Wenn der Chef seinem Untergebenen in einer Bewertung bestätigt, dass er sich wohl „bemüht“ und gelegentlich auch „anregend“ gewirkt habe, dann ist das in der Regel ein vernichtendes, negatives Urteil über die Qualifikation des Betroffenen. So ist es auch mit der Rezension von Andreas Wehr. Er konzediert ein gewisses Bemühen: Der Text sei doch „anregend“, eben weil er zum Widerspruch „reichlich“ Anlass bietet. Damit ist schon ein Totalverriss umschrieben – und der umgibt sich schon mit dem Verdikt des „Renegatentums“, vertreten die Autoren doch die verwerfliche Auffassung, dass sich der Imperialismusbegriff der „klassischen Imperialismustheorien“ (bis 1917) nicht als Epochenbegriff eigne. Dabei wärmten sie sogar Kautskys Theorem vom „Ultraimperialismus“ auf.
Beides zeigt schon die Schwächen der Kritik von Andreas Wehr. Wir würdigen sehr wohl die klassischen marxistischen Imperialismustheorien in ihrer Zeit (und bestreiten auch nicht, dass sie nach wie vor wichtige Erkenntnisse über den heutigen Kapitalismus/Imperialismus vermitteln). Dennoch halten wir daran fest, dass sich ihr Imperialismusbegriff als Epochenbegriff (das wäre dann die Epoche vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute!!) nicht eignet bzw. kritisch weitergeführt werden muss (denn – dazu gleich mehr! – die Welt und der Imperialismus haben sich in dieser langen Zeit verändert, das muss Imperialismustheorie zur Kenntnis nehmen!). Außerdem wärmen wir nicht Kautskys Theorie auf, sondern erwähnen (im Anschluss an einen Artikel von Leo Panitch und Sam Gindin über „Global Capitalism and American Empire“ aus dem Jahre 2003) nur seine Bemerkung, dass auch zwischen imperialistischen Staaten Allianzen und Bündnisse möglich sind, die zeitweilig die Gesetzmäßigkeit des Krieges zwischen ihnen außer Kraft setzen können. Da wir uns im Jahre 2011 befinden und auf mehr als ein halbes Jahrhundert zurückblicken, in dem – zunächst unter dem Druck der Systemkonkurrenz und unter der Hegemonie des US-Imperialismus – die führenden europäisch-imperialistischen Staaten zu solchen Allianzen (bei fortbestehenden Konkurrenzverhältnissen und Machtkonflikten zwischen ihnen) gefunden haben, scheint es doch angemessen, dieser Bemerkung von Kautsky etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, d.h. ihren imperialismustheoretischen Gehalt genauer zu überprüfen. Für Wehr ist offenbar die positive Erwähnung des Namens von Kautsky bereits eine schwere Sünde.
Schon am Anfang leistet er sich zwei bezeichnende Entgleisungen: Er informiert den Leser darüber, dass dieses Buch (nach der Planung des Verlages) ursprünglich von Werner Biermann geschrieben werden sollte, der während der Arbeit am Manuskript leider verstarb. Das ist richtig. Falsch ist allerdings die Behauptung, dass wir „im Abschnitt ‚Was ist eigentlich Imperialismus?’ auf „Material aus dem Nachlass von Werner Biermann“ zurückgreifen konnten; die entsprechende Fußnote bezieht sich auf einige wenige Zitate, die wir von Biermann übernommen haben. Und ebenso falsch ist die Behauptung, dass der Rest des Buches „weitgehend der Darstellung des bereits 2004 erschienenen Buches ‚Der neue Imperialismus’ folgt“. Der Aufbau des neuen Büchleins unterschiedet sich deutlich von dem älteren Text, bei dem es vor allem darum ging, eine neue Imperialismusdebatte (die gerade Anfang des Jahrhunderts begonnen hatte) bekannt zu machen.
Der zentrale Kritikpunkt von Wehr bezieht sich darauf, dass wir von der „klassischen Imperialismustheorie“ (d.h. vor allem von Lenins Theorie über den Zusammenhang von Monopolen und Staat) angeblich nichts mehr wissen wollen und dass wir die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, die nach 1945 die Lenin’sche Imperialismusanalyse fortgeführt habe, ignorieren. Er erwähnt die vier kritischen Argumente, mit denen wir den historischen Charakter auch von Lenins Imperialismustheorie begründen, bezeichnet die Einwände sogar als „gewichtig“, verwirft sie aber als theoretisch unbegründet – vor allem auch deshalb, weil sie die bedeutenden Beiträge von Anhängern der Theorie des SMK (vor allem von Gretchen Binus, Horst Heiniger, Peter Hess, Lukas Zeise[1] u.a.) unbeachtet lassen.
Das ist schon ziemlich dreist. Nehmen wir nur einen Punkt heraus. Lenin (wie auch Luxemburg) geht von der Überakkumulation und Unterkonsumtion in den imperialistischen Zentren als Schranke bzw. als Bedingungen der Expansion nach außen aus. Wir verweisen darauf, dass die Entwicklung der fordistischen Formation des Kapitalismus (zunächst in den USA vor 1945, dann nach ’45 in Westeuropa) dieses zentrale Argument der „Klassiker“ (bis 1917) korrigiert hat. Dazu gibt es seit langem eine ganz breite internationale marxistische Theoriedebatte und ebenso zahlreiche Analysen, an denen wir mit unseren eigenen Arbeiten in den letzten Jahren (Frank Deppe in den letzten Jahrzehnten) teilgenommen haben (hat) – Andreas Wehr kennt das alles offenbar überhaupt nicht oder er hält es für revisionistisch oder für irrelevant, wie seine Kritik an David Harvey zeigt. Wir vermuten, dass er weder die Weltsystemtheorie (Wallerstein, Arrighi u.a), noch die neogramscianische Internationale Politische Ökonomie oder die Schriften von Leo Panitch überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Statt dessen (jetzt werden wir mal polemisch) liest er immer wieder die Herforder Thesen, den „Imperialismus der BRD“ und den „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ von Boccara u.a. (zu ihrer Zeit, das ist nun auch gut 40 Jahre her, zweifellos bedeutende Schriften!).
Deshalb haben wir auch Zweifel, ob er z. B. die Kritik an der reduktionistischen Ableitung des Staates (Agententheorie) nachvollziehen kann. Unser Bemühen, auf der einen Seite den heutigen, globalen Finanzmarktkapitalismus (und seine Krisen), den Aufstieg und den Niedergang des American Empire und die Neuformierung von Kräftekonstellationen im kapitalistischen Weltsystem (dazu gehört dann nicht nur die EU, sondern auch der Aufstieg von Ostasien bzw. der BRIC-Staaten und speziell der Volksrepublik China) und auf der anderen Seite die Rolle der Staaten, der Kräfteverhältnisse der Klassen und des Klassenkampfes selbst als komplexe Vermittlungen zu begreifen, kann von Wehr nur als Verabschiedung von der wirklich echten Theorie (also der Monopoltheorie von Lenin) wahrgenommen werden. Fügen wir schnell hinzu, dass doch Lenin von der Notwendigkeit des zwischenimperialistischen Krieges und von der bevorstehenden proletarischen Revolution („Vorabend“) überzeugt war. Das war 1917 völlig richtig und galt auch noch bis 1945 – aber, danach (das sind inzwischen mehr als 60 Jahre) hat sich der Imperialismus nicht aufgelöst, sondern verändert. Dabei spielt dann übrigens die Sowjetunion (und das von ihr geführte Staatensystem) ebenso eine Rolle wie der Sieg der chinesischen Revolution im Jahre 1949 – Andreas Wehr sollte auch einmal darüber nachdenken, dass für die SMK-Theorie diese Konstellation eine wirkliche Basisprämisse war. Wir erlauben uns, daran zu erinnern, dass die Sowjetunion und ihr Lager schon seit 20 Jahren nicht mehr bestehen und dass auch China auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik expandiert, indem es einen ziemlich brutalen Kapitalismus mit einer weitreichenden (und rigiden) staatlichen Regulierung (also auch: Stamokap?) verbindet. Deshalb hat sich der Imperialismus nach den Ereignissen von 1989-1991 abermals verändert und neu konfiguriert – das interessiert uns und dem wollen wir als Marxisten auf die Spur kommen: im Interesse des Kampfes gegen den Imperialismus auf der heutigen Stufe seiner Entwicklung! Das Theorieprogramm, das Andreas Wehr als Alternative zu unserem Ansatz verteidigt, ist auf jeden Fall nicht dazu geeignet, diese Fragen auf dem Boden einer produktiven Erneuerung des Marxismus im 21. Jahrhundert zu beantworten.
In diesem Zusammenhang muss ein weiterer Streitpunkt thematisiert werden, der bei Diskussionen mit Andreas Wehr schon in den alten Juso-Zeiten immer wieder aufgebrochen ist. Es geht um das Verhältnis von international und national im Prozess der kapitalistischen Entwicklung und speziell der europäischen Integration. Wehr verwirft kategorisch die These von der Transnationalisierung der Bourgeoisie bzw. von den „transnationalen Kapitaleliten“ und von der EU als einem Projekt eines möglichen oder realen „Euroimperialismus“. Diese These von Wehr ist (empirisch und theoretisch) schlicht falsch! Das Management der Transnationalen Konzerne, vor allem die Führungsgruppen der global agierenden Finanzmarktakteure und die politischen Führungsgruppen in den internationalen Organisationen und den mächtigsten kapitalistischen Staaten verfolgen einerseits spezifisch nationale oder Konzern-Interessen, andererseits kooperieren sie (meist unter der Führung des amerikanischen Staates), um die Funktionsbedingungen des globalen Kapitalismus (z. B. die Energieversorgung) zu erhalten bzw. zu optimieren. Die klassische Monopolbourgeoisie als Träger der Chauvinismus und Nationalismus gehört nun wirklich einer früheren Epoche an, was nicht heißt, dass die heutige transnationale Bourgeoisie weniger am Profit interessiert und weniger gewalttätig sei.
Diese Thesen widersprechen aber auch der realen Entwicklung der europäischen Integration seit mehr als 50 Jahren. Natürlich gibt es die Interessenswidersprüche, die Krisen, die Konkurrenz um Macht und Vorherrschaft (und hier spielt Deutschland als die stärkste Macht in dieser EU bzw. der deutsche Imperialismus, nennen wir ihn ruhig mal so, eine herausragende Rolle). Andreas Wehr leistet mit seinen Analysen dazu auch wichtige Beiträge. Dennoch sind die Geschichte und die gegenwärtigen Probleme der EU überhaupt nicht richtig zu begriffen, wenn die spezifische Dialektik von gemeinschaftlichen und partikularen Interessen auf der Basis der Transnationalisierung und Verflechtung der Ökonomie und die Spezifik des politischen Systems der EU (als Rahmen, in dem Krisen bearbeitet und Interessen durchgesetzt werden) ignoriert wird. „In klassischer imperialistischer Manier“, so Wehr „übt Deutschland Druck auf Griechenland aus“. Wirklich? Da würde sich Lenin aber wundern! Deutschland übt Druck aus, aber nicht mit Panzern – wie in zwei Weltkriegen (das aber war der Gegenstand der klassischen Imperialismustheorie). Um Druck auszuüben und durchzusetzen („Rettungsschirm“), muss Deutschland einen Konsens mit 16 Mitgliedstaaten der Eurozone und den restlichen 10 EU-Mitgliedern herstellen. Das ist Imperialismus (auch als „strukturelle Gewalt“) in der Eurozone, aber doch ein wenig verschieden von dem Imperialismus, den die Klassiker vor Augen hatten. Genau diese Verschiedenheit muss begriffen werden, um den heutigen Imperialismus angemessen zu begreifen (und zu bekämpfen). Um diese Prozesse wiederum angemessen zu begreifen, bedarf es des Blicks auf die Struktur des Imperialismus im Weltsystem; hier steht die Frage nach der Entwicklung des „American Empire“ und nach den ökonomischen Struktur- und den politischen Machtverschiebungen im kapitalistischen Weltsystem auf der Tagesordnung. Schließlich muss auch die Rolle des deutschen oder des französischen Imperialismus in diesem Kontext bestimmt werden.
Andreas Wehr kann sich von der Position des linken Nationalisten nur schwer lösen, da steht er Egon Bahr immer noch näher als W. I. Lenin!
[1] Wir legen Wert auf die Feststellung, dass wir diese Autoren in unsere Kritik an der Rezension unseres Buches durch Andreas Wehr nicht einschließen. Im Gegenteil, wir haben großen Respekt vor ihren Arbeiten. Frank Deppe betrachtet die Beiträge seines engen Freundes Peter Hess zur Imperialismusanalyse und zur Theorie des SMK nach wie vor als besonders wichtige Beiträge zur neueren Theoriegeschichte der marxistisch-leninistischen Politischen Ökonomie. Leider ist Peter Hess kurz nach der „Wende“ viel zu früh gestorben und kann deshalb an der heutigen Debatte nicht mehr teilnehmen. In einer Diskussion mit Erich Hahn stritten wir jüngst über die Bedeutung von Lenins Imperialismustheorie für die Gegenwart, waren aber mit ihm einer Meinung, dass diese Theorie selbstverständlich nach wie vor zahlreiche Merkmale und Wesenseigenschaften des Imperialismus zu fassen vermag.