Griechenland, die EU und die Linke

Griechenland – Eine Erpressergeschichte

von Jörg Goldberg
Dezember 2015

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„Aus Niederlagen lernen“: So lautete die Überschrift des redaktionellen Beitrags in Z 103 vom September 2015, mit dem versucht wurde, vor dem Hintergrund der Analyse der griechischen Entwicklung Überlegungen u.a. zur Bedeutung der EU-Strukturen für demokratische und soziale Entwicklungen in einzelnen Ländern auszuloten. „Ist also eine demokratische Alternative innerhalb der Eurozone überhaupt denkbar?“, fragte die Z-Redaktion im September (S. 14), wobei eine insgesamt skeptische Haltung überwog. Man kann diese Frage getrost auch auf die ganze EU beziehen, in der demokratisch nicht legitimierte und mit den Konzernen eng verbandelte Bürokratien immer mehr in ureigenste demokratische Rechte eingreifen.

Einen wichtigen Beitrag zu dieser Frage leistet das im August erschienene Buch von Giorgos Chondros, das zwar bezüglich der EU-Frage eine eindeutige Haltung einnimmt, dessen Analyse aber so offen und kritisch ist, dass auch andere Schlussfolgerungen entwickelt werden können. Der Autor des Buches, Gründungsmitglied von Syriza und prominenter Mitakteur im griechischen Drama, beschreibt und analysiert die Geschichte der Erpressung Griechenlands durch die EU-Institutionen, an der Spitze die EZB, und die extremistischen Kräfte des Neoliberalismus „nicht aus der Distanz des Beobachters …, sondern vielmehr als aktives Mitglied von Syriza, das diese verdichteten Prozesse in Echtzeit erlebt“ (200). In sieben Kapiteln werden, unterlegt mit Daten und Originalzitaten, die Entwicklung der Finanzkrise zur Schuldenkrise (1), die humanitäre Entwicklung in Griechenland (2), die Hauptargumente der Gegenseite (3), der Propagandakrieg gegen Syriza (4), die Zuspitzung der Krise Anfang 2015 (5) und die Geschichte von Syriza (6) geschildert. Besondere Aufmerksamkeit verdienen das siebte Kapitel und der folgende Epilog, der sich mit den Perspektiven der europäischen Linken befasst.

Ausgangspunkt in ökonomischer Hinsicht ist die (später leider nicht wieder aufgenommene) Feststellung, dass EU und Eurozone einen schwerwiegenden Konstruktionsfehler aufweisen: Eine „Supranationalisierung der Währungspolitik“ wird kombiniert mit nationalstaatlichen Wirtschaftspolitiken, was angesichts der großen ökonomischen und politischen Unterschiede der beteiligten Länder diesen faktisch keinen Spielraum zur eigenständigen Krisenbekämpfung lässt (21/22). Die schwächeren Länder werden so zu Maßnahmen der „inneren Abwertung“ (d.h. des Lohn- und Sozialabbaus) gezwungen, um die äußere Konkurrenzfähigkeit zu verteidigen. Dieser ökonomische Widerspruch hat allerdings einen politischen Sinn, wie der Autor hervorhebt: „Vielmehr glaube ich, dass es eine bewusste politische Entscheidung war, das gesamte Feld den Finanzmärkten unter dem Vorwand ihrer Sicherheit und Stabilität zu überlassen, also den Banken und dem ‚flüchtigen‘ Kapital.“ (22) Dies ist auch für die sozialen Auseinandersetzungen und die Klassenfrage, die der Autor in den Mittelpunkt der Analysen stellt, vor großer Bedeutung. Angesichts der großen Unterschiede hinsichtlich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Mitgliedsländern produziert der asymmetrische Zwang zur inneren Abwertung auch eine Ungleichzeitigkeit in den sozialen Bewegungen in Europa: Während sich die Arbeiterbewegung in den außenwirtschaftlich schwächeren Ländern (seien sie verschuldet oder nicht) auf Abwehrkämpfe gegen Lohnsenkungen und Sozialabbau konzentrieren muss und dabei immer wieder mit der Drohung von Produktionsverlagerungen und Entlassungen erpresst wird, können die Lohnabhängigen der exportstarken Länder, an der Spitze Deutschlands, mit kleineren Kompromissen befriedet werden. Dies erschwert koordinierte europäische Bewegungen. Leider zieht der Autor, wie später noch gezeigt wird, aus dieser mit dem Euro notwendig verbundenen ‚eingebauten‘ Ungleichzeitigkeit sozialer Bewegungen keine Schlussfolgerung.

Chondros möchte im ersten Kapitel zeigen, dass die Schuldenkrise kein „rein ‚griechischer Fall“ ist (21), sondern besagte Konstruktionsmängel reproduziert. Das ist zwar richtig, es gibt aber auch Faktoren, die mit der besonderen Schwäche des griechischen Kapitalismus zusammenhängen – die vom Autor aufgemachte Rechnung, der zufolge die griechische Pro-Kopf-Verschuldung noch Ende 2014 nur wenig höher war als die Deutschlands (30), besagt wenig: Über die Schuldendienstfähigkeit entscheidet nicht die Bevölkerungszahl, sondern die Wirtschaftskraft.

Informativ ist seine Darstellung der Geschichte des griechischen Euro-Beitritts. Die zu diesem Zweck angewendeten statistischen Tricks waren allen Akteuren bekannt, und alle haben sie akzeptiert, weil alle Interesse an der Mitgliedschaft Griechenlands hatten. Der Autor fragt: „Gibt es heute noch irgendjemanden, der glaubt, dass das kleine Griechenland von allein und nur mit Hilfe von Goldman Sachs die Supermacht EU an der Nase herumführen und sich quasi hintenherum in die Eurozone einschleichen konnte?“ (38) Aufschlussreich auch die Passagen, in denen der Autor den ‚Experten‘ der Troika Namen und Gesicht gibt und zeigt, mit welcher Arroganz und Unverfrorenheit diese im griechischen Regierungsapparat auftraten und faktisch das Land ‚regierten‘ (44).

In zweiten Kapitel schildert der Autor eindrucksvoll die Auswirkungen der von den Memoranden produzierten „humanitären Katastrophe“ und zeigt, in welchem Umfang Teile der Bevölkerung in extreme Armut, Hunger, Krankheit, Obdachlosigkeit und Tod getrieben wurden. Er beschreibt aber auch die großen Solidaritätsbewegungen im Lande.

Hat man dies gelesen, kann man den dritten Teil nur noch mit Erbitterung zur Kenntnis nehmen: Hier setzt sich der Autor mit zentralen, in den europäischen, vor allem aber deutschen Medien verbreiteten Mythen auseinander. Er belegt auf der Grundlage einer Übersicht über die Verwendung der Programmittel (102-107), dass es zu keiner Zeit um die „Rettung Griechenlands“ ging, sondern immer nur um die Interessen der Banken und der Geberländer. Am Rande wird gezeigt, wie die deutsche Rüstungswirtschaft zu den Profiteuren der Krise gehört: Noch im August 2014, auf dem ersten Höhepunkt der Krise, wird „das deutsche Verteidigungsministerium vermittelnd tätig … und (fädelt) die Unterzeichnung eines Kaufvertrags für Panzermunition von Rheinmetall in Höhe von 50 Mio. ein.“ (109) Dieser Aspekt wird auch im vierten Kapitel aufgegriffen, wo gezeigt wird, mit welcher Heuchelei den Griechen eine Reduzierung ihres in der Tat hohen Rüstungshaushalts empfohlen wurde. Eine prominente Forderung der Troika war die Schließung der griechischen Rüstungsindustrie (122), während die Beendigung teurer Rüstungsbeschaffungen nicht gestattet wurde. Gekürzt wurden die Personalkosten der Armee, während Griechenland weiterhin Kunde der deutschen und französischen Rüstungsindustrie bleiben sollte. Konsequenterweise forderte der Nato-Generalsekretär, der norwegische Sozialdemokrat Stoltenberg, Griechenland auf, weiterhin zwei Prozent des BIP für „Verteidigung“ auszugeben (2014 waren es 2,2 Prozent) (123). Aufschlussreich auch der Nachweis, dass die Krise für die Gläubiger bis heute ein gutes Geschäft ist: Sie leihen sich Gelder zu minimalen Zinsen und reichen diese mit einem Aufschlag an Griechenland weiter, von wo sie umgehend an die Finanzmärkte zurückgeschleust werden. Die Zinsdifferenz zahlt Griechenland. Die einseitige Aufkündigung des zweiten Programms zum 1. Juli 2015, mit welcher der Ausgangs des Referendums beeinflusst werden sollte, spülte der EZB Zinserträge von 3,35 Mrd. Euro in die Kassen, die – entgegen ursprünglicher Zusagen – nicht an Griechenland zurückgereicht wurden (129).

Im fünften Kapitel werden die Entwicklungen des Jahres 2015 bis Anfang August nachgezeichnet, die zur Niederlage der Syriza-Regierung und zu dem führten, was vielfach als „coup“, als „Putsch ohne Waffen“ (170) vom 12. Juli bezeichnet wurde. Dies ist ein zentrales Kapitel, weil der Autor hier nicht nur den Verlauf der Verhandlungen, sondern auch die Strategie Syriza‘s darstellt (und kritisiert). Was den Verhandlungsstil angeht, so wird deutlich, dass hier – unter dem Vorwand, es ginge um technische Details – knallhart Politik gemacht wurde. Die ‚Experten‘ hatten politische Aufträge, die sie auch dann durchsetzen mussten, wenn es dafür keinerlei fachliche Begründung gab. Aufschlussreich die Debatten über den griechischen Energieplan, an denen der Autor persönlich teilgenommen hat: Nachdem die griechischen Vorschläge gelobt worden waren, forderten die Troika-Beamten übergangslos die Privatisierung der Stromversorger und Netzbetreiber – was gar nicht Gegenstand der Verhandlungen war (148). Es sind solche Details, die den Leser immer wieder sprachlos machen: Mit welcher Unverblümtheit ganz offen Machtpolitik betrieben wurde, ohne jeden Bezug zu Sachfragen. Man kann sich gut in den ehemaligen griechischen Verhandlungsführer, den Wirtschaftsexperten Varoufakis, hineinversetzen, der nur noch sarkastisch kommentieren konnte, wie er immer wieder Sachargumente bemüht hatte, die aber niemand interessierten.

Schon hier deutet sich eine der Schwächen in der Strategie von Syriza an: Man ging letzten Endes davon aus, dass die EU-Seite es sich – auch angesichts angenommener Widersprüche innerhalb der Eurozone (155) – nicht würde leisten können, Griechenland fallen zu lassen. Zudem war offensichtlich nicht klar, dass die EZB sich nicht scheuen würde, die griechischen Banken von der Liquiditätszufuhr abzuschneiden: „Der heutige Finanzminister Efklidis Tskalados (der ein lesenswertes Vorwort zum Buch beigesteuert hat, JG) räumte als eine der Hauptschwächen der Vereinbarung vom 20. Februar ein, dass sie die EZB nicht ausdrücklich dazu verpflichtete, den griechischen Banken Liquidität bereitzustellen.“ (153) Ob das geholfen hätte sei dahingestellt: Schon wenige Tage nach der Wahl von Syriza im Januar 2015 hatte die EZB den Ankauf griechischer Staatsanleihen eingestellt, womit sie den finanziellen Zusammenbruch einleitete. „Sowohl die griechische Zentralbank als auch die EZB (ergriffen) nicht die geringste Maßnahme, um diesen Aderlass an Liquidität unter Krisenbedingungen abzuwenden … sie befeuerten den Prozess des Ausblutens sogar noch.“ (145) Chondros weist auch darauf hin, dass Griechenland im Zeitraum von Juni 2014 (als die Gläubiger Programmzahlungen einseitig aussetzten) bis Mai 2015 weltweit das einzige Land war, das seine Schulden ohne jede Refinanzierungsmöglichkeiten bediente, was einen Mittelabfluss in Höhe von 17 Mrd. Euro (zehn Prozent des BIP) mit sich brachte (155). Diese selbstmörderische Zahlungsdisziplin (wofür Sozialkassen und Kommunen geplündert wurden) beschleunigte den finanziellen Ruin, ohne dass die Gläubiger auch nur um einen Deut von ihrem Kurs abwichen.

Nach einem Exkurs zur Geschichte von Syriza, bei der auch die Beziehung zu den sozialen Bewegungen durchaus selbstkritisch behandelt wird (Kapitel 6), kehrt der Autor zur Frage der Verhandlungsstrategie Syriza‘s und damit auch zu den weiteren Perspektiven im Rahmen Europas zurück. Im sechsten Kapitel bilanziert er folgendermaßen: Es habe sich gezeigt, „dass auch die Parteistrategie, die darauf abzielte, die Kürzungspolitik in nur einem Land unter den Bedingungen eines Wirtschaftskrieges und widrigen Machtverhältnissen zu verändern, eine Niederlage erlitten hat.“ (191) Diese Niederlage sei zumindest teilweise „einem politischen Voluntarismus“ der Syriza-Regierung zu verdanken, „der die tatsächlichen Kräfteverhältnisse ignorierte und nicht rechtzeitig wahrnahm, dass die Mächtigen Europas absolut entschlossen waren, die ökonomischen Kosten, egal wie hoch, zu zahlen …“ (191) „Unsere Strategie basierte auf der Annahme, dass wir unter den gegebenen Kräfteverhältnissen in der Eurozone einseitig die Austeritätspolitik würden abschaffen können. Unsere Taktik basierte darauf, dass unsere Gegner (…) es nicht wagen würden, uns aus dem Euro zu werfen … Hätten wir sie (die Strategie der Gläubiger, JG) rein politisch oder politischer gesehen, dann hätten wir verstanden, dass Schäuble sich zwischen zwei Risiken entscheiden würde, nämlich dem Risiko, dass die Eurozone enormen Schaden nehmen würde, und dem Risiko, dass der Neoliberalismus politisch kollabieren und sich Europa so mit linken Regierungen ‚füllen‘ würde.“ (191/2) Dies ist sicher eine realistische Bewertung. Es wäre allerdings hinzuzufügen, – und hier ist der Autor nicht konsequent, obwohl er das Problem an anderer Stelle durchaus sieht – dass nicht nur Schäuble und das dominante Deutschland linke Bewegungen mehr fürchten als finanzielle Risiken: Es waren und sind vor allem die herrschenden Gruppen in den anderen schwachen Ländern, die einen Erfolg Syriza‘s zu fürchten hatten und haben. Unter diesen Bedingungen zeigte sich, dass die Hoffnung auf Gegensätze innerhalb der EU, auf die die linke Regierung gesetzt hatte, auf Sand gebaut war. Vom Autor erwähnte abweichende Haltungen der Regierungen z.B. in Frankreich oder Italien zielten rhetorisch auf die Innenpolitik der jeweiligen Länder. Unter Rückgriff auf eine Periode in der antiken griechischen Geschichte beschreibt der Autor die Folgen dieser Fehleinschätzung: „In diesem konkreten Fall (im Kampf mit den übermächtigen ‚Institutionen‘, JG) konzentrierte sich die Hoffnung der Griechen auf die Unterstützung durch die Staaten des europäischen Südens, die ebenfalls von der arroganten deutschen Kontrolle der Institutionen betroffen sind, doch auch hier zeigte sich, dass niemand bereit war, zur Hilfe zu eilen.“ (222) Auf die Gefahr hin, besserwisserisch zu erscheinen: Damit ist solange nicht zu rechnen, wie die an der Austeritätspolitik interessierten herrschenden Gruppen der Länder des europäischen Südens nicht durch entsprechende Volksbewegungen zu Kompromissen gezwungen sind.

Ob es letzten Endes eine Alternative gegeben hätte, oder ob Syriza von Anfang an hätte ‚kleinere Brötchen backen‘ müssen, diskutiert der Autor nicht explizit. Es scheint aber, dass Syriza von Anfang an allein darauf gesetzt hat, dass die Gläubiger einen Rauswurf Griechenlands aus dem Euro nicht riskieren würden. Die Meinung des Autors dazu: „Der zentrale Schwachpunkt der Strategie von Syriza war, dass es keinen echten Plan B gab, einen Plan zum Herauswinden aus dem erpresserischen Diktat ‚Memorandum oder Drachme’. … So gab es erstens keine Antwort darauf, auf welche Weise die Gesellschaft, die nun schon seit fünf Jahren unter der Politik der inneren Abwertung leidet, nicht einer noch größeren Katastrophe unterworfen wird, allen voran die gesellschaftlichen Schichten, die am meisten von der Krise getroffen sind. Offene Fragen wie ausreichende Nahrungsmittelversorgung, Zugang zu Medikamenten, Energie und Garantie der Bankeinlagen waren nicht geklärt. Zweitens wurde, trotz aller unternommenen Bemühungen, keine ausreichende Politik zur Handels- oder Wirtschaftshilfe von Ländern außerhalb der Eurozone sichergestellt. Und drittens, was meiner Meinung nach am wichtigsten ist: Es gab keinen klassenorientierten Inhalt.“ (194/5) Das betrifft nicht nur die Monate kurz vor und nach der Regierungsübernahme. Chrondros meint im Rückblick an anderer Stelle, dass Syriza „es versäumt (hat), sich nach den Wahlen von 2012 gründlich auf eine mögliche Übernahme der Regierung vorzubereiten und ein detailliertes Regierungsprogramm auszuarbeiten. … Eine bessere Vorbereitung hätte meiner Meinung nach die Kapitulation zwar nicht verhindert, sicher aber das Ansehen der Linken gerettet.“ (184) Ob der Autor damit recht hat oder nicht: Wenn Syriza von Anfang an ernsthaft Perspektiven jenseits von Euro und EU erarbeitet und vor allem öffentlich zur Diskussion gestellt hätte, wären die Bedingungen wohl besser gewesen.

Die von Chondros angesprochene Problematik ist auch nach dem 12. Juli bzw. dem 20. September (Wiederwahl von Syriza) von Bedeutung. Obwohl die Wahlen besser ausgegangen sind als der Autor bei Drucklegung befürchtet hatte, ist die Problematik dadurch kaum entschärft. Notwendig ist, unabhängig von Wahlen, „ein … Fahrplan, wie wir unser Land aus diesem tödlichen Würgegriff der Institutionen befreien können.“ (199) Dass die Gläubiger ihren Griff – nach der Kapitulation – etwas lockern könnten, hat sich schon im Oktober 2015 als Illusion herausgestellt, als die Auszahlung einer fälligen Tranche mit dem Verweis auf unzureichende Reformfortschritte blockiert wurde. Griechenland bleibt am Haken der Troika. Auch die Hoffnung, im Windschatten der Flüchtlingskrise (Deutschland ist nun auf Entgegenkommen Griechenlands angewiesen) Spielräume vergrößern zu können, ist höchstens eine taktische, aber keine strategische Option. Die Kernfrage bleibt, ob und wie ein einzelnes Land der Eurozone (auch wenn es weniger verschuldet ist) wirtschafts- und sozialpolitische Spielräume zur Umsetzung einer weniger sozialreaktionären Politik erkämpfen kann. Hier scheint der Autor wenig Hoffnung zu haben: „Der ‚Coup‘ vom 12. Juli bestätigt schlicht und einfach, dass die herrschende Seite nicht vor dem Einsatz aller Mittel und Einflussmöglichkeiten zurückschreckt, denn die Umsetzung ihres Planes (neoliberale Deregulierung, JG) darf nicht in Frage gestellt werden.“ (205/6) Unter diesen Bedingungen setzt der Autor (ohne andere Alternativen zu diskutieren) weiter auf Europa: „Ich bin … der Meinung, dass eine Regierung der Linken, die ein derartiges Programm (des Memorandums) eingeführt hat, zur Suche nach neuen Methoden zu seiner Kompensation verpflichtet ist, und sich Schritt für Schritt aus ihm herauslösen muss. Um das Programm zu kippen, muss sie in diesem Prozess alles für die Entwicklung der dafür erforderlichen Machtverhältnisse tun.“ Dies kann nach Ansicht des Autors aber nur auf europäischer Ebene geschehen (223). Seine Hoffnung: „Ich werte das Vereinbarungsdiktat gegenwärtig noch als taktischen Schritt in Erwartung des geeigneten Zeitabschnitts, in dem sich die Widerstandsbewegung gegen die Austerität und den Autoritarismus herausbildet und die das ‚Germropa‘, das deutsche Europa à la Schäuble, stürzen und in die Niederlage führen wird, während gleichzeitig das ‚andere Europa‘ aufsteigt.“ (211)

Dieser ‚Attentismus‘ erscheint aus zwei Gründen wenig realistisch. So sei erstens auf die eingangs diskutierten ‚Konstruktionsmängel‘ von EU und Eurozone verwiesen, die vom Standpunkt des europäischen Kapitals durchaus Sinn haben: Wie schon erwähnt bilden sie eine Grundlage zur Spaltung der europäischen Arbeiterbewegungen und zur Sicherung von Ungleichzeitigkeit der sozialen Kämpfe. Zweitens sind vor allem in den europäischen Kernländern die Kräfteverhältnisse eindeutig. Man muss nicht Opfer antisozialdemokratischer Reflexe sein, um die folgende Analyse der politischen Situation in Deutschland ins Fabelreich zu verweisen: „Es kann nicht sein,“ begründet der Autor seine Hoffnung auf den Ausbruch europaweiter Klassenkämpfe, „dass die SPD noch lange so weitermacht und Politik im Schatten von Merkel und Schäuble betreibt und sich dabei, so wie in der Griechenlandfrage, ‚päpstlicher als der Papst‘ aufführt. Für die Partei Die Linke ist der politische Kontext zur Vertiefung ihrer Beziehungen zu den sozialen Bewegungen ausgesprochen günstig, sie kann auf der Grundlage eines mit ihnen gemeinsam zu erarbeitenden Programms sogar die Machtfrage in Deutschland stellen.“ (209) Auch die anschließende Hoffnung des Autors darauf, „dass die großen Gewerkschaften … endlich ihre mit den Solidaritätsadressen für Griechenland bereits begonnenen Schritte um weitere Aktivitäten ergänzen“ (ebd.), erscheint angesichts der (im Vergleich zu anderen europäischen Ländern) in Deutschland relativ günstigen sozialen Lage kurz- und mittelfristig wenig begründet.

Allerdings sind jene, die diese Orientierung des Autors auf „unser Europa“ (204) für perspektivlos und damit die gegenwärtigen Strukturen der EU für reformunfähig halten, angesichts der griechischen Erfahrungen gefordert, alternative Wege, die zunächst ‚nationale‘ Alleingänge sein würden, zu entwickeln. Gibt es in diesem neoliberal strukturierten Europa noch Spielräume für ‚soziale Reformen in einem Lande‘? Würde Chondros dies (für Griechenland) ganz ausschließen, dann wäre seine oben skizzierte Kritik an Syriza, dass die Partei nicht rechtzeitig – schon ab 2012 – ein realistisches Regierungsprogramm, einen ‚Plan B‘ der größeren Unabhängigkeit von den ‚Institutionen‘, ausgearbeitet habe, hinfällig. Mindestens ebenso illusionär wie die Hoffnung auf eine europäische Wende unter den gegebenen, fest zementierten Machtverhältnissen aber ist der Köhlerglaube, der Austritt aus der Eurozone (womöglich noch bei weiterer Mitgliedschaft in der EU) würde die Probleme des Landes lösen können. Er würde zu einem Anstieg der Schuldenlast und einer Verteuerung der Importe führen und würde – vor allem wenn der Schritt nicht im Konsens mit der EZB (also mit Schäuble) erfolgte – die neue Währung zum Spielball der Spekulation machen. Das heißt nicht, dass ein Austritt aus dem Euro nicht Teil einer Doppelstrategie sein könnte, bei der sich Griechenland – wie der Autor selbst in seiner Kritik der bisherigen Syriza-Strategie andeutet – international stärker auf aufstrebende Mächte jenseits von Westeuropa orientiert und gleichzeitig den Schulterschluss mit alternativen Kräften innerhalb von EU und Eurozone sucht. Entscheidend ist aber, dass eine solche Umorientierung von den demokratischen Kräften und einer Bevölkerungsmehrheit in Griechenland aktiv getragen wird. Eine Doppelstrategie könnte einerseits darin bestehen, zusammen mit europäischen linken Parteien und Bewegungen und anknüpfend an die griechischen Erfahrungen Reformforderungen für die EU-Institutionen zu entwickeln (da ist bislang wenig passiert) und mit sozialen Bewegungen zu verbinden. Andererseits wäre der Kampf gegen besonders sozialreaktionäre Teile des Reformprogramms in Griechenland zu unterstützen und in diesem Kontext deutlich zu machen, dass auch Lösungen außerhalb des Euro und ggf. der EU möglich sind.

[1] Anmerkungen zu: Giorgios Chondros, Die Wahrheit über Griechendland, die Eurokrise und die Zukunft Europas. Der Propagandakrieg gegen Syriza, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2015, 235 S., 16,99 Euro.