Griechenland, die EU und die Linke

Europäische Geldpolitik und Risiken einer Exitoption Griechenlands

von Mechthild Schrooten
Dezember 2015

Das Vorhandensein einer gemeinsamen Währung in der Eurozone verbindet ansonsten heterogene Mitgliedsstaaten. Das Beispiel der Eurozone zeigt, dass eine gemeinsame Währung nicht automatisch Identität und Solidarität bedeutet. In Europa dient das gemeinsame Geld vielmehr dazu, den Wettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten der Währungsunion zu schärfen. Mit der gemeinsamen Währung werden die Produktivitätsunterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften klarer. Denn das gemeinsame Geld ist ein Kommunikationsmittel.[1] Dieses Kommunikationsmittel trägt in sich selbst Informationen – es ist nicht neutral. Es ist ein wettbewerbsorientiertes Kommunikationsmittel.

Die in der Eurozone erkennbaren Produktivitätsunterschiede sind nichts anderes als Unterschiede in den erwarteten Renditen – Unternehmensrenditen. Die Geldwirtschaft lässt diese Renditen leicht berechnen und erklärt sie vielfach zum Nukleus des Wohlstandes. Ein möglicher Grexit würde daran nichts ändern. Auch nach einem Grexit bliebe Griechenland eine geldwirtschaftlich und damit renditeorientierte Volkswirtschaft. An keiner Stelle wurde ein möglicher Grexit der Implementierung eines umfassenden Sozialstaats – wie etwa in den nordischen Ländern – gleichgesetzt. Die Renditeorientierung würde in einem solchen Setting nur auf der Grundlage einer anderen Währung erfolgen. Auch die Hoffnung, Griechenland würde durch eine Abwertung konkurrenzfähiger, übersieht die Wirtschaftsstruktur. Angesichts der wenigen preiselastischen Exporte und der hohen Importabhängigkeit würde eine Abwertung Griechenlands Position eher verschlechtern.

Die Eurozone, aber auch die Europäische Union, weisen zunehmend Zerfalls- und Krisensymptome auf. Die so genannte Europäische Idee, in deren Mittelpunkt Frieden und Wohlstand für alle stehen sollten, verliert sich zunehmend in diffusen Politikdebatten. Hintergrund ist, dass die Europäische Idee im Kern auf Solidarität, Humanität und damit auf einer Gemeinwohlorientierung fußt. Die Europäische Union – insbesondere aber die Eurozone – setzt auf das gegenteilige Prinzip. Denn hier geht es um Wettbewerb, also renditeorientierte Konkurrenz des Kapitals. Im Wettbewerb gibt es immer nur einen Gewinner, aber viele Verlierer. Ökonomische Effizienz als Grundprinzip kann so auf der Ebene einer Gemeinschaft zu massiven und bedrohlichen Ineffizienzen führen.

Die Griechenlandkrise, die Krise Europas, die Bankenkrise, die internationale Finanzkrise – sie haben alle eine Gemeinsamkeit. In der Krisenbewältigungsstrategie wird dem Renditeschutz ein prominenter Platz eingeräumt. Mit dieser Idee wird aber kein Problem gelöst, sondern nur der Grundstein für weitere Krisen gelegt. Renditeorientierung und Wettbewerb als Spielregeln haben gerade dann eine erhebliche Sprengkraft, wenn es um politische und soziale Gemeinschaften geht. Es wird klar, dass die Europäische Idee heute – und vielleicht inzwischen vor allem – eine geldwirtschaftliche Idee ist. Eine Exit-Option ist politisch nicht gewollt. Sie würde mehr als die europäische Idee in Frage stellen.

Beitritt Griechenlands zur Eurozone

Es klingt etwas abgedroschen, aber es ist wahr – am Beispiel Griechenlands lässt sich die europäische Identitätskrise komplett erfassen. Griechenland war nie ein Musterland der Eurozone. Warum es dennoch unbedingt in die Währungsunion mit teilweise wesentlich leistungsfähigeren Volkswirtschaften drängte und gedrängt wurde, erscheint heute wie eine offene Frage. Bei Gründung der Eurozone 1999 verpasste das Land die so genannten Konvergenzkriterien, die formal für den Beitritt zum Euro-Währungsraum qualifizieren. Griechenland aber wollte und sollte unbedingt zur Eurozone gehören. Die Statistik lieferte entsprechende Daten zur gesamtwirtschaftlichen, fiskalischen und monetären Entwicklung und so wurde das Land mit einem Jahr Verspätung Mitglied in der Währungsunion.

Abbildung 1: Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen

Abbildung siehe PDF !

Quelle: Deutsche Bundesbank.

Nicht erst heute wird in Frage gestellt, ob die damals vorgelegten Statistiken einer kritischen Überprüfung standhalten.[2]. 2004 hat die griechische Regierung systematisch günstige Berechnungen des Haushaltsdefizits vorgelegt. Eurostat hat angeblich erst Jahre nach dem Beitritt nachgerechnet. Anfang des neuen Jahrtausends hatte Griechenland ein massives Interesse an der Zugehörigkeit zur Eurozone. Für die Einführung der Gemeinschaftswährung sprachen zum einen die damit verbundenen sinkenden Transaktionskosten beim Außenhandel. Zum anderen sank beim Beitritt zur Eurozone die Zinslast, die die öffentlichen Haushalte zu tragen hatten. Denn die Zinsen, die etwa für zehnjährige Staatspapiere zu zahlen waren, konvergierten in der neu geschaffenen Währungsunion – und zwar auf das Zinsniveau, das Deutschland für seine zehnjährigen Staatsanleihen zu zahlen hatte. Diese Zinskonvergenz kam aus der Sicht Griechenlands einer unmittelbaren Entlastung der öffentlichen Haushalte und damit einer dank Eurozonenmitgliedschaft bedingten Zinssenkung gleich. Weitere Anpassungen waren nicht notwendig – der Beitritt reichte. Diese Entlastung dürfte eines der wirtschaftlichen Hauptmotive Griechenlands für die Mitgliedschaft in der Währungsunion gewesen sein. Es sanken zudem nicht nur die Zinsen für öffentliche Anleihen, sondern auch die für Unternehmenskredite. Dies dürfte ein weiteres, schlagkräftiges Argument für den Beitritt zur Währungsunion gewesen sein.

Der griechische Staatshaushalt, aber auch die Unternehmen profitierten also lange Zeit von der Mitgliedschaft in der Eurozone. Die Währungsunion ist aber keine Solidargemeinschaft; in der Europäischen Union, besonders in der Eurozone, geht es um Wettbewerb und Wettbewerbsvorteile. Die Einführung der gemeinsamen Währung zielte auch auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas im Zuge der Globalisierung.

Gemeinsame Währung – gemeinsame Geldpolitik

Griechenland ist 1981 der EU beigetreten. Die Europäische Union ist ein mächtiger Spieler im Weltgeschehen. Dabei ist die Europäische Union weder mit den USA noch mit anderen Wirtschaftsräumen zu vergleichen. Zunehmend wird deutlich, dass ihre Institutionen eine erhebliche Macht gegenüber den Mitgliedsstaaten haben. Über die Jahre ist ein europäisches Recht entstanden, das in vielen Fällen Vorrang vor nationalen Regelsetzungen hat. Dabei wurden mit der EU keineswegs so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa geschaffen. Vielmehr hat sich ein höchst komplexes Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und den EU-Gemeinschaftsinstitutionen herausgebildet.[3] Wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene werden in der Europäischen Kommission getroffen. Im Grundsatz soll die EU-Kommission bei aller Heterogenität der Mitgliedsländer die gemeinsamen Interessen vertreten. In diesem Rahmen werden Entscheidungen über wirtschaftspolitische Weichenstellungen getroffen, die die gesamte Gemeinschaft betreffen. So verhandelt die EU-Kommission aktuell mit den USA um die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP).

Die Europäische Union ist in erster Linie eine Wirtschaftsunion. 1951 gründeten sechs Staaten, Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande, die so genannte Montanunion – damit war der Grundstein für die wirtschaftliche Zusammenarbeit gelegt, die, so die öffentliche Begründung, den Frieden in Europa sichern sollte. 1957 folgten die Römischen Verträge. Die Mitgliedschaft in diesem Wirtschaftsraum bedeutet für Volkswirtschaften, dass die Zölle zwischen den einzelnen Ländern aufgehoben werden (Freihandel). Gegenüber Drittstaaten gilt ein einheitlicher Zolltarif. Die EU steht auf den drei Säulen der Freiheit des Güterverkehrs, der Freiheit des Kapitalverkehr und der Migrationsfreiheit. Derzeit hat die EU 28 Mitgliedsländer – zuletzt (2013) ist Kroatien der EU beigetreten. In der EU leben mehr als 500 Millionen Menschen. Das macht diesen Wirtschaftsraum aus der Sicht von Unternehmen vor allem als Absatzmarkt sehr interessant.

Ist aber die Eurozone als Kapitalanlageort auch so interessant? Genau das ist die Frage. Kapital ist heute im Überfluss vorhanden. Damit unterscheidet sich die aktuelle Situation in der Weltwirtschaft stark von den historischen Konstellationen. Tatsächlich wird von allen wichtigen Zentralbanken seit langer Zeit Tag für Tag Geld in ein System gepumpt, von dem angenommen wird, dass es ohne diese billigen Zentralbankkredite kollabieren würde. Das vagabundierende Geld sucht attraktive Anlagemöglichkeiten. Renditen auf dem Kapitalmarkt lassen sich im Grundsatz schnell und scheinbar sauber durch einfache Käufe und Verkäufe realisieren.

Die Mitgliedschaft in der EU ist eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Eurozone. Nicht alle Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) gehören zur Eurozone¸ aktuell sind neun Länder der EU nicht in der Eurozone (Bulgarien, Dänemark, Kroatien, Polen, Rumänien, Schweden, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich). Mit dem Beitritt zur Eurozone werden die eigene Währung und damit die Möglichkeit zu einer eigenständigen Geldpolitik aufgegeben.

In der Eurozone ist die Geldpolitik zentralisiert. Eine einzige Zentralbank, die Europäische Zentralbank (EZB), wacht über das Funktionieren des grenz- und sprachraumüberschreitenden Kommunikationsmittels Euro. Die Geldpolitik der EZB ist auf Geldwertstabilität gerichtet; Inflationsbekämpfung ist ein zentrales Ziel. Aktuell liegt die Inflationsrate im Euroraum bei null Prozent; Deflationsgefahr macht sich breit.[4] Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand sind bestenfalls abgeleitete Zielgrößen der Zentralbankpolitik. Die Grundausrichtung der in Frankfurt ansässigen EZB ähnelt mit ihrer Preisniveaufokussierung der der Deutschen Bundesbank. Damit unterscheidet sich die EZB deutlich von der US-amerikanischen Zentralbank, die das gesamte konjunkturelle Geschehen im Blick hat.

Dabei hat sich in den letzten Jahren weltweit gezeigt, dass die ehemals unterstellten Zusammenhänge zwischen Geldmengenwachstum und Inflation nicht mehr so einfach stimmen. In der Eurozone, in Japan, aber auch in den USA lassen sich Wirtschaftswachstum und Inflation bestenfalls marginal durch Zinspolitik beeinflussen. Die gemeinsame Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion ist aber vor allem eine gemeinsame Zinspolitik. Am 1. Januar 1999, dem Tag der Euroeinführung als Buchgeld, lag der Hauptrefinanzierungssatz der EZB bei 3 Prozent. Inzwischen liegt der Refinanzierungszins bei nahezu null. Es wird versucht, die anhaltende gesamtwirtschaftliche Krise im Euroraum mit dieser Politik des billigen Geldes zu bekämpfen. Trotz der extremen Niedrigzinspolitik kommt die Wirtschaft im Euroraum aber kaum in Schwung. Dies liegt auch daran, dass der Refinanzierungszins nur eine grobe Orientierungsgröße für den Marktzins ist. Der Marktzins, also der Zins der bei einer Kreditaufnahme zu zahlen ist, setzt sich mindestens aus dem Refinanzierungszins plus einem Risikoaufschlag plus einer Gewinnmarge zusammen. Genau diese Risikoprämie ist der Dreh- und Angelpunkt bei der Übertragung der geldpolitischen Impulse auf die Realwirtschaft, aber auch für den Finanzsektor.

Parallel zur Einführung der neuen europäischen Währung setzte sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie die Idee durch, dass auf der Grundlage einer effizienten und risikoorientierten Organisation des Finanzsektors gesamtwirtschaftliche Wachstumsimpulse generiert werden könnten. Ein ganzes Set von wissenschaftlich fundierten Aufsätzen in renommierten Fachzeitschriften erklärte, dass dieser Zusammenhang statistisch evident und belastbar sei. Kurzum, es setzte sich die Überzeugung durch, dass die Leistungsfähigkeit des Finanzsektors einer Volkswirtschaft einen erheblichen Einfluss auf ihre gesamtwirtschaftlichen Aussichten hat. Dabei schien ein einfache Zusammenhang zu gelten: Je leistungsfähiger der Finanzsektor, desto höher das Wirtschaftswachstum.[5] (z. B. King/Levine 1993). Die Leistungsfähigkeit des Finanzsektors ist schwer zu bestimmen; daher wurde sich in der Regel mit Hilfsannahmen (Proxys) beholfen. So wurde vielfach vereinfachend angenommen, dass Finanzmarktregulierung die Leistungsfähigkeit des Finanzsektors behindere, d.h. je weniger reguliert desto leistungsfähiger.

Auf der praktischen Ebene ging in der Eurozone mit der gemeinsamen Geldpolitik keineswegs die Schaffung eines gemeinsamen Kapital- oder Finanzmarktes einher. Die historisch gewachsenen nationalen Regulierungen für Banken und sonstige Finanzintermediäre blieben erhalten. Das gilt für Deutschland mit seinem Drei-Säulen-System von Sparkassen, Genossenschaftsbanken und privaten Geschäftsbanken ebenso wie für Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Folglich entstand in der Eurozone ein Gefüge von höchst unterschiedlichen Finanzsystemen, die allesamt auf der Grundlage eines einzigen Kommunikationsmittels, dem Euro, funktionieren sollten. Der Banken- und Finanzsektor ist bis heute nicht „europäisiert“ – sondern steht im Wettbewerb.

Ein Grexit, also ein Austritt aus der Währungsunion und damit aus der Eurozone, ist bislang institutionell nicht abgesichert. Vielmehr geht mit dem Beitritt zur Eurozone gewissermaßen die Austrittsoption verloren – es sei denn, es wird gleich der Austritt aus der Europäischen Union erwogen.

Seit dem Beginn der internationalen Finanzkrise 2008 ist genug Zeit vergangen, um einen geordneten Prozess für einen (freiwilligen) Austritt aus der Währungsunion und damit aus der gemeinsamen Geldpolitik zu schaffen. Der viel diskutierte Grexit ist nicht nur nicht vorgesehen; er ist auch politisch nicht gewollt. Der Hintergrund ist relativ einfach. Die Krise hat an keiner Stelle die Existenz der Gemeinschaftswährung Euro gefährdet; es handelt sich also auf keinen Fall um eine so genannte Eurokrise. Die Krise hat bestenfalls zur Abwertung des Euro etwa gegenüber dem US-Dollar beigetragen und somit die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Exporteure gestützt. So wurden die Gewinnmargen europäischer Exporteure befeuert – deren internationale Wettbewerbsfähigkeit wird durch Entsolidarisierung gestärkt.

Grexit löst keine Probleme

An dem Fall Griechenland zeigt sich das gesamte europäische Dilemma. Auf unterschiedlichen Ebenen werden die beiden Grundprinzipien „Wettbewerb“ und „Solidarität“ gegeneinander ausgespielt. Während sich in den ersten Jahren der Eurozone die gemeinsame Währung gerade für die heutigen Krisenländer als Zinsentlastung für die öffentlichen Haushalte entpuppte, drehte sich dieser Effekt im Zuge der internationalen Finanzkrise vollständig um. Zwischenzeitlich musste beispielsweise der an den Rand der Insolvenz gedrängte griechische Staat zur Finanzierung seiner vorhandenen Schulden zweistellige Verzinsungen anbieten. Die Risikoprämie, die der Markt verlangte, war und ist dramatisch gestiegen. Auch heute gilt, dass die Renditen, die der Markt heute für griechische Staatsanleihen hergibt (knapp 9 Prozent) immer noch weit über dem Refinanzierungssatz der EZB liegt – die Risikoprämie ist hoch. Das Risiko ist aber eine an Erwartungen geknüpfte Bewertung – objektiv lässt sich Risiko nicht fassen, es bleiben Wahrscheinlichkeiten. Im Falle von Krediten geht es um Ausfallwahrscheinlichkeiten.

Die gemeinsame Geldpolitik und damit die gemeinsame Zinspolitik werden in der Eurozone nicht durch eine gemeinsame Fiskalpolitik ergänzt. Zwar gab und gibt es grundsätzliche fiskalpolitische Spielregeln etwa bei den Defizitobergrenzen für öffentliche Haushalte, jedoch wurde und wird gerade im Bereich der Fiskalpolitik auf Wettbewerb zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten gesetzt. In der Vergangenheit konnten die einzelnen Mitgliedsländer auf eine relativ autonome Fiskalpolitik setzen. Das hat mit dem Europäischen Fiskalpakt ein Ende gefunden; die Politik hat sich selbst die Hände gebunden. Dieser neue Koordinationsmechanismus setzt auf ein statisches und mechanistisches Weltverständnis. In diesem sind Schulden und Defizite negativ und schuldbehaftet. In einer Geldwirtschaft besteht die Neigung, qualitative Größen in quantifizierbare Hilfsgrößen zu wandeln. Folglich haben sich die Mitgliedsländer der Europäischen Union auf die Realisierung solcher quantitativer Eckdaten für die Staatshaushalte verständigt. Damit könnte man davon ausgehen, dass sie sich damit eine vergleichbare, in Geldeinheiten zu fassende Zielfunktion geschaffen haben wie der inzwischen multinational organisierte Unternehmenssektor. Dies könnte gewissermaßen als Gegengewicht gegen ein allzu ungezügeltes Gewinnstreben von Unternehmen gelten, wenn auch die Einnahmeseite einbezogen würde..

Das trifft aber nicht zu. Vielmehr unterwerfen sich die Staaten mit dem Fiskalpakt der Unternehmenslogik. Die inzwischen mantramäßig wiederholte Argumentationskette lautet: Unternehmensrenditen sind gut und schützenswert. Sie schaffen gute Lebensbedingungen. Der Staat hat für entsprechende Rahmenbedingungen zu sorgen. Der Staat wird so zum Helfershelfer. In jedem neoliberalen Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaften wird davon ausgegangen, dass es neben Staat und Unternehmen noch eine dritte Gruppe gibt: die nutzenmaximierenden Menschen. Der Nutzen aber ist ein komplexer Begriff und lässt sich nicht so einfach durch Geldeinheiten abbilden, wenngleich er gerade aus dieser Not erwachsend gelegentlich dem Einkommen gleichgesetzt wird. In Bezug auf den Nutzen ist die Kommunikationsmittelfunktion des Geldes begrenzt. Damit wird der ursprüngliche Sinn der Geldwirtschaft ins Gegenteil verkehrt, das Geld wird vom Mittel zum Zweck: Es geht nicht mehr darum, die Vorteilhaftigkeit von Geld und Krediten für reibungslose Transaktionen zu nutzen. Die Vorteilhaftigkeit von Geld und Kredit liegt auch darin, dass Investitionen ohne Eigenkapital getätigt werden können. Der Kredit macht es möglich, Vermögenshaltung und Investition zu trennen. So entstehen Schuldner-/Gläubiger innen-Beziehungen. Wird die Kreditvergabe mechanistisch, d.h. durch bestimmte, sachlich nicht begründbare Kennziffern begrenzt, so wird die Geldwirtschaft in einem ganz wichtigen Punkt beschnitten und auf Machtspiele zwischen Schuldner_innen und Gläubiger_innen reduziert. Im steten Macht- und Umverteilungskampf zwischen Gläubiger_innen und Schuldner_innen hatte Griechenland in der ersten Runde, die immerhin viele Jahre anhielt, gewonnen. Inzwischen werden ganze Staaten marktwirtschaftlich bewertet. Nicht irgendwelche staatlichen oder supranationalen Bewertungsinstanzen setzen hier Signale – es sind privatwirtschaftlich aufgestellte Agenturen, die ihren Sitz fast alle im anglo-amerikanischen Raum haben. Sie entscheiden über die Risikoprämie, die zu zahlen ist. Die Macht dieser Rating-Agenturen kommt aus der Regulierung. Staatliche Regulierung hat sie zu wichtigen Instanzen werden lassen.

Für Griechenland und die anderen Krisenländer gilt: Der Staatshaushalt, aber auch die Unternehmen wurden zu Beginn des Jahrtausends kräftig durch die Zinskonvergenz entlastet. Seit der Finanzkrise hat sich dieser Effekt umgekehrt, jetzt führt die Zugehörigkeit zur Eurozone zu extremen Zusatzbelastungen. Das Pendel ist in die andere Richtung ausgeschlagen. Ein einfacher Exit oder Grexit würde in dieser Situation der hohen Zinslast keinem Land nutzen. Schulden bleiben Schulden – viel intelligenter ist es dagegen, ihre Bedienung über einen möglichst langen Zeitraum zu strecken. Das ist zwar kein Schuldenschnitt, kommt diesem aber in den wichtigsten Aspekten sehr nahe. Zwar wäre ein Schuldenschnitt, wie ihn ursprünglich auch der IWF vorgeschlagen hatte, sowohl ökonomisch wie politisch vorteilhafter. Angesichts der Festlegung der EU gegen einen solchen ‚hair cut‘ erscheint derzeit eine Schuldenstreckung und die damit verbundene Entlastung beim Schuldendienst aber als einzig realistische Option. Ein Grexit verbunden mit der Einführung einer eigenen Währung kann diesen Effekt nicht generieren. Die Idee der Schuldenstreckung ist nichts anderes als eine Solidaritätserklärung der Gläubiger_innen mit dem Land. Sie ist für beide Seiten rational. Denn ein einfacher Blick auf die Spieltheorie zeigt, dass Schuldner_innen und Gläubiger_innen in einem komplexen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Im Falle eines Grexits würde dieses Spannungsverhältnis neu definiert – die Risikoprämie, die zu zahlen wäre, wäre mit Sicherheit hoch. Dazu käme nach der Einführung einer eigenen Währung ein nicht unerhebliches Wechselkursrisiko, welches die Finanzierungskosten weiter in die Höhe treiben würde. Ein Grexit ist also gerade in der aktuellen Lage keine sinnvolle Option.

Ursachen der griechischen Krise nicht bekämpft

Die Ursachen der griechischen Krise liegen zu einem erheblichen Teil in Strukturen und institutionellen Rahmenbedingungen der EU und der Eurozone. Kürzungsprogramme bei den öffentlichen Haushalten wie sie vielfach vorgeschlagen werden, sind nicht aus sich heraus zielführend, wenn es um die Veränderung von Rahmenbedingungen geht. Inzwischen ist klar, dass ein erheblicher Teil der aktuellen wirtschaftlichen Probleme des Landes gerade auf die verordneten Kürzungsprogramme in Kombination mit den strukturellen und institutionellen Schwächen zurückgeht. Denn so lässt sich die Investitionstätigkeit nicht anregen. Stattdessen greift Verunsicherung um sich.

Eine wesentliche und unstrittige Aufgabe des Staates in einer renditeorientierten Geldwirtschaft ist es, Rahmenbedingungen zur Renditeerwirtschaftung zu schaffen. Die dahinter stehende Logik ist einfach. Die eigentlichen Zielfunktionen des Staates – etwa Lebensqualität für alle, Marktversagen verhindern – sind wenig konkret und nicht auf Zahlen und damit auf Geld abbildbar. Abbildbar auf Geldeinheiten sind die Einnahmen, Ausgaben, Defizite und Schuldenstände und eben Renditen. Bis heute wird dabei von einem vereinfachten Wirkungsmechanismus ausgegangen: Je höher die Renditen, desto höher die Einkommen und desto besser die Lebensqualität.

Ein zentrales Problem, das bislang in keinem europäischen Land grundlegend und nachhaltig angegangen worden ist, ist die stabilitätsorientierte Organisation des Banken- und Finanzsektors. Während der internationalen Finanzkrise war deutlich geworden, dass gerade die fehlende europäische Finanzmarktarchitektur zur Destabilisierung der Eurozone beigetragen hat. Auch der Internationale Währungsfonds kommt zu dem Ergebnis, dass beispielsweise in Griechenland geldpolitische Impulse der EZB einen wesentlich geringeren Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung haben als in anderen Ländern der Eurozone.[6] Letztendlich geht bei all diesen Krisen um Verteilungskämpfe. Es treten Schuldner_innen gegen Gläubiger_innen an. Ist ein Verteilungskampf zwischen Finanzsektor und Staat. Die anhaltende Krise ist auch eine Umverteilung von unten nach oben.

Diese Umverteilungskrisen haben ihre Ursache in der renditeorientierten Geldwirtschaft. Sie sind nicht spezifisch für Griechenland oder andere Staaten; spezifisch und von den nationalen Spielregeln abhängig ist dagegen die Schärfe, mit der diese Umverteilung stattfindet. Der inzwischen hohe Schuldenstand des griechischen Staates geht zu einem erheblichen Teil auf Verteilungskämpfe etwa zwischen Banken und Staat zurück. Es ist davon auszugehen, dass der Schuldenstand des Staats 2018 die 200-Prozent-Marke in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt überschreitet. In einem solchem Setting ist es unverständlich, dass Kapitalflucht über einen langen Zeitraum nicht oder nicht ausreichend geahndet wurde.

Ausblick

Die Zukunft ist immer ungewiss. Trotzdem scheint heute klar, dass die Zukunft der Eurozone entscheidend davon abhängen wird, wie die anstehenden Verteilungskonflikte gelöst werden. Die Entwicklungen in Griechenland und ein theoretisch möglicher Grexit sind nur Symptome eines überforderten Systems. Im Kern wird in Europa um die Bedeutung zweier grundlegenden Entscheidungsmechanismen gerungen. Griechenlandkrise, Bankenkrise und auch die so genannte Flüchtlingskrise sind Zeichen eines umfassenden, hemmungslosen Verteilungskampfes. Bei aller Verschiedenheit der einzelnen Krisen haben diese vieles gemeinsam. Es steht Wettbewerb gegen Solidarität.

[1] Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.1988.

[2] FAZ vom 16. November 2004.

[3] Hans-Jürgen Wagener, Europäische Integration, München 2006, S. 350.

[4] Destatis: Jährliche Inflation im Euroraum auf 0,0 % gestiegen. Eurostat Pressemitteilungen. November 2015.

[5] R. G. King, R. Levine, Finance and Growth: Schumpeter might be right. Quarterly Journal of Economics, Vol. 108 (1993), Issue 3, S. 717-737.

[6] IMF, A Financial Conditions Index for Greece, 2015.