Als exponiertestes Opfer der Vormärz-Zensur hat Marxens Zeitgenosse Heinrich Heine seine publizistische Gegenstrategie und damit auch Beweggründe seiner Mitarbeit an Cottas „Allgemeiner Zeitung“ – dem „Augsburger Prokrustesbett“ – folgendermaßen beschrieben:
„Es gibt obskure Winkelblätter genug, worin wir unser ganzes Herz mit allen seinen Zornbränden ausschütten könnten – aber sie haben nur ein sehr dürftiges und einflussloses Publikum, und es wäre ebenso gut, als wenn wir in der Bierstube oder im Kaffeehaus vor den respektiven Stammgästen schwadronierten, gleich andern großen Patrioten.
Wir handeln weit klüger, wenn wir unsere Glut mäßigen und mit nüchternen Worten, wo nicht gar unter einer Maske, in einer Zeitung uns aussprechen, die mit Recht eine Allgemeine Weltzeitung genannt wird und vielen hunderttausend Lesern in allen Ländern belehrsam zu Händen kommt. Selbst in seiner trostlosen Verstümmelung kann hier das Wort gedeihlich wirken; die notdürftigste Andeutung wird zuweilen zu ersprießlicher Saat in unbekanntem Boden.“
Als Heine dieses Bekenntnis seinem politischen Testament, dem Vorwort zur französischen Ausgabe seiner „Lutetia. Berichte über Politik, Kunst- und Volksleben“[2], anvertraute, stand Marx im Zenit einer unverhofften Karriere als Europakorrespondent einer großen, wenn nicht der größten Zeitung der Welt.
Er war, dies können wir heute feststellen, ohne in hagiographischer Bewunderung zu erstarren, einer der ungewöhnlichsten und erfolgreichsten Journalisten seines Jahrhunderts und hat ein Leben lang für die Freiheit der Presse gestritten. „Das Wesen der freien Presse ist das charaktervolle, vernünftige, sittliche Wesen der Freiheit“, lesen wir auf Seite 146 des ersten Bandes der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA): „Der Charakter der censirten Presse ist das charakterlose Unwesen der Unfreiheit, sie ist ein civilisirtes Ungeheuer, eine parfümirte Mißgeburt.“[3]
Die Bestandsaufnahme für Marx’ späten, inzwischen geglückten Einzug in die hehren Gefilde der klassischen deutsche Literaturbibliographie – den neuesten Band von Goedekes Deutschem Schriftstellerlexikon – verzeichnet fast 400 Publikationsorgane in aller Welt, in denen Beiträgen aus seiner Feder abgedruckt sind, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, der Löwenanteil erstaunlicherweise jenseits des Atlantik, in den Vereinigten Staaten.[4]
Dem folgenreichen Arrangement mit der „New-York Tribune“, das sich als Marx’ dauerhafteste reguläre Anstellung erweisen sollte, war 1848 die persönliche Bekanntschaft mit Charles Anderson Dana, dem Chef des außenpolitischen Departements der „Tribune“, vorausgegangen.
Seit dieser ersten und einzigen Begegnung während der Revolutionstage war Dana vom „redacteur en chef“ der „Neuen Rheinischen“ sehr beeindruckt und vom Charme seiner Gattin Jenny entzückt. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich der nicht einflusslose New Yorker Journalist seines inzwischen nach London emigrierten Kölner Kollegen und einstigen Gastgebers erinnerte und Marx 1851 zur Mitarbeit an seinem Blatte einlud. Aus dem kurzen brieflichen Gedankenaustausch mit Alter Ego Frederick in Manchester – „Schreibe […] Jeistreich und ungenirt. Die Herren sind sehr frech im ausländischen Departement“[5] – lässt sich erahnen, dass Marx bei seiner Entscheidung von ähnlichen Erwägungen wie Heine geleitet wurde. Sie dürfte ihm allerdings leicht gefallen sein, denn im Unterschied zur Augsburger „Allgemeinen“ war die „Tribune“ ein linksliberales Blatt mit erkennbar sozialistischem Einschlag Fourierscher Richtung – regierungsamtliche Pressezensur undenkbar.
Ungeachtet anhaltender Sympathie und Wertschätzung füreinander blieben Querelen und Konflikte während des folgenden Jahrzehnts nicht ausgeschlossen. Vielleicht haben wir die im Tagesgeschäft zwischen Autor und Redaktion zwangsläufig auftretenden Differenzen und Interessenkollisionen – versetzen wir uns doch nur für einen Augenblick in die vom Postdampfer geprägte Kommunikationskultur zurück – oftmals überbewertet und zu politisch aufgeladen. Dies mag gelegentlich den Blick dafür verstellt haben, dass die Mitarbeit an der „Tribune“ dem ungewöhnlichen Autorenduo Marx/Engels erstmals die Chance bot, Politik und Weltgeschehen für ein Massenpublikum zu kommentieren. Als Journalisten hatten sie weder zuvor noch danach eine solch’ große Leserschaft.
Im Unterschied zum legendären Zeitungsgründer Horace Greeley, dem bei aller Wertschätzung dennoch eine eher ambivalente Haltung zu Marx’ bescheinigt wird, war Marx für Dana das beste Pferd im Stall, das demgemäß, um im Bilde zu bleiben, den meisten Hafer erhielt. Nicht ohne Grund schmückte sich Marx 1860 im Vogt-Pamphlet mit Danas aktenkundiger Einlassung, Mister Marx sei nicht nur einer der höchst geschätzten, sondern auch einer der bestbezahlten ständigen Mitarbeiter des Blattes.[6] Dafür spricht auch, wie James Parton in einer der ersten Biografien seines Helden Greeley eine Episode des New Yorker Redaktionsalltags schildert: „Mr. Dana enters with a quick, decided step, goes straight to his desk in the green-carpeted sanctum sanctorum, and is soon lost in the perusal of ,Karl Marx‘ …“[7]
Vielleicht sind an dieser Stelle noch ein paar Worte zu Horace Greeley[8] angemessen: Mark Twain hat ihn prägnant porträtiert. Berühmt wurde er durch einen für gut ausgebildete junge Ostdeutsche heute beängstigend zeitgemäßen Slogan: „Go West, young man, go West!“ Wir verdanken Greeley mehrere medienrelevante Innovationen. So gilt beispielsweise ein heute allgegenwärtiges publizistisches Genre – das moderne Interview – als seine Erfindung.
Mit einer Gesamtauflage von 145.460 Exemplaren übertraf die „Tribune“ 1854 selbst die Londoner „Times“, deren Einfluss und Verbreitung alle anderen Blätter des Empire und die häufig von der Zensur geknebelten Zeitungen des Kontinents noch Jahrzehnte in den Schatten stellen sollte. Während der 1850er Jahre erschien Greeleys „Tribune“ in fünf Ausgaben: neben der „Daily“- in einer halbwöchentlichen, der „Semi-Weekly“-, und einer wöchentlichen Ausgabe, der „Weekly Tribune“. Darüber hinaus kompilierte die Redaktion aus dem Stehsatz von „Semi-Weekly-“ und „Weekly Tribune“ die „New-York Tribune for Europe“ und die „New-York Tribune for California, Oregon and the Sandwich-Islands“. Masseneinfluss und spektakuläre Leserresonanz verdankte die „Tribune“ in beträchtlichem Maße der Wochenausgabe. Dazu mag nicht zuletzt beigetragen haben, dass Greeley durch Staffelrabatt für Sammelabonnements die Entstehung eines weitverzweigten Netzwerks von Leserklubs gefördert hat, die in einer speziellen Kolumne „The Tribune among the People“ miteinander kommunizierten. „Wait until the Weekly Tribune arrives“, so zitiert beispielsweise Thomas Baily einen um seine Meinung gebetenen New Yorker Farmer, „and then I can tell you what I think about it“[9].
Welche Bedeutung die maßgeblich von Marx und, was seinerzeit nur wenige wussten, Engels geprägte Auslandsberichterstattung für die enorme Publikumsresonanz des nordamerikanischen Blattes besaß, illustriert die repräsentative Zuschrift eines Lesers aus Ohio in der „Semi-Weekly Tribune“ vom 25. Mai 1858 auf die Frage „Why I like The Tribune“, nämlich „1. … for its ,Foreign News.‘ The intelligent correspondents whom you have in different parts of the world, the important and reliable information they give, the clear and interesting style in which it is given, etc., all render this department of The Tribune one of the great interest and instruction.“
Ein wichtiges Indiz dafür, dass der Londoner Korrespondent Dr. Marx bei der Redaktion der „Tribune“ hohe Wertschätzung genoss, sollte die Tatsache sein, dass sie fast die Hälfte der von ihm gesandten Korrespondenzen als redaktionelle Leitartikel veröffentlicht hat. Diese Publikationspraxis war jedoch ambivalent. So schmeichelhaft es für Marx und Engels war, dass sich eine der größten Zeitungen der Welt, und sei es auch nur zeitweilig, ihre Sicht auf die große europäische Politik zu eigen gemacht hatte, so hatte dies die fatale Nebenwirkung, dass unter Marx’ eigenem Autorennamen zuweilen nur noch weniger belangvolle Korrespondenzfragmente veröffentlicht wurden, bis sein Name im April 1855 völlig aus den Zeitungsspalten verschwand.
Das Interesse des amerikanischen Publikums an Marx’ weltpolitischen Kommentaren war allerdings den konjunkturellen Schwankungen der Aufmerksamkeit für europäische Angelegenheiten unterworfen: stark während des Krimkriegs, erlosch sie, als der Bürgerkrieg im eigenen Lande in den Brennpunkt des Medieninteresses gerückt war.
Was brachte das publizistische Engagement in den Vereinigten Staaten jenseits nicht zu verachtender Honorare und wachsender Reputation beim deutsch-amerikanischen Publikum für Marx als Privatgelehrten? Oft wird verkannt, dass sein Werk zu einem beträchtlichen Teil aus Pressebeiträgen zu Fragen der Weltpolitik besteht. Der durch aufwendige philologische Untersuchungen[10] beträchtlich erweiterte Textkorpus der „Tribune“-Korrespondenzen dürfte nach Fertigstellung aller betreffenden Bände der MEGA etwa 500 Beiträge umfassen. In ihnen entfalten Marx und sein kongenialer Ghostwriter Engels ein zeitgeschichtliches Panorama der frühen Victorianischen Ära. Die Chronistenpflicht, Tag für Tag das Themenspektrum der internationalen Wirtschaft, Politik und Diplomatie zu verfolgen, hat Marx’ Gesichtskreis beträchtlich erweitert und für eine genauere Wahrnehmung der ökonomischen, sozialen und politischen Wirklichkeit sensibilisiert. Auch sein Stil verdankt der journalistischen Arbeit, wie wir noch sehen werden, mehr Anschauung, Farbe, Leichtigkeit und Lebendigkeit. In seinen Korrespondenzen schildert er die Geburtswehen der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Wie nur wenige Zeitgenossen beobachtet und beschreibt er das konjunkturelle Auf und Ab des beginnenden Industriezeitalters.[11] Im Focus von Marx Interesse steht die auswärtige Politik der europäischen Großmächte, deren Ringen um Hegemonie und Gleichgewicht: „Es ist mir lieb, daß ich durch den Zufall dazu gekommen bin, die auswärtige Politik, – die diplomatische – seit 20 Jahren mir in der Nähe anzusehn. Wir hatten diesen Punkt zu sehr vernachlässigt; und man muß wissen, mit wem man es zu thun hat.“[12] Geleitet von solchem Erkenntnisinteresse kommentiert er das politische Weltgeschehen, analysiert geheime diplomatische Schriftstücke, beobachtet und porträtiert die oft im Verborgenen agierenden Hauptakteure. Besonders anschaulich vermag er von der Besuchertribüne über das parlamentarische Kräfteringen zwischen Regierung und Opposition zu berichten. In seinen pointen- und metaphernreichen Schilderungen begegnen uns griechische Sagen- und Shakespearsche Dramenhelden, Gestalten aus der biblischen Mythologie, aus Ariostos „Orlando furioso“, Balzacs „Comédie humaine“, Dickens Romanen, Goethes Faust und Cervantes’ unsterblichem Don Quijote.
Obwohl Marx auch über die Home Affairs der Aristokratie, denken wir an die Herzogin von Sutherland, das Schicksal von Lady Bulwer-Lytton oder die Ambitionen von Prinzgemahl Albert, geschrieben hat, war er weder Skandalreporter, noch Presseberichterstatter im traditionellen Verständnis. Worin das eigentliche Erfolgsgeheimnis seines Journalismus besteht, wird paradigmatisch im Band IV/12 der MEGA dokumentiert: Für seinen Essay „Revolutionary Spain“ und das ebenfalls für die „Tribune“ verfasste Porträt des schillernden Revolutionshelden Espartero, alles in allem 75 Druckseiten, hat Marx mehr als 550 Druckseiten aus offiziellen Dokumenten sowie aus Werken und Schriften von insgesamt 36 spanischen, französischen, britischen, amerikanischen und deutschen Autoren exzerpiert. Die Auszüge aus Werken von François René de Chateaubriand, Victor Du Hamel, Gaspar Melchor de Jovellanos, Evaristo San Miguel, Manuel de Marliani, Dominique de Pradt, Robert Southey, José María de Toreno, Pedro de Urquinaona, William Walton und anderer Autoren zeigen, wie intensiv sich Marx mit spanischer Geschichte und Kultur befasst hat.[13]
Statt Geltung und Glanz der einstigen Iberischen Weltmacht zu bewundern, registrierten Marx’ Zeitgenossen Dekadenz und Niedergang des bourbonischen Spaniens. Dort entfaltete sich die moderne bürgerliche Gesellschaft mit einer Konfliktdynamik und Gewalteskalation wie sonst nirgendwo in Europa. Die verwirrende Abfolge von Militärrevolten (Pronunciamientos), Revolutionen und Gegenrevolutionen, Reform- und Restaurationsphasen deutete Marx als „revolutionären Zyklus“, über den sich die bürgerliche Gesellschaft, qualvoll und durch retardierende Bewegungen zurückgeworfen, dennoch unaufhaltsam Bahn gebrochen habe.
Seither haben mehrere Historikergenerationen das paradoxe Geschehen auf der Pyrenäenhalbinsel erforscht, und nicht wenige wurden dabei von Beobachtungen und Einsichten inspiriert, die Marx anderthalb Jahrhunderte zuvor in der „Tribune“ formuliert hat. Hier sollen nur die komparative Studie zum Caditaner Verfassungswerk des Jahres 1814, eine in diesem Kontext formulierte Sentenz zum Topos des politischen Märtyrers und das heute als asymmetrische Kriegsführung benannte Guerilla-Phänomen erwähnt werden.[14]
Marx’ „Tribune“-Korrespondenzen verkörpern einen bislang unterschätzten Materialfundus für die moderne Politikwissenschaft. Was er beispielsweise am zeitgenössischen Parlamentarismus und am aufkommenden Parteiwesen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien und anderen Ländern beobachtet, würdigt oder kritisiert, weist in nicht wenigen Fällen weit über den zeitgenössischen Anlass hinaus. Vielleicht können die folgenden Textproben davon einen Eindruck vermitteln: So lesen wir beispielsweise unter dem Titel „Corruption at Election“ in der „New-York Daily Tribune“ vom 4. September 1852: „Wahltage sind in England von jeher Bacchanalien trunkener Ausschweifung, eine Art traditionell gewordener Börsentermine, an denen politische Überzeugungen diskontiert werden und die Kneipwirte reichste Ernte einheimsen […] Sie sind tatsächlich Saturnalien im altrömischen Sinne des Wortes, da der Herr zum Knecht und der Knecht zum Herrn wurde. Wird aber der Knecht nur für einen Tag zum Herren, so herrscht an diesem einen Tage unumschränkt die Brutalität.“[15]
Und am 4. April 1854 eröffnet Marx seinen Bericht über die am 31. März in beiden Häusern des Parlaments geführte Debatte über den Krieg gegen Russland mit einer bislang als solche kaum gewürdigten Variation der berühmten Metapher aus dem „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“: „Eine der Eigentümlichkeiten der englischen Tragödie, die das Gefühl des Franzosen so abstößt, daß Voltaire sogar Shakespeare als einen betrunkenen Wilden bezeichnete, besteht in der eigenartigen Mischung des Erhabenen und des Niedrigen, des Schrecklichen und des Lächerlichen, des Heroischen und des Burlesken. Nirgends aber überträgt Shakespeare dem Narren die Aufgabe, den Prolog zu einem Heldendrama zu sprechen. Diese Erfindung blieb dem Koalitionsministerium vorbehalten. My Lord Aberdeen hat, wenn auch nicht den englischen Narren, so doch den italienischen Pantalone gespielt. Dem oberflächlichen Beschauer scheint es, als ob alle großen historischen Bewegungen letztlich zur Farce oder wenigstens zum Gemeinplatz herabsinken. Damit aber begonnen zu haben, ist das besondere Merkmal der Tragödie, die den Titel Krieg mit Russland trägt und deren Prolog Freitag abend in beiden Häusern des Parlaments gesprochen wurde“.[16]
Oder denken wir an solche, für den heutigen Leser durchaus plausible Beobachtungen, wie die Quintessenz des am 3. März 1854 verfassten Essays „Österreichs Bankrott“: „Schritt für Schritt wird die Bank der wirkliche und die Regierung nur mehr der nominelle Beherrscher des Reiches.“[17]
Als letzte Leseprobe sei folgende für die historiographische Methodologie nicht uninteressante Sentenz anempfohlen: „Jeder wirkliche Fortschritt in der modernen Geschichtsschreibung ist dadurch bewirkt worden, daß man von der politischen Oberfläche in die Tiefen des gesellschaftlichen Lebens hinabgestiegen ist. Indem er die verschiedenen Entwicklungsphasen des Grundbesitzes im alten Rom erforschte, hat Dureau de La Malle den Schlüssel zu den Geschicken jener welterobernden Stadt geliefert, neben dem Montesquieus Betrachtungen über ihre Größe und ihren Verfall fast wie die Deklamation eines Schulknaben erscheinen. Der ehrwürdige Lelewel hat durch seine mühevolle Erforschung der ökonomischen Verhältnisse, die den polnischen Bauern aus einem Freien in einen Leibeigenen verwandelten, mehr dazu beigetragen, Klarheit über die Unterjochung seiner Heimat zu schaffen, als der ganze Schwarm von Schriftstellern, deren geistiges Kapital einfach eine Denunziation Rußlands ist. Auch Herr Mazzini verschmäht es jetzt nicht, bei gesellschaftlichen Realitäten zu verweilen, bei den Interessen der verschiedenen Klassen, bei der Ausfuhr und Einfuhr, bei den Preisen für Bedarfsartikel, bei Mieten und anderen solch vulgären Dingen; vielleicht ist er betroffen von dem großen, wenn nicht gar tödlichen Schock, der dem Zweiten Kaiserreich versetzt worden ist, nicht durch die Manifeste der demokratischen Komitees, sondern durch die Handelskrise, die in New York begann, um die ganze Welt zu erfassen.“[18]
Im Vorwort einer empfehlenswerten Anthologie mit Marx’ „Tribune“-Artikeln, damit wollen wir unser Plädoyer für eine Relektüre der weltpolitischen Lehrjahre von Marx und Engels vorerst beenden, berichtet der von Francis Wheen inspirierte Herausgeber James Ledbetter über eine Begegnung von John F. Kennedy mit den einflussreichsten Zeitungsverlegern des Landes am 27. April 1961 im New Yorker Waldorf-Astoria Hotel. In seinem Bestreben, dem politischen Journalismus einen Lorbeer zu flechten, sei der Präsident, für die Mehrzahl seiner Zuhörer völlig überraschend, auf Karl Marx zu sprechen gekommen. Er erinnerte an die Mitarbeit des Deutschen an der „Tribune“. Hätte Horace Greeley seinen Londoner Korrespondenten seinerzeit freundlicher behandelt, so Kennedy, dann wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen.[19] Was weder der Präsident noch einer seiner Gäste bemerkte, Kennedys rührender Geschichte fehlt die Pointe – Marx schrieb für und nicht gegen Amerika.
[1] Den Beitrag hielt der Verf. auf der Tagung „Marx’ und Engels’ Sicht auf die europäische Politik und sozialpolitische Entwicklung Russlands“ des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition e. V. am 23. /24. September 2011.
[2] Heinrich Heine: Lutèce. Lettres sur la vie politique, artistique et sociale de la France. Préface. In: Säkularausgabe, Bd. 19, Berlin, Paris 1977, S. 12/13, dt. Übers. in Werke und Briefe in zehn Bänden. Hrsg. Von Hans Kaufmann, Bd. 6, Berlin 1962, S. 244.
[3] Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags. Von einem Rheinländer. Erster Artikel. Debatten über Preßfreiheit und Publication der Landständischen Verhandlungen. In: Rheinische Zeitung, 5. Mai 1842. Mit diesem Plädoyer für die Pressefreiheit begann Marx’ Mitarbeit. Vgl. MEGA2, Bd. I/1, Berlin 1975, S. 990 ff., und siehe generell Jürgen Herres: Karl Marx als politischer Journalist im 19. Jahrhundert. In: Die Journalisten Marx und Engels. Das Beispiel Neue Rheinische Zeitung, Berlin, Hamburg 2006, S. 7–28.
[4] Vgl. Manfred Neuhaus (unter Mitarbeit von Claus Baumgart und Michael Schulze): Marx, Karl. In: Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880 (Goedekes Grundriss der deutschen Dichtung Fortführung), Bd. V.2, M, Berlin 2011, S. 114–146.
[5] Marx an Engels, 14. August 1851, MEGA2, Bd. III/4, Berlin 1984, S. 183 (MEW, Bd. 27, S. 314). Dass Engels Verfasser oder Koautor vieler Texte war, blieb nicht nur gegenüber der Redaktion der „Tribune“ ein sorgsam gehütetes Geheimnis, das er erst 1892 gelüftet hat. Der tatsächliche Umfang der Mitarbeit von Marx und Engels wurde und wird erst durch die Forschungen von David Rjazanov und die Vorbereitung der entsprechenden Bände der MEGA sichtbar. Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels: Gesammelte Schriften 1852 bis 1862, Bd. 1, Stuttgart 1917, S. XVII–LXXIV, und die einschlägigen Kommentare in den Bänden I/11, I/12, I/13, I/14, I/18 und IV/12 der MEGA.
[6] Vgl. Charles Anderson Dana an Marx, 8. März 1860. In: MEGA2, Bd. III/10, Berlin 2000, S. 362, und Karl Marx: Herr Vogt. In: MEGA2, Bd. I/18, Berlin 1984, S. 322/323 (MEW, Bd. 14, S. 679/680). Neben Marx waren für die „Tribune“ 17 weitere Auslandskorrespondenten tätig, darunter als Marx’ Hauptkonkurrent Ferenc Pulszky. Der 1852 zum Tode verurteilte Intimus von Lajos Kossuth lebte in den 1850er Jahren ebenfalls als Emigrant in London, war seit einer Reise in die USA mit Greeley befreundet, kämpfte später an der Seite Giuseppe Garibaldis und beendete, 1866 amnestiert, seine ungewöhnliche Karriere in Budapest als Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
[7] James Parton: The life of Horace Greeley, editor of the New-York Tribune, New York 1855, S. 404.
[8] Zur Literatur vgl. Suzanne Schulze: Horace Greeley. A bio-bibliography, New York u. a. 1992; Harry James Maihafer: The general and the journalists. Ulysses S. Grant, Horace Greeley, and Charles Dana, Washington, London 1998, und Adam Tuchinsky: Horace Greeley’s New-York Tribune. Civil war-era socialism and the crisis of free labor, Ithaca, New York 2009, S. 104 ff. sowie Mark Twain: Durch dick und dünn. In: Ausgewählte Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Karl-Heinz Schönfelder, Bd. 3, Berlin 1962, S. 130–135.
[9] Thomas A. Bailey: The American pageant. A history of the republic, Boston 1956, S. 338.
[10] Bei der Vorbereitung der jeweiligen Bände der MEGA wurden Textpassagen in ungezeichneten Leitartikeln der „New-York Daily Tribune“, die mit Parallelstellen aus Briefwechsel, Notizbüchern, früheren und späteren Texten von Marx und Engels kongruent sind, auf ihre Autorschaft untersucht. Bevor anhand von Text- und Stilanalysen die Verfasserschaft von Marx und Engels begründet oder ausgeschlossen wurde, war es erforderlich, alle Indizien zu einer widerspruchsfreien Beweiskette zusammenzuführen und den Weg der Manuskripte von Autor über den Atlantik zur Redaktion anhand des zeitgenössischen Postschiffverkehrs zu rekonstruieren. Auf diese Weise konnten in den Bänden I/12 , I/13 und I/14 insgesamt 26 „neue“ Texte präsentiert werden.
[11] Vgl. Michael Krätke: Marx als Wirtschaftsjournalist. In: Die Journalisten Marx und Engels. Das Beispiel Neue Rheinische Zeitung, Berlin, Hamburg 2006, S. 29–97.
[12] Marx an Engels, 2. November 1853. In: MEGA2, Bd. III/7, S. 44. Siehe auch Hartmut Soell: Weltmarkt – Revolution – Staatenwelt. Zum Problem einer Theorie internationaler Beziehungen bei Marx und Engels. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bonn-Bad Godesberg, Bd. 12, 1972, S. 122–126.
[13] Siehe Karl Marx: Revolutionary Spain. In: MEGA2, Bd. I/13, Berlin 1985, S. 416–465; Exzerpte zur Geschichte Spaniens (Heft 1–5). In: MEGA2, Bd. IV/12, Berlin 2007, S. 369–946.
[14] Vgl. den Problemaufriss und die einschlägigen Literaturbelege in MEGA2, Bd. IV/12, S. 1047–1052.
[15] Unveränderte Nachdrucke in: Semi-Weekly Tribune (7. September 1852), New-York Weekly Tribune (11. September 1852) und The People’s Paper (16. Oktober 1852). Vgl. MEGA2, Bd. I/11, S. 947f., dt. Übers. MEW, Bd. 8, S. 353/354.
[16] The War Debate in Parliament. In: New-York Daily Tribune, 17. April 1854, S. 6. Unveränderter Nachruck in: New-York Weekly Tribune, 22. April 1854. Vgl. MEGA2, Bd. I/13, S. 775f., dt. Übers. MEW, Bd. 10, S. 177.
[17] Austrian Bankruptcy. [Leitartikel.] In: New-York Daily Tribune, 22. März 1854. Unveränderter Nachdruck: New-York Weekly Tribune, 1. April 1854. Vgl. MEGA2, Bd. I/13, S. 723f., dt. Übers. MEW, Bd. 10, S. 104.
[18] Mazzini and Napoleon. In: New-York Daily Tribune, 11. Mai 1858, S. 6, dt. Übers. MEW, Bd. 12, S. 420/421.
[19] Siehe Dispatches for the New York Tribune. Selected journalism of Karl Marx. Selected and with introduction by James Ledbetter. Foreword by Francis Wheen, London 2007, S. XVIII/XIX.