Vorbemerkung: In Teil I (Z 87, S. 173-186) stellte Richard Sorg einige jener Grundbegriffe vor, die für Mario Bunges materialistische Philosophie, vor allem seine Ontologie, zentral sind. Im vorliegenden Teil II werden nun einige Argumente referiert, die Mario Bunge in der Auseinandersetzung mit aktuellen Einwänden gegen eine materialistische Weltsicht ins Feld führt.
4. Einige Nagelproben für eine materialistische Weltsicht
Zu den Problembereichen, aus denen sich Einwände gegen eine materialistische Sichtweise speisen und gegenüber denen sich diese zu bewähren hat, zählt Bunge u.a. bestimmte Interpretationen der Quantenphysik, das sog. Leib-Seele-Problem bzw. die Erklärung des Geistigen, den Vorwurf des Reduktionismus, die Debatte um die Willensfreiheit, die Frage einer materialistischen Konzeptualisierung von Gesellschaft und Kultur sowie nicht zuletzt die Problematik von Ethik und Moral. Auf seine Argumente zu einigen dieser Fragen soll hier kurz eingegangen werden.
4.1 Zu den quantenphysikalischen Einwänden gegen den
Materialismus[1]
Der Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert bedeutete an sich auch eine Stärkung für eine materialistische Weltsicht, auch wenn sich der Materialismus weiter differenzierte. So wurde bereits mit der Entdeckung der elektromagnetischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts die Begrenztheit des ‚mechanischen Materialismus’ deutlich. Ab 1900 wurden dann mit der Quantentheorie weitere radikale Veränderungen in der Konzeption von Materie notwendig. Gleichzeitig mit der quantenphysikalischen Revolution gab es nun, so Bunge, einen „starken idealistischen Rückschlag“ (Bunge 2010, 39), der sich in Gestalt einer allgemeinen Wissenschaftskritik über die Grenzen der Physik ausbreitete. Viele interpretierten die neueste Physik als Widerlegung des Materialismus; es war ein Angriff auf den Materialismus im Namen der Wissenschaft.[2] Die Quantenrevolution (1925-1935) wurde, so Bunge, von Physikern in subjektivistischen Begriffen interpretiert.
Wie erklärt Bunge diese „paradoxe Entwicklung“? Die Quantenmechanik entstand in einer Zeit, als der logische Positivismus (Empirismus) die Wissenschaftsphilosophie prägte, die damals identisch war mit der Wissenschaftstheorie der Physik. (Man denke an den „Wiener Kreis“ um Rudolph Carnap u.a.) Die Philosophie des logischen Empirismus war ‚phänomenalistisch’ und ‚operationalistisch’, wonach es nur sinnvoll sei, von dem zu sprechen, was man beobachten und messen könne. Dieser Auffassung gemäß würden die Wissenschaften nicht die Dinge an sich studieren, sondern nur Phänomene, also das, was für einen Beobachter sichtbar wird, und jeder wissenschaftliche Begriff müsse operational definiert werden, im Sinne konkreter Verfahrensweisen wie Messverfahren. So sickerte, wie Bunge schreibt, die positivistische Philosophie in die frühe Quantenmechanik ein, und bis heute würden manche glauben, dass bestimmte Thesen, die in Wirklichkeit der empiristischen Philosophie entstammen, ein untrennbarer Bestandteil der Quantenmechanik seien (Bunge/Mahner 2004, 132).
Die positivistische Interpretation der Quantenmechanik wird die ‚Kopenhagener Deutung’ genannt und geht auf Niels Bohr zurück, wurde aber fast von allen führenden Vertretern (Heisenberg, Born, Pauli, Jordan, Neumann, Dirac) übernommen. Ihr Kern ist die phänomenalistische These, dass der physikalische Gegenstand keine vom erkennenden Subjekt oder Beobachter unabhängige Existenz hat. Er existiere nur als geschlossene Einheit, zusammengesetzt aus Beobachter, Beobachtungsmitteln und Beobachtungsgegenstand. Für Bunge ist die Kopenhagener Deutung nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch falsch, weil die Ergebnisse einer jeden Messung von der Meßmethode abhängen und selten exakt sind.
Auch die berühmteste Formel der Quantenmechanik, die Heisenberg’sche Ungleichung (die sog. Unschärferelation), habe für viel Verwirrung gesorgt. Das darin vorkommende Prinzip „verbindet die Streuungen der Wahrscheinlichkeitsverteilung des Ortes und des linearen Impulses miteinander.“ (ebd., 139) Es besagt: „Quantenobjekte haben verschwommene dynamische Eigenschaften. (Demgegenüber sind die Werte ihrer Masse und ihrer elektrischen Ladung stets scharf.)“ (ebd., 140) Das Heisenbergsche Theorem „trifft die positive Feststellung, dass Quantenobjekte keine punktförmigen Objekte, sondern in Bezug auf ihren Ort und ihren Impuls ‚verteilte’ oder ‚verschmierte’ Objekte sind. Wenn Quantenobjekte aber in Wirklichkeit verschwommene Eigenschaften haben, dann gibt es auch nichts Präzises zu erkennen.“ Heisenbergs Ungleichung wird auch ‚Unbestimmtheitsrelation’ genannt. Damit meint man, „dass die auftretenden Verteilungen aufgrund des probabilistischen Charakters der Quantentheorie so etwas wie die Abweichung von kausalen Gesetzen messen würden. Das ist zwar teilweise richtig, weil die Verteilungen statistische Durchschnitte sind, aber Bestimmtheit ist nicht dasselbe wie Kausalität: Es ist nichts Unbestimmtes an den Quantengesetzen [...]. Die Heisenberg’schen Unschärfen stellen also reale Eigenschaften der mikrophysikalischen Objekte dar, die nichts zu tun haben mit Messwerten, geschweige mit mentalen Zuständen. Sie liefern auch keine Grundlage für den radikalen Indeterminismus: Da das Theorem Heisenbergs eine Gesetzesaussage ist, verletzt es nicht das Prinzip Gesetzmäßigkeit, sondern nur den klassischen Determinismus.“ (ebd., 141)
Bunge fragt, ob die Quantentheorie den Indeterminismus stützt, und argumentiert: Subjektivismus (Abhängigkeit des Objekts vom Beobachter, der die Tatsachen selbst schaffe, konstituiere) und Indeterminismus (Gesetzesfreiheit) werden beide durch die Kopenhagener Deutung gefördert, die auch die indeterministische These enthält: Da die beobachtbaren Tatsachen vom Beobachter abhängig seien, gebe es auch keine objektive Gesetzmäßigkeit. Das Auftreten der physikalischen Ereignisse würde vom Experimentator abhängen.
Bunges Resümee: Die Quantenmechanik ist „nicht indeterministisch: Sie behauptet nicht, dass die Ereignisse willkürlich stattfinden und es keine Regularitäten gibt. Gewiß ist der Determinismus der Quantenmechanik nicht der klassische oder Laplace’sche, sondern ein viel reicherer. Der quantenmechanische Determinismus enthält eine starke stochastische Komponente [...] und eine starke kausale Komponente. Dieser quantenmechanische Determinismus ist weit entfernt von einem radikalen Indeterminismus, der auf der freien Willkür des Experimentators beruht.“ (ebd., 143) Nach Bunge ist deshalb die phänomenalistische These der Kopenhagener Deutung falsch. Die Quantenmechanik bezieht sich nicht auf Beobachter und Messapparate. Sie liefert keine subjektivistischen und antimaterialistischen Argumente. (Zur genaueren Begründung, dass und wie ein zeitgenössisches Materialismuskonzept die Befunde der Quantenphysik zu berücksichtigen habe, siehe Bunge 2010, 41ff.)
4.2 Materialismus und Leib-Seele-Problem bzw. Gehirn-Geist-Problem[3]
Die Bewährungsprobe des Materialismus ist besonders dort zu erwarten, wo es um den ‚Geist’ geht. Der psychophysische Dualismus (wonach es neben dem materiellen Körper einen immateriellen Geist gebe) ist nach Bunge vermutlich die älteste Philosophie des Geistes und bezog seine Popularität daraus, dass er Bestandteil der meisten Religionen war und ist. Ein zentraler Einwand dagegen bestehe darin, dass nicht gesagt werde, wie der (immaterielle) Geist mit dem (materiellen) Gehirn interagieren soll.
Wegen der Probleme des Substanzdualismus vertrete man heute eher materialistisch-monistische Lösungen, wonach „Geist und Bewusstsein als Gehirnfunktionen“ angesehen werden. Ein Problem dabei sei aber, die unterschiedlichen Eigenschaften oder Qualitäten des Geistigen und des Materiellen bzw. Neurobiologischen konsistent zusammenzubringen. Denn einerseits ist unser Denken eng mit dem Gehirn verbunden; andererseits scheint unser subjektives Erleben verschieden von ‚bloßer’ Neurophysiologie zu sein. Alle sog. geistigen Zustände sind Zustände in den Gehirnen bestimmter Lebewesen. Die mentalen Eigenschaften sind „emergent in Relation zu den zellulären Komponenten des Gehirns: Es handelt sich um Systemeigenschaften komplexer neuronaler Systeme.“ (Bunge/Mahner 2004, 147) Die sog. „psychophysischen (oder psychosomatischen) Beziehungen sind damit Interaktionen zwischen verschiedenen Subsystemen des Gehirns“ bzw. anderen Subsystemen des Körpers. „Damit ist der emergentistische psychoneurale Monismus eine Spielart der so genannten Identitätstheorie“, wonach „Denken und Bewußtsein identisch sind mit der Aktivität (Funktion) hochkomplexer neuronaler Systeme“, wobei die Identitätsthese eher ein Forschungsprogramm darstelle als eine bereits ausgearbeitete Theorie.
Bunge weiter: „Der Geist ist kein Sekret, das vom Gehirn produziert oder abgegeben würde. Emergent ist vielmehr die Eigenschaft, dass bestimmte komplexe neuronale Systeme einen Innenaspekt etwa in Form von Bewusstsein und phänomenaler Qualität besitzen. Diese Eigenschaft(en) können sehr wohl verschieden von den neurophysiologischen Eigenschaften des Gehirns sein“ (ebd., 148), so wie die Wahrnehmung (z.B. von Licht) andere Eigenschaften besitzt als das wahrgenommene Ding (von dem eine elektromagnetische Welle bestimmter Frequenz, Wellenamplitude etc. ausgeht). Dabei wird eine bestimmte Wellenlänge als ‚blau’, eine andere als ‚rot’ wahrgenommen. Eine mentale Eigenschaft ist also nicht gleich der physikalischen bzw. neurophysiologischen Eigenschaft, sondern emergent gegenüber dieser, weil hervorgebracht aus dem Zusammenwirken verschiedener Subsysteme des Gehirns. Der Bunge’sche ‚emergentistische Materialismus’ „ist zwar ein Substanzmonismus, weil er nur Materielles als Substanz zulässt, aber im Gegensatz zum Physikalismus vertritt er zugleich einen Eigenschaftspluralismus“, weil es neben physikalischen auch chemische, biotische, soziale und auch mentale und phänomenale Eigenschaften gibt. Mentale Eigenschaften sind emergent gegenüber neurophysiologischen Eigenschaften, denn das Zusammenwirken der ein System bildenden Neuronen bringt als Systemeigenschaft das Mentale hervor. Die neuronalen Systeme haben die emergente Eigenschaft, dass ihre eigenen Veränderungen, z.B. neue Verknüpfungen und Synapsenbildungen, „zu einem Innenaspekt führen“ (ebd., 149), den man als ‚mental’ bezeichnet. „In diesem Sinne sind mentale und neuronale Prozesse (Aktivitäten, Funktionen) identisch.“ (vgl. auch Bunge 2010, 160ff) Die Identitätstheorie sagt damit nur, „dass alles, was uns introspektiv als mentaler ‚Prozess’ erscheint, in Wirklichkeit nichts anderes als ein neurophysiologischer Prozess ist“, nicht aber „dass mentale Eigenschaften identisch mit neurophysiologischen Eigenschaften sind“. Identisch ist also nur das materielle ‚Ding’ (der Gehirnprozeß, die Produktionsstätte des von ihm Hervorgebrachten: Mentalen), nicht identisch sind die Eigenschaften (neuronale einerseits und mentale andererseits). Das lässt Raum für die komplexe Vielfalt und Differenziertheit dessen, was den uns bewussten Inhalt des Geistigen, des Denkens und Fühlens, ausmacht. Der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer nennt das die unterschiedlichen ‚Beschreibungssysteme’ (vgl. Singer 2002, z.B. 40 oder 179).
Trotz der Identitätstheorie ist, so Bunge, nicht nur die alltägliche, sondern auch die psychobiologische Sprache immer noch dualistisch. Das sei zwar inkonsequent, aber verständlich, weil es zu Geist und Gehirn zwei unterschiedliche Zugänge gibt (was einen Hintergrund für das sog. Qualia-Problem bildet): einen inneren (introspektiven) und einen äußeren (neurobiologischen); „beide Zugänge erlauben es nicht, den jeweils anderen zu beschreiten: Unser inneres Erleben ‚kennt’ nur Mentales, ‚merkt’ aber nichts von den zugrunde liegenden neurophysiologischen Prozessen, und die Neurobiologie kennt nur Hirnprozesse, kann aber von außen keinen Geist ‚sehen’.“ (Bunge/Mahner 2004, 150. Zum Qualia-Problem siehe auch Bunge 2010, 172ff) Daher werden beide als zwei verschiedene ‚Variablen’ betrachtet, deren ‚Korrelationen’ man empirisch untersucht. Die daraus resultierenden dualistischen Ausdrücke wie ‚die neurophysiologische Basis des Geistes’, ‚neurale Korrelate mentaler Funktionen’, ‚Äquivalente’, ‚Repräsentationen’ sind aber „höchst anomal“. Dies gilt auch für die Rede vom ‚Leib-Seele-Problem’ oder vom ‚Gehirn-Geist-Problem’, denn man spreche auch nicht vom Körper-Bewegungs-Problem in der Mechanik, sondern von der Bewegung von Körpern. Denn Bewegung ist die Funktion oder Eigenschaft eines Körpers, eine Beziehung von Subjekt und Prädikat, Ding und Eigenschaften; demzufolge Geist eine (emergente) Eigenschaft des Gehirns. Mit solcher von Bunge kritisierten Redeweise werden Eigenschaften zu (selbständigen) Dingen gemacht („reifiziert“). Wenn Denken eine Gehirnaktivität ist (damit identisch), könne es keine Gehirn-Geist-Identität geben. Ein Organ ist nicht identisch mit seiner Funktion und Aktivität (daher gebe es z.B. keine Fortbewegungs-Bein-Identität).
4.3 Zum Vorwurf des Reduktionismus der psychoneuralen
Identitätsthese
Der von Bunge vertretene Materialismus ist ein ‚Substanzmonismus’ mit einem ‚Eigenschaftspluralismus’, weil er verschiedene Seinsebenen unterscheidet. Bestimmte materielle Systeme haben, z.B. im Falle neuronaler Systeme, neben ihren physikalischen, chemischen, molekularbiologischen auch mentale und phänomenale Eigenschaften, sind emergent gegenüber den einzelnen Neuronen als den Komponenten neuronaler Systeme. Da es ein Materialismus ohne immaterielle bzw. geistige Dinge (landläufig: ‚Substanzen’) ist, eliminiert er mentale Dinge und reduziert (im Sinne von Zurückführen) das Psychische auf eine Eigenschaft bestimmter materieller Systeme. Er eliminiert aber nicht die mentalen Eigenschaften, z.B. Bewusstsein, wie wir sie aus unserem eigenen Erleben kennen, sondern „reklassifiziert“ sie lediglich ontologisch (Bunge/Mahner 2004, 152). Er ist insofern (ontologisch) nicht reduktionistisch, weil er weder Psychologie (die sich z.B. mit Wahrnehmungen befasst) noch Neurobiologie auf Physik reduziert. Es wird aber das Psychische mit Hilfe der Neurobiologie erklärt. Das Mentale muß mindestens partiell durch die Basiseigenschaften des zugehörigen Systems, seiner Zusammensetzung und Struktur, erklärbar sein. Faktisch ist das zwar noch nicht geschehen, ändert aber nichts am Herangehen.
In deutlicher Differenz zu biologistischen Positionen bei der Untersuchung und Erklärung des Geistigen betont Bunge: „Eine adäquate Erklärung des Mentalen kann sich jedoch nicht auf den mikroreduktiven Aspekt beschränken: Sie wird auch berücksichtigen müssen, dass vor allem unser Selbstbewusstsein und unser Ich auf sozialen Input [Hervorhebung, R.S.] angewiesen ist. Eine angemessene Erklärung des Psychischen muß das denkende Individuum also in ein umfassenderes, in diesem Falle ein soziales System einbetten und hat damit auch einen makroreduktiven Aspekt.“ (ebd., 153) Das entspricht der systemischen Erklärung, die mikro- und makroreduktive Aspekte umfasst, indem sie die Umgebung und die Struktur des Systems in Betracht zieht. „Eine systemische Erklärung ist also stets partiell mikro- und makroreduktiv und analysiert jedes System im Sinne des ZUS-Modells.“ (Vgl. Teil I dieses Aufsatzes in Z - 87, 180) Geist und Denken sind also einerseits durch das Gehirn bestimmt (mikroreduktiv), andererseits durch die Gesellschaft und Kultur (makroreduktiv). Mentales (incl. seiner Inhalte) bedarf zu seiner Erklärung der Hirnphysiologie ebenso wie der Psychologie und der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften (wobei zu den Inhalten des Denkens auch die philosophischen Richtungen, z.B. Dualismus und Monismus, gehören).[4]
Bunges Materialismus ist also insofern nicht reduktionistisch, als es ihm um eine differenzierte Verknüpfung von mikro- und makroreduktiven Aspekten geht und für ihn eine systemische Erklärung zentral ist, zu der die Emergenz als ein Schlüsselbegriff gehört. Zur Erläuterung: Eine mikroreduktive Erklärung zu geben heißt, etwas aus den Komponenten bzw. einigen ihrer Eigenschaften zu erklären; bei einer makroreduktiven Erklärung geht es darum, einen Sachverhalt aus der Umgebung und aus der Struktur des Systems (Exo- und Endostruktur) zu erklären. Beispiel: Das soziale System (systemische Erklärung von ‚oben’, vom gesellschaftlichen Ganzen her) ist mitbestimmend für die mentalen Eigenschaften (das Ich). Diese sind zugleich durch das Zusammenwirken von Neuronen zu erklären (von ‚unten’, von den Teilen her). Reduktion meint das Zurückführen auf etwas (= Erklären); daher ist beides relevant: die Aufwärts- und die Abwärtsreduktion.[5]
4.4 Materialismus und freier Wille
Wenn Bewusstsein, Denken und Wollen Gehirnprozesse sind, kann es dann einen freien Willen geben? Subjektiv haben wir jedenfalls den Eindruck, dass unsere Entscheidungen frei gewollt sind. Was ist mit freier Wille gemeint? Eine Handlung ist willentlich, wenn sie eine bewusste, zweckgerichtete Handlung ist. Willensakte können frei oder erzwungen sein. Soldaten unter einem Befehl handeln zwar willentlich, aber unter Zwang. Handlungsfreiheit einer Person ist dann gegeben, wenn (a) ihre Handlung willentlich ist und (b) sie ihr Ziel frei wählen kann, wenn sie unter keinem inneren (z.B. vorprogrammierten) oder äußeren Zwang steht, das gewählte Ziel zu erreichen. Das Handeln hängt von unserer Persönlichkeit und unserem Charakter ab. Vorausgesetzt, das Gehirn funktioniert gesetzmäßig, dann müssen wir unseren Wünschen und Motiven gemäß handeln. Diese sind durch Lernen beeinflussbar und können in ihren Folgen abgewogen werden. Ist Handlungsfreiheit gesetzmäßig, muß sie wiederholbar und voraussagbar sein. Wenn wir jemanden gut kennen, können wir sein Handeln in Grenzen voraussagen.
Strittig ist, ob es über die Handlungsfreiheit hinaus auch eine Willensfreiheit gibt (dass also unser Wollen selbst frei ist). Das hieße, unter völlig identischen inneren und äußeren Bedingungen frei zu sein, auch entgegengesetzte Handlungen zu wollen, also nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Wollen wollen. Das hieße aber, dass wir uns über unsere Persönlichkeit und individuelle Natur erheben und jenseits von ihr einen unbedingten Willensakt vollziehen können. Ein „solches unbedingtes Wollen [ist] in einer gesetzmäßigen (‚deterministischen’) Welt unmöglich.“ (ebd., 163) Vertreter dieser Position flüchten in den Indeterminismus und berufen sich auf die quantenmechanischen Zufallsereignisse, die auf der makroskopischen Ebene ein indeterministisches Element in die gesetzmäßigen Abläufe unseres Gehirns einbringen würden. Aber der Zufall löst nicht das Problem der unbedingten Willensfreiheit. Der Wille wäre dann wie ein Würfeln oder das Ergebnis eines Zufallsgenerators. Dann wären wir nicht die Urheber unseres eigenen Wollens und auch nicht verantwortlich, Gründe für Moralität würden entfallen. „Der Begriff der (kontrakausalen) Willensfreiheit fällt also bereits aus logischen Gründen in sich zusammen: Einerseits soll ich – und nicht der Zufall – der Urheber meiner Handlungen sein, andererseits soll das Wollen dieser Handlung autonom (frei), d.h. von meiner individuellen Natur und damit von mir selbst unabhängig sein. Beides ist nicht zugleich möglich.“ Aber selbst wenn das Konzept kohärent wäre, „könnte es einem materialistischen Weltbild zufolge einen realen kontrakausalen Willensprozeß nicht geben, denn unsere Gehirnprozesse und damit unser Wollen und Handeln sind wie alle Prozesse gesetzmäßig. Was also übrig bleibt, ist Handlungsfreiheit oder personale Freiheit“. (ebd., 163f)[6]
4.5 Kann der Materialismus Kultur und Gesellschaft gerecht werden?
In mehreren Publikationen hat sich Bunge eingehend zu sozialwissenschaftlichen Fragen geäußert (z.B. Bunge 1996, 1998, 1999 oder 2009). Gesellschaft bestimmt er als ein materielles System, bestehend aus vier Subsystemen: dem biopsychologischen (B), wirtschaftlichen (W), politischen (P) und kulturellen (K), verbunden mit einem Input und Output in Bezug auf die Umwelt (U) (z.B. Bunge/Mahner 2004, 166). Alle Bereiche interagieren und von jedem Bereich kann sozialer Wandel ausgehen. (In einer graphischen Skizze, ebd. 167, stellen die vier Subsysteme die Ecken eines Quadrats dar, in dessen Mitte oder als Dach die Umwelt steht, die mit allen Ecken des Quadrats verbunden ist.)
Die Kultur, das kulturelle Subsystem einer Gesellschaft, besteht „aus Personen und Artefakten wie Gemälden, Büchern, Computern, Landkarten, Partituren, statistischen Tabellen usw. und wird durch Informationsbeziehungen zusammengehalten.“ (ebd., 168) Ohne Personen, die sie nutzen können, haben kulturelle Artefakte keinen Wert an sich. Es wäre idealistisch und eine Reifikation oder Verdinglichung, Werte außerhalb bewertender Gehirne anzusiedeln. Kultur kann man nur fördern, indem man Personen fördert, ihnen die Freiheit der Entwicklung erlaubt bzw. ermöglicht, ihnen Zugang zu kulturellen Artefakten erleichtert. „Kulturelle Werke befinden sich eben nicht in einem immateriellen Reich der Ideen, sondern in den Köpfen lebender Personen.“ (ebd., 169)
Bei der Frage, ob die Kultur etwas Immaterielles sei, kritisiert Bunge ausdrücklich den historischen Materialismus. Bei diesem werde vor allem „die intellektuelle und künstlerische Kultur sowie die Ideologie einer Gesellschaft [...] zu einem Epiphänomen, das kollektiv als die (ideelle) ‚Superstruktur’ bezeichnet wird, die auf der materiellen Infrastruktur errichtet ist. So reduziert sich der herkömmliche historische und kulturelle Materialismus im Wesentlichen auf einen ökonomischen Determinismus.“ (ebd., 167f) Zwar werde dies durch den Hinweis gemildert, „dass die Superstruktur nach ihrer Bildung gleichsam ein Eigenleben führt und so auf die Infrastruktur zurückwirken kann. Dennoch bleibt Letztere der Hauptmotor, und die Superstruktur wird letztlich als immateriell (oder ideell) angesehen – ein klarer, wenn auch vielleicht unbeabsichtigter Fall von Dualismus.“ (ebd. 168) Daher könne der herkömmliche, „halbmaterialistische“ historische Materialismus die „tatsächlichen Interaktionen zwischen der Kultur einer Gesellschaft und deren übrigen Subsystemen nicht erklären.“ Denn in einer kohärenten materialistischen Sicht gebe es keine immateriellen Entitäten. Darüber hinaus sei „die These vom Primat der Ökonomie unhaltbar, weil sozialer Wandel auch von anderen Bereichen ausgehen kann und weil manch kultureller Wandel, wie die Erziehung und Alphabetisierung der Bevölkerung und die Verbreitung von Religionen, Wissenschaft und Technologie, unmittelbare ökonomische und politische Auswirkungen hatten.“ Ohne Bunges Kritik hier ausführlicher zu kommentieren, wäre darauf zu verweisen, dass im Unterschied zu manchen schematischen Darstellungen der Basis-Überbau-Lehre die Positionen von Marx und Engels selbst gar nicht allzu weit von den hier skizzierten Positionen entfernt waren, zumal Engels z.B. die zentrale Bedeutung der Ökonomie in höchst vermittelter Weise (‚in letzter Instanz’) gesehen hat, wobei heute sicherlich die Umwelt (z.B. eine Naturkatastrophe) noch stärker und als letztlich entscheidend zu gewichten wäre.
5 Schluss
Viele für eine materialistische Weltsicht relevante und interessante Fragen können hier nicht diskutiert werden, so etwa der Problemkomplex ‚Materialismus und Ethik’, den Bunge z. B. in seinem 2009 erschienenen Werk Political Philosophy ausführlich erörtert (vgl. Sorg 2010). Offen bleiben muß hier auch eine eingehendere Auseinandersetzung mit seiner Kritik am Marxismus und an der Dialektik. Dies bliebe einem weiteren Artikel vorbehalten.
Ein erster Hinweis muss fürs erste genügen: In seinem 300seitigen Philosophical Dictionary von 2003, in dem Bunge die philosophischen Begriffe aus seiner Sichtweise kurz erläutert, heißt es zum Stichwort „Marxismus“ lakonisch knapp: „Ein extrem einflussreicher, gemischter Beutel (bag, im Sinne von Behälter), gebildet aus weithin obsoleter Sozialwissenschaft, Philosophie und Ideologie. Marxistische Philosophie besteht aus dem dialektischen und historischen Materialismus. Der erste ist eine Ontologie und der zweite seine Anwendung auf das Studium der Gesellschaft. Dialektik, ob idealistisch oder materialistisch, ist extrem unpräzise, und sie hat mehr Ausnahmen als [bestätigende] Beispiele. Im Gegensatz dazu hat der historische Materialismus einen vernünftigen (sound) und fruchtbaren, wenn auch engen (narrow) Kern. [...] Es ist höchste Zeit, dass jemand herausfindet, was geborgen werden kann von dem intellektuellen und politischen Schiffswrack des Marxismus.“ (S. 172, übersetzt von R.S.)
Literatur
(Vollständiges Literaturverzeichnis siehe Teil I, Z 87, S. 185-186)
Bunge, Mario (1996): Finding Philosophy in Social Science. New Haven & London
Bunge, Mario (1998): Social Science Under Debate: A Philosophical Perspective. Montreal
Bunge, Mario (1999): The Philosophy-Sociology Connection. New Brunswick – London
Bunge, Mario (2003): Philosophical Dictionary. (Enlarged ed.), Amherst/New York
Bunge, Mario & Martin Mahner (2004): Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft, Stuttgart/Leipzig
Bunge, Mario (2009): Political Philosophy. Fact, Fiction, and Vision. New Brunswick, NJ, and London
Bunge, Mario (2010): Matter and Mind: A Philosophical Inquiry. Boston Studies in the Philosophy of Science, vol. 287, Dordrecht u.a.
Roth, Gerhard (2009): Aus Sicht des Gehirns. 2., vollständig überarbeitete Neuauflage, Frankfurt/Main
Singer, Wolf (2002): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/Main
Sorg, Richard (2010): Rezension zu: Bunge, Mario, Political Philosophy, New Brunswick/NJ 2009, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 286, 259-261
Sorg, Richard (2011): Rezension zu: Bunge, Mario, Matter and Mind, Dordrecht/Heidelberg 2010, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 293, 584-585
[1] Als Nichtphysiker kann ich hier wie auch bei anderen physikalischen Fachfragen nur Bunges Argumente referieren, nicht aber ihre fachliche Tragfähigkeit beurteilen.
[2] Ironischer Weise kam die heftigste Kritik des neuen Idealismus nicht von einem professionellen Wissenschaftler oder Philosophen, sondern von einem Politiker: von Lenin, der, so Bunge, in seiner Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ von 1908 eine „kluge Attacke auf den Positivismus und Konventionalismus“ geritten hatte (Bunge 2010, 40).
[3] Siehe hierzu ausführlich Bunge 2010, 143ff, wo er auch auf das heute zwischen Hirnforschern und Geist-Philosophen viel diskutierte Problem der „Qualia“, des subjektiven Elebnisgehaltes mentaler Zustände, eingeht.
[4] Gegen die diversen Verabsolutierungen einer neurowissenschaftlichen Sichtweise betont Bunge: Das Gehirn als Quelle sozialer Krankheiten zu fokussieren, laufe darauf hinaus, die Aufmerksamkeit von ihrer strukturellen Quelle abzulenken (Erwerbslosigkeit, sozialer Desintegration). Die Neurowissenschaft könne soziale Probleme nicht bewältigen, weil sie auf das Gehirn und nicht auch auf die soziale Umgebung schaut. Daher sei Vorsicht geboten mit einem neurowissenschaftlichen Ansatz bezüglich aller Arten menschlichen Verhaltens. Jede Person ist ein Mitglied in verschiedenen sozialen Kreisen und Systemen, die das Verhalten in manchen Hinsichten einschränken, in anderen stimulieren. Zwar seien z.B. Finanztransaktionen auf Aktienmärkten beeinflusst durch Furcht und Gier, aber diese Emotionen haben ihre Quelle nicht im Inneren von Gehirnen, sondern sind hervorgebracht durch makrosoziale Fakten wie natürliche oder politische Katastrophen, Inflation, Arbeitslosigkeit, Krieg und industrielle Innovation (Bunge 2010, 118).
[5] Was die hier nicht weiter zu behandelnde Frage von Bunge angeht, ob Maschinen (z.B. Computer) denken können, nur soviel: Maschinen können deshalb keine mentalen Eigenschaften haben, weil ihre Komponenten durch ihr Zusammenwirken keine Sensitivität, kein Erleben, keine Innensicht hervorbringen, wie es die Neuronen tun (ausführlich dazu siehe Bunge 2010, 227ff).
[6] Hier wäre die Differenz zur Debatte über Willensfreiheit zu untersuchen, wie sie z.B. durch Gerhard Roth, Wolf Singer u.a. ausgetragen wurde.