Alternativen zur Berliner Mauer

Dezember 2011

Einleitung

Wie zu erwarten war, hat sich in diesem Jahr anlässlich des 50. Jahrestages der Schließung der Grenze zwischen Ost- und Westberlin, kurz gesagt des Mauerbaus, eine Flut von Publikationen mit diesem zeitgeschichtlich besonders interessierenden Thema befasst.[1] In diesem Beitrag geht es nicht um eine Nachlese. Er ist vielmehr einem zum Thema gehörenden Aspekt gewidmet, der in den Veröffentlichungen, die immer neue Details der Vorbereitung des Mauerbaus und der Schilderung des Grenzregimes der Jahre 1961-1989 thematisieren, kaum behandelt wird, nämlich den Alternativen zur Grenzschließung. Gewiss fällt an dieser oder jener Stelle in den Publikationen auch mal die Bemerkung, dass man auf den Mauerbau hätte verzichten können, wenn man in der DDR gesellschaftliche Verhältnisse wie in der Bundesrepublik eingeführt hätte. Das Argument gilt natürlich auch umgekehrt. Von derartigen, die Konfrontation zwischen beiden Systemen und den zwischen ihnen geführten Kalten Krieg ignorierenden Alternativen soll hier nicht die Rede sein, sondern von solchen, die im Zeitraum etwa ab Mitte der 50er Jahre in der DDR angedacht wurden, deren Verwirklichung geplant und auch in Angriff genommen wurde. Wie wir noch sehen werden, war es damals nicht opportun, den eigentlichen Zweck derartiger Projekte von der politischen Bühne herab zu verkünden. Selbst in Fällen, in denen eine breite Resonanz beabsichtigt war, wurden derartige Projekte unter Verschweigen ihres eigentlichen Ziels verkündet. Das hat den Historikern deren Einordnung erschwert bzw. sie wurden verkannt.

Die Ost-West-Migration vor dem Bau der Mauer

Die Ursachen für die am 13. August 1961 erfolgte Sperrung der Grenze zwischen West- und Ostberlin waren vielfältig. Sie reichten vom leichten Zugang der „Westspione“ nach Ostberlin und in die DDR, bis zum Abkaufen von hochwertigen Konsumgütern wie z. B. optischen Geräten von Zeiss/Jena durch die Westberliner, begünstigt durch den, die tatsächliche Kaufkraft der DDR-Währung ignorierenden, „Schwindelkurs“ von 1 DM West zu 4 bis 5 DM Ost. In erster Linie aber sollte mit der Sperrung der Grenze der durch Behörden der DDR nicht kontrollierbaren Abwanderung (so der demographisch korrekte Begriff) aus der DDR über die Sektorengrenze nach Westberlin und von dort per Flugzeug in die Bundesrepublik ein Riegel vorgeschoben werden. „Der anwachsende Strom der Flüchtlinge bringt das gesamte Leben der Republik durcheinander“, ließ Ulbricht Ende Juni 1961 Nikita Chruschtschow mitteilen. Er könne nicht dafür garantieren, die Lage unter Kontrolle zu halten.[2]

Chruschtschow, dem Ulbricht nicht das erste Mal seine Not mit der offenen Grenze schilderte, bekannte in seinen Memoiren später. „Ich habe viel Zeit darauf verwandt, nach einem Ausweg zu suchen. Wie konnten wir Bedingungen in der DDR schaffen, die es ihr ermöglichten, der ständig zunehmenden Abwanderung ihrer Arbeitskräfte Herr zu werden?“[3] Der Chef der KPdSU zögerte lange, sein Plazet für die Schließung der Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin zu geben. Er favorisierte seit 1958 eine Regelung der Zu- und Abgänge nach Westberlin über einen Friedensvertrag, der der unkontrollierten Weiterreise von Flüchtlingen aus der DDR ein Ende setzen sollte, d. h. er strebte eine Lösung des Abwanderungsproblems mit diplomatischen Mitteln an. Doch die Westmächte waren nicht bereit, einen dementsprechend geänderten Status von Westberlin zu akzeptieren. Die Zeit drängte. Am 20. Juli 1961 warnte der KGB-Vorsitzende Alexander Schelepin Chruschtschow, der Exodus müsse rasch beendet werden, um ein völliges wirtschaftliches Ausbluten der DDR zu verhindern.[4]

Wann und warum war die Abwanderung aus der DDR in die Bundesrepublik, die es seit der Gründung beider deutscher Staaten gab, für die DDR zu einem Existenzproblem geworden?

„Zuzüge aus der DDR“ in Höhe von ca. 300.000 Personen vermerkte das Statistische Bundesamt bereits im Jahre 1950, zehn Jahre später waren es knapp 250.000.[5] Warum aber drängte Anfang der 50er Jahre in Osten niemand auf eine Grenzsperrung? Dafür gab es erstens politische Gründe: Weder in der Sowjetunion noch in der DDR hielt man damals die Teilung Deutschlands für eine ausgemachte Sache. Erst als die Westmächte und die Bundesregierung 1952 die sowjetischen Vorschläge für ein einheitliches Deutschland (die so genannte Stalinnote) abwiesen wurde von der Ostsee bis zum Fichtelgebirge der bis dahin geduldete kleine Grenzverkehr zwischen BRD und DDR eingestellt und ein strenges Grenzregime eingerichtet.[6]

Zweitens gab es für die SED-Führung wirtschaftliche Gründe, die Abwanderung zunächst gelassen zu sehen. Die DDR-Behörden registrierten 1950 im Jahresdurchschnitt noch 325.000 Arbeitslose, darunter ca. 60.000 Jugendliche.[7] Die durch die Abwanderung verwaisten Arbeitsplätze konnten noch relativ leicht wieder besetzt werden. Denjenigen, die die DDR Richtung Bundesrepublik verließen, standen 1950 40.000 „West-Ost-Wanderer“ gegenüber, was man so interpretieren konnte, dass ein Teil der Migranten nach der Entwurzelung durch Krieg und Nachkrieg noch auf der Suche nach einer endgültigen Ansiedlung war. Für eine derartige Interpretation sprach auch der hohe Anteil Vertriebener (47%) an den Ost-West-Wanderern.[8]

Von Seiten der Bundesrepublik, die zwei Dritteln der aus der DDR Zugewanderten die Notaufnahme gewährte und auch dem restlichen Drittel der „Flüchtlinge“ das Bleiberecht nicht verweigerte, wurde die Abwanderung aus der DDR zunächst keineswegs begünstigt. Der zuständigen Bundesminister für Vertriebene, Hans Lukaschek, hatte noch im Januar 1950 an die Ostdeutschen appelliert: „Bitte, kommt nicht ohne dringende Not hierher“.[9] Erklärlich war diese Haltung: Das Wirtschaftswunder hatte 1950 noch nicht gegriffen.[10] In jenem Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik mit 1,9 Millionen ihren Nachkriegshöhepunkt. Die Arbeitslosenquote lag bei 11,0%, einem Negativrekord, der in der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik nicht wieder erreicht werden sollte.[11] Unter den gegebenen Arbeitsmarktbedingungen galt jede Zuwanderung damals als zusätzliche Belastung.

Mitte der 50er Jahre änderte sich die Arbeitsmarktsituation sowohl in der BRD als auch in der DDR grundlegend. Auf der Basis extensiven Wirtschaftswachstums, wobei neben dem Anstieg der Arbeitsproduktivität die Zunahme der Beschäftigten wesentlich zur Steigerung der Produktion beitrug, stieg in der DDR die Zahl der Berufstätigen während des ersten Fünfjahrplanes, d. h. zwischen 1950 und 1955, um eine halbe Million an. Die Zahl der Arbeitslosen sank bis 1955 auf knapp 44.000, davon waren 11.000 Jugendliche unter 18 Jahre.[12] Mit anderen Worten: Für weiteres wirtschaftliches Wachstum in bisheriger Weise benötigte die DDR von nun an jeden Mann und jede Frau.

In der Bundesrepublik entfaltete sich in der ersten Hälfte der 50er Jahre das Wirtschaftswunder. Das Bruttoinlandsprodukt stieg jährlich um 10%. Die Zahl der Erwerbstätigen erhöhte sich zwischen 1950 und 1955 um ca. 3 Millionen.[13] In seiner 1988 erschienenen „Deutschen Wirtschaftsgeschichte“ konstatiert Wolfram Weimer für das Jahr 1955: „Erstmals seit der Währungsreform wurde Arbeitskräftemangel spürbar. ... Nun setzte die Jagd nach Arbeitskräften ein. Es begann das gegenseitige Abwerben.“[14]

Das „gegenseitige Abwerben“ erfolgte in erster Linie über höhere Lohnangebote, vielfach in Gestalt übertariflicher Zahlungen. Die Angebote wirkten stärker noch als innerhalb der BRD auf die Arbeiter und Angestellten in der DDR. Den ostdeutschen Arbeitern und Angestellten war nicht verborgen geblieben, dass die Beschäftigten fast aller Branchen in Westdeutschland ein höheres Einkommen erzielen konnten als sie selbst in der DDR, ob es sich nun um Bergleute, Bauarbeiter, Textilarbeiterinnen, in der Metallindustrie Beschäftigte, oder Fachverkäuferinnen der staatlichen Handelsbetriebe (HO) handelte.[15]

Die Information nicht nur über die höheren Verdienste, sondern auch über die zunehmend guten Aussichten, sofort Arbeit zu bekommen, ob man nun Akademiker, Angestellter oder Arbeiter war, verbreitete sich im Osten auf eine sehr wirksame Art und Weise wie von selbst – über Briefe, die die „Republikflüchtigen“ an ihre ehemaligen Kollegen in der DDR sandten, in denen sie von ihrer günstigen Lage berichteten und in denen die Adressaten häufig aufgefordert wurden, ebenfalls im Westen ihr Glück zu versuchen. Gezielte Anwerbung ostdeutscher Spezialisten blieb, anders als seitens der DDR immer wieder behauptet, die Ausnahme.[16]

Die Zahl der vom Statistischen Bundesamt ermittelten „Zuzüge aus der DDR“, die nach dem politischen Krisenjahr 1953 im Jahre 1954 wieder auf 334.000 zurückgegangen war, stieg in den Jahren 1955-1957 als Resultat der in der Bundesrepublik einsetzenden Arbeitskräfteknappheit auf über 400.000 jährlich an.[17] Selbst wenn man davon die West-Ost-Wanderer – 1955 bis 1957 zwischen 40.000 und 43.000 – abzieht, war der Aderlass gewaltig.[18]. In der DDR war die stille Reserve der Arbeitslosen längst aufgebraucht: Zwischen 1955 und 1958 sank ihre Zahl von 40.000 auf 17.000. Die Zahl der Berufstätigen stieg in diesen Jahren erstmals nicht weiter an.[19] Die SED-Führung war beunruhigt. Sollte die DDR-Wirtschaft weiter so wie bisher wachsen, musste entsprechendes Arbeitskräftepotential weiterhin zur Verfügung stehen. Die Schließung der Grenze nach Westberlin – ein aus der Kenntnis der späteren Entwicklung nahe liegender Gedanke – konnte von Seiten der SED-Führung schon deshalb nicht betrieben werden, weil es dafür (bis zum Sommer 1961) keine sowjetische Zustimmung gab.[20]

Mobilisierung von Arbeitskräftereserven als Alternative zum Mauerbau

Angesichts des „Schlupflochs in Berlin“ verblieben für die DDR grundsätzlich drei Möglichkeiten, sich ausreichend Arbeitskräfte für die Erfüllung ihrer Wirtschaftspläne zu sichern.

Die erste Möglichkeit bestand in der Mobilisierung zusätzlicher Arbeitskräftereserven im Innern. Nach dem Ende der Arbeitslosigkeit handelte es sich dabei vor allem um die stärkere Einbeziehung von Hausfrauen in die Berufstätigkeit. Im Jahre 1955 hatte die Frauenerwerbsquote in der DDR bei 55% gelegen, die der Männer bei 84%. Die Einbeziehung der Frauen ins Berufsleben verlangte materielle Vorleistungen. Tatsächlich gelang es zwischen 1955 und 1958 das Angebot an Kinderkrippen, Kindergärten und die Zahl der Betreuungsplätze in Schulhorten deutlich zu steigern und dadurch für Mütter mit Klein- und schulpflichtigen Kindern die sozialen Voraussetzungen für eine Arbeitsaufnahme zu schaffen. Um den Schritt vom Familienherd in den Großbetrieb zu erleichtern, wurden spezielle Hausfrauenbrigaden geschaffen, die – für die DDR ungewöhnlich – stundenweise, halbtags oder für einige Tage in der Woche eine Arbeit in Produktionsbetrieben aufnahmen. Die Betriebe nutzten diese „mobile Reserve“ gern um eingetretene Planrückstände zu beseitigen.[21]

Die Frauenerwerbsquote erhöhte sich in der DDR zwischen 1954 und 1961 von 54% auf 65%.[22] Aber die Zahl der auf diese relativ aufwändige Weise zusätzlich gewonnenen Arbeitskräfte blieb im fünfstelligen Bereich stecken. Das war – gemessen an der jährlichen Nettoabwanderung von ca. einer Viertelmillion Menschen in die Bundesrepublik – keineswegs ausreichend. Die Mobilisierung innerer Arbeitskräftereserven erwies sich somit als unbefriedigend. Die Beschäftigung in Hausfrauenbrigaden hatte nie die Zahl von 28.000 überschritten.[23]

Eine zweite Alternative bestand in der Mobilisierung „äußerer“ Arbeitskraftreserven. Damit waren nicht etwa Westdeutsche gemeint, obwohl die DDR nicht müde wurde, Verlierern des Wirtschaftswunders in der BRD, insbesondere jungen Arbeiterfamilien mit Kindern, die Übersiedlung in das Land totaler Vollbeschäftigung anzubieten[24], sondern „Arbeitskräfteimporte“ aus „sozialistischen Bruderländern“. Derartige Überlegungen waren in den 50er Jahren für die realsozialistischen Länder noch ungewöhnlich. Die Meinung, dass Arbeitskräfteimporte- bzw. -exporte innerhalb der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ keinen Platz hätten, war in der Mehrzahl der osteuropäischen Staaten weit verbreitet. Argumentiert wurde, dass die Werktätigen eines jeden Landes für die Vermehrung des nationalen Reichtums in der eigenen Volkswirtschaft arbeiten sollten. Das würde der sozialistischen Staatengemeinschaft als Ganzem am ehesten zugute kommen.[25] Erst nach längerem Bitten erklärten sich deshalb nur die Sowjetunion und ihr „treuester Verbündeter“ Bulgarien gegenüber der DDR bereit, in größerem Umfang Arbeitskräfte zur Auffüllung der durch die Abwanderung entstandenen Lücken an den Werkbänken und in den Arztpraxen zur Verfügung zu stellen.

Immerhin kam schließlich im Juli 1961 eine Beschlussvorlage für das Politbüro des ZK der SED zustande. Darin hieß es über den Charakter der zu organisierenden Migration: „Im Rahmen der Vereinbarungen mit den sozialistischen Ländern über die Hilfe und Unterstützung bei der Störfreimachung der Wirtschaft der DDR und zur ökonomischen Stabilisierung der Arbeiter- und Bauernmacht werden Werktätige aus der UdSSR und aus der VR Bulgarien in die sozialistische Produktion und das Bauwesen eingesetzt“.[26] Für die Unterbringung von 30.000 Fachkräften und Spezialisten aus der UdSSR und 10.000 Fach- und Hilfskräften aus Bulgarien in der Metallurgie, dem Untertagebergbau, dem Braunkohlentagebau, dem Maschinenbau, der Textilindustrie, der Energiewirtschaft, der Chemischen Industrie, der Bauwirtschaft, der Betriebs- und Regelungstechnik, Leichtindustrie und der Fischverarbeitung[27] wurden als Unterkünfte „Internate, Ledigen-, Ferien- und sonstige Heime, Arbeiter-, Bereitschaftsunterkünfte und sonstiger geeigneter Wohnraum“ vorgesehen. Der Arbeitseinsatz war für drei bis fünf Jahre geplant und sollte so rasch wie möglich beginnen.[28]

Doch bevor es zur massenhaften Anreise der Arbeitskräfte aus der UdSSR und Bulgarien kommen konnte, gab Chruschtschow im Juli 1961 seinen Widerstand gegen die Abriegelungsmaßnahmen zwischen Ost- und Westberlin auf.[29] Die UdSSR und Bulgarien sahen nach der Grenzschließung vom 13. August 1961 keinen Anlass mehr, ihre nur zögernd gewährten Hilfsangebote weiterhin aufrecht zu erhalten. Die DDR-Führung sah sich im Februar 1962 gezwungen, den Beschluss, der den Arbeitskräfteimport regelte, wieder aufzuheben. Erst Ende der 60er Jahre kamen, unter anders gearteten Bedingungen, ausländische Arbeitskräfte – im Ergebnis eines Vertrages zwischen der DDR und der Regierung in Ungarn – in verhältnismäßig geringer Zahl (zwischen 3.000 und 6.000 jährlich) in die DDR. [30] Der Vergleich der Größenordnung der vor dem 13. August vorgesehenen Arbeitskräfteimporte mit den Ende der 60er Jahre realisierten Immigrantenzahlen unterstreicht noch einmal, welche Bedeutung die DDR auf die Mobilisierung „äußerer“ Arbeitskräftereserven als genuine Alternative zum Mauerbau gelegt hatte.

Quantitativ hätten der verabredete Import von ausländischen Arbeitskräften die durch die Abwanderung bei offener Grenze entstehenden Verlust natürlich nicht ersetzen können. Jedoch ist zu bedenken, dass es sich bei den 40.000 Arbeitskräften aus der UdSSR und Bulgarien vermutlich nur um einen Anfang gehandelt hätte – sowohl hinsichtlich der Zahl der Arbeitskräfte als auch der Anzahl der „Entsendeländer“.

Angleichung von Produktivitäts- und Wohlstandsniveau als Alternative zum Mauerbau

Naheliegender als die Idee der Kompensation der Abwanderung von Verlusten am Bestand von Arbeitskräften durch zusätzliche Arbeitskräfte aus dem In- und Ausland war die Vorstellung, das Hauptmotiv für die Abwanderung von Arbeitern und Angestellten aus der DDR in die Bundesrepublik zu beseitigen, d. h. in Ostdeutschland ein Verdienstniveau und einen Lebensstandard zu verwirklichen, der eine Abwanderung aus materiellen Gründen gegenstandslos machte. Dass mit einer solchen Lösung die Mehrheit der Migrationsfälle erfasst werden würde, darüber kann es – ungeachtet der immer wieder vorgebrachten Behauptung, das Hauptwanderungsmotiv sei politischer Natur gewesen[31] – keinen Zweifel geben. Nur derjenige, dem die zuständigen Bundesbehörden bestätigten, dass er „wegen einer Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit“ geflohen war, war zweifelsfrei ein politischer Flüchtling. Der Anteil dieser Migranten lag allerdings im Durchschnitt der Jahre 1953 (nur zweites Halbjahr) bis 1961 (Jahresende), d. h. für den Zeitraum, da entsprechendes Zahlenmaterial zur Verfügung steht, bei 14,2%.[32] Von bundesdeutschen Soziologen durchgeführte Befragungen von Ost-West-Migranten kamen zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Dietrich Storbeck z.B. hat 1963, in einer später oft zitierten Untersuchung, den Anteil der politischen Flüchtlinge aufgrund statistischer Indikatoren wie der Berufs- und Altersstruktur der Zuwanderer auf etwa 11% geschätzt.[33] Die deutliche Mehrheit der Ost-West-Migranten stufte Storbeck als Wanderer ein, „die von den beiden konkurrierenden Wirtschaftssystem auf deutschem Boden dem westlichen eine bessere Chance einräumten.“ Er kam zu dem Schluss, dass der Exodus aus der DDR „größtenteils keine Flucht im engeren Sinne“ war und spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre „die Abwanderung zu den besseren Lebensbedingungen überwog.“[34]

Die in diesem Zusammenhang interessierende Frage ist, ob die Motivationsstruktur der „Republikflüchtigen“ auch der SED-Führung bekannt war und akzeptiert wurde oder ob die DDR-Behörden ihrer eigenen öffentlichen Argumentation glaubte, die Emigration sei auf „von Bonner Stellen planmäßig organisierte“ Abwerbung zurückzuführen, die von bundesdeutscher Seite „als wesentliches Mittel zur Weiterführung des ‚Kalten Krieges’ mit dem Ziel betrieben werde die DDR wirtschaftlich zu schwächen“.[35] Nach 1990 durchgeführte Archivrecherchen haben bestätigt, dass die zuständigen Behörden intern die Fluchtmotive durchaus realistisch sahen. Der SED-Führung zweifelte nicht daran, dass für die meisten DDR-Bürger die angeprangerte „Republikflucht“ „kein Verrat an der DDR, sondern nur ein Arbeitsplatzwechsel“ war.[36]

Um diesem Arbeitsplatzwechsel das Motiv zu nehmen, entschloss sich die SED-Führung im Sommer 1958 ein Programm aufzulegen, das den DDR-Bürgern westdeutschen Lebensstandard versprach. Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 verkündete der Erste Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht, die „ökonomische Hauptaufgabe“, die Volkswirtschaft der DDR „innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, dass der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft“. Bei der Verkündung des Siebenjahrplanes (1959-1965) im September1959 wurde Ulbricht präzise und versprach „die ökonomische Hauptaufgabe so auszuarbeiten, dass sie bis Ende 1961 erfüllt werden kann.“[37]

Ulbricht hegte nicht die Illusion, dass die potenziellen Westmigranten auf eine bloße Ankündigung hin ihre Pläne aufgeben würden. Das Regierungsversprechen, dessen Einlösung in der (nahen) Zukunft erfolgen sollte, wurde deshalb unmittelbar von einer Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen begleitet, wie sie die DDR seit Jahren nicht gekannt hatte. Bereits im Mai 1958 waren die Lebensmittelkarten, letztes Überbleibsel der Not der Nachkriegsjahre, abgeschafft worden. Für Konsumgüter wurde an Stelle der bisher geltenden (niedrigen) Kartenpreise und (hohen) HO-Preise ein einheitliches Preisniveau geschaffen. Erzeugnisse wie Kaffee, Kakao, aber auch Lederschuhe und andere Erzeugnisse des gehobenen Verbrauchs konnten nunmehr billiger erworben werden. Gleichzeitig erhöhte sich der Durchschnittsverdienst der Arbeiter und Angestellten durch eine Reihe lohnpolitischer Maßnahmen zwischen 1957 und 1959 um 15%. Die Kaufkraft nahm allein 1959 im Vergleich zum Vorjahr um 1,1 Mrd. DM (DDR-Mark) zu.[38]

Die für den „kleinen Mann auf der Straße“ spürbaren Verbesserungen im Lebensstandard führten bei vielen zu der Auffassung, dass am von der SED-Führung verkündeten „Einholen und Überholen“ doch etwas „dran sein“ könnte. Mancher, der seine Koffer im Geiste bereits gepackt haben mochte, beschloss, erst einmal abzuwarten. Darauf jedenfalls weist die Entwicklung der Statistik der Ost-West-Wanderung hin. Die Zahl der Abwandernden im arbeitsfähigen Alter, die 1956 und 1957 bei 270.000 gelegen hatte, sank 1958 auf 152.000 und 1959 auf 99.000.[39]

Ulbrichts kühner Plan schien aufzugehen. Er sollte sich allerdings bereits im dritten Jahr seiner Verwirklichung als zu kühn erweisen. Die „ökonomische Hauptaufgabe“ war von vornherein mit Risiken belastet gewesen. Die Schöpfer des Siebenjahrplanes hatten, wohl wissend, dass der auf 24-28% geschätzte Produktivitätsrückstand der DDR-Industrie nicht in zwei Jahren aufgeholt werden konnte, das Einholen der BRD beim Produktivitätsniveau auf das letzte Jahr des Siebenjahrplanes, d.h. auf 1965, gelegt. In der Zwischenzeit sollten sowjetische Hilfen die Differenz zwischen Konsum- und Produktivitätsniveau ausgleichen.[40] Die sowjetische Seite hatte sich zu Konzessionen bei den Stationierungskosten für ihre Truppen in der DDR und auch zur Finanzierung von zusätzlichen Rohstoffeinfuhren bereit erklärt. Chruschtschow hatte erkannt: Wenn die DDR auf materiellem Gebiet leistungsfähiger würde, „wäre die Bevölkerung ohne jeden Zweifel mit dem Vorhandenen zufrieden und würde nicht mehr in so großer Zahl nach Westen drängen, dass die Abwanderung eine ernste Gefahr darstellte.“[41] Doch die sowjetische Hilfe blieb deutlich geringer als seitens der DDR erhofft.[42] 1959 wuchs die Industrieproduktion noch einmal zweistellig. Doch 1960 wurden die Wachstumsraten bei der Planerfüllung bereits zu einem Fünftel, bei den Investitionen sogar um ein Drittel unterboten. Bereits im Sommer 1960 musste die oberste Planungsbehörde intern eingestehen, dass die für 1961 bzw. 1965 gestellten Ziele nicht mehr erreichbar waren, im Mai 1961 wurde der Siebenjahrplan auch offiziell nach unten korrigiert.[43] In der Bevölkerung schwand die 1958 aufgekeimte Hoffnung, dass die Regierung in der Lage sein würde, in der DDR einen mit Westdeutschland vergleichbaren Wohlstand zu schaffen. Prompt stieg auch die „Republikflucht“ wieder an – 1960 um 40%. Die Zahl der Abwanderer im arbeitsfähigen Alter erhöhte sich sogar noch stärker, um über 45%.[44] Damit war auch die dritte, die spektakulärste Alternative zum Mauerbau gescheitert.

Bemühungen, Voraussetzungen für die Beseitigung der Mauer zu schaffen

Der Mauerbau wurde von der Bevölkerung der DDR akzeptiert, aber nicht gutgeheißen. Anders als die konservativen Kräfte in den Führungsgremien der SED und der Regierung der DDR, die meinten, man könne nunmehr, geschützt durch den „antifaschistischen Schutzwall“, dem anderen Teil Deutschlands endgültig den Rücken kehren und mit der „Störfreimachung“ auch die letzten (ökonomischen) Bindungen der DDR an die Bundesrepublik durchtrennen, wussten Ulbricht und die Wirtschaftsreformer in der Partei- und Staatsführung, dass die 1958 erstmals formulierte Aufgabe, den westdeutschen Lebensstandard und das ihm zugrunde liegende Produktivitätsniveau zu erreichen, weiterhin bestand. In diesem Bewusstsein schrieben die Verfasser der „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“, die Wirtschaftsreform müsse „alle Faktoren sichern, um die Überlegenheit unserer sozialistischen Ordnung gegenüber dem kapitalistischen System in Westdeutschland auch auf ökonomischen Gebiet zu beweisen.“[45] Die weitreichenden Reformmaßnahmen, die auf die Mobilisierung der Marktkräfte für die Durchsetzung ehrgeiziger Planziele setzten, ließen die DDR die Wirtschaftskrise von 1960 bis 1963 überwinden. Die industrielle Nettproduktion stieg zwischen 1963 und 1970 durchschnittlich jährlich um 4 bis 6% an, die Arbeitsproduktivität um 4 bis 6%, das Arbeitseinkommen erhöhte sich zwischen 1963 und 1970 um ein Viertel, die Lohnstückkosten gingen Jahr für Jahr, zwischen 1963 und 1970 um insgesamt 12% zurück.[46] Dank der gewachsenen Kaufkraft der Bevölkerung erhöhte sich die Ausstattung der DDR-Haushalte mit Fernsehern, Kühlschränken und Waschmaschinen und anderen technischen Konsumgütern (aber nicht mit PKW) in den 60er Jahren rasch.[47] So beachtlich die Steigerung der ökonomischen Effizienz und des Lebensstandards in der DDR auch war, reichte sie nicht aus. Zwischen 1960 und 1970 stieg das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in der DDR zwar um 57% an, in der Bundesrepublik erhöhte es sich aber fast ebenso rasch, um 50%[48]. Von Einholen und Überholen konnte somit auch in den 60er Jahren keine Rede sein. Das Produktivitäts- und auch das Wohlstandsgefälle der DDR zur Bundesrepublik blieb, wenn auch auf höherem Niveau und etwas vermindert, erhalten, damit aber auch – vom Standpunkt der Existenzsicherung der DDR – die Notwendigkeit der Mauer.

Mit einem unter dem Slogan „Überholen ohne einzuholen“ entwickelten Technologiekonzept, das die Konzentration der Investitionsmittel auf grundlegende Innovationen und wenige Großforschungszentren und -betriebe vorsah, wurde unter Ulbricht Ende 1969/Anfang 1970 ein neuer Versuch eingeleitet, in der DDR westdeutsches Produktivitätsniveau zu erreichen.[49] Das vom technologischen Standpunkt plausible Projekt überforderte jedoch die vergleichsweise geringen Ressourcen der DDR. Es musste, da volkswirtschaftliche „Rhythmusstörungen“ auftraten, nach kurzer Zeit, noch vor Ende 1971 wieder aufgegeben werden.[50]

Schluss

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Reformer Ulbricht seine Führungsposition in der SED und der DDR bereits an seinen konservativen Nachfolger, Erich Honecker, abtreten müssen. Der neue Parteichef sah die Mauer nicht mehr als zeitweiliges notwendiges Übel an, sondern als Dauerlösung. Er und sein Politbüro verzichteten darauf weiterhin über Alternativen zur am 13. August 1961 installierten Grenzabsperrung nachzudenken.

[1] Vgl. u. a. Sonderheft 50 Jahre Mauerbau, Deutschland Archiv 2011, S. 5-152; 50 Jahre Mauerbau, Aus Politik und Zeitgeschichte 31-34/2011, S. 2-34; Bollinger, S., Der Sieg, der eine Niederlage war. 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer, RLS-Standpunkte 23/2011, S. 1-14; Prokop, S., Ursachen und Wirkungen der Maßnahmen vom 13. August 1961, in: GeschichtsKorrespondenz 2/2011, S. 3-7.

[2] Steininger, R., Der Mauerbau, München 2001, S. 468-469.

[3] Crankshaw, E. (Hrsg.), Chruschtschow erinnert sich, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 456.

[4] Wettig, G. Chruschtschow und die Berliner Mauer, in: Karner, S./Stelzl-Marx, B./Tomilina, N./Tschurbarjan, A., Der Wiener Gipfel 1961, Innsbruck/Wien/Bozen 2011, S. 661.

[5] Schumann, K. F./Dietz, G.-U./Gehrmann, M./Kaspras, H./Struck-Möbbeck, O., Private Wege der Wiedervereinigung. Die deutsche Ost-West-Migration vor der Wende, Weinheim 1996, S. 19.

[6] Staritz, D., Geschichte der DDR, Stuttgart 1996, S. 88-94.

[7] Steiner, A./Judt, M./Reichel, Th., Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band SBZ/DDR, Bonn 2006, S. 155.

[8] Schumann u. a., S. 19.

[9] Zitiert in: Ackermann, V.: Der „echte“ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945 –1962, Osnabrück 1995, S. 118.

[10] Abelshauser, W., Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2004, S. 154-161.

[11] Berié, H., Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band West, Bonn 1999 S. 120.

[12] Steiner u. a., S. 149, 155.

[13] Berié, S. 37, 79, 120.

[14] Weimer, W., Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von der Währungsreform bis zum Euro, Hamburg 1998, S. 113.

[15] Vgl Bispinck, H, Republikflucht“, in: Hoffmann, D./Schwartz, M./Wentker, H. (Hrsg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR, München 2003, S. 298.

[16] Ebenda, S. 302.

[17] Schumann u. a., S. 19.

[18] Schmelz, A., Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. Die West-Ost-Migration in die DDR in den 1950er und 1960er Jahren, Opladen 2002, S. 39.

[19] Steiner u. a., S. 149, 155.

[20] Wettig, S. 660.

[21] SBZ von A-Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch für die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, Bonn 1960, S. 164.

[22] Steiner u. a., S. 148.

[23] SBZ von A bis Z, S. 164.

[24] Schmelz, S. 57-58.

[25] Roesler. J., Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Kleßmann, Ch. (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9, Baden-Baden 2006, S. 644.

[26] Politbüro des ZK der SED. Sitzungsprotokoll 52/61, Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch, DY 30 J IV, 2/2/794).

[27] Hoffmann, D.Aufbau und Krise der Planwirtschaft. Die Arbeitskräftelenkung in der SBZ/DDR 1945 bis 1963, München 2002; S. 531.

[28] Direktive zur Durchführung des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrats über den „Einsatz von Arbeitskräften aus dem Ausland“, Bundesarchiv (BArch, DQ 3, 130).

[29] Wettig, G., Die UdSSR und die Berliner Mauer, in: Deutschland Archiv, Sonderheft, S. 9.

[30] Roesler, S. 653.

[31] Zeitgenössisch wurde in der BRD von einer “Abstimmung mit den Füßen“ gesprochen. (Vgl. Bispinck, S. 285).

[32] Schumann u. a., S. 20.

[33] Storbeck, Dietrich, Flucht oder Wanderung? Eine Rückschau auf Motive, Folgen und Beurteilung der Bevölkerungsabwanderung aus Mitteldeutschland seit dem Kriege, in: Soziale Welt 14/1963, S. 164. Auch Heidemeyer kommt zu dem Schluss, dass die Mehrheit „aus eher eigennützigen wirtschaftlichen Motiven“ abwanderte. (Heidemeyer, H., Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/49-1961, Düsseldorf 1994, S. 57).

[34] Storbeck, S. 57; Heidemeyer, S. 57.

[35] Zit. in: Bispinck, S. 301.

[36] Zit. in: Ebenda, S. 302.

[37] Ulbricht, W., Der Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks des Volkes, Berlin 1959, S. 18.

[38] Badstübner, R., Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1981, S. 201. (Die Währung der DDR hieß bis 1967 DM, danach MDN resp. Mark der DDR.)

[39] Bispinck, S. 307.

[40] Steiner, A., Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre, Berlin 1999, S. 40.

[41] Crankshaw, S. 458.

[42] Staritz, S. 177.

[43] Steiner, S. 40, 42.

[44] Bispnick, S. 307.

[45] Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin 1965, S. 15.

[46] Steiner, S. 562, 569, 573, 575.

[47] Mittelbach, H./Roesler, J. Entwicklung von Einkommen und Verbrauch der Bevölkerung der DDR in den vergangenen 40 Jahren, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1989, S. 199.

[48] Heske, G. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950-1989, Köln 2009, S. 66.

[49] Vgl. Zur Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus in der DDR in den Jahren 1971 bis 1975, Berlin 1970, S. 16, 25, 132.

[50] Steiner, S. 468-469.