Die Ausmaße der Verstädterung sind gewaltig. Bis 2020 sollen nach staatlichen Plänen etwa 60 Prozent aller Bewohner der VR China in Städten wohnen, bis 2050 rund 70 Prozent. Dann wären mehr als eine Milliarde Menschen allein in China Stadtbewohner. 1982 noch waren es nicht einmal 200 Millionen, also 20 Prozent der Bevölkerung, die nicht auf dem Land lebten.
2050 werden mehr als 50 Städte in China über zwei Millionen Einwohner haben. Das allein im Zeitraum zwischen 2000 und 2010 neu urbanisierte Land (ca. 24.000 km²) umfasst mehr als die doppelte Fläche des gesamten urbanen Gebietes Indonesiens – welches selbst innerhalb Ostasiens zu den Ländern mit dem größten Anteil an urbaner Fläche gehört.
Die chinesischen Städte sind nicht nur Ausdruck eines enormen Stadt-Land-Gefälles (das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf ist in der Stadt 2,75 Mal so hoch wie in ländlichen Gebieten), sondern auch einer gewaltigen Produktivkraft: Die 35 größten Städte Chinas sorgen für rund die Hälfte des chinesischen Bruttoinlandsproduktes. Die meisten Städte befinden sich an der Südostküste, besonders im Perflußdelta. Dort ist ein gewaltiges städtisches Areal entstanden, das erst vor gut zehn Jahren als Fertigungsstätte von Exportwaren für die ganze Welt aus dörflichen Strukturen wuchs und heute größtes urbanes Gebiet der Welt ist. In der Perlflußdelta-Region nahmen auch die Wirtschaftsreformen Anfang der 1980er Jahre in den Sonderwirtschaftszonen ihren Anfang.
Sozialistischer Wohnungsbau – die Mao-Ära
Doch zunächst ein Blick zurück auf die Anfangsjahre der jungen Volksrepublik. Nach deren Ausrufung 1949 orientierte sich die KPCh beim (Wieder-)Aufbau an der Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild. Der Urbanisierungsgrad stieg in den sieben Jahren zwischen 1950 und 1957 von 11,2 Prozent auf 15,4 Prozent. Da die Geburtenrate durch die lange Friedensperiode und die verbesserte Lebensqualität rasch stieg, führte die Regierung Ende der 50er Jahre das bis heute bestehende Hukou-Registrierungs-System ein, das jeder Chinesin und jedem Chinesen bei dessen Geburt automatisch einen Wohn- und Arbeitsort zuweist. Diesen Ort kann man nicht einfach verlassen, will man nicht seine Ansprüche auf Krankenversicherung oder medizinische Versorgung verlieren, die nur dort geltend gemacht werden können. Die zunehmende Landflucht konnte dadurch in Grenzen gehalten werden, und auch heute noch ist eine Begrenzung der Binnenmigration durch das Hukou-System intendiert. Die vielen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter, die sich trotzdem auf den Weg vom Land in die Stadt machen, um der Armut zu entfliehen, bezahlen dafür den hohen Preis der fehlenden Krankenversicherung und offiziellen Arbeitserlaubnis.
Um die Wohnsituation nach der Revolution zu verbessern, wurden sofort umfassende Enteignungsmaßnahmen bei Wohneigentum durchgeführt, was die Umstrukturierung der Städte ermöglichte. In den Städten wurde das sozialistische Wohnungsbausystem eingeführt, das mittels gesteuerter Vergabe durch staatliche Einrichtungen (Staatsbetriebe, Universität, etc.) funktionierte, anstatt über marktförmige private Konkurrenz. Die vergebenen Wohnungen waren den Bewohnern zum eigenen Gebrauch überlassen, sie durften nicht weiter vermietet oder verkauft werden. Die Bewohner zahlten sehr wenig und hatten darüber hinaus durch das langfristige Nutzungsrecht eine große Wohnsicherheit.
Die Kehrseite der Medaille war, dass die niedrigen Mieten einen Mangel an Mitteln für Investitionen in den Städtebau und die Instandsetzung alter Bausubstanz nach sich zogen. Oft waren selbst einfache Reparaturen nicht zu decken. Dazu kam Wohnungsnot vor allem in den Innenstädten. Statistisch stand jedem Stadtbewohner bis zum Jahre 1977 nur eine Wohnfläche von 2,8 m² zur Verfügung.
Paradigmenwechsel 1978 – Die Reform- und Öffnungspolitik
Mit der Reform- und Öffnungsperiode unter Deng Xiaoping begann auch eine neue Ära für den Wohnungsbau. Schrittweise wurden marktwirtschaftliche Elemente eingeführt. Das neue Bodenverwaltungsgesetz von 1988 verfügte die Trennung des Bodeneigentums (das weiterhin beim Staat liegt) vom Bodennutzungsrecht. Das vom Staat erworbene Bodennutzungsrecht durfte nun gehandelt, weiter verkauft, verpachtet und verpfändet werden im Rahmen der in der Regel mehrere Jahrzehnte umfassenden Pachtdauer. Zudem wurden Wohnungskäufe der Mieter stark gefördert. Im Zuge dessen bekamen Banken die Erlaubnis Baukredite zu vergeben, was die Gründung von Immobilienfirmen und -börsen nach sich zog. Seit 1990 dürfen sich auch ausländische Immobilienfirmen auf dem chinesischen Immobilienmarkt betätigen. 1999 wurde eine neue Vorschrift über die Vermarktung der öffentlichen Wohnungen erlassen, mit der sich die Wohnungen erstmals auf dem Immobilienmarkt handeln ließen.
In Folge dieser Neuregelungen setzte ab den 1990er Jahren ein Wohnungsbau- und Privatisierungsboom ein. Mittlerweile wurden schätzungsweise 80 Prozent der vormals öffentlichen Wohnungen privatisiert.
Ein großes Interesse an den Privatisierungen, Bodenübertragungen und wachsenden Investitionen haben nicht nur die Investoren, sondern auch die Kommunen, die die Einnahmen aus der Bodenverpachtung erhalten. Beispielsweise hat die Stadt Shanghai im Jahr 2003 21,6 Mrd. Billiarden Yuan aus Bodennutzungsentgelten eingenommen, was 24 Prozent der gesamten Finanzeinnahmen Shanghais entsprach.
Der Bauboom wird jedoch von einigen Problemen begleitet, die typisch sind für kapitalistisch verfasste Industrienationen. So öffnet sich die Schere zwischen Wohnungsangebot und -nachfrage wegen der in den letzten Jahren erheblich wachsenden Zahl an Zuwanderern in die Städte und wegen der über lange Zeit vernachlässigten Gebäudeinvestitionen immer weiter. Das verursacht entsprechende Bodenpreissteigerungen und fördert die Spekulation im Wohnungsmarkt. Hochhausbebauung bringt den Immobilienfirmen riesige Gewinne, weswegen die alten Siedlungen weichen müssen. Solche Flächenabrisse in den Städten führen in einigen Gemeinden zu eskalierenden, massiven Unruhen. Denn im Zuge der flächenhaften Stadterneuerung wird die lokale Ökonomie, die unmittelbar mit dem alten Gebietszuschnitt und den ansässigen Bewohnern verbunden war, durch zahlungskräftigere Geschäfte, Banken, große Kaufhäuser oder Handelsketten ersetzt. Die altansässigen Bewohner verlieren dadurch nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Beschäftigungsmöglichkeiten.
Zwar gibt es Sozialwohnungen mit niedriger Miete, die meistens aus öffentlichen Wohnungen bestehen und derer Zielgruppe die niedrigsten Einkommensschichten sind; doch die sind Mangelware. Die Politik orientiert sich vorrangig an den oberen und mittleren Einkommensschichten. Förderungsmaßnahmen, z.B. Kredite zu niedrigen Zinsen oder Steuervergünstigungen, eignen sich nur für Leute, die sich eine Eigentumswohnung überhaupt leisten können.
So gibt es einen beständigen Konflikt zwischen großer Wohnungsnachfrage und Wohnungsleerstand: Der Wohnungspreis steigt ständig wegen der steigenden Bodenpreise, der Entschädigungen der Altbewohner sowie der Spekulation der Investoren. Die durch Landflucht und Abriss alter Siedlungen vermehrte Nachfrage nach Wohnungen übersteigt aber die Kaufkraft der lokalen Mittel- und unteren Einkommensschichten und führt zu einem enormen Leerstand von Neubauwohnungen. Das führt zu der für moderne Großstädte so typischen sozial-räumlichen Segregation der Einkommensschichten im Stadtgebiet: Slumbildung an den Stadträndern, während die Oberschicht in den Zentren lebt.
Man kann festhalten, dass die chinesische Regierung es geschafft hat, ab 1978 die Wohnfläche pro Einwohner in den Städten überproportional zu steigern. Gleichzeitig hat die Eigentumsrate pro Kopf enorm zugenommen und die Wohnbedingungen selbst sind verbessert worden. Der Preis für diese Verbesserungen sind jedoch steigende Mieten für die Bewohner, Verdrängung und Wohnungsknappheit. Die neue, an marktwirtschaftliche Bedingungen angepasste Wohnpolitik birgt jede Menge Konfliktstoff für die Zukunft. Absehbar werden sowohl gesellschaftliche Probleme durch die sozioökonomische Polarisierung innerhalb der Stadtgebiete zunehmen als auch Umweltprobleme und Ressourcenknappheit durch den Bauboom.
Quellen
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Braun, Gerhard; Matthias Kracht; Xiaoli Lin: Stadtverkehr in Chinas aufstrebenden Millionenstädten, Geographische Rundschau 4/2014, S. 28-35.
Deutsche Bank Research: Chinas Wohnungsmärkte: Regulatorische Maßnahmen mindern das Risiko eines heftigen Einbruchs, Aktuelle Themen 516, Deutsche Bank Research, 2011.
Deutsche Bank Research: Megacities: Wachstum ohne Grenzen?, Aktuelle Themen 412, Deutsche Bank Research, 2008.
Lee, Felix: Die staatlich finanzierte Immobilienblase, ZEIT online, 22. Dezember 2010, http://www.zeit.de/wirtschaft/2010-12/china-immobilienmarkt, zuletzt aufgerufen am 25.10. 2015.
Lin Cai: Strategien der Stadterneuerung in China am Fallbeispiel Yangzhou., Dissertation, Fakultät VI der Technischen Universität Berlin, 2011.
Steinberg, Johanna: Sozialer Wohnungsbau in den Städten Chinas, Hamburg, 2012.
World Bank Group: East Asia’s Changing Urban Landscape. Measuring a decade of spatial growth, Urban Development Series, The World Bank, 2015.
Zhang Ning: Stadterneuerung in China. Von der Flächensanierung zur behutsamen Stadterneuerung, Dissertation, Städtebau-Institut der Universität Stuttgart, 2011.
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