der gerade in einer Zeit wie der unseren die höchste Aktualität besitzt. Die Utopie als notwendige Gründung steht immer noch aus. Morus schrieb als „Bürger derer, welche kommen werden“.
[1]Politeia, 2. Buch, XI.
[2] Dazu D. Kraft, Über den Begriff der Utopie. Verständnis und Missverständnis einer verbogenen Kategorie. In: H. Kopp (Hg.),Wovon wir träumen müssen… Marxismus und Utopie. Hamburg 2013, 103.
[3] Ebd., 100f. Nicht zufällig, dass Carl Schmitt, der führende Staatstheoretiker des rechten Konservativismus in Deutschland, in seiner theoretischen Grundlegung an Hobbes wie auch Machiavlli anschließt. Die Unterscheidung von Freund und Feind als erstes Kriterium des Politischen (vgl. Der Begriff des Politischen von 1927), ist anthropologisch wie staatstheoretisch-politologisch unverkennbar dem Denken von Hobbes verpflichtet.
[4] Eine Ausgabe von 1518, die mir vorlag, trägt dann auch den Namen des Erasmus auf der Titelseite. Zum Verhältnis von Erasmus und Morus mit biographischer Genauigkeit L. E. Halkin, Erasmus von Rotterdam. Zürich, 2. Aufl. 1992, 4359; auch J. Huizinga, Europäischer Humanismus: Erasmus. Hamburg 1958 (passim); A. Buck, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. München 1987, 184ff.; K. Garber, Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. München 2009, 582ff.
[5] Siehe K. Garber, Die Friedens-Utopie im europäischen Humanismus: Versuch einer geschichtlichen Rekonstruktion, in: Modern Language Notes 101 (1986), 516-51; ders. 2009, a.a.O., 525-56: Erasmus und die Friedensutopie im europäischen Humanismus.
[6] Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Darmstadt 1958, Bd.5, 361; vgl. auch 433f.
[7] Ebd., 383.
[8] Ebd., 365, 371.
[9] Ebd., 389-405.
[10] Vgl. Garber 2009, a.a.O., 518f.
[11] ‚Institutio’ heißt neben ‚Erziehung’ auch ‚Ordnung der Dinge’ (beide Bedeutungen finden sich bereits bei Cicero).
[12] Ein Text, der zwar erst 1532 veröffentlicht wurde (eine lateinische Übersetzung erschien 1522), jedoch als Manuskript zirkulierte und Erasmus wie Morus in den Grundthesen mit Sicherheit bekannt war.
[13] Siehe Buck 1987, a.a.O., 186.
[14] MEW 23, 747, FN 193. Im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation zitiert Marx ausführlich aus dem ersten Teil von Morus’ Schrift (so auch MEW 23, FN 221a).
[15] Thomas Morus, Utopia, übers. von G. Ritter. Stuttgart 1964, 20-23.
[16] Die erste englische Übersetzung gebraucht „the best state of a common wealthe“ = ‚der beste Zustand eines Gemeinwesens’ (J.H. Lupton, Hg., The Utopia of Sir Thomas More, in Latin from the Edition of March 1518 and in English from the 1st Edition of Ralph Robynson’s Translation in 1551, Oxford 1895). Die Übersetzung von ‚De optimo reip. statu’ im Originaltitel mit ‚von der besten Staatsverfassung’, wie sie sich in allen mir bekannten deutschen Übersetzungen und lexikalischen Eintragungen findet, dürfte, wie auch die gängigen Bezeichnungen ‚Staatsroman’ und ‚Staatsutopie’, eine Fehlübersetzung sein. Die Utopia beschreibt eine ‚ganze Lebensweise’, zu der die staatliche Form gehört, nicht aber beschreibt sie eine bloße Staatsform. ‚Respublica’ des Originals wäre also als ‚Gemeinwesen’ wiederzugeben, was auch dem ‚common wealth’ in der zu Morus’ Zeit üblichen Bedeutung entspricht.
[17] Morus 1964, a.a.O., 147f. Die Übersetzung ist von mir leicht korrigiert.
[18] Dazu und zum Folgenden Kraft 2013, a.a.O., 83-106; T. Metscher, The Irony of Thomas More. In:Shakespeare und die Renaissance. Hamburg 1995, 329-40.
[19] Eine sorgfältige, um Offenheit bemühte Darstellung der internationalen Morus-Forschung (sie bezieht auch vorurteilsfrei marxistische Forschungen ein) findet sich in U. Baumann/H. P. Heinrich, Thomas Morus. Humanistische Schriften. Darmstadt 1986.
[20] So P. Berglar, Die Stunde des Thomas Morus. Freiburg 1978, 195; eine Auffassung, die schon früher von C.S Lewis und J. Huinzinga vertreten wurde (vgl. Huizinga 1958, a.a.O., 69). T.S. Dorsch versteigt sich zu der Behauptung, die Utopia zeichne, vom Autor intendiert, das Bild einer Gesellschaft, wie sie nicht sein soll, eine ‚Anti-Utopie’ im Sinne von Huxley und Orwell, Modell eines „modernen totalitären Staats“ (T.S. Dorsch, Sir Thomas More and Lucian: an Interpretation of Utopia. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 203/1967, 362.
[21] Des Näheren Metscher 1995, a.a.O.; Baumann/Hinrich 1986, a.a.O., 162f.
[22] Die Vorsilbe ‚eu’ hat die Bedeutung von ‚wohl, gut, schön, reich’.
[23] Thomas More, Utopia, übers. von P. Turner. Harmondsworth 1965.
[24] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 1959, 604.
[25] Garber 2009, a.a.O., 583.
[26] Weit entfernt ist diese Auffassung von den naturalistischen Anthropologien eines Machiavelli und Hobbes. So geht Letzterer vom Menschen als einem aggressiven Triebwesen aus, vom Krieg aller gegen alle als dem gesellschaftlichen Normalzustand. Das weltunterwerfende Unternehmer-Subjekt der neuzeitlich-bürgerlichen Zivilisation wird hier zu einem frühen Zeitpunkt dieser Zivilisation anthropologisiert. Nach Hobbes ist der Mensch phylo- wie ontogenetisch seiner anthropologischen Grundverfassung nach solitär, ein Je-Einzelner, der sich erst in einem ‚zweiten Schritt’ seiner Entwicklung vergesellschaftet, der eines ‚Souveräns’ bedarf: des ‚starken Staats’, der die egomanen Individuen vor der gegenseitigen Selbstzerfleischung schützt. In diesem Gedanken ist eine sehr moderne ‚Lösung’ der zerreißenden Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft präfiguriert, was die Faszination von Theoretikern wie Carl Schmitt für das Hobbessche Denken erklärlich macht. In diesem Denken manifestiert sich die entschiedenste Gegenposition zu einem Humanismus, wie ihn Erasmus und Morus vertraten. Dieser Gegensatz zieht sich durch die gesamte neuzeitliche Ideengeschichte. So lässt sich die Linie von Machiavelli und Hobbes bei Nietzsche, Heidegger, Schmitt wiederfinden, mit Derivaten im Poststrukturalismus (in aggressiver Form heute bei Ian Morris). Die Linie des irenischen Humanismus führt in die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und über diese in den Frühsozialismus, das Marx-Engelssche Denken und seine Weiterentwicklung – bei allen Umschichtungen und Transformationen, die es auf diesem geschichtlichen Weg durchläuft.
[27] ‚Communis victus’: ‚victus’ ist ‚Lebensweise’, auch ‚Unterhalt, Lebensmittel’, ‚communis’ ‚gemeinschaftlich, allgemein’, im Englischen ‚shared together’, ‚common to several or to all’.
[28] More 1965, a.a.O., 118 und 144.
[29] Bloch 1959, a.a.O., 603, 601. A.L. Morton nennt die Utopia „at once landmark and a connecting link”, “one of the greatest works of controlled and scientific imagination in which the classless society is visualised and mapped out” (The English Utopia. London 1952, 76).
[30] Kraft 2013, a.a.O., 92.
[31] Hier spielt, neben dem Eudaimoniegedanken der Nikomachischen Ethik des Aristoteles sicher das epikureische Konzept von Lust/Freude hinein, wie es über Lukrez dem neuzeitlichen Denken vermittelt wurde; seine Spur ist noch in Schillers Ode an die Freude, Beethovens Neunte Sinfonie und Brechts Glücksgott zu finden. Die Natur der Dinge war zum Zeitpunkt, als Morus schrieb, der europäischen Intelligenz bekannt (vgl. S. Greenblatt, The Swerve, New York 2011). Auch nach Blochs Feststellung bleibt der Epikureismus „regierend“ bei den Utopiern (Bloch 1959, a.a.O., 605).
[32] Kraft 2013, a.a.O., 94f.
[33] Ebd., 98.
[34] Ebd., 100.
[35] Ebd., 104.
[36] Zur Lektüre empfohlen: S. Zweig, Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen Gewalt. Frankfurt a.M 1983.
[37] N. Paech/G. Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Hamburg 2001, 55.
[38] Ebd.
[39] R. Ahrbeck, Morus, Campanella, Bacon. Frühe Utopisten. Köln 1977, 90f.
[40] MEW 23, 788.
[41] Kraft 2013, a.a.O., 104.