Hätt ich in diesen Tagen nicht
Kurellas Schrift gelesen
Von Kafka und der Fledermaus
Ich wär verlorn gewesen[1]
Ich gebe zu, wenn vom Realismus in der Literatur die Rede ist, werde ich regelmäßig heimgesucht von nicht sehr angenehmen Erinnerungen an Diskussionen der sechziger Jahre – als zweitem, drittem, viertem Aufguss in westdeutschen MSB-Spartakus-WGs auch der siebziger Jahre. Es waren Zeiten, in denen Stephan Hermlin sich selbst sarkastisch als „spätbürgerlichen Schriftsteller“ denunzierte und in denen Anna Seghers angewidert an Georg Lukács schrieb: „Diese Leute sind gegen Kafka, also bin ich für ihn.“[2] Die Gleichsetzung westdeutscher WG-Diskussionen mit Realismusdebatten überhaupt ist natürlich ungerecht, wie nicht zuletzt der Schwerpunkt „Literatur (in) der Krise“ im Z-Märzheft zeigt. Indes, meine Skepsis gegenüber ästhetischen Reglementierungen aller Art, in wessen Namen auch immer, ist nicht ausgeräumt. Und Florian Kesslers wohlfeile Kolleg_innenschelte in der Zeit[3] wird durch noch so klug konnotierte Wiederholungen nicht richtiger. Auf Anhieb fallen mir einige in den letzten Jahren erschienene, lesenswerte Romane junger Autor_innen ein – unter ihnen sogar eine Absolventin des Deutschen Literaturinsitituts Leipzig! –, die sich mit der eigenen, keineswegs „spätbürgerlichen“, sondern – wie Carolin Amlinger[4] präzise dargestellt hat –, prekären Situation und der Lage anderer Prekarisierter auseinandersetzen. Pars pro toto: Die komische Frau und Die letzten warmen Tage von Ricarca Junge sowie Die Glücksparade von Andreas Martin Widmann.[5] In den letzten Jahren sind glücklicherweise eine ganze Reihe von Erzählungen erschienen, die uns die Sozialgeschichte unserer (beiden) Republik(en) aufs Lehrreichste und zugleich Unterhaltendste erhellt. Auf die vielen bekannten Romane über das Leben in der DDR und danach (allen voran Ingo Schulzes Adam und Evelyn) will ich hier nicht eingehen, mit Ausnahme von Peter Richters 89/90[6], aus dem ich mehr über Dresden und die Wurzeln von Pegida erfahren habe als aus mancher politologischen Studie. Die Romanzyklen Das alte Jahrhundert von Peter Kurzeck und Ortsumgehung von Andreas Maier[7] zeichnen ein genaues Portrait der Provinz in der alten Bundesrepublik (War nicht die ganze alte Bundesrepublik eine einzige, große Provinz?). Jüngst hat Frank Witzel mit seinem Riesenroman – er hat lange daran gearbeitet und das Buch ist sehr dick geworden, aber es zu lesen, lohnt sich! – Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969[8] dem noch einen kräftigen Akzent hinzugefügt. Soviel zum Thema „Arschkriech-und-Winsel-Literatur“ (Rolf-Dieter Brinkmann).
All dies vorausgeschickt, muss eine einigermaßen souveräne Leserin, die sich weit mehr dafür interessiert, was „Kunst kann“, als dafür, was sie „soll“[9] doch einräumen, dass die gegenwärtige Realismusdebatte immerhin das Interesse an Literatur beflügelt, selbst in der Linken. Und sie kommt nicht umhin, Sven Gringmuth darin zuzustimmen, dass Literatur dahin zu gehen habe, „ wo es wehtut. Wo man sich nicht so masochistisch gerne aufhält wie im eigenen Inneren: ins Innere des Landes, dieses Landes.“[10] – Ein kleiner Einwand gegen diese Maxime allerdings am Rande: Was ist dann zum Beispiel mit Selina oder Das andere Leben, Walter Kappachers hinreißender, gewiss die Zeiten überdauernder Erzählung von einer Reise in die Toskana und zugleich ins eigene Innere, dazu noch unternommen von einem Lehrer im Sabbatical?[11] Was ist mit den realitätshaltigen Märchen von Annika Scheffel?[12] Was ist mit den verträumten Geschichten von Franziska Wilhelm? Oder was ist mit Lyrik, etwa mit den an Vergessenes und Vergessene erinnernden Reflexionen von Harry Oberländer, mit Paulus Böhmers sprachmächtigen Langgedichten, mit Nancy Hüngers langsam geschriebenen und langsam zu lesenden Versen oder mit den singenden, klingenden Liebesgedichten von Safiye Can? – Die geschätzte Leserin möge diesen – zufällig zusammengestellten – Katalog als Appell verstehen, mehr Literatur zu lesen als Theorien über sie.
II.
… hier im Innern des Landes, da leben sie noch.[13]
Von zwei Romanen, die ins „Innere des Landes“ gehen, dahin, wo es wehtut – zuweilen aber durchaus auch ins „eigene Innere“ –, soll nun die Rede sein: von Gila Lustigers Die Schuld der Anderen[14] und von Jan Seghers’ Die Sterntalerverschwörung[15]. Beides große Gesellschaftsromane, beides zugleich spannende Krimis.
In Jan Seghers’ Die Sterntalerverschwörung liegt das Innere des Landes in der Bundesrepublik des Jahres 2008, in Osthessen. In dem ideellen Gesamtkaff „Schwarzenfels“ hat „der Baron“ noch immer das Sagen, zumal er auch noch CDU-Landtagsabgeordneter ist – er entpuppt sich übrigens als ziemlich aufrechter Kerl, weshalb man ihm mit üblen Methoden zu Leibe rückt –, und ein sympathischer Callboy findet bei einem toten Motorradfahrer einen Umschlag mit kinderpornografischen Fotos, deren Brisanz er sofort erkennt. Er nimmt den Umschlag an sich; damit fängt der Ärger für ihn an. So liegt das Innere des Landes auch in einem pittoresken, südhessischen Museumsdorf, in dem der Callboy sich später einer mörderischen Verfolgungsjagd ausgesetzt sieht. Das Innere des Landes liegt bei Seghers aber auch in Frankfurt am Main, in einem etwas heruntergekommenen Hotel im noch immer nicht vollständig gentrifizierten Frankfurter Ostend, in dem eine bekannte, investigative Journalistin ermordet aufgefunden wird. Sie war einer brisanten Geschichte auf der Spur, die ein Bad Cop um jeden Preis verschleiern will, offenbar im Interesse höchster Strippenzieher. Keine Sorge, ein Good Cop, sein Team und seine Mitstreiterin, eine sehr neugierige Journalistin, werden allen Gefahren trotzen, das zunächst unentwirrbar scheinende Knäuel sorgsam auseinanderknüpfen und die Angelegenheit am Schluss aufklären, wie es sich gehört – nicht ohne dabei neue, selbst sie noch überraschende Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Politik und „Wirtschaft“ zu gewinnen. Das Innere des Landes liegt nämlich auch im „Weißen Haus“, einem „alte(n) (...) Bürgerhaus in der (Frankfurter) Günthersburgallee“, wo der unkonventionelle, zuweilen von Selbstzweifeln heimgesuchte Kommissar Robert Marthaler und seine Kolleg_innen „residieren“ (Jan Seghers, a.a.O., S. 96), allesamt ziemlich erfreuliche Zeitgenoss_innen. Nicht zufällig liegt gleich auf der ersten Seite des Romans das Innere des Landes in einer Maschine im Anflug auf den Rhein-Main-Flughafen, in der ein abgewählter, aber noch geschäftsführender Ministerpräsident von seinem Freund, dem Dalai Lama, von Fastfood und von seiner Jugendliebe träumt. Das Innere des Landes liegt – zum Glück – auch auf dem Frankfurter Parkfriedhof Heiligenstock, auf dem ein deutscher Kommunist, den viele von uns sehr gemocht haben, zu Grabe getragen wird: meine Lieblingsszene (wen ‘s interessiert: S. 367 f.), in der aufscheint, was sein könnte – wie zuweilen auch in der freundschaftlichen Kooperation des Marthaler-Kollektivs oder in Marthalers nicht unkomplizierter Liebesbeziehung zu Tereza, bei allem Kummer, den sie auch verursacht. Das Innere des Landes liegt schließlich in der Hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden, im „Inneren Kreis“, dem engsten Stab des Ministerpräsidenten, der gemeinsam mit dem leicht genervten Chef beratschlagt, wie man demokratische Wahlen aushebeln und eine neue Landesregierung unter Führung einer linken Sozialdemokratin mit griechischem Namen verhindern kann. (Während ich diese Zeilen schreibe, im Sommer 2015, geben sich in größerem Maßstab operierende Akteure alle Mühe, eine demokratisch gewählte, soeben durch ein Referendum unerwartet überzeugend legitimierte Regierung in Griechenland auszuhebeln. Die Reihenfolge von Tragödie und Farce scheint sich zuweilen umzukehren.)
Jan Seghers ist unter seinem Ursprungsnamen Matthias Altenburg ein kluger Essayist[16] und bekennender realistischer Erzähler[17]. Sein offenes Pseudonym als Krimiautor hat er gemixt aus den Namen eines deutschen Radsportlers und der eingangs zitierten Kafka-Befürworterin. Seinem fünften Kriminalroman hat er die Warnung vorangestellt: „Alle Ereignisse und Personen sind frei erfunden. Selbst der Vollmond scheint, wann er will.“ Aber natürlich erinnert die Romanhandlung nicht zufällig an die ganz reale Geschichte des früheren hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch, der 2008 in den Landtagswahlen 12 Prozent und damit die absolute Mehrheit verloren hatte. Abgejagt hatte ihm die Stimmen die SPD-Linke Andrea Ypsilanti, die im Wahlkampf – auf Druck ihrer Parteiführung, ist zu vermuten – eine Zusammenarbeit mit der Partei der Linken kategorisch ausgeschlossen hatte. Umwelt- und Wirtschaftsminister in Andrea Ypsilantis Schattenkabinett war der exponierte SPD-Umweltexperte Hermann Scheer, der für Hessen ein Konzept für eine gänzlich neue Energiepolitik entwickelt hatte. Das hatte SPD-Rechte schon vor den hessischen Landtagswahlen dazu bewogen, den Wahlkampf ihrer hessischen Genossin massiv zu behindern. Trotz des überraschenden SPD-Wahlsiegs brauchte eine rot-grüne Landesregierung die Tolerierung durch die Linke. Darüber wurde in der hessischen Sozialdemokratie monatelang debattiert. Roland Koch, der einige Jahre zuvor beinahe über den CDU-Parteispendenskandal und die Lüge von „jüdischen Vermächtnissen“ gestolpert wäre (auf Plakaten wuchs Koch damals eine Pinocchio-Nase), und die Seinen entfesselten nun eine groß angelegte Propaganda-Kampagne gegen Andrea Ypsilanti, in der sie aufs Infamste der Lüge bezichtigt wurde. Bei Jan Seghers liest sich das so: „Es gab einen Artikel über die neue Referentin des Ministerpräsidenten. Bea Traub wurde mit den Worten zitiert, für sie stünden die Werte Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Kompetenz und Fleiß an vorderster Stelle. Auf die Frage, ob das eine Anspielung auf Sabine Xanthopoulos sei, lautete ihre Antwort: ,Was diese Frau vor aller Augen getan hat, bedarf keines Kommentars. Jeder kann sich selbst ein Urteil bilden. Die meisten haben es bereits getan.’ Zwei Seiten weiter prangte auf der unteren Hälfte eine Anzeige des Bundes Christlicher Gewerbetreibender. ‚Lügen haben kurze Beine’ stand dort in fetten Lettern und: ‚Wahrheit ist Wirtschaftskraft: unser Land hat es verdient’.“ (S. 401)[18] Unterstützt wurde die abgewählte CDU-Regierung in der Realität von „der hessischen freien Wirtschaft“, die gegen massive Proteste der Anwohner_innen für eine Erweiterung der „Jobmaschine Rhein-Main-Airport“ votierte. Nach zahlreichen sozialdemokratischen Funktionärskonferenzen und Fraktionssitzungen wagte Andrea Ypsilanti endlich, sich im Landtag zur hessischen Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Eine SPD-Abgeordnete – von den bürgerlichen Medien zur tragischen Heroine stilisiert – hatte bereits öffentlich kundgetan, dass sie nicht „mit Kommunisten zusammenarbeiten“ könne; aber die Mehrheit hätte ohne sie ausgereicht. Am Tag vor der entscheidenden Landtagssitzung entdeckten drei weitere SPD-Landtagsabgeordnete ihr „Gewissen“ und „bekannten“, dass sie ihre Parteichefin nicht zur Ministerpräsidentin wählen würden. Roland Koch blieb im Amt und wurde 2009 wiedergewählt. Hermann Scheer starb im selben Jahr. Die SPD-Stimmen stürzten ab ins Bodenlose – und die Flughafenerweiterung wurde durchgesetzt. 2010 wechselte Roland Koch an die Spitze eines Baukonzerns, der am Ausbau des Frankfurter Flughafens maßgeblich beteiligt war; dort ist er als Konzernchef gescheitert und vor einigen Monaten wieder abgetreten.
Ein Stoff, den Shakespeare und Brecht gemeinsam sich nicht besser hätten ausdenken können. Warum dem noch etwas hinzufügen? Weil einige entscheidende Fragen bis heute offen geblieben sind: War das zentral geplant und gesteuert, oder gab es mehrere, voneinander unabhängige Akteure? Wer genau hat wann, wo an welchem Strang gezogen? Und vor allem: Was hat die vier Abtrünnigen, damals zu ihrer Haltung bewogen? Besonders die drei, die zuvor bei allen Gelegenheiten und Probeabstimmungen beteuert hatten, sie würden Andrea Ypsilanti mitwählen? (Auch Volker Zastrows lesenswerte Reportage Die Vier: Eine Intrige[19] hat das nicht völlig entschlüsseln können.) Matthias Altenburg/Jan Seghers hat dieser Stoff nicht losgelassen. Er hat jahrelang recherchiert – und sich für die Fiktion entschieden, wohl wissend, „dass das Wahrscheinliche nicht notwendig das Wahre sei und die Wahrheit nicht immer wahrscheinlich.“ (Sigmund Freud, zitiert bei Jan Seghers, S.7) Selbstverständlich hat er alle real existierenden Personen mit anderen Namen versehen – das „Entschlüsseln“ macht beim Lesen sehr viel Spaß –, er hat einige neue Akteure ins Spiel eingeführt und ein Handlungstableau entworfen, das ihm erlaubt, zugleich einen rasanten Politthrilller und den perfekten Kriminalroman zu erzählen. Und erzählen kann Jan Seghers, knapp, dicht, mit intelligenten, zum Teil witzigen Dialogen. Ganz nebenbei löst er so auch das Problem des Verräter-Motivs: „Weißt du, was Kurt Tucholsky vor achtzig Jahren geschrieben hat?““ „Nein, Carlos.“ „Er schrieb, dass die Sozialdemokraten einen neuen Verrätertypus in die Geschichte eingeführt hätten, den Judas ohne Silberlinge. Wahrscheinlich sind die vier besoffen von ihrer eigenen Bedeutung. Vielleicht glauben sie selbst, was sie sagen.“ (S. 419f., vgl. auch S. 493.)
Obwohl die Handlung sich wie bei allen bisherigen „Seghers-Krimis“ auf das Rhein-Main Gebiet konzentriert[20], nimmt Die Sterntalerverschwörung die Leser_innen mit auf eine weite Reise durch die Gesellschaft der Bundesrepublik. In „seiner großzügigen Altbauwohung in der Wiesbadener Innenstadt, die ihm als Praxis diente“ (S. 183), begegnen wir dem gut situierten Psychiater Nikolaus Sänftig aus dem „immer größer werdenden Heer der (…) Consulting-Psychologen, die dafür bezahlt wurden, höheren Armeeangehörigen, Topmanagern, Börsenspekulanten, Bomberpiloten und Geheimdienstleuten das schlechte Gewissen zu nehmen und sie in die Lage zu versetzen, auch am nächsten Tag ihre schmutzigen Geschäfte weiterzuführen“ (S. 185), mit all seinen gelegentlichen Skrupeln. Im Mosel-Eck, einer Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel, treffen wir den „kleinen Dicken“, der Marthaler fragt, wer er sei. „,Polizist? Au Scheiße!’ sagte der Dicke. ,Schicksale gibt’s, Schicksale gibt’s’ Er hingegen habe gerade eine Umschulung zum Informatikkaufmann in Freiburg im Breisgau hinter sich gebracht und als Jahrgangsbester abgeschlossen, sich dann aber beide Hände verbrüht, weshalb er schon wieder von Stütze leben dürfe, ob man darauf nicht einen trinken wolle, Eddy übrigens sei sein Name.“ (S. 443)
Mit Die Sterntalerverschwörung ist Jan Seghers nicht nur eine phantastische und damit wahre Geschichte gelungen, sondern zugleich ein großer Gesellschaftsroman, aus dem Nachgeborene mehr lernen werden über die bundesrepublikanische Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts als aus Geschichtsbüchern.
III.
Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?[21]
Als Gila Lustiger [22], im Pariser Intellektuellenmilieu zuhause, das Land nicht mehr verstand, in dem sie seit fast dreißig Jahren gelebt hatte, machte sie sich auf, es verstehen zu lernen. Sie ging dahin, wo es weh tut: In die prekarisierten Milieus der Banlieues, in die deindustrialisierte, hoffnungslose Provinz. Zwei Jahre lang begleitete sie Polizeiteams, traf sich mit Journalist_innen, interviewte junge Dropouts mit „migrantischem Hintergrund“, demoralisierte Kleinstädter_innen, „outgesourcte“ Industriearbeiter, Ökonomen, Mediziner, Chemiker, Gewerkschafter. Sie entdeckte Frankreich in einer „Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, veräußert wurde. (…) wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde.“ (Karl Marx, zitiert von Gila Lustiger, S. 5). So schrieb sie ihren ersten Kriminalroman.
Die Schuld der Anderen beginnt in Paris im Hochsommer. Wer kann, flieht vor der drückenden Hitze. Der Journalist Marc Rappaport sitzt in seiner Redaktion und bekommt mitten in der Saure-Gurken-Zeit die Meldung auf den Tisch, mithilfe der modernen DNS-Analyse sei es endlich gelungen, einen fast dreißig Jahre zurückliegenden Mord an einer Prostituierten aufzuklären. Marc Rappaport, neugierig und äußerst unabhängig, spürt, dass daran etwas faul ist – und beginnt zu recherchieren, mit langem Atem und gegen zunehmende Widerstände. Seine Recherchen führen ihn in das Innere Frankreichs, ins – gar nicht so – fiktive „Charfeuil“, den Geburtsort der Ermordeten. Er stößt dort auf ein Kartell des Schweigens. Nutrissor, nahezu einziger Arbeitgeber am Ort, scheint das Zentrum dieses Kartells zu sein. Rasch stellt sich heraus: Die Tote war mitnichten ein x-beliebiges hübsches Callgirl, sondern eine zielstrebige, durch nichts und niemanden aufzuhaltende Rebellin, die dieses Kartell störte. Wurde sie deshalb ermordet? Je länger Marc Rappaport recherchiert, desto verwickelter wird die Geschichte, desto größer werden die Widerstände und desto näher rücken die Widersacher. Sein alter Freund und Chefredakteur Pierre, seine ebenfalls äußerst unabhängige, schöne Freundin Deborah, sein ebenso geliebter wie beargwöhnter Großvater – sie alle raten ihm davon ab, weiterzumachen. Marc Rappaport bleibt dran und kommt hinter einen großen Chemieskandal.
Auch diese Fiktion hat einen höchst realen Hintergrund: Seit 1981 benutzte der französische Futtermittelhersteller Adisso eine neue Substanz, um fortan Vitamin A für die Massentierhaltung billiger anbieten zu können: Chloracetal C5. Trotz der betriebsinternen Warnung eines Mediziners, der festgestellt hatte, dass Cloracetal C5 Krebs verursachen und das Erbgut verändern kann, hielten die Adisso-Oberen, unter ihnen durch Francois Mitterands „Reformen“ in leitende Management-Positionen aufgerückte Absolventen von Elite-Unis, aus Profitgründen an der „modernisierten“ Produktion fest. Viele Adisso-Arbeiter erkrankten, viele starben. Sie und ihre Angehörigen schwiegen lange, aus Angst um die nicht sehr zahlreichen, noch verbliebenen Jobs in der Region. Die Vitamin-A-Produktion mit Chloracetal C5 ging weiter. Dass die Wahrheit schließlich doch ans Licht kam, liegt an investigativen Journalist_innen, die nicht locker ließen (Gila Lustiger dankt in ihrem Nachwort Inès Béraud) und an den gewerkschaftlich organisierten Geschädigten, die es schließlich doch gewagt haben, gemeinsam für ihr Recht zu kämpfen. „Nicht zuletzt möchte ich dem Betriebsarzt Gérard Barrat dafür danken, dass er mir in seiner bescheidenen Art von seinem Kampf erzählt hat. Menschen wie er verdienen unsere Hochachtung. Und ganz besonders bedanke ich mich bei den an Krebs erkrankten Arbeitern, die ich habe treffen dürfen. Ihren Bemühungen um Anerkennung wie auch ihrem Leben sei dieser Roman gewidmet.“ schreibt Gila Lustiger ganz am Schluss (S. 494).
Nicht nur die Autorin, auch ihr Protagonist Marc Rappaport tritt am Ende seiner Reise ins Innere Frankreichs an die Seite derer, die „Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen“ nicht für veräußerbare Güter halten, sondern an ihnen festhalten, allen Pressionen und Versuchungen zum Trotz. Damit wechselt er die Seiten. Denn seine geistige Unabhängigkeit verdankt Marc Rappaport zwar dem jüdischen Intellektuellenmilieu, dem sein Vater entstammt, seine äußerst angenehme, materielle Unabhängigkeit aber der französischen Industriellenfamilie seiner Mutter, deren Reichtum der imponierende Großvater zumindest zum Teil als Kriegsgewinnler in Afrika zusammengerafft hat. Der aufgeweckte Enkel war sein Wunschnachfolger und sitzt noch immer im Aufsichtsrat des Familienunternehmens, hat Politische Wissenschaften studiert und arbeitet jetzt für ein, gemessen an seinen familiären Möglichkeiten und seiner elitären Ausbildung, vergleichsweise lächerliches Gehalt als investigativer Journalist bei einer als linksliberal geltenden Zeitung. Dabei sind seine Lebensgewohnheiten die eines Sohnes aus gutem Hause geblieben: Die Dreizimmerwohnung in Paris, die Restaurantbesuche, die eher billigend in Kauf genommenen als goutierten, großbürgerlichen Partys, das gediegene Ferienhotel. Am Schluss seiner nervenaufreibenden, zuweilen gefährlichen Recherchen ist Marc Rappaport nicht nur dem Verbrechen hinter dem Verbrechen auf die Spur gekommen, er hat nicht nur „den Fall gelöst“; er hat nicht nur viel Neues erfahren über das skrupellose Zusammenspiel der politischen und ökonomischen Eliten, in das auch seine eigene Familie verwickelt ist, und über die Resignation der Expropriierten; dazu hat er noch etwas gelernt: „Er fühlte eine große Leere und Traurigkeit, als er langsam auf seinen Wagen zuging. So viele zerstörte Leben. Die Arbeiter, ihre Familien, (…) so viele Menschen waren ins Getriebe dieses Systems geraten und von ihm zermalmt worden.“ (S. 473) Und der Lonesome Rider Rappaport hat entdeckt, was diese Trauer, dieses Mitgefühl produktiv verwandeln kann: Solidarität. Da ist er also, der – zwar zögerliche, sich der Tragweite seiner Einsicht vielleicht noch nicht bewusste – Akteur, der „für die Überwindung von Kapitalismus und Patriarchat gegen mediale Gleichschaltung, Entdemokratisierung und Entsolidarisierung (...)“ eintritt[23], den Lothar Peter bei Michel Houellebecq vermisst.
Aber Marc Rappaport ist kein klassischer „positiver Held“. Dazu ist er zu sehr ein – auch an sich selbst – zweifelnder Intellektueller. So wird der spannende Kriminalroman immer wieder unterbrochen durch seine Reflexionen, durch kleine, gut geschriebene Essays: „Fasste man, was er gelesen hatte, zusammen, so waren alle sozialen und wirtschaftlichen Experimente der letzten dreißig Jahre an dem Konzern durchexerziert worden. Verkauf, Kapitalöffnung, Umflaggung, Verstaatlichung, Reprivatisierung, die technologische Revolution, die Einführung des Euro. Es gab nichts, was dem Konzern erspart geblieben wäre. (…) Die zahlreichen Manager (…) hatten neue Führungsmethoden erprobt, aber das waren Finessen, bedachte man, dass die Produktpalette in all den Jahren die gleiche geblieben war: Tierfutterzusatz (…). Die andere Konstante hieß Angst. Und sie hatte die Arbeiter noch bei jedem angekündigtem Verkauf (…) gefügig gemacht. In einem Umfeld, wo die da oben entschieden, was mit denen da unten geschah, gehörte die Furcht, von irgendeinem Technokraten aus der Großstadt wegrationalisiert zu werden, zur täglichen Erfahrung.“ (S. 255f.)
Oder ein kurzer Ausflug ins eigene Innere: „Und natürlich dachte er (…), wie gleichförmig ihre Klagen doch waren. Er ließ sie zu, verteidigte sich nicht einmal, nahm die Schuld auf sich und verwandelte sich in den Mann, den zu sehen sie beschlossen hatte. Er füllte die Rolle, die sie ihm zuwies, aus Trägheit aus, und dass er das tat, dass er ihr einfach nur zuhörte, statt ihr zu widersprechen, beschämte ihn. Ich bin in dich verliebt, hätte er ihr sagen können, (…) und das bisschen Souveränität, das ich mir ab und zu ergattere, wird auch nicht viel daran ändern, dass ich meinem Begehren hilflos ausgeliefert bin. Was willst du aus mir machen? Ein Schoßhündchen? Aber sie legte so viel Enthusiasmus in ihre Worte, dass es einen mutigeren Mann gebraucht hätte, um ihr die komplexe Beschaffenheit ihrer Beziehung auseinanderzusetzen ...“ (S. 107) Beziehungsstress gibt es also nebenbei auch – und der mutige Kämpfer für die Wahrheit erweist sich da als eher mutloser Zeitgenosse.
Oder: „Marc hatte nichts gegen ein bisschen aufgeklärten Ethnozentrismus einzuwenden, auch nichts gegen jüdische Selbstbezogenheit, schließlich trug jeder seine Scheuklappen, und diese Menschen (…) gehörten, wenn auch nicht zu den prickelnden, so doch immerhin zu den anständigen Geschöpfen (…). Sie arbeiteten hart, gründeten Familien, erzogen ihre Kinder, und wäre da nicht ihre Furcht, diese Furcht vor Verfolgung, die jedem europäischen Juden im Leib steckte, so hätten sie als gehobene Mittelklassefranzosen durchgehen können. Es war diese Angst, mehr als alle Prinzipien der Halacha – die wenigsten befolgten noch die Religionsvorschriften –, die das europäische Judentum auszeichnete. Die Angst machte sie hellhörig und dünnhäutig, paranoid machte sie sie dennoch nicht. Und seit 2006 der vierundzwanzigjährige Handyverkäufer Ilan Halimi als Jude zu Tode gefoltert worden war, beschäftigte der Antisemitismus der muslimischen Jugend in den Vororten jeden Einzelnen von ihnen. (…) Marc hatte damals darüber geschrieben. (…) Er (...) hatte jedes einzelne Gangmitglied portraitiert. Alle waren sie arbeitslos, Kinder von Immigranten aus afrikanischen Staaten, alle französische Staatsbürger, alle orientierungslos und frustriert, an den Rand gedrängt (…) und auf Juden fixiert, die zum Objekt von Wahnvorstellungen geworden waren. Und alle hatten sich mit ihrem selbstgebastelten Islam, der nichts mehr mit der Religion ihrer Väter zu tun hatte, die sie ihres Integrationswillens und ihrer Schwäche wegen verachteten, eine Ersatzidentität geschaffen, die ihnen eine Wichtigkeit vorgaukelte, die sie nur in der Ausübung von Gewalt ausleben konnten. Erbarmungsloser Gewalt.“ (S. 230 f.) Diese Sätze wurden geschrieben vor dem Januar 2015, vor den Anschlägen auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt.
Vielleicht hat auch die historisch fundierte „Angst, die das europäische Judentum auszeichnet“, Gila Lustiger so „hellhörig und dünnhäutig“ gemacht, dass sie eher als andere die immensen Gefahren aufspürt, die von der gegenwärtigen „multiplen Krise“ (Ulrich Brandt) ausgehen für den seit jeher brüchigen Zusammenhalt nicht nur der französischen Gesellschaft, für jedes menschliche Zusammenleben. Dass sie dazu noch darin geübt ist, jene Verwerfungen akkurat zu beschreiben, denen Menschen in ihrem Zusammenleben, in ihren „ganz privaten“ Beziehungen ausgesetzt sind, ist nicht von Nachteil für die Lesbarkeit von Die Schuld der Anderen. Die Deformation trifft übrigens beide: Herrschende wie Beherrschte verrohen und „gehen über Leichen“, um ihr jeweiliges obskures Ziel zu erreichen, Profitmaximierung das der einen, die Konstruktion einer „Ersatzidentität“ das der anderen. Aber es gibt einen Ausweg, wenn auch einen, der nicht leicht zu gehen ist: Solidarität.
Die Schuld der Anderen ist ein genaues Portrait der französischen Gesellschaft und weist zugleich über sie hinaus. Um so etwas auch noch spannend, unterhaltend zu erzählen, eignet sich, wie’s scheint, besonders gut das Genre des Kriminalromans, jedenfalls wenn man damit so umgehen kann wie Gila Lustiger und Jan Seghers.
[1] Wolf Biermann (damals, als er noch ziemlich gute Verse gemacht hat).
[2] Vgl. Gunnar Decker, 1965: Der kurze Sommer der DDR, München 2015.
[3] Florian Kessler, Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: Die Zeit, 4/2014.
[4] Carolin Amlinger, Von der Schreibkrise zur Krise des Schreibens, in: Z 101 (März 2015), S. 16 ff.
[5] Ricarda Junge, Die komische Frau, Frankfurt am Main 2010; dies., Die letzten warmen Tage, Frankfurt am Main 2014; Andreas Martin Widmann, Die Glücksparade, Reinbek 2012.
[6] Ingo Schulze, Adam und Evelyn, Berlin 2008; Peter Richter, 89/90, München 2015.
[7] Zu Peter Kurzecks Lebzeiten sind erschienen: Übers Eis, Basel/Frankfurt am Main 1997; Als Gast, Basel/Frankfurt am Main 2003; Ein Kirschkern im März, Frankfurt am Main/Basel 2004; Oktober und wer wir selbst sind, Frankfurt am Main/Basel 2007; Vorabend, Frankfurt am Main/Basel 2011. Von Andreas Maier sind bisher erschienen: Das Zimmer, Berlin 2010; Das Haus, Berlin 2011; Die Straße, Berlin 2013; Der Ort, Berlin, 2015. Auch frühere Romane von Andreas Maier seien dringend zur Lektüre empfohlen!
[8] Frank Witzel, Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, Berlin, 2015.
[9] Daniel Göcht, Realismus als Prinzip, in: Z 101 (März 2015), S. 41.
[10] Sven Gringmuth, Das trunkene Schiff, in: Z 101 (März 2015), S. 31.
[11] Walter Kapppacher, Selina oder Das andere Leben, Wien 2005.
[12] Annika Scheffel, Ben, Berlin 2010; dies.; Bevor alles verschwindet, Berlin 2013; Franziska Wihelm, Meine Mutter schwebt im Weltall und meine Großmuter zieht Furchen, Stuttgart, 2014; Harry Oberländer, chronos krumlov, Frankfurt am Main 2015; Von Paulus Böhmer zum Beispiel: Am Meer. An Land. Bei mir, Ostheim/Rhön 2010; Nancy Hünger, zum Beispiel: Aus blassen Fasern Wirklichkeit, Jena 2006; Safiye Can, Rose und Nachtigall: Liebesgedichte, Frankfurt am Main 2014.
[13] Franz-Josef Degenhardt (der zeitlebens nie aufgehört hat, ziemlich gute Verse zu machen).
[14] Gila Lustigers Die Schuld der Anderen, Berlin 2015.
[15] Jan Seghers’ Die Sterntalerverschwörung, Reinbek bei Hamburg 2014.
[16] Zum Beispiel: Matthias Altenburg, Partisanen der Schönheit , Münster, 2002; ders., Jan Seghers’ Geisterbahn: Tagebuch mit Toten (Blog/Tagebuch), Reinbek bei Hamburg 2012.
[17] Zum Beispiel:Matthias Altenburg, Landschaft mit Wölfen, München 1999.
[18] Der Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner hat in der Frankfurter Rundschau vom 10. Februar 2009 die eruptive Vehemenz dieser Kampagne gegen die attraktive, sozial engagierte, eher zuhörend als dominierend auftretende SPD-Politikerin analysiert: „Es ist der Affekt, der beein-druckt, nämlich mit welcher Erregtheit und welcher Unerbittlichkeit bis auf den heutigen Tag auf Andrea Ypsilanti verbal eingeschlagen wird, trotz ihres nun schon länger zurückliegenden Rückzuges von ihren Führungspositionen und trotz ihrer vielfach wiederholten Schuldbekenntnisse. Wie oft haben ihre politischen Gegner, enttäuschte Wähler und Journalisten dabei jegliche Contenance verloren, erwiesen sich merkwürdig blind für ihre Häme, die Widersprüchlichkeiten, die ihre eigenen Argumente und ihre Vorwürfe aufwiesen. Das sind Hinweise darauf, dass es um mehr, um etwas anderes geht als um die Kritik eines Wortbruchs oder die Kooperation mit den Linken, sondern dass an ihr persönlich, wie beim ‚Schlagebub’ etwas abgehandelt wird.“ Ich wünsche mir eine ebenso erhellende Analyse der gegenwärtigen, rabiaten Diffamierungskampagane gegen die Syriza-Regierung. Übrigens steht Andrea Yspilanti heute an der Seite von Syriza, als eine von sehr wenigen bekannteren SPD-Politiker_innen.
[19] Volker Zastrow, Die Vier: Eine Intrige, Berlin 2009.
[20] Frankfurts Topographie beschreibt der Flaneur auf dem Fahrrad so genau – übrigens ohne dabei ins possierlich-gemütliche Genre des „Regionalkrimis“ abzurutschen –, dass, wie man hört, sogar schon Stadtführungen auf seinen Spuren angeboten werden.
[21] Bertolt Brecht (oder wer auch immer).
[22] Gila Lustiger wurde als Tochter von Arno Lustiger, Überlebender des Holocaust, Chronist des jüdischen Widerstands und des Rettungswiderstands, in Frankfurt am Main geboren und ist dort aufgewachsen. Nach einem Germanistikstudium in Jerusalem zog sie 1987 nach Paris. Sie schreibt auf Deutsch. Besonders empfehle ich die autobiographische Erzählung So sind wir (Berlin 2005) und Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück (Berlin 2008). Die Schuld der Anderen ist ihr sechster Roman.
[23] Lothar Peter, „Unterwerfung“ von Houellebecq – ein gesellschaftskritischer Roman? In: Z 101 (März 2015), S. 51.