Die 1850er Jahre waren eine Ruheperiode zwischen revolutionären Höhepunkten. Auch wenn Marx und Engels neue revolutionäre Kämpfe erwarteten, die früher oder später hätten ausbrechen müssen, waren der Krimkrieg und die Kämpfe zwischen den Großmächten im Allgemeinen nur der Ausdruck der vorhergehender Widersprüche zwischen diesen.
Marx und Engels lebten in England und deshalb befanden sie sich in einer vorteilhaften Lage. Rjazanov stellt fest: „Marx beschäftigte sich in den fünfziger Jahren nicht nur mit dem Studium des bürgerlichen Kosmos. Nicht minder eifrig studierte er die Mysterien der internationalen Staatskunst. London war nicht nur der günstigste Ort für das Studium der ökonomischen Verhältnisse des Weltmarktes, es war auch, wie Haag im achtzehnten Jahrhundert, der Ort, wo in den Börsenbulletins – wie in einem Barometer die geringsten Schwankungen des Luftdrucks – jede, auch die geringste Veränderung auf dem Gebiet der internationalen politischen Beziehungen schneller wie überall zutage trat. Nur in England war zu jener Zeit eine Erscheinung möglich, wie die Bildung einer ganzen Reihe von Gesellschaften (Foreign-Affairs Committees) im ganzen Lande, die ausschließlich dem Studium der äußeren Politik gewidmet waren, die Tätigkeit des Ministeriums des Äußern aufmerksam verfolgten und jeden Schritt seiner Politik der schärfsten Kritik unterwarfen.“[1]
Quellengrundlagen
Was noch wichtiger ist, Marx und Engels hatten keine eigene Publikation, in der sie ihre Ideen frei ausdrücken konnten, so wie es in der Neuen Rheinische Zeitung (NRZ) während der Revolution 1848-49 möglich war. Sie hatten auch noch nicht die Plattform zur Verfügung, die sie nach 1864 in der Internationalen Arbeiter-Assoziation hatten.
Die meisten ihrer Beiträge aus jener Zeit, Krieg und Frieden betreffend, sind in einer journalistischen Form überliefert, besonders für Charles Dana’s New-York Daily Tribune (NYDT). Sie waren ständige europäische Korrespondenten von Dana. Insbesondere Marx betrachtete diese Artikel als „hack work“, die es seiner Familie ermöglichten weiterzuleben. Das bedeutet nicht, dass er Artikel schrieb, deren Inhalt er nicht selber vertrat, oder dass er diese Plattform als unwesentlich betrachtete. Es bedeutet nur, dass die Artikel mit Hinblick darauf geschrieben waren, was Dana akzeptieren konnte und dass er und Engels nicht ihre eigenen Ideen vollkommen frei ausdrücken konnten. Die New York-Daily Tribune war nicht die Neue Rheinische Zeitung.
In diesem Sinne ist es natürlich, dass die Ideen von Marx und Engels nicht nur mit Zitaten aus Artikeln in der NYDT festgestellt werden können. Was Marx tatsächlich in diesen Artikeln schrieb, lässt sich nicht immer davon unterscheiden, was Dana oder der Herausgeber aus den eingereichten Artikeln machten. Diese Artikel müssen durch den Briefwechsel zwischen Marx und Engels ergänzt werden.
Das ist die Quellengrundlage unserer Präsentation. Es gibt eine Reihe von Publikationen, die Marx’ Russophobie durch seine Artikel nachweisen wollen: Wir nennen hier Blackstock und Hoselitz (1952)[2], aber dies betrifft sogar Eleanor Marx und Edward Aveling mit The Eastern Question (1897)[3], weil der Briefwechsel Marx-Engels damals noch nicht bekannt war.
In einem Brief, den Marx am 10. März 1853, am Anfang der diplomatischen Krisis, an Engels sandte (MEGA2 III/6, S. 133) und in dem er ihm vorschlug, über die militärischen Aspekte zu schreiben, unterstreicht er, dass er die „haute politique“ vorzustellen habe, d.h. die Politik der Großmächte, und nicht seine eigenen politischen Ideen.
Marx führt diese Ansicht weiter aus und stellt fest, dass diese hohe Politik „die détestable question orientale“ betrifft, die überhaupt militärisch und geographisch ist, d.h. sie ist „outside my department“. Sie ist nämlich das Arbeitsgebiet von Engels. Auf jeden Fall ist es klar, dass Marx sich Sorge über „the Russian menace to Europe“ macht. Es gibt ein Zitat, das uns hilft, seine Stimmung besser zu verstehen. Er schreibt: „Im Falle des allgemeinen Hallos wird die Türkei England zwingen, auf die revolutionäre Seite zu treten, denn hier notwendig seine Kollision mit Rußland.“
Was ist die „revolutionäre Seite“?
Allgemein betrachtet, finden wir die Antwort in der „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation“ (1864), wo der Kampf für eine auswärtige Politik als Teil des allgemeinen Kampfes zur Emanzipation der arbeitenden Klasse charakterisiert wird: „Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; … Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse“ (MEGA2 I/20, S. 25).
Marx hatte schon vorher in Lohnarbeit und Kapital (NRZ, 5. April 1849), festgestellt: „Es galt vor allem den Klassenkampf in der Tagesgeschichte zu verfolgen und an dem vorhandenen und täglich neu geschaffenen geschichtlichen Stoffe empirisch nachzuweisen, daß mit der Unterjochung der Arbeiterklasse, welche Februar und März gemacht hatte, gleichzeitig ihre Gegner besiegt wurden – die Bourgeoisrepublikaner in Frankreich, die den feudalen Absolutismus bekämpfenden Bürger- und Bauernklassen auf dem gesamten europäischen Kontinent; daß der Sieg der honetten Republik in Frankreich gleichzeitig der Fall der Nationen war, die auf die Februarrevolution mit heroischen Unabhängigkeitskriegen geantwortet hatten; daß endlich Europa mit der Besiegung der revolutionären Arbeiter in seine alte Doppelsklaverei zurückfiel, in die englisch-russische Sklaverei.“ (MEW 6, S. 397)
Die Perspektive der orientalischen Frage in der Sicht von Marx
Wenn wir aber eine spezifische Antwort suchen, finden wir sie in erster Linie in dem gemeinsam geschriebenen Artikel von Marx und Engels (NYDT, 7. April 1853), eine Erörterung, nach der die französische Revolution Europa gelehrt habe, seine ganze Diplomatie müsse sich darauf konzentrieren, den status quo zu gewährleisten. „Napoleon konnte in einem Augenblick über einen ganzen Kontinent verfügen und wußte wahrlich in einer Weise darüber zu verfügen, die Genie und Zielstrebigkeit verriet. Die ganze ‚kollektive Weisheit’ der Vertreter des europäischen Legitimismus, die sich auf dem Wiener Kongreß versammelten, brauchte mehrere Jahre, um dasselbe zu leisten; man geriet sich in die Haare darüber, machte ein klägliches Durcheinander daraus und fand das alles schließlich so todlangweilig, daß man die Lust verlor und seither nie mehr versuchte, Europa zu teilen.“[4]
Die Türkei ist, immerhin, der wunde Punkt des europäischen Legitimismus.
Gegen jede Vermutung sprechen Marx und Engels hier nicht vom Panslawismus und der Gefahren einer Intervention des Zarismus, wie Engels es ein Jahr vorher in Revolution und Konterrevolution in Deutschland gemacht hatte, sondern beziehen sie sich auf die Möglichkeit, dass eine Unabhängigkeit der griechisch-slawischen Bevölkerung eine fortschrittliche anti-russische Partei entstehen lassen würde: „Sollte die griechisch-slawische Bevölkerung jemals zur Herrschaft in dem Lande kommen, das sie bewohnt und in dem sie Dreiviertel der Gesamtbevölkerung ausmacht (7 Millionen), dann gibt es keinen Zweifel daran, daß dieselben Bedürfnisse nach und nach in ihrer Mitte zum Aufkommen einer antirussischen fortschrittlichen Partei führen würden, was bisher stets dann eintrat, wenn ein Teil dieser Bevölkerung halb-unabhängig von der Türkei geworden war.“[5] Alle Mächte fürchteten Revolution, nicht nur Russland. Und alle versuchen den Zustand der 1815 beschlossen worden war, aufrecht zu erhalten. Ein allgemeiner Krieg in Europa könnte als Ergebnis den Zusammenbruch des Ordnungsbollwerks Russland haben.
Die Rolle Russlands in der orientalischen Frage
Engels beschreibt in einem Artikel (NYDT, 12. April 1853) die Haltung von England und die Perspektiven der Auseinandersetzung mit Russland im Nahen Osten. Unter anderem schätzt er ein: „Wir sind erstaunt, daß bei der gegenwärtigen Diskussion über die orientalische Frage die englischen Zeitungen nicht schärfer die lebenswichtigen Interessen hervorgehoben haben, die Großbritannien zum unerbittlichen und unnachgiebigen Gegner der russischen Annexions- und Expansionsgelüste machen sollten. England kann es sich nicht leisten, zuzulassen, daß Rußland zum Beherrscher der Dardanellen und des Bosporus wird.“ Rußland und England „sind es heute und müssen auch in aller Zukunft im Osten Gegner sein.“ Und weiter heißt es: „Rußland ist entschieden eine Eroberernation und war es auch ein ganzes Jahrhundert lang, bis ihm die große Bewegung von 1789 einen furchtbaren Gegner voll mächtiger Tatkraft schuf. Wir meinen die europäische Revolution ...“[6]
Einen Monat bevor russische Truppen in die türkisch beherrschten „Donaufürstentümer“ einmarschierten und damit die Kriegsmechanik auslösten, zählte Marx in der New-York Daily Tribune (14. Juni 1853) die Warnsignale auf. Er bilanziert den Gang der russischen Expansion seit den Tagen Peters des Großen:
„Die russischen Grenzen sind vorgerückt:
in Richtung auf Berlin, Dresden und Wien um etwa 700 Meilen
in Richtung auf Konstantinopel 500 "
in Richtung auf Stockholm 630 "
in Richtung auf Teheran 1000 " .“[7]
Die politische Publizistik des 19. Jahrhunderts versorgte Europa mit Russlandbildern, die überwiegend auf die Regierungszeit von Nikolaj I. bezogen waren, in ihrer Rezeption aber weit darüber hinaus wirkten. Russland wurde zum „Gendarm Europas“, zum „Völkergefängnis“ und zum „Bollwerk der Monarchie“.
In diesem Kontext muss man erwähnen, dass Marx und Engels sich intensiv mit diesem Thema beschäftigten. Nicht nur sollten die publizistischen Arbeiten, vor allem die Artikel für die Neue Rheinische Zeitung, die New-York Daily Tribune, die Neue Oder-Zeitung (NOZ) und The People’s Paper, wie schon oben erwähnt wurde, sondern auch die politischen Kampfschriften, etwa gegen die Bakunisten, herangezogen werden, ebenso der Briefwechsel beider Denker und die Exzerpte und Notizbücher, welche ein weit differenzierteres Rußlandbild erkennen lassen als die journalistischen Arbeiten. Das Zarenregime war für Marx, wie einst für Montesquieu, eine „orientalische Despotie“.
In der berühmten Artikelserie Revelations of the Diplomatic History of the 18th Century, in der Londoner Free Press, zwischen August 1856 und April 1857 erschienen, gibt Marx „vorläufige Bemerkungen zur allgemeinen Geschichte der russischen Politik“ wieder. Auch wenn es Marx hier bei der Geheimdiplomatie darum geht, das stetige Zusammenwirken zwischen dem Kabinett von London und Petersburg zu enthüllen und die Zeit Peters des Großen als Geburtstunde dieses Zusammenhanges erscheinen zu lassen, so fragt er doch darüber hinaus nach den Ursachen der russischen Machtpolitik, die er bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgt.
Zusammenfassend schreibt er: „Moskau ist in der schrecklichen und erbärmlichen Schule mongolischer Sklaverei aufgewachsen und großgezogen worden. Seine Stärke erwarb es nur dadurch, daß es in den Fertigkeiten des Sklaventums zum Virtuosen wurde. Sogar nach seiner Selbstbefreiung spielte Moskau seine hergebrachte Rolle des zum Herrn gewordenen Sklaven noch weiter. Peter der Große war es endlich, der die politische Handfertigkeit des mongolischen Sklaven mit dem stolzen Streben des mongolischen Herrschers vereinigte, dem Dschingis Khan in seinem letzen Willen die Eroberung der Erde vermacht hatte.“[8]
Die englische Regierung hatte bewusst oder unbewusst seit Jahrhunderten die russische Machtpolitik unterstützt statt ihr entgegenzutreten. Die einzige Macht Europas, die damals den russischen Plänen hätte Einhalt gebieten können, nämlich England, habe die folgende Eroberungspolitik akzeptiert.
Rußland wurde für die konterrevolutionären Allianzen die wichtigste Stütze und für das bürgerliche England die politische Garantie der wirtschaftlichen Dominanz über Europa.
Russland und der Krimkrieg
In dem Artikel „Der englisch-französische Krieg gegen Rußland“ (NOZ, 20. August 1855) beschreiben Marx und Engels den Verlauf des Krieges, wobei sie seine Besonderheiten betonen: „Der englisch-französische Krieg gegen Rußland wird unstreitig stets in der Kriegsgeschichte als ‚der unbegreifliche Krieg’ figuriren. Großrederei verbunden mit winzigster Action, enorme Vorbereitungen und bedeutungslose Resultate, Vorsicht streifend an Ängstlichkeit, gefolgt von Tollkühnheit, wie sie aus Unwissenheit entspringt. ...
Man sollte denken, daß mindestens jetzt, wo so viele Köpfe beschäftigt sind, plausible Pläne für Angriff und Vertheidigung zu entwerfen, mit solchen täglich anwachsenden Massen von Truppen und Material, irgend eine überwältigende Idee zur Geburt kommen müsse. Aber nichts der Art. Der Krieg kriecht voran, aber seine größere Dauer hilft nur den Raum ausdehnen, worauf er geführt wird. Je mehr neue Kriegstheater eröffnet werden, desto weniger geschieht auf jedem derselben. Wir haben nun ihrer sechs: das weiße Meer, die Ostsee, die Donau, die Krim, den Kaukasus und Armenien. Was auf diesem erstaunlichen Flächenraum geschieht, läßt sich auf dem Raum einer Spalte sagen.“ (MEGA2 I/14, S. 630-31)
Der Krimkrieg wird also als „Scheinkrieg“ bezeichnet, obwohl der Historiker Pirenne ihn als den ersten europäischen Krieg bezeichnet hat, der Millionen von Menschenleben und Milliarden Franken verschlang, wie schon die Literatur über den Sewastopoler Feldzug zeigt. Der Sewastopoler Angriff allein kostete Hunderttausende ihr Leben sowohl bei den Alliierten als auch bei den Russen.
Von 1853 an hätte Marx also eine außerordentliche Gelegenheit gehabt, einen Krieg gegen Russland und gegen den Zarismus zu unterstützen. Tatsächlich erklärten Marx und Engels mehrmals, warum die englische Bourgeoisie, für ihre eigenen Interessen kämpfend, ihre Opposition gegen die russische Politik verstärken müsste. Das bedeutete keinesfalls, dass sie ihre Unterstützung (und die der Arbeiterklasse) einem Krieg gäben, der für diese Interessen geführt wurde. Dieses Konzept wird 1853 von Marx mehrmals in verschiedenen Artikeln wiederholt.
Marx weist jede Unterstützung im Krieg gegen Rußland seitens der fortgeschrittenen Mächte England und Frankreich zurück. In einem Artikel (NYDT, 24. Juni 1854) kritisiert Marx eine Rede von Kossuth, der eine mögliche Allianz von Ungarn mit Russland vorgeschlagen hatte, falls England sich mit Österreich verbündete: „Die Drohung, Ungarn werde sich mit Rußland verbünden, wenn England eine Allianz mit Österreich schließt, war sehr unbedacht. Erstens bot sie den ministeriellen Blättern eine willkommene Waffe, und die ‚Times’ zögerte auch keinen Augenblick, davon reichlich Gebrauch zu machen, indem sie alle Revolutionäre als Agenten Rußlands ‚anprangerte’. ...
Ebenso war es ein Irrtum, den Krieg gegen Rußland als einen Kampf zwischen Freiheit und Despotismus zu bezeichnen. Abgesehen davon, dass in diesem Falle die Freiheit von einem Bonaparte vertreten würde, ist das erklärte Ziel des Krieges ausschließlich die Erhaltung des Gleichgewichts der Mächte und der Wiener Verträge – eben der Verträge, die die Freiheit und Unabhängigkeit der Nationen aufheben.“[9]
Die internationalen Beziehungen während des Krimkrieges
Nachdem Engels in dem Artikel „Der europäische Krieg“ (NYDT, 2. Februar 1854) eine detaillierte Analyse der Kräfte der verschiedenen Großmächte ausgearbeitet und eine Beschreibung der möglichen Entwicklungen der internationalen Beziehungen dargestellt hat, worin er dokumentiert, wie die westlichen Mächte einen vollen Sieg gegen Russland erreichen könnten, aber dass keine von ihnen dieses Ziel wirklich wünschte, schließt er den Artikel auf diese Weise: „Doch wir dürfen nicht vergessen, daß in Europa noch eine sechste Macht existiert, die in bestimmten Augenblicken ihre Herrschaft über die gesamten fünf sogenannten Großmächte behauptet und jede von ihnen erzittern läßt. Diese Macht ist die Revolution. ... Es bedarf nur eines Signals, und die sechste und größte europäische Macht tritt hervor in glänzender Rüstung... Dieses Signal wird der drohende europäische Krieg geben und dann werden alle Berechnungen über das Gleichgewicht der Mächte über den Haufen geworfen werden durch das Hinzutreten eines neuen Elements, das in seiner immerwährenden Schwungkraft und Jugendlichkeit die Pläne der alten europäischen Mächte und ihrer Generale ebenso vereiteln wird wie in den Jahren 1792 bis 1800.“ (MEW 10, S. 8)
Marx war, noch vor seiner Übersiedlung nach London, zur Überzeugung gelangt, dass England und Rußland de facto Bundesgenossen im Kampfe gegen die Revolution waren. Es ist vollkommen begreiflich, wie Rjazanov feststellt, dass ihn die Schriften von David Urquhart interessieren mussten, der im Verlauf von zwanzig Jahren unermüdlich die Intrigen der russischen Diplomatie aufdeckte. Man darf indessen nicht annehmen, dass Marx unter dem ausschließlichen Einfluss Urquharts stand. Das war schon darum unmöglich, weil beide von ganz verschiedenen prinzipiellen Standpunkten ausgingen und ihre Ziele ganz unterschiedlich waren.
In einem Brief an Engels erklärt Marx (22. April 1854), dass im Morning Advertiser ein Anhänger Urquharts behauptet hatte, „Mr. Marx however, I am happy to say, is as energetic and valuable supporter as ever of Mr. Urquart’s.“ Marx erwidert im erwähnten Brief an Engels: „Bisher habe ich noch nichts in der Sache getan, sondern warte noch zu. Es wird sich Gelegenheit finden, Herrn U[rquhart] zu desavouiren. Ich finde die Sache um so unverschämter, als er weiß und ich ihm erklärt habe, daß ich in Nichts mit ihm übereinstimme, außer Palmerston, ein Punkt, zu dem er mir nicht verholfen hat.“ (MEGA2 III/7, S. 94)
Marx vergleicht in zwei Artikel (NOZ, 2. Januar und 4. Januar 1855) die Strategie der Regierung in England, die einen endgültigen Krieg gegen Rußland vermeiden möchte, mit Hinweisen auf den historischen Verfall Russlands: „Wenn nicht auf Seite des Kaisers von Rußland, herrschen Friedensillusionen jedenfalls auf Seite des englischen Ministeriums. In den großen Krieg mit Frankreich, der im vorigen Jahrhundert begann, wurde das englische Volk durch seine Oligarchie geführt. In den jetzigen Krieg mit Rußland ist die englische Oligarchie durch das Volk gezwängt worden. Aus allen ihren diplomatischen, militärischen und finanziellen Operationen leuchtet der Widerwille, den ihr aufgenötigten Krieg zu führen. ...
Ein Krieg mit Rußland ist für die englische Aristokratie gleichbedeutend mit dem Verlust ihres Regierungsmonopols. ... Die ganze englische Diplomatie von 1830-1854 reduziert sich daher auf das eine Prinzip: den Krieg mit Rußland um jeden Preis zu vermeiden. Daher die fortwährenden Konzessionen, die Rußland in der Türkei, in Persien, in Afghanistan, in Dänemark, die ihm auf jedem Punkte der Erde seit 24 Jahren gemacht wurden. Daß die Aristokratie richtig gerechnet hatte, beweisen die Tatsachen des Augenblicks. Kaum ist der Krieg mit Rußland ausgebrochen...“[10]
Und am 1. Januar 1855 führt er weiter aus: „Wir langen endlich bei der Schlacht von Inkerman an, dem bedeutendsten militärischen Ereignis dieses Feldzugs. ... Diese glänzende russische Armee mit ihren alten Truppen – viele darunter 25 Jahre unter den Waffen – diese Muster von Paradedienst, zeigt sich so unbeholfen, so schwerfällig, so unfähig zum Tirailliren und Kämpfen in kleinen Haufen, daß ihre Offiziere nichts anders mit ihr anzufangen wissen, als ihre schwere Masse mit einem Male auf den Feind zu werfen… die Briten sie mit derselben Überlegenheit empfingen wie Napoleons Karrees die Mamelucken in der Pyramidenschlacht. 14 000 Alliierte mit dem Verlust von einem Drittel ihrer Gesamtstärke schlugen 30 000 Russen... Nie seit der Schlacht von Narwa (November 1700) hat ein solches Unglück die russischen Waffen ereilt. Und wenn wir den außerordentlichen Unterschied erwägen zwischen den Russen von Narwa und den Russen von Inkerman, so erscheint der Tag von Narwa glänzend, verglichen mit dem von Inkerman. Narwa war der erste große Unfall einer aufsteigenden Nation, die Niederlagen selbst in Mittel des Sieges umzuwandeln wußte. Inkerman erscheint beinahe als sichere Anzeige des Verfalles jener Treibhausentwickelung, die Rußland seit Peter dem Großen genommen hat. Das künstlich beschleunigte Wachstum und die enorme Anstrengung, mit halbbarbarischem Material den Schein einer glänzenden Zivilisation aufrechtzuerhalten, scheint die Nation bereits erschöpft und eine Art von Lungenschwindsucht über sie verhängt zu haben. Die Schlacht von Inkerman ist für die russische Infanterie, was die Schlacht von Rocroi (1643) für die spanische war.“[11]
Innere Entwicklungen in Russland nach dem Krimkrieg
Marx gibt in dem Artikel „Die Frage der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland“ (NYDT, 19. Oktober 1858) eine Darstellung der möglichen Ergebnisse des Krimkrieges in Russland: „Was Alexander II. betrifft, so war es wohl kaum eine Frage der Wahl, ob er die schlafenden Elemente wecken sollte oder nicht. Das ihm von seinem Vater hinterlassene Erbe des Krieges forderte von den russischen Volksmassen unerhörte Opfer, über deren Ausmaß man an Hand einer einfachen Tatsache urteilen kann: in dem Zeitraum von 1853 bis 1856 stieg die im Umlauf befindliche Summe des ungedeckten Papiergelds von dreihundertdreiunddreißig Millionen auf ca. siebenhundert Millionen Rubel, wobei diese ganze Zunahme des Papiergeldes tatsächlich bloß antizipierte Steuern darstellte. Alexander II. folgte nur dem Beispiel Alexander I., der während des Krieges gegen Napoleon die Bauern mit Versprechungen auf Befreiung vertröstete. Außerdem endete der verflossene Krieg in einer schmachvollen Niederlage, zumindest in den Augen der Leibeigenen, von denen man nicht erwarten kann, daß sie sich in den Geheimnissen der Diplomatie auskennen. Und seine neue Herrschaft mit offensichtlichen Niederlagen und Demütigungen einleiten und dann die den Bauern während der Kriege gemachten Versprechungen brechen – einen solchen Schritt zu wagen war sogar für den Zaren zu gefährlich.“ (MEW 12, S. 592)
Engels drückt in dem Artikel „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums“ (Die Neue Zeit, Mai 1890) aus, welche Folge der Krieg im Land zur Folge hatte: „Der Friede, den sein Nachfolger, Alexander II., nun eiligst abschloß, fiel sehr glimpflich aus. Aber die Folgen des Krieges im Innern waren um so größer. Um im Innern absolut herrschen zu können, mußte das Zarentum nach außen mehr als unbesiegbar, es mußte ununterbrochen siegreich, mußte imstande sein, den unbedingten Gehorsam zu belohnen durch chauvinistischen Siegesrausch, durch immer neue Eroberungen. Und jetzt war das Zarentum elend zusammengeknickt, und das gerade in seiner äußerlich imposantesten Gestalt; es hatte Rußland bloßgestellt vor der Welt, und damit sich selbst vor Rußland. Es erfolgte eine ungeheure Ernüchterung. Das russische Volk war durch die kolossalen Opfer des Kriegs zu sehr aufgerüttelt, der Zar hatte zu sehr an seine Hingebung appellieren müssen, als daß es ohne weiteres in die Passivität des gedankenlosen Gehorsams zurückzubringen war. Denn allmählich hatte sich auch Rußland ökonomisch und intellektuell weiterentwickelt; neben dem Adel standen jetzt die Anfänge einer zweiten gebildeten Klasse, der Bourgeoisie. Kurz, der neue Zar mußte den Liberalen spielen, aber diesmal nach Innen. ... Und damit entstand für die zarische Diplomatie der Feind, an dem sie untergehen muß. Denn diese Art Diplomatie ist nur möglich, solange das Volk unbedingt passiv bleibt, keinen Willen hat als den der Regierung, keinen Beruf, als Soldaten und Steuern zu liefern für die Durchführung der Ziele der Diplomaten. Sobald Rußland eine innere Entwicklung und damit innere Parteikämpfe hat, ist die Eroberung einer konstitutionellen Form, in der diese Parteikämpfe sich ohne gewaltsame Erschütterung ausfechten, nur eine Frage der Zeit. Dann aber ist auch die bisherige russische Eroberungspolitik ein Ding der Vergangenheit; die unveränderliche Stetigkeit des diplomatischen Ziels geht verloren im Ringen der Parteien um die Herrschaft; die unbedingte Verfügung über die Kräfte der Nation ist dahin – Rußland bleibt schwer angreifbar und relativ ebenso schwach im Angriff, wird aber sonst ein europäisches Land wie die andren auch, und die eigentümliche Stärke seiner bisherigen Diplomatie ist für immer gebrochen.“ (MEGA2 I/31, S. 200-01)
* Vortrag bei der Tagung „Marx’ und Engels’ Sicht auf die europäische Politik und sozialpolitische Entwicklung Russlands“ des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition e. V, Berlin, 23./24. September 2011.
[1] David B. Rjazanov, Karl Marx über den Ursprung der Vorherrschaft Rußlands in Europa. Kritische Untersuchungen. In: Karl Marx, Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts,Berlin 1977.
[2] Paul W. Blackstock und Bert F. Hoselitz, The Russian Menace to Europe. A collection of articles, speeches, letters, and news dispatches, Glencoe, Ill. 1952.
[3] Karl Marx, The Eastern Question. A reprint of letters written 1853-1856 dealing with the events of the Crimean War,herausgegeben von Eleanor Marx Aveling und Eduard Aveling, Sonnenschein, London 1897.
[4] Karl Marx und Friedrich Engels, Britische Politik – Disraeli – Die Flüchtlinge – Mazzini in London – Türkei. In: MEW 9, S. 6.
[5] Ebenda, S. 12.
[6] Friedrich Engels, Worum es in der Türkei in Wirklichkeit geht. In: MEW 9, S. 13, 15, 17.
[7] Karl Marx, Die türkische Frage – Die „Times“ – Die russische Expansion. In: MEW 9, S. 116.
[8] Karl Marx, Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts,a.a.O., S. 91.
[9] Karl Marx, Die Reorganisation der englischen Militäradministration – Die österreichische Sommation – Die ökonomische Lage Englands – Saint-Arnaud. In: MEW 10, S. 267-68.
[10] Karl Marx, Rückblicke, 29. December 1854. In: MEGA2 I/14, S. 4-5.
[11] Karl Marx: Rückblicke, 1. Januar 1855, in: MEGA2 I/14, S. 6-7.